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Full text of "Zeitschrift für deutsche Philologie. Ergänzungsband"

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ZEITSCHRIFT 


FÜR 


DEUTSCHE  PHILOLOGIE 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


Dr.  ernst  HÖPFNER 

DIRBCTOR  D.  BBALSCHULE  Z.  IIBIL.  GRIBT 
Zu   IlRBSIiAU 


UND 


Dr.  JULIUS  ZACHER 

rnoPESsoR  an  der  Universität 

zu    HALLE 


DRITTER   BAND 


HALLE 


VKBLAG     BEB    BUCUHANDLUN»    DES    WAISENHAUSKB 


1871 


VERZEICHNIS   DER  BISHERIGEN   MITARBEITER. 

Dr.  Arthur  Amelung,  privatdocent  in  Dorpat. 

Dr.  G.  Andresen,  privatdocent  in  Bonn. 

Prof.  dr.  Aug.  Anschütz  in  Halle. 

Gymnasiallehrer  dr.  E.  Bernhardt  in  Elberfeld. 

Gymnasiallehrer  dr.  Ludw.  Bossler  in  Gera. 

Dr.  J.  B rakelmann  in  Paris,  f 

Prof.  dr.  Berthold  Delbrück  in  Jena. 

Dr.  B.  Döring  in  Dresden. 

Gynmasiallehrer  dr.  Osk.  Erdmann  in  Graudenz. 

Gymnasiallehrer  dr.  Ge.  Ger  1  and  in  Halle. 

Redakteur  H.  Gradl  in  Eger. 

Dr.  Justus  Grion,  director  des  lyceums  in  Verona. 

Oberlehrer  dr.  Haag  in  Berlin. 

Director  prof.  dr.  W.  Hertzberg  in  Bremen. 

Prof.  dr.  Moriz  Heyne  in  Basel. 

Prof.  dr.  Rud.  Hildebrand  in  Leipzig. 

Director  dr.  Ernst  Höpfner  in  Breslau. 

Oberlehrer  dr.  Oskar  Jänicke  in  Berlin. 

Dr.  E.  Jessen  in  Kopenhagen. 

Prof.  dr.  Adalbert  von  Keller  in  Tübingen. 

Prof.  dr.  C.  Fr.  Koch  in  Eisenach. 

Gymnasiallehrer  dr.  Artur  Köhler  in  Dresden. 

Bibliothekar  dr.  Reinhold  Köhler  in  Weimar. 

Dr.  Eugen  Kölbing  in  Dresden. 

Director  prof.  dr.  Adalbert  Kuhn  in  Berlin. 

Dr.  Ernst  Kuhn,  privatdocent  in  Halle. 

Geh.  reg.  r.  prof.  dr.  Heinrich  Leo  in  Halle. 

Staatsrat  dr.  Leverkus  in  Oldenburg,  f 

Prof.  dr.  Felix  Liebrecht  in  Lüttich. 

Oberlehrer  dr.  Aug.  Lübben  in  Oldenburg. 

Prof.  dr.  J.  Mähly  in  Basel. 

Prof.  dr.  Ernst  Martin  in  Freiburg. 

Prof.  dr.  Kon r ad  Maurer  in  München. 


IV  VEBZEICHNIS    DEB  MITARBEITER 

Dr.  Elard  Hugo  Meyer,  lehrer  an  der  haudelsschule 

in  Bremen. 
Prof.  dr.  Leo  Meyer  in  Dorpat. 
Prof.  dr.  Theodor  Möbius  in  Kiel. 
Prof.  dr.  G.  H.  F.  Nesselmann  in  Königsberg, 
lleallelirer  dr.  C.  Redlich  in  Hamburg. 
Dr.  Max  Rieger  in  Darmstadt. 
Prof.  dr.  Ernst  Ludw.  Rochholz  in  Aarau. 
Prof.  dr.  Heinr.  Rückert  in  Breslau. 
Staatsrat  dr.  A.  v.  Schiofner  in  Petersburg. 
Prof.  dr.  Richard  Schröder  in  Bonn. 
Dr.  E.  Stein mey er  in  Berlin. 
Gymnasiallehrer  dr.  B.  Suphan  in  Berlin. 
Prof.  dr.  S.  Vögelin  in  Zürich. 
Prof.  dr.  Wilhelm  Wackernagel  in  Basel,  f 
Prof.  dr.  Karl  Weinhold  in  Kiel. 
Franz  Wieser  in  Innsbruck. 
Oberlehrer  dr.  E.  Wörner  in  St.  Afra  bei  Meissen. 
F.  Woeste  in  Iserlohn. 
Prof.  dr.  Julius  Zacher  in  Halle. 
Prof  dr.  J.  V.  Zingerle  in  Innsbruck. 
Dr.  J.  Zupitza,  privatdocent  in  Breslau. 


I  N  H  A  L  T. 


-vlU- 

Über  die  Eddalieder.     Heimat,  alter,  ebaructT.     Von  K.  .Icssni 1 

Nachträge l>."»1.  UH 

Die  Nithardhandschrift  und  die  eide  vi»n  Strassbur^.     V<in  .1.  Ilrakrlnian  n   .  s.'» 
Brndutfloke  aus  dem  Willelialin  von  Oran.sf  d<.'s  Ulricli  von  iliin  'I'ürliii.     Vnn 

Haag :»ri 

Virgil  und  Heinrich  von  Veldeke.    Von  E.  WürntT !<»•'» 

Beridit  über  die  neue  deutsche  niunilartlic)if  iittt-ratur.     Von  II.  Kurki-rt  Ml 

Ein  dmckfehlcr  in  Wieland«  werken.    Von  K.  Köhler  .     .         •_*««• 

Beiträge  zur  deutschen  nietrik.     Von  Arthur  Am clun;; J.V» 

Zn  Beinke  Voss.    Von  A.  Liibben .              ...  :*>iir. 

Der  handschriftliche  text   des  Ludwi^^sliedes  nach  neuer  ali>e}irit't  d«s  hi-rrn  dr. 

W.  Arndt.     Von  J.  Zacher    .                            J«»7 

Über  die  heimat  und  das   alter  eines   nnrdi:>chen  sagenkrei.M's.     Von    Lu^'on 

Kölbing .;i.; 

Die  conflaenz  der  consonanten  und  die  .süddeutschen  ]ihibi]ti,i;en.  V«»n  A.  v.  Ki-llfr  '.\\*\ 

Altvil     Von  Leverkus  und  A.  Lübben :;i7 

Mnndartliche  namen  de»  cretiuianius.     Von  K.  L.  Koch  holz :>J1 

Zorn  yocaUsmus  der  deutschen  dialecte.     I)t'r  au- laut.     Vnn  II.  <ir;i>ll    .     .  öl'J 

Beiträge  ans  dem  niederdeut.-><:hen.     Von  F.  \Vi»este o.'»ti 

Znm  Beovnlfl    Von  M.  Kiejrer :\^l 

Zur  Alexandersage.     II.  Zu  .Inlii  Valerii  >']äx**iu*:.     Von  .1.  Miibly  llti 

Über  Gerhard  von  Viane.     Vou  E.  H.  Meyer {jj 

Herders  Volkslieder  und  .bthann    v.  Müllers  ...Stiiiuu-rn    der  \«dker  in  lieliTii." 

Von  B.  Suphan !.  ^ 

Goethiana.    Von  B.  K«jbler    .         ...              .     .                            ...  ITC* 

Vermischtes: 

Adolf  Holtzmann.    Xekrol-^;;  von  E    51  artin     .     .  ._*'»! 

Jnlios  Brakelmaun.     Nekrolo::  von  J.  Zacher   .         .  *J<<7 

Litteratur: 

Lc  besant  de  dieu  von  Ouillaume  le  clerc  <Je  N'^rjuaii-iie .  h-.rju.-j:.  \"ii  E  Mji- 

tin;  angez.  von  J.  I>rakeliriai<n 21" 

K.  Maurer,  die  Skidarima :  an^ez.  v^n  TL.  3iöbiua  .     .     .                   ...  sJl 

So  der  wall,   huf*'udepokerjia  af  bveiioka  öj'rakets  utoildnijj;: :    ^uj'.z.  v..u  Th. 

MöbiuB 1*;:^ 


VI  INHALT 

K.  Weinhold,    die  gotische  spräche  im  dienste  des  Christentums;   angez.  von 

E.  Bernhardt 236 

Deutsches  heldenbuch.  V.    Dietrichs  aben teuer    von  Albrecht   von  Kemenaten, 

herausg.  von  J.  Zupitza;  angez.  von  E.  Steinmeyer 237 

Haym,  die  romantische  schule;  angez.  von  K.  Weinhold ^   .     .    244 

Otfrid,  übersetzt  von  Joh.  Kelle;  angez.  von  J.  Zupitza 246 

Ph.  Dietz,  Wörterbuch  zu  Luthers  deutschen  Schriften;  angez  von  R.  Hilde - 

brand 358 

Jegor  V.  Sivers,   Herder  in  Riga;    derselbe,  humanität  und  nationalität ; 
A.  Kohut,  Herder  und  die  humanitätsbestrebungen  der  neuzeit  I.;  angez. 

von  B.  Suphan 365 

Redlich,    die    poetischen    beitrage    zum    Wandsbecker    Bothen;    angez.    von 

K.  Weinhold 370 

A.  Joly,  Benoit  de  Sainte-More  et  le  roman  de  Troie;  angez.  v.  E.  Wörner    372 
R.  V.  Raum  er,  gcschichte  der  germanischen  philologic;  angez.  von  K.  Wein- 
hold       481 

Jacob  Grimm,  kleinere  Schriften;  angez.  von  0.  Jänicke 483 

August  Werner,  Herder  als  theologe;  angez.  von  B.  Suphan 490 


Register  von  Konrad  Zacher 495 


•  ♦ 


ÜBER  DIE   EDDALIEDER 

HEIMAT,  ALTER,  CHARAKTER. 

In  Scandinavien  und  Dänemark  streitet  man  sich  seit  einer  reihe 
von  Jahren  über  das  speciellere  anrecht  an  die  sogenannte  ^,Edda-poe- 
sie."  ^  Am  wenigsten  haben  sich  die  schwedischen  gelehrten  an  diesem 
Zwiste  beteiligt,  der  um  so  hitziger  zwischen  Dänen  und  Norwegern  ent- 
brant  ist  Norwegische  altertumsforscher  wollen  diese  poesie  als  eine 
speciel  norwegische  angesehen  wissen.  Ihrer  meinung  nach  wären,  • 
wenngleich  die  nachbarvölker  ähnliche  lieder  gleicher  form  gehabt  hät- 
ten, doch  die  Eddalieder,  und  zwar  in  der  auf  uns  gekommeneu  gestalt, 
samt  und  sonders  norwegische  producte ,  von  den  Isländern  bewahrt  und 
niedergeschrieben.  Dieser  an  und  für  sich  keinesweges  extravaganten, 
im  gegenteil  auf  den  ersten  blick  sehr  plausibeln  ansieht  wollen  die 
Dänen  (denen  sich  im  ganzen  genommen  die  Schweden,  obschon  mit 
geringerem  eifer ;  anzuschliessen  geneigt  sind)  durchaus  nicht  beipflichten. 
„Der  bewährte  Patriotismus  der  dänischen  gelehrten"  sträubt  sich  gegen 
etwas  so  „ antiscandinavisches ,"  so  „unnationales."  Meine  landsleute 
wollen  die  isländische  litteratur  so  weit  möglich  in  dem  einen  oder  dem 
andern  sinne  zu  etwas  „gemeinsam -nordischen"*  machen,  ein  bestre- 
ben, das  sich  vor  allem  auf  die  Eddalieder  richten  muss.  Die  gemäs- 
sigteren  unter  den  dänischen  patrioten  haben  sich  damit  begnügt,  den 
norwegischen  theorien  diesen  umfänglicheren  begriff  „Gesamt -Nor- 
disch" (auch  „Scandinavisch,"  in  solchem  sinne  genommen,  dass  es 
Dänisch  in  sich  begreift)  entgegenzuhalten,  ohne  den  Norwegern  einen 
anteil  am  entstehen  der  Eddalieder  geradehin  abzusprechen ,  obschon  man 
wol  ersieht,  dass  ihnen  der  vermeintliche  dänische  anteil  mit  besonderm 
übergewicht  am  herzen  liegt.  Der  sich  fortwährend  steigernde  „nationale" 
eifer  der  dänischen  altertumsforscher  hat  sich  jedoch  nicht  auf  die  länge 
mit  so  bescheidener  unbestimtheit  vertragen  können.  Mit  dem  lebhaf- 
testen beifall  hat  man  eine  lehre  aufgenommen,  wonach  den  Norwegern, 
und  auch  wenigstens  den  eigentlichen  Schweden  (denen  im  alten  Svea- 

1)  YgL  das  bezügliche  in  den  artikehi  von  Maurer  und  Möbius  im  ersten  bände 
dieser  Zeitschrift. 

2)  „  Fallesnordisk/' 

ZB1T80HB.   F.  DEUT8CHB  PUILOL.    BD.  III.  1 


E.    JESSEN 


rike) ,  aller  anteil  am  entstehen  der  Eddalieder  abzusprechen  wäre ,  indem 
dieselben,  und  zwar  wesentlich  in  der  noch  vorliegenden  gestalt  (gröss- 
tenteils sogar  „wort  für  wort"  unverändert)  einem  „litterarischen  gol- 
denen Zeitalter  des  älteren  und  mittleren  eisenalters  ^  in  Südscandinavien 
(Dänemark  und  wol  auch  das  alte  Göta-rike)"  entstammen  sollten, 
wogegen  den  Norwegern  ein  späteres  silbernes  Zeitalter  einzuräumen 
wäre,  in  welchem  andere  von  den  auf  Island  niedergeschriebenen  gedich- 
ten  entstanden,  so  wie  femer  die  mythischen  erzählungen  in  der  pro- 
saischen Edda  als  norwegische  (oder  gar  zum  teil  isländische)  verzerrte 
aUegorisierende  Umbildungen  von  mythen,  als  Volksmärchen  des  mittel- 
aKers,  anzusehen  wären.*  Gegen  meine  landsleute  habe  ich  mich  (in 
ein  paar  dätiisch  geschriebenen  aufsätzen)  insofern  an  die  Norweger 
geschlossen ,  als  ich ,  ohne  überall  jede  möglichkeit  dänischer  oder  schwe- 
discher herkunft  durchaus  zu  läugnen,  die  eddalieder  doch  im  ganzen 
genommen  für  specielleres  eigentum  des  norwegischen  („norrönen")  volks- 
stammes  ansehen  muss,  jedoch  mit  der  bedeutenden  modification,  dass 
ich  die  mehrzahl  der  lieder  für  isländische  bearbeitungen  älterer  dich- 
tung.  halte,  und  nur  bei  einigen  liedern  an  wesentlich  unveränderte  Über- 
lieferung buchstäblich  gesprochen  norwegischer  producte  glauben  möchte. 
Die  gedichte  also  kann  ich  nicht  „gesamtnordische,"  noch  viel  weni- 
ger „ südscandinavische "  oder  dänische  nennen;  wogegen  es  sich  von 
selbst  versteht,  dass  niemand  die  Verbreitung  über  den  ganzen  norden 
sowohl  der  mythologie  als  der  heldensage ,  die  das  thema  der  Eddalieder 
abgaben,  läugnen  könte;  was  mich  indessen  nicht  davon  abhalten  kann, 
mich  auch  in  dieser  beziehung  der  benennung  „gesamt -nordisch"  zu 
widersetzen,  und  statt  dessen  die  benennung  „ gesamt- germanisch "  * 
festzuhalten,  indem  ja  die  mythologie  der  deutschen  Völker  erweislich 
wesentlich  ganz  dieselbe  war  wie  die  norwegische,  und  die  sage  von 
den  Welisungen  und  den  Nibelungen  nicht  nur  bekantlich  bei  den  Deut- 
schen wo  möglich  noch  verbreiteter  war  als  im  norden,  sondern,  meiner 
ansieht  nach,  sogar  erweislich  bei  den  Deutschen  entstand,  und  im  nor- 
den nur  als  fremdes  gut  eingeffihrt  wurde,  so  dass  bei  dieser  sage  der 
ausdruck  „  gesamtgerraanisch "  dem  norden  sogar  noch  zu  viel  lässt.  Es 
mag  andere  sagen  gegeben  haben,  die  über  den  ganzen  norden  verbrei- 

1)  Über  die  ausdrücke:  „stein-,  bronce-,  erstes,  zweites,  drittes  eisenalter" 
der  dänisehen  ^lehrten  vgl.  des  herrn  Verfassers  erläotemde  bemerkung  am  ende 
dieser  abbandlang.  Bed. 

2)  Vgl.  rücksicbtlicb  dieser  nltradäniscben  lehre:  Mobius  in  dieser  zeitschr.  I,  430 f. 

3)  „ Gesamt -dentscb"  würden  die  nachfoiger  J.  Grimma  sagen.  Mir,  als 
einem  Dänen,  fällt  es  nicht  natürlich,  die  benennung  „deutsch"  auf  den  norden  zu 
erstrecken. 


ÜBER  DIE  EDDALIEDER  3 

tet,  den  Deutschen  aber  fremd  waren.  leh  weiss  nicht  eben,  ob  es 
jetzt  noch  möglieh  ist,  irgend  eine  heidnische  sage  als  eine  solcher 
weise  entschieden  gesamtnordische  zn  bezek^en ,  indem  es  uns  jia  zu 
sehr  an  näherer  kentnis  des  sagenbestandes  heidnischer  zeiten  in  Schwe- 
den und  in  Norddeutschland  gebricht  Mt  den  sogenanten  EdMiedem 
aber  berührt  sich  die  frage  eigentlich  gar  nichts  indem  dieselben,  attsser 
der  mythologie,  diejenige  heldensage  behandeln^  welche  man  sogar  viel« 
mehr  eine  deutsche^  als  eine  „ gesamtgermanisohe '^  zu  benennen  hat.* 

Ich  wünsche  meine  ideen  über  diese  gegenstände  in  einei^  verbrei- 
tetern  (wenngleich  mir  leider  viel  weniger  geläufigen)  sFpraohe  als  der 
dänischen,  und  somit  einem  giössern  und  unparteiischern  leserki'eise  ais 
dem  dänischen,  vorzulegen.  Nur  mit  dem  wünsche  nach  feststellting 
der  Wahrheit  schreiben ,  bleibt  innerhalb  der  dänischen  litteratur  gewölin- 
lieh  eine  mehrfach  undankbare  arbeit,  grossenteils  sogar  eine  unihög- 
lichkeit.^ 

Es  sind  also  zwei  hauptansichten,  die  ich  als  die  meinigen  ver- 
teidige: 1)  dass  die  heldensage  der  Eddalieder  eine  deutsche 
sei,  2)  dass  die  Eddalieder  „norröne^^  (norwegische  und  islän- 
dische) lieder  seien;  welche  beiden  ansichten  von  einander  so  ziem^ 
lieh  unabhängig  sind.  Besonders  über  die  erstere  liesse  sich  ein  dickes 
buch  schreiben.  Ich  wünsche  aber  eben  besonders  bei  dieser  so  kurz 
und  gedrängt  wie  nur  immer  möglich  zu  sein,  also  nur  hauptmoinente 
hervorzuheben,  was  mich  nötigt,  kentnis  der  sage  bei  dem  leser  vor- 
auszusetzen.^ 

I. 
DIE  SAGE  DEUTSCH. 

Als  einleitung  zu  diesem  abschnitt  (jedoch  auch  mit  bezug  auf  den 
folgenden)  scheint  es  zweckmässig,  einige  kurze  bemerkungen  vorauszu- 
schicken, betreffend  die  norröne  heroische  sagenlitteratur  überhaupt. 

1)  ,, Deutsch"  also  in  dem  sinne  gebraucht,  dass  es  Dänisch,  Schwedisch  und   « 
"Norwegisch  ansschliesst. 

2)  Nur  die  drei  Helgenlieder  enthalten  -(obschon  durch  spätere  willkürliche 
umdichtung  yerschobene)  bestandteile  allem  anschein  nach  ursprünglich  nordischer 
heldensage. 

3)  So  begegnete  es  mir  hei  dem  Eopenhagener  historischen  verein,  der,  däni- 
sehen  zustanden  und  dem  Eopenhagener  Cliquenwesen  gemäss ,  unter  der  leitung  eines 
Politikers  und  nicht  -  historikers  steht,  dass  ich  mich  in  diesem  streite  in  der  zeit- 
sclirift  dieses  Vereins  des  wertes  beraubt  fand,  während  man  fortfuhr,  der  den  Dänen 
schmfeichehide&  ansteht  d«n  räum  im  vollsten  masse  oflbn  zu  halten. 

4)  Die  beste  übersicfat  der  einen  baupttenl  der  sage  findet  man  in  der  kurzen 
erzahlung  der  Snorra-Edda  (deutsch  z.  b.  bei  Simrock);   die  andere  hauptform  ken- 

1* 


E.   JESSEN 


Es  wanderten  schon  im  altertum  die  producte  des  dichterischen 
geistes  von  einem  volke  zum  andern.  Damals,  wie  jetzt,  wurde  man 
des,  alten  und  bekanten  satt,  und  war  hungrig,  neues  zu  gemessen. 
Dass  auch  schon  damals  die  bewohner  des  nordens  eher  den  Deutschen 
etwas  entliehen,  als  umgekehrt,  ist  der  natur  der  sache  gemäss.  Wir 
haben  indessen  einen  beleg,  dass  wenigstens  ein  deutsches  volk,  näm- 
lich die  Engländer,  nordische  sagen  nicht  verschmähte,  darin,  dass  das 
angelsächsische  gedieht  Beowulf  nur  nordische  sagen  behandelt.  Die 
Angeln  und  Sachsen  werden  in  demselben  auch  nicht  einmal  genant, 
wogegen  es  sich  um  drei  nordische  Völker,  jedes  unter  seinem  könige, 
handelt:  1)  um  das  der  Dänen  unter  den  Schiltungen  (Scyldingas) ,  als 
Halbdan,  Eoan,  Helge,  Kolf  (Healfdene,  Hrödgär,  Hälga,  Hrödulf), 
welches  sich,  mit  derselben  ausdehnung  wie  in  spätem  zeiten^  bis  an 
die  Friesen  erstreckt,  und  schon  damals,  als  diese  sage  mit  der  aus 
Saxos  und  der  Isländer  Überlieferung  genugsam  bekanten  namenreihe 
nach  England  gelangte,  nur  ein  reich,  und  nicht  mehrere  kleinere,  aus- 
machte ;  2)  um  das  der  Gauten  (Geätas  =  der  schwedischen  form  Götar), 
zu  welchem  der  held  des  gedichtes,  Beowulf,  gehört;  3)  um  das  der 
Schweden  (Sweön  =  Svear  in  specieller  bedeutung) ,  unter  dessen  köni- 
gen  wir  die  namen  Ottar  und  Adils  (Ohthere,  Eadgils)  widererkennen. 
Die  sage  ist  aus  Dänemark  oder  aus  Gautland  nach  England  gebracht, 
und  zwar  zu  einer  zeit,  als  sie  noch  nicht  die  gestalt  erreicht  hatte,  die 
wir  bei  Saxo  und  in  der  Eolfs-saga  vorfinden.  Andererseits  ist  diese 
sage  aber  von  englischen  christlichen  dichtem,  wol  zu  widerholten  malen, 
so  umgebildet  worden,  dass  sie  dennoch  eine  unursprunglichere  gestalt 
trägt  als  in  der  nordischen  Überlieferung.  Es  ist  auf  den  ersten  blick 
sehr  auffallend,  dass  wir  in  der  äusserlich  betrachtet  reichen  angel- 
sächsischen poetischen  litteratur  auch  keine  einzige  behandlung  specifisch 
englischer  heldensage,  hingegen  ein  grosses  gedieht  über  fremde  sagen 
finden.  Es  lässt  sich  aber  dies  aus  politischen  Verhältnissen  erklären. 
Die  Streitigkeiten  der  untergegangenen  kleinen  angelsächsischen  reiche 
waren  nicht  mehr  ein  passendes  thema  für  den  sänger,  der  am  hofe  des 
herschers  über  ganz  England  sein  unterkommen  zu  suchen  hatte.  Die 
einheimischen  angelsächsischen  heldenlieder  musten  in  Vergessenheit 
geraten. 

Im  norden  muste  ein  ähnliches  Schicksal  die  einheimische  nor- 
wegische heldensage  treffen.    Dass  diese  eine  reiche  gewesen  ist, 

nen  deutsche  leser  aus  dem  Nibelungenliede.  Deutsche  hilfsmittel  {W,  Grimm ,  Rasz- 
mann  usw.)  wäre  es  kaum  nötig  zu  nennen.  —  Von  den  unzähligen  abhandlungen 
möchte  ich  etwa  diejenigen  von  Müllenhoflf  (Haupts  zeitschr.  bd.  10  und  12)  hervor- 
heben, an  die  ich  mich  näher  als  an  irgend  andere  mir  bekante  schliessen  kann. 


ÜBEB  DIE   EDDAIilBDEB  5 

brauchen  wir  nicht  im  geringsten  zu  bezweifeln.  Aber  nur  ziemlich 
weniges  hat  sich  gerettet:  in  der  Halfs-saga,  in  verschiedenen  bestand- 
teilen  der  Fridthjofs-saga,  der  örvarodds-sagÄ,  sowol  als  mehrerer 
anderer  von  den  in  den  beiden  letzten  teilen  der  „  Fornaldarsögur "  ent- 
haltenen märchen  und  romanen;  ferner  in  der  Helga  kvida  Hjorvards- 
sonar,^  und  wol  auch  in  dem  zur  heroischen  sage  gehörenden  ramen  des 
Qrinmismäls.  Auch  die  Ynglinga  -  saga  (was  man  nun  auch  inmier  von 
der  authentie  des  zu  gründe  liegenden  gedichtes  halten  mag)  ist  zunächst 
nur  als  eine  norwegische  familientradition  aufzufassen,  und  keinesweges 
als  ein  excerpt  schwedischer  königssage,  obschon  es  immerhin  möglich 
ist,  dass  diese  familientradition  wirklich  einzelne  aus  dem  vielleicht  nicht 
nur  vorgeblichen  stamlande  mitgebrachte  sagenelemente  möchte  fest- 
gehalten haben.  Ob  die  älteren  bestandteile  der  ersten  hälfte  der  Her- 
vararsaga  hieher  gehören ,  ist  disputabel ,  indem  der  kämpf  auf  Samsö 
(der  insel  im  Kattegat)  auch  von  Saxo  (und  in  einer  „Ksßmpevise")  erzählt 
wird.  Samsö  und  Läsö  spielen  auch  anderwärts  in  der  phantasie  norrö- 
ner  dichter,  was  sich  aus  der  Vertrautheit  norwegischer  schiffer  mit  die- 
sem fahrwasser  leicht  genug  erklärt,  so  dass  in  der  nennung  dieser  insel 
kein  beweis  dänischen  Ursprunges  liegt.  An  schwedischen  Ursprung 
möchte  ich  durchaus  nicht  glauben,  indem,  abgesehen  von  möglicher- 
weise acht  schwedischen  elementen*  in  der  familientradition  des  norwe- 
gischen Yngling- geschlechtes  (wohin  diese  sage  schwerlich  gehören  könte), 
kaum  irgend  eine  uralte  sage  oder  irgend  ein  lied  aus  Schweden  in  die 
norröne  litteratur  eingedrungen  ist.  Da  sowol  bei  Saxo  als  in  der  Her- 
vararsaga  der  kämpf  Hjalmars  und  Angantys  auf^Samsö  mit  der  doch 
offenbar  norwegischen  sage  von  Örvarodd  verwoben  ist,  möchten  wir  hier 
nicht  ohne  Wahrscheinlichkeit  an  eine  entlehnung  des  ganzen  aus  Norwe- 
gen nach  Dänemark  denken.  Die  liederreste  in  der  ersten  hälfte  der 
Hervararsaga  könten  jedenfalls  in  keiner  unverändert  dänischen  (oder 

1)  Helge  ist  ein  Norweger  (siehe  eins  der  prosas tückchen:  Hjörvaräi  konungi 
iNoregi;  und  str.  31:  hvai  kanntu,  segja  nj/rra  spjaJJa  orNoregi);  vieUeicht  speciel 
ans  Rogaland  (c£r.  str.  43  Bogheims ä  vit?).  Dass  die  prosastückchen  kriege  in  den 
„südlanden,"  speciel  im  „Schwabenlande"  erwähnen,  Widerspricht  dem  nicht,  aber 
beweist,  dass  wir  eine  späte  gestaltnng  der  sagte  vor  uns  haben,  ans  der  zeit,  wo 
man  es  lichte  den  Schauplatz  ins  enorme  zu  erweitern,  wie  das  in  der  Hervararsaga 
und  andern  Fomaldarsöq%t/r  geschieht. 

2)  Zu  diesen  möchte  gehören  die  sage  von  GeQon,  wie  sie  „Seeland"  aus 
dem  Mälar  herauspflügt.  Dies  Seeland  ist  nämlich  offenbar  das  schwedische  Seeland 
(=  Roslagen),  die  meeresküste  nördlich  des  Mälars.  In  Norwegen  oder  Island  hat 
man  die  sage  später  aus  misverständnis  und  Unwissenheit  auf  das  dänische  Seeland 
übergeführt,  so  in  der  strophe  (gleich  anfangs  in  der  Snorra- Edda) ,  die  man  dem 
vorgeblichen  „Brage  Skald  dem  Alten"  zuschrieb. 


E.   JESSEN 


schwedischen)   redaction  vorliegen,   wie  das  aus   folgender   stelle   her- 

v^geht : 

hetr  pykkjunisk  ek  Besseres  meiae  icJi, 

Imälungr  hafa  König,  erlang  zu  haben, 

enn  pö  Noregi  als  wenn  ich  erreichte 

ncßäak  öUum  ganz  Norwegen 

was  natürlich  nur  ein  norwegischer  (oder  isländischer)  dichter ,  nach  Ver- 
einigung Norwegens  zu  einem  reiche,  in  das  gedieht  hineinbringen  konte. 
Einiges  haben  also  die  Isländer  doch  von  der  altnorwegischen  helden- 
sage  bewahrt  Das  können  aber  nur  fragmente  sein  von  dem  ganzen  grossen 
vorrate.  Als  in  der  letzten  hälfke  des  9.  Jahrhunderts  die  vielen  kleinen 
norwegischen  reiche  durch  eroberung  zu  einem  grossen  norwegischen 
reiche  wurden,  büssten  sofort  die  einheimischen  heldenlieder  gröstenteils 
ihre  lebensiS.higkeit  ein.  Die  in  den  nächsten  Jahrhunderten  mehrmals 
eintretende  Verbindung  Norwegens  mit  Dänemark  und  das  politische 
interesse  der  norwegischen  könige,  als  sprösslinge  auch  des  „Kagnar- 
LodbroMschen  geschlechtes"  zu  gelten,  führte  dänische  königssagen  bei 
den  Norwegern  ein.  So  finden  wir  die  sage  von  Koar,  Helge  und  Kolf 
Krake,  ferner  die  von  Harald  Hildetann,  endlich  die  von  Eagnar  Lod- 
brok,  in  isländischen  sagas  behandelt,  und  zwar  in  einer  gestalt,  die 
sich  zu  der  von  Saxo  überlieferten  solchermassen  verhält,  dass  einerseits 
an  eine  entlehnung  ^  direct  aus  Dänemark  erst  zur  zeit  der  isländischen 
sagaproduction  nicht  zu  denken  ist,  andi'erseits  eine  entlehnung  „im 
altern  oder  mittlem  eisenalter"  vollends  undenkbar  ist,  indem  sowol  die 
Isländer  als  Saxo  di«  gesamte  dänische  sagengeschichte  mit  sachsenkrie- 
gen, englandszügen  und  nordhumbrischen  eroberungon  durchwoben  sein 
lassen,  ein  beweis,  dass  die  dänische  sagengeschichte  auf  dem  wege 
durch  die  eigentliche  sogenante  Wikingszeit  (ungefähr  850  bis  1030*) 
eine  gänzliche  Umgestaltung  durchlebte,  und  erst  in  dieser  jüngsten 
gestalt  nach  Norwegen  (und  Island)  gelangte,  wogegen  die  dänischen 
kömgssagen  im  Beowulf  früher  nach  England  gelangten,  nämlich  vor 
dieser  Umgestaltung ,  früher  also ,  als  die  grossen  kriege  mit  den  Deut- 
schen und  die  grossen  züge  nach  England  und  eroberungen  daselbst 
auf  die  gestaltung  der  dänischen  sagengeschichte  einwirkten.  Norröno 
dichter  erlaubten  sich  an  der  eingeführten  dänischen  sage  willkürlich 
erdachte  änderungen  und  zutaten,  namentlich  in  bezug  auf  die  Kagnar- 

1)  Des  ganzen.    —   Eins  und  das  andere  mag  natürlich  sogar  spät  im  mittel- 
alter  direct  importiert  sein. 

2)  Die  eroberungen  in  England  fiengen  erst  nm  870  an.  —    Saxo  lässt  schon 
seinen  ersten  Frode  den  Rhein  hinauf  segeln! 


ÜBER  DIE  EDDALIEDER  7 

Lodbroksche  genealogie,  also  zu  einer  zeit,  wo  solche  änderungen  und 
zutaten  noch  praktisches  interesse  haben  konten.  So  machten  sie  eine 
der  frauen  Bagnars  zur  tochter  Sigurds  des  drachentöters ,  und  Bagnar 
selbst  zum  söhne  jenes  schwedischen  königs  (Bing,  oder,  wie  er  in  nor»- 
röner  umtaufung  heisst ,  Sigurd  Bing) ,  dem  der  dänenkönig  Harald  Hildfe- 
tann  in  der  sagenhaften  Braavalla- Schlacht  erlag.  —  Auch  die  sage 
von  den  goldmalenden  riesenweibem  Penja  und  Menja  erscheint  in  der 
norrönen  litteratur  in  einer  gestalt,  die  sie  nur  in  Dänemark  erreicht 
haben  kann,  nämlich  mit  der  speciel  dänischen  königsreihe  verweben.^ 
Da  diese  sage  bei  dem  norrönen  stamme  nur  als  eine  fremde  auftritt, 
sich  aber  bei  den  Deutschen  ^  widerfindet ,  haben  wir  sie  also  jedenfalls 
nicht  als  eine  ursprünglich  „gesamtnordische"  aufzufassen,  sondern  am 
ehesten  als  eine  deutsche,  in  Dänemark  eingeführte,  und  daselbst  mit 
einheimischen  dänischen  sagen  verwobene  (was  natürlich  nicht  verbietet, 
das  „  Grotten -lied"  für  eine  norröne  production  über  ein  zunächst  däni- 
sches thema  zu  halten). 

Die  norröne  heroische  sagenlitteratur  enthält  also  ungefähr  eben  so 
viele  aus  Dänemark  importierte  sagen ,  als  einheimische  norröne.  Weder  die 
einen  noch  die  andern  liegen  uns  in  den  „Eddaliedern'^  (liedern  der 
sogenanten  „Sämunds-Edda")  vor,  nur  allein  die  sage  von  Helge  Hjör- 
vards  söhn  ^  abgerechnet.  Keiner  der  beiden  Codices  dieser  lieder  (Codex 
Begius  2365.  4 ;  Codex  Amemagnaeanus  748.  4)  enthält  sonst  etwas  direct 
hieher  gehöriges.  Das  „Grottenlied"  ist  andei-swo  (in  einer  handschrift  der 
Snorra-Edda)  aufbewahrt;  es  ist  in  dem  einen  der  beiden  metra  der  Edda- 
lieder abgefasst,  entfernt  sich  aber  sonst  nicht  unbedeutend  von  der  manier 
der  in  der  „Sämunds-Edda"  aufbewahrten  heroischen  lieder.  Es  unter- 
liegt indessen  keinem  zweifei ,  dass  alle  jene  sagen  urspi-ünglich  in  liedern 
derselben  formen  wie  die  Eddalieder  überliefert  worden  sind ,  was  wir  denn 
auch  schon  daraus  ersehen,  dass  mehrere  dieser  sagas  bruchstücke  von 
liedern  solcher  form  liefern,  vor  allen  die  erste  hälfte  der  Hervarar-fiaga, 
so  wie  auch  hie  und  da  alliteration  durch  die  prosa  hervorsticht,  wie  im 
heldenverzeichnis  zur  Braavallaschlacht ,  woselbst  ein  wirklich  in  Däne- 
mark verfasstes  lied  zu  gründe  liegt,  da  nämlich  Saxo*  bei  dem  ent- 
sprechenden Verzeichnis  in  seiner  geschichte  ganz  dasselbe  lied  benutzt, 
ein  lied  aus  späterer  zeit  als  die  colonisation  Islands,  indem  es  in  bei- 
den beeren  Isländer  („ Thylenses ")  aufführt,  und  diese  offenbar  schon 
im  liede  da  waren ,  ehe  dasselbe  zum  norrönen  stamme  hinüber  wanderte, 

1)  Vgl  Grottasöngr  str.  19.  21. 

2)  Vgl.  J.  Grimms  Mythologie:  fanegolt,  manegolt. 

3)  and  die  wenigen  hieher  gehörenden  atrophen  des  Grimnismäls. 

4)  Zu  anfang  des  8.  buchs.    Vgl.  FörnaUarsögwr  bd.  1.  s.  379  f. 


8  E.    JESSEN 

obschon  der  isländische  sagaverfasser  die  vier  Isländer  im  schwedischen 
beere  *  gänzlich  verschweigt,  ohne  allen  zweifei  um  Isländer  nicht  gegen 
einander  kämpfen  zu  lassen,  während  er  den  Isländer  in  Haralds  beer 
(Blend  oder  Blceng),  so  wie  auch  den  Jomswiking  (Toke)  stehen  lässt, 
aber  ohne  bezeichnung  des  heimortes,  ein  deutlicher  fingerzeig, 
dass  ihm  in  diesen  beiden  fällen  der  im  liede  genannte  heimort  anstoss 
erregte,  indem  er  gewohnt  war,  sich  die  Braavalla- Schlacht  vor  der 
entdeckung  Islands  und  vor  der  gründung  der  Jomsburger  republik  zu 
denken. 

Der  norröne  stamm  hat  also  einerseits,  zufolge  der  politischen  Ver- 
hältnisse, von  dem  schluss  des  9.  Jahrhunderts  an,  seine  eigne  alte 
heroische  liederpoesie  in  verfall  und  gröstenteils  in  Vergessenheit  geraten 
lassen,  ohne  eine  neue  zu  producieren,  andrerseits,  und  zwar  ebenfalls 
offenbar  zufolge  politischer  Verhältnisse,  und  frühestens  vom  10.  Jahr- 
hundert an,  dänische  königssagen  aufgenommen  und  festgehalten,  zum 
teil  willkürlich  bearbeitet,  nicht  aber  incorporiert,  nicht  zu  norwegischen 
königssagen  umgeschmolzen, ^  im  gegenteil  fortwährend  als  nur  fremdes 
gut  betrachtet.  Die  bezüglichen  lieder  haben  die  Isländer  beinahe  samt 
und  sonders  zu  gründe  gehen  lassen,  die  eingeführten  dänischen  noch 
mehr  als  die  einheimischen  norrönen. 

Dennoch  haben  uns  die  Isländer  eine  samlung  heroischer  lieder 
schriftlich  überliefert,  nämlich  in  der  „Sämunds  Edda."  Diese  lieder, 
die  von  den  Welisungen  und  Nibelungen,  behandeln  einen  Sagenkreis, 
dem  die  Isländer  ausdrücklich  grösseres  interesse  als  allen  andern 
heroischen  sagen ,  norrönen  oder  dänischen ,  zugestehen ,  den  aber  weder 
die  Isländer  noch  der  Däne  Saxo  jemals  als  einen  norrönen  noch  als 
einen  dänischen  wollen  betrachtet  wissen,  sondern  als  einen  deutschen, 
weshalb  Saxo  auch  nicht  das  mindeste  über  die  beiden  dieser  beiden 
geschlechter  in  seine  sagengeschichte  aufhimt  Die  heutigen  nordischen 
gelehrten  dagegen  wollen  diesen  Sagenkreis  teils  für  einen  „norrönen," 
teils  für  einen  „ südscandinavischen ,"  teils  für  einen  „gesamtnordischen"* 

1)  Mar  ruf  US  e  Mithfirthi;  Gronibar  annosiis;  Gram  Brundelucm;  Chrim  ex 
oppido  Skierum. 

2)  jedoch  mit  einer  ausnähme  (Guäröär)^  wovon  später. 

3)  Für  die  Verbreitung  dieser  sage  auch  in  Schweden  haben  wir  zwei  ziemlich 
alte  Zeugnisse  in  den  bildern  zweier  runensteine  aus  christliche^  zeit  (Bamsund-B'erg 
und  Gök-Sten),  Die  bilder  beider  steine  stellen  die  tötung  des  drachcns  und  des 
Schmiedes  Begin  dar.  Säve  hat  eine  abhandlung  hierüber  geschrieben.  [Jetzt  eben 
auch  in  deutscher  Übersetzung  erschienen:  Zur  Nibelungensage.  Siegfriedbilder, 
beschrieben  und  erklärt  von  prof.  Carl  Saeve.  Aus  dem  Schwedischen  übersetzt  und 
mit  nachtragen  versehen  von  J.  Mestorf.  Mit  4  tafeln  abbildungen.  Hanib.  Meiss^ 
ner  1870], 


ÜBER  DIE   EDDALIEDER  9 

erklären.    Betrachten  wir  also   in  möglichster  kürze   den   stand  dieser 
fragen. 

Die  eine  form  dieser  sagen,  die  isländische  oder  sogenante  „nor- 
dische," liegt  in  den  Eddaliedern  vor,  wobei  wir  nicht  bestimt  wissen, 
wie  viel  von  den  kleinen  prosaausfuUungen  direct  von  verlorenen  Stro- 
phen und  liedern  herstamt.  Die  erzählung  in  der  „jungem  Edda"  (Snorra- 
Edda)  ist  ein  kurzes  excerpt  aus  den  liedern.  Die  Wölsunga-Saga  ist 
eine  in  die  breite  sich  dehnende,  nicht  eben  talentvoll  geschriebene 
erzählung  auf  grundlage  der  lieder  (mit  benutzung  einiger  jetzt  ver- 
lorener). 

Bei  den  Deutschen  liegt  die  sage  in  fast  unzähligen  quellen  vor, 
von  etwa  dem  9.  Jahrhundert  an  bis  auf  den  heutigen  tag,  jedoch  so,  dass 
die  ältesten  quellen ,  so  das  Hildebrandslied  (niedergeschrieben  im  9,  Jahr- 
hundert, oder  im  8.?),  und  angelsächsische  gedichte,  (niedergeschrieben 
etwa  im  9.  bis  10.  Jahrhundert) ,  nur  bruchstücke  der  sage,  oder  gar  nur 
andeutungen ,  liefern.  Weiter  zurück  in  der  zeit  reichen  das  biirgundische 
gesetz  (aus  dem  6.  Jahrhundert),  welches  die  Nibelungen  -  namen  als 
burgundische  fürstennamen  aufführt ,  und  der  geschichtschreiber  Jornan- 
des  (6.  Jahrhundert),  welcher  jedoch  nicht  die  Nibelungensage  selbst 
erwähnt,  sondern  nur  die  anderwärts  mit  derselben  in  Verbindung 
gebrachte  von  Ermenrich  und  der  Schwanhild.  Die  hauptquellen  sind 
aber  erst  das  Nibelungenlied  und  die  Dietrichs  -  Saga ,  welche  letztere 
isländisch,  wol  im  13.  Jahrhundert,  nach  deutschen  gedichten  und  sagen 
abgefasst  wurde.  Die  armut  an  älteren  norddeutschen  quellen  ist  bei  der 
Untersuchung  des  gegenseitigen  Verhältnisses  der  beiden  hauptformen  der 
sage  sehr  empfindlich.  Die  so  eben  erwähnte  Dietrichssaga  hat  nord- 
deutsche quellen  benutzt,  und  beruft  sich  in  der  tat  ausdrücklich  auf 
solche;  es  werden  aber,  wenigstens  für  die  eigentliche  Nibelungensage, 
solche  norddeutsche  gewesen  sein,  die  unmittelbar  dem  hochdeutschen 
Nibelungenlied  entstamten.*  Ähnlich  steht  es  um  die  „Kaempoviser" 
über  Sivard  Snarensvend ,  Didrik  af  Bern  usw. 

Nur  die  isländische  form  der  sage,  d.  h,  die  in  den  Eddas  und  der 
Wölsungasaga  vorliegende  form,  ist  von  nordischen  gelehrten  als  eine 
„nordische,"  eine  nicht  aus  Deutschland  her  entliehene  sage  in  schütz 
genommen  worden.  Ähnliche  rettung  der  Dietiichssaga  und  der  Ksem- 
peviser  *  ist  nicht  einmal  in  frage  gekommen ,  indem  sich  dieselben  eben 
an  die  gewöhnliche  deutsche ,  und  nicht  an  die  isländische  form  der  sage 


1)  Vgl.  die  abhandlung  von  Döring  im  zweiten  bände  dieser  zeitschr. 

2)  Nur  drei  ausgenommen,  von  denen  später. 


10  E.  JS8SEN 

aQ£»chliesBeii ,  ibren  stoff  also  je<ieHfalls  aus  Deutschland  entliehen  haben. 
Die  mehrzahl  der  deutschen  forscher  ist  übrigens  geneigt,  auch  die  islän- 
dische form  als  eine  aus  Deutschland,  jedoch  weit  früher  eingeführte  zu 
betrachten. 

Die  isländische  sagenform  nent  einen  könig  Weisung,  söhn  des 
Rere,  söhn  des  Sige.  Wölsung  ist  vater  des  Sigmund,  der  besonders 
durch  die  Untaten  berühmt  wird ,  die  er  zusammen  mit  Sinflötle ,  zugleich 
seinem  söhn  und  schwestersohn ,  ausübt.  Der  söhn  Sigmunds,  Sigurd, 
wird  nach  dem  tode  des  vaters  und  in  fremdem  lande  (Dänemark?) 
geboren.  Dieser  Sigurd  nun  tötet  jenen  drachen,  bemächtigt  sich  des 
drachenschatzes ,  besucht  die  Brynhild,  Schwester  des  königs  Atle,  komt 
danach  zu  den  Gjukungen  (Gunnar,  Högne,  Guttorm,^  welche  in  ein  par 
liedern  Niflungar  genant  werden);  hier  vergisst  er  die  Brynhild,  und 
heiratet  die  Schwester  der  Gjukunge,  welche  bei  i&a  Isländern  Gudrun 
heisst,  während  ihre  mutter  den  namen  Grimhild  fahrt.  Femer  verhilft 
er  seinem  schwager  Gunnar  zur  heirat  mit  der  Brynhild ,  aber  durch  eine 
list,  welche  diese  dadurch  rächt,  dass  sie  die  Gjukunge  zur  ermordung 
Sigurds  antreibt,  was  auch  von  dem  jüngsten  der  brüder,  Guttorm, 
bewerkstelligt  wird,  nach  einigen  liedern,  als  Sigurd  im  bette  schläft, 
nach  andern,  während  er  auf  eine  jagd  ausgeritten  ist;  womuf  Brynhild 
sich  selbst  tötet.  Gudrun  wird  mit  dem  könig  Atle  verheiratet.  Dieser 
lockt  die  Gjukunge  zu  sich,  und  vernichtet  sie.  Gudrun  tötet  zur  räche 
seine  beiden  söhne  (von  welchen  der  eine  Erp  heisst^),  und  hernach  ihn 
selbst,  und  dies  letztere  zwar  (dem  Atlamäl  zufolge)  mit  beihilfe  eines 
sohnes  des  Högne.  Zum  dritten  mal  verheiratet  sie  sich,  mit  dem  könig 
Jonakr.  Ihre  und  Sigurds  tochter,  Swanhild,  wird  die  gemahlin  des 
gotenkönigs  Jörmunrek,  welcher  in  einem  anfall  von  eifersucht  die  Swan- 
hild von*pferden  zertreten  lässt.  Nun  treibt  Gudrun  ihre  und  des  Jonakr 
beiden  söhne,  Hamde  und  Sörle,  und  den  söhn  Jonakrs  aus  früherer 
ehe,  Erp,  zur  räche  wegen  dieser  untat  an;  auf  dem  wege  mri  Erp  von 
seinen  Stiefbrüdern  erschlagen,  welche  selbst  im  angriffe  auf  Jörmunrek 
umkommen,  nachdem  sie  diesem  bände  und  füsse  abgehauen  haben. 

In  der  nicht -isländischen  sagenform  heisst  Sigurd:  Siegfried,^  und 
Gudrun:  Grimhild,  Krimhilt;  wogegen  ihre  mutter  unter  andern  namen 
vorkömt.     Hagen  (=  Högne)  ist  nur  in  einigen  der  hieher  gehörigen 

1)  Guttorm  wird  im  Hyndlalied  Stiefsohn  des  Gjoke  genannt 

2)  Wie  in  der  Dietrichssaga. 

3)  Jedoch  nicht  in  der  Dietrichssaga  und  den  Kaempcviser.  Weil  Siegfried  ein 
im  norden  ungebräuchlicher  namc  ist,  setzt  auch  die  Dietrichssaga  st^tt  dessen  gewöhn- 
lich den  norrönen  namen  Sigurd,  und  die  Kaempeviser  die  entsprechende  dänische 
form  Siward. 


ÜBER  DIE   EDDALIEDER  11 

quellen  bruder  Günthers  (=  Gunnar),   ist  aber  überall  ein  genösse  der 
Nibelunge.^    Brynhild  ist  nicht  mehr  Schwester  des  Atle,  Etzel. 

In  den  ereignisseu  gibt  es  folgende  hauptabweichungen:  Der  anfang, 
von  den  vorfahren  Sigmunds,  ist  in  Vergessenheit  geraten  (wogegen  ein 
angelsächsisches  gedieht  noch  die  Übeltaten  Sigmunds  und  Fitelas  erwähnt). 
Nicht  Godomar  (=  Guttorm),  sondern  Hagen  erschlägt  den  Sigfrid,  als 
dieser  im  walde  vom  pferde  gestiegen  von  einer  quelle  trinkt  (aber  nach 
Hans  Sachsens  darsteUung ,  als  er  im  walde  schläft).  Nicht  Etzel ,  son- 
dern Grimhild  (==  Gudrun)  strebt  den  Nibelungen  nach  dem  leben,  indem 
sie,  gegen  den  willen  Etzels,  ihren  ersten  gatten  rächen  will.  Dies 
gelingt,  zunächst  durch  die  hilfe  Dietrichs  von  Bern,  der  (von  Sibich, 
oder  vonOtacher,  oder  von  Ermenrich ,  je  nach  den  verschiedenen  berich- 
ten) vertrieben,  sich  an  Etzels  hofe  aufhält.  Nach  dem  kämpfe  gerät 
Dietrich  in  zorn  über  die  grausamkeit  der  Grimhild,  und  haut  sie  mit- 
ten durch.  Ein  söhn  Hagens  übt  räche  an  dem  ziemlich  unschuldigen 
Etzel.  Die  dritte  heirat  „Gudruns"  fehlt  also  in  dieser  sagenform,  so 
dass  Gudrun  mit  dem  tode  Ermenrich  s  (=  Jöimunrek)  nichts  zu  tun 
hat,  und  nicht  mutter  der  gebrüdor  Hamadeo  und  Sarulo  ist;  die  tra- 
gische geschichte  dieser  brüder  und  ihrer  Schwester  ist  den  deutschen 
stammen  bekant  gewesen  (schon  Jemandes  erwähnt  ja  diese  sage) ,  wird 
aber  selten  berührt,  und  ohne  solche  nähere  Verbindung  mit  der  eigent- 
lichen Nibelungensage.  Viele  der  Edda  gänzlich  unbekante  geschich- 
ten,  besonders  von  Dietrich  und  Ermenrich,  werden  dagegen  angeknüpft, 
(z.  b.  die  von  der  tötung  der  Harlunge  durch  ihren  Oheim  Ermenrich). 

Man  ist  darüber  einverstanden,  dass  die  isländische  gestaltung  der 
sage  in  ereignissen  und  in  verwantschaftsverhältnissen  der  personen 
gewöhnlich  das  ursprünglichere  besitzt,  so  wenn  nach  derselben  Guttorm 
den  Sigurd  erschlägt,  Brynhild  sich  selbst  tötet,  Atle  die  Gjukunge  ver- 
nichtet, dass  also  in  solchen  fallen  die  sage  bei  den  Deutschen  verhält- 
nismässig jüngere  Umbildungen  erlitten  hat.  Doch  ist  man  darüber  wol 
allgemein  einig,  dass  wenigstens  Gudruns  dritte  heirat,  also  die  nähere 
Verbindung  mit  der  Schwanhildensage,  im  norden  erfunden  ist. 

Eins  von  dreien  nun  muss  man  sich  denken:  1)  entweder  ist  die 
sage  im  norden  entstanden,  und  von  da  zu  den  deutschen  Völkern 
gelangt;  2)  oder  umgekehrt  bei  den  Deutschen  entstanden,  und  bei  den 
nordischen  Völkern  in  altertümlicherer  gestalt  eingefühi-t,  als  sie  sich  in 
Deutschland  bewahrt  hat;  3)  oder  keins  von  beiden,  sondern  so  unge- 
heuer alt,  dass  sie,  in  allen  gemeinschaftlichen  zügen,  schon  bei  dem 
gemeinschaftlichen  germanischen  urvolke,    ehe   sich  dieses  in  die  deut- 

1)  Vgl.  Grimms  heldensage  no.  96. 


12  E.    JESSEN 

sehen  und  nordischen  Völker  zerteilte,  ausgebildet  war.  Die  unter  nr.  1 
aufgestellte  alternative  wird  wol  kaum  von  irgend  jemand  offen  vertei- 
digt, und  mag  im  folgenden  aus  dem  spiele  bleiben.  Die  zweite  ist  die 
vorhersehende  ansieht  deutscher  forseher,  und  die  dritte  die  der  nordi- 
schen, insofern  übrigens  diese  letzteren  es  wagen,  ihre  „nordische"  lehre 
bestimter  zu  formulieren.  Es  fragt  sich  also  zunächst:  lässt  sich  irgend 
etwas  anführen ,  was  die  eine  der  beiden  letztern  ansichten  (nr.  2  und 
nr.  3)  verbietet,  und  somit  die  andere  bestätigt? 

Wenn  beide  gestaltungen  der  sage  entweder  den  norden  oder 
Deutschland  zum  Schauplatz  der  begebenheiten  machen,  dann  ist  die 
sage  keine  gemeinsame  urgermanische.  Ehe  es  deutsche  und  nordische 
Völker  gab,  konte  die  sage  auf  kein  einzelnes  deutsches  oder  nordisches 
volk  übertragen  werden.  Das  urgermanische  volk  konte  die  sage  nicht 
in  den  noch  unbekanten  Wohnorten  künftiger  völkerzweige  localisieren. 

Nun  ist  in  beiden  gestaltungen  der  sage  Sigfrid  (Sigurd)  deutscher 
fürst;  das  Eheinland  („die  fernen  felsen  des  Kheins"^)  Schauplatz  der 
hauptereignisse  vor  Sigfrids  tode,  und  Etzels  (Atles)  land  nach  demsel- 
ben. Es  ist  also  durchaus  unmöglich,  dass  die  sage  eine  in  solcher 
gestalt  urgermanische  sein  könte ;  ^  es  ist  ganz  undenkbar ,  dass  sie  nicht 
eine  deutsche  sein  sollte ;  es  ist  gewiss ,  dass  sie  bei  den  nordischen  Völ- 
kern nur  eingeführt  ist. 

Nach  den  deutschen  quellen  zusammengenommen,  und  zurück  bis 
zu  den  ältesten  (den ►angelsächsischen  liedern,*  dem  Hildebrandslied, 
dem  Burgundengesetz),  rücksiehtlich  des  Ermonrich  bis  zu  Jemandes 
zurück,  ist: 

Ermenrich  könig  der  Goten  (in  der  Dietrichssaga  nach  Rom  ver- 
setzt). 

Dietrich  könig  in  „Bern"  (Verona)  in  Italien. 

Etzel  (Atle)  könig  der  Hünen;  diese  wohnen  in  den  ungarischen 
ländem. 

1)  Vgl.  Völundarkvida  str.  14.    Sigurdkv.  III.  16.    Brot  af  Brynhkv.  11,  usw. 

2)  Damit  ist  naturlich  nicht  gcLängnet,  dass  die  sage  urgermanische,  ja  sogar 
urindogermanische  demente  enthalten  kann,  ja  enthalten  muss,  in  ähnlicher  weise, 
wie  z.  b.  die  Lodbrokssage  urindogermanische  demente  enthält,  und  dennoch  in  der 
isländischen  aufzeichnung  keine  von  jeher  auch  beim  norrönen  stamm  erhaltene  sage 
ist ,  sondern  eine  aus  Dänemark  importierte  und  mit  ein  paar  norrönen  zutaten  erwei- 
terte. Urgermanische  grundelemcntc  beweisen  durchaus  nicht,  dass  eine  sage  not- 
wendig eine  bei  allen  germanischen  Völkern  von  jeher  erhaltene,  somit  eine  nicht  von 
dem  einen  zu  dem  andern  germanischen  volke  importierte  sei. 

3)  Siehe  W.  Grimm:  Heldensage  s.  18. 


ÜBER   DIE   EDDALIEDER  13 

Günther  könig  der  Burgunden  (bisweilen  der  „Franken,"  was  sich 
daraus  erklären  lässt,  dass  der  wohnsitz  um  Worms  später  fränkischer 
boden  ward,  und  zudem  die  Burgunden  überhaupt  den  Franken  Untertan 
wurden,^) 

Sigmund  fränkischer  könig  in  irgend  einer  Rheingegend. 

In  den  Eddaliedern  ist: 
Jörmunrek  könig  der  Goten. 
Thjodrek  (Gudrkv.  III.)? 

Atle  im  ersten  Gudrunenlied  und  in  der  Atlakvida  könig  der  Hünen; 
sonst  bleibt  sein  volk  in  blanco  stehen. 

Qunnar  der  Atlakvida  zufolge  könig  der  Burgunden;  sonst  wird  er 
„Gotenkönig"  tituliert,  was  nicht  eben  einen  Widerspruch  zu  bilden 
braucht,  da  die  Burgunden  wol  zugleich  Goten  waren. 

Sigmunds  söhn  Sigurd  ein  „hunischer  könig."*  (In  den  prosaaus- 
füllungen  heisst  Sigmund  aber  könig  im  Frankenlande,  welches,  vielleicht 
nur  zufällig,  in  den  liedern  *  nicht  vorkömt.)  (Im  Hamdismäl  reiten 
Hamde,  Sörle  und  Erp  auf  „hunländischen"  pferden). 

Also  sind  die  ethnographischen  Verhältnisse  in  den  liedern  einiger- 
massen  verwischt  und  unklar  geworden ,  offenbar  hauptsächlich ,  weil  man 
über  die  Hünen  keinen  rechten  bescheid  wüste.  Man  mag  von  mehr  als 
einem  „Hunenlande"  gehört  haben.  Oder  man  mag  dem  Sigurd  wegen 
der  Verbindung  mit  der  hunischen  prinzessin  Brynhild  gelegentlich  in 
irgend  einem  nexus  die  bezeichnung  „hunisch"  beigelegt  und  somit  eine 
Verwirrung  veranlasst  haben;  wenn  Brynhild  im  „Wallande "^  wohnt, 
widerspricht  das  durchaus  nicht  dem  Hunenlande,  welches  eben  ein 
„Walland,"  ein  „wälsches,"  fremde  zunge  redendes  land  war.  War 
erst  Sigurd  zu  etwas  „Hunischem"  geworden,  kam  man  mit  der 
nationaütät  Atles  in  Verlegenheit,  wie  wir  denn  auch  sehen,  dass  die 
lieder  hierüber  gern  schweigen.  —  Dass  die  nordischen  gelehrten  es 
vorziehen  müssen,  umgekehrt  die  ethnographischen  Verhältnisse  der 
Eddalieder  für  die  ächten,  und  die  der  deutschen  quellen  für  verzerrt 
zu  halten,  folgt  von  selbst. 

Auch  die  nicht  isländische  form,  so  die  darstellung  der  Dietrichs- 
saga,  und  auch  anderer  quellen,  .wie  die  des  Nibelungenliedes,    zieht 


1)  Siehe  W.  Grimm :  Heldensage  s.  66. 

2)  In  der  Wölsnngasaga  heisst  das  reich  Wölsnngs  und  Sigmunds  ein  ,,  Hnnen- 
land"  (vielleicht  als  teil  des  Frankenlandes  anfgefasst?). 

3)  Die  Walachei?  (als  teil  des  Honenlandes  betrachtet?). 


14  E.    JESSEN 

Dänemark  und  die  Dänen  in  die  sage  hinein,  was  also  nicht  erst  durch 
nordische  dichter  bewerkstelligt  wurde ,  obschon  diese  solches  wol  weiter 
ausgeführt  haben  mögen:  so  wenn  sie  die  mutter  Sigurds  nach  Däne- 
mark (?  ^)  entführen  und  daselbst  den  Sigurd  gebären ,  und  wenn  sie 
Gudrun  nach  Dänemark  entfliehen  lassen.  So  kann  es  aber  auch  schon 
die  norddeutsche  sage  erzählt  haben.  —  Im  norden,  und  zwar  in  nor- 
röner  bearbeitung,  ist  die  sage  von  Helge  dem  Hundingstöter  angeknüpft 
worden. 

Nach  den  deutschen  quellen  zusammengenommen,  und  zwar  aber- 
mals zurück  bis  zu  den  angelsächsischen,^  so  wie  auch  dem Hildebrands- 
liede,  dem  Burgundengesetze ,  und,  rücksichtlich  des  Ermenrich,  dem 
Jemandes,  wird: 

Ermenrich  eins  mit  dem  geschichtlichen  gotenkönig  Ermanarik. 

Dietrich  eins  mit  dem  geschichtlichen  gotenkönig  Theodorik. 

Etzel  (Atle)  eins  mit  dem  geschichtlichen  Hunenkönig  Attila,  so 
wie  diesen  die  nicht  allerältesten  noch  zuverlässigsten  berichte  darstel- 
len. (Auch  in  der  Dietrichssaga  Wlt  er  niit  diesem  Attila  zusammen, 
indem  seine  frau  Erka  heisst,  und  „herzog  Blodlin,"  =  Bleda,  an  sei- 
nem hofe  sich  aufhält). 

Günther  eins  mit  dem  burgundischen  könige  Gundahar,  den  Attila 
437  vernichtete,  und  dessen  namen  zusammen  mit  den  übrigen  Nibelun- 
gennamen wir  im  burgundischen  gesetze  in  dieser  namenreihe  widerfin- 
den: Gibika,  Godomar,  Gislahar,  Gundahar  (=  Gjuke,  Guttorm,  Gisel- 
her,  Gunnar,  von  welchen  Giselher  in  der  isländischen  sagenform  aus- 
gefallen ist^). 

Also  wurden  geschichtliche  personen,  die  nicht  gleichzeitig  waren 
(Ermanarik,  Attila,  Theodorik),  von  der  sage  als  gleichzeitig  zusammen- 
gestellt, was  schon  im  mittelalter  deutsche  schriftsteiler  bemerkten.* 

Es  sind  natürlich  diese  identificationen  entweder  so  zu  fassen,  dass 
die  sagen  wirklich  von  anfang  an  um  diese  geschichtlichen  namen  (auf 
dieselbe  weise  wie  die  sagengeschichte  von  Carolus  Magnus)  emporwuch- 
sen, und  zwar  möglicherweise  so  früh,  dass  sie  erst  in  späterm  Sta- 
dium mit  einander  in  Verbindung  gebracht  wären;   oder  aber  so,  dass 

1)  So  nach  der  Wölsnngasaga ;  es  möchte  aber  das  auf  späterm  misyerständ&is 
beruhen. 

2)  Diese  schliesscn  sich  gänzlich  an  die  hochdeutschen  an ,  bis  auf  einen  dispu- 
tabebi  punkt,  wovon  später. 

3)  Man  könte  übrigens  an  und  ftir  sich,  mit  Zurücksetzung  anderer  rück- 
sichtcn,  die  Burgundcnfärsten  nach  den  sagenfürsten  benant  sein  lassen. 

4)  W.  Grimms  Heldensage  s.  37. 


ÜBER  DHE   EDDALIEDER  15 

9ich  die  identificationen  erst  in  den  schon  ausgebildeten  sagen  einfanidcfii, 
weil  die  »amen  znf&llig  passten:  was  jedoch  um  so  unwahrscheinlicher 
würde,  je  mehr  die  sagen  schon  im  voraus  mit  einander  verknüpft  wären, 
indem  es  schwerlich  eintreffen  würde ,  dass  eine  die  mehrzaM  der  haupt- 
personen  eines  combinierten  Sagenkreises  umfassende  namenreihe  auf  eine 
bestirnte  klasse  historischer  fürsten  passen  könte.  Da  nun  sowol  die 
Identification  der  personen,  falls  diese  übrigens  eine  unursprüngliche  ist, 
als  die  Verknüpfung  der  sagen  bei  den  Deutschen  müste  bewerkstelligt 
worden  sein,  muss  in  der  Edda  sowol  die  Verknüpfung  als  die  identifi- 
eation,  wo  letztere  durchblickt,  '  als  unwiderleglicher  beweis  deutschen 
Ursprunges  gelten.  Die  Identification  min  ganz  isoliert  für  sich  genom- 
men wäre  freilich  aus  den  eddaüedem  für  sich  genonmien  schwerlich  zu 
erhärten ,  ausgenonmien  für  das  dritte  Oudrunenlied ,  wo  der  name  Herkja 
(^  Erka)  Identification  Atles  mit  Attila  beweist,  womit  denn  auch  die 
Identification  Thjodreks  mit  dem  könig  Theodorik  folgt;  jedoch  ist  fer- 
ner auch  für  die  beiden  letzten  lieder  (Oudrünarhvöt  und  Hamdismäl) 
Jörmunrek,  wie  das  von  selbst  folgt,  mit  dem  bekanten  Ermanarik 
eins;^  wären  aber  diese  drei  lieder  nicht  da,  würden  wir  von  der  iden- 
tification  an  und  für  sich  nicht  weiter  etwas  erhebliches  anführen  können. 
Die  Identification  ist  aber  eben  nicht  isoliert  fär  sich  in  anschlag  zu  brin- 
gen; denn  sie  ist  schon  in  der  Verknüpfung  der  sagen  impliciert.  Die 
Zusammenstellung  Gunnars,  Atles  und  Jörmunreks  (und,  im  dritten  Gudru- 
nenlied,* Thjodreks)  als  gleichzeitiger  personen,  um  so  mehr,  wenn  sie 
obendrein  als  könige  respeotive  der  Burgunden,  Hünen  und  Goten  auf- 
treten, ist  beweises  genug,  dass  dieser  sagenformation  ganz  derselbe 
hinblick  auf  die  geschichtlichen  personen  beigewohnt  hatte,  als  der 
gewöhnlichen  deutschen  sagenformation.  —  Dass  endlich  ursprüngliche 
identität  der  sa^enhelden  und  der  geschichtlichen  fürsten  (oder  einiger 
von  diesen),  d.  h.  im  eigentlichsten  sinne  historische  grundlage  der 
sagen  (was  mir  als  das  bei  weitem  plausibelste  vorkomt),  deutschen 
Ursprung  implidert,  bedarf  auch  nicht  einmal  der  erwähuung. 

So  durchgreifend«  sind  diese  Verhältnisse,  dass  es  ganz  vergeblich 
sein  würde,  um  doch  wenigstens  etwas  „nordisches"  zu  vindicieren, 
eine  nach  deutschen  quellen  vorgenommene  xmiarbeitung  der  sagenver- 
hältnisse  einzuräumen  (was  natürlich  schon  an  und  ftlr  sich  die  abfas- 
sung  der  bewahrten  lieder  in  sehr  späte  zeit  herabsetzen  würde);   man 

1)  Nämlkli  mit  d«m  Ermanarik  des  Jemandes;  also  femer  inaofern  eins  mit 
d^m  historischen  des  Ammian,  wie  es  der  des  Jemandes  ist. 

2)  Anch,  und  wol  nicht  durch  misrerständnis ,  in  der  prosaeinleitung  zum 
zweiten. 


16  E.    JESSEN 

müste  in  solcher  absieht  als  anächte  und  deutsche  zutaten  abzi^en :  die 
anknupfung  der  hauptpersonen  an  deutsche  und  andere  fremde  Völker 
und  länder  (Pranken,  Burgunden,  Goten, ^  Hünen,  Walland),  sowol  als 
die  Verlegung  der  scene  an  den  Khein;  Sigurds  tötung  unter  oflfenem 
himmel;  den  söhn  Högnes  als  mitwirkend  bei  der  erschlagung  Atlas; 
ferner  den  Thjodrek  und  die  Herkja.  Die  Zusammenstellung  und  gleich- 
zeitigkeit  Gunnars,  Atles,  Jörmunreks  (und  Thjodreks)  wäre  nach  so 
enormen  auf  Opferungen  noch  unversehrt,  und  müste  gleichfalls  aufgeopfert 
werden.  Die  gleich  zu  erwähnenden  sprachlichen  Verhältnisse  würden 
ferner  nötigen,  auch  den  namen  Sigurd  als  den  des  drachentöters  zu 
opfern.  Und  was  bliebe  dann  übrig?  Auch  nur  ein  zehntel  solcher 
berichtigungen  und  Vervollständigungen  nach  deutschen  quellen  würde  ja 
eben  dartun,  dass  man  im  norden  selbst  die  ganze  sage  nicht  als  eine 
einheimische,  sondern  eben  als  eine  deutsche  betrachtete.  Und  freilich 
gibt  es  Zeugnisse  genug ,  dass  sowol  die  Isländer  als  Saxo  die  geschichte 
der  Welisunge  und  Nibelunge  dem  Norden  absprachen ,  und  die  vollstän- 
digste auskunft  über  dieselbe  bei  den  Deutschen  zu  finden  meinten. 

Die  linguistischen  indicien  deutschen  Ursprungs  der  sage  sind  von 
deutschen  gelehrten^  dargelegt  worden.  Schon  das  mag  man  als  ent- 
scheidend betrachten,  dass  eine  anzahl  der  hieher  gehörigen  namen 
bei  den  Deutschen  in  allgemeinem  gebrauch  waren  oder  noch  sind ,  ohne 
es  zugleich  im  norden  zu  sein;  so  besonders:  Welisung,  Nibelung  (Nebe- 
long),  Sintarfizilo,  Sibicho,  Heimo,  Dankrat,  Hilperich,  Schade,  Brede; 
ferner  Wieland  (Weland);  denn  auch  die  allen  deutschen  und  nordischen 
Völkern  bekante  Wielandssage  ist  linguistischen  Zeugnissen  zufolge  deut- 
schen Ursprunges.  Das  nordische  Völundr  ist  derselbe  name  wie  Wie- 
land, entspricht  aber  demselben  dennoch  nicht  lautgerecht;  wäre  der 
name  seit  urgermanischen  zeiten  im  norden  überliefert ,  könnte  ihm  kein 
deutsches  Wieland,  sondern  nur  ein  Waland  gegenüberstehen;  entlehnte 
Wörter  und  namen  werden  leicht  entstellt ;  eine  entlehnung  aus  dem  nor- 
den nach  Deutschland  kömt  auch  nicht  einmal  in  frage.  Das  Verhältnis 
bestätigt  sich  ferner  im  namen  Hlödv^r  der  Völundarkvida  (und  der 
zweiten  Gudrünarkvida) ;  dies  ist  offenbar  eins  mit  dem  deutschen  Hlöd- 
wic,  Hluodwic,  Ludwig;  aber  dem  H16d-  würde  in  ursprünglich  gemein- 
samen formen  ein  nordisches  Hlöd-,^  nicht  ein  Hlöd-  entsprechen;  letz- 
teres stellt  sich  als  entstellende  reproducierung  fremder  ausspräche  her- 

1)  Godpjod  im  Helr.  Br.  und  Guctrhv.  (Gotnar,  Gotar  für  sich  könte  auch 
nur  menschen  bedeuten). 

2)  J.  Grimm,  MüUenhoflf,  Raszmann. 

3)  cf.  Hlodyn, 


ÜBBB  DIB  EDDALIEDER  17 

aus.  Unter  den  namen  der  Welisunge  sieht  Sin^ötli  dem  Sintarfizilo 
gegenüber  wie  eine  verstümmelte  form  aus;  und  das  Verhältnis  zwischen 
Sigurdr  (dänisch  Siward)  und  dem  Sigfrid  der  deutschen  quellen  ist  noch 
weit  entscheidender.  Der  dem  Sigurdr  (aus  Sigvardr)  entsprechende  deut- 
sche name  ist  Sigwart;  dennoch  nennen  die  Deutschen  den  sagenhelden 
Sigfrid;  dies  war  ein  im  norden  ungebräuchlicher  name,  und  wurde  des- 
halb mit  einem  andern  nicht  unähnlichen  vertausclit.  Unter  den  Nibe- 
lungennamen trägt  Guttormr  (Guthormr)  eine  befremdende  form;  es  ist 
vom  nordischen  Gudormr  (Gormr)  offenbar  verschieden,  und  möchte 
blosse  entstellung  von  Godomar  sein.  Übrigens  ist  der  name  Guttoimr 
(so  wie  auch  Hlödvör),  vielleicht  eben  durch  einfluss  der  eingeführten 
sagen,  in  Norwegen  in  gebrauch  gewesen.  Aus  dem  letzten  teil  des 
Sagenkreises  hat  man  die  drei  namen  Jönakr,  Erpr  und  ^amdir  als  ver- 
dächtig angeführt.  Jönakr  scheint  auch  mir  durchaus  unnordisch.  Erpr 
kann  man,  obschon  es  natürlich  eine  nordische  form  sein  könte,  wenig- 
stens gegenüber  den  constanten  formen  jarpr,  jai-pi,  Jarpi,  Jarpulfr,  irpa, 
als  verdächtig  bezeichnen.  Hamdir  würde  als  aus  dem  deutschen  Hami- 
deo  entstellt  gelten  können ,  falls  Bugge  es  nicht  mit  recht  in  eine  ältere 
form  Ham|)6r  zurückcorrigiert ,  welche  correct  nordisch  sein  würde.  — 
Unter  den  völkernamen  ist  God  -  pjöd  *  offenbare  misdeutung  eines  deut- 
schen gotdiet  (gutl)iuda). 

Es  stellt  sich  die  frage,  wie  früh  die  sage  nach  dem  nor- 
den gelangte.  Schwerlich  wird  sich  dies  je  mit  bestimtheit  entschei- 
den lassen. 

Falls  wir  nur  die  geschieh te  Sigurds,  Gunnars  und  Atles  übrig 
hätten,  würden  wir  wol  behaupten,  die  sage  sei  wahrscheinlich  aus 
einem  schon  längst  christlichen  lande  hergekommen,  indem  nicht  eigent- 
lich die  heidnischen  götter,  sondern  fast  nur  das  tragische  Schicksal  wal- 
tet. Der  frühere  teil  der  sage  aber,  der  in  den  deutschen  quellen  feh- 
lende teil,  ist  mit  den  germanischen  göttern  um  so  vertrauter,  könte 
also  in  dieser  gestalt  nur  aus  einem  lande  hergebracht  sein ,  wo  es  jeden- 
falls noch  nicht  zur  gründlichen  tilgung  der  Vorstellungen  von  den  göt- 
tern gekommen  war.  Aber  andrerseits  erhebt  sich  die  kaum  zu  beant- 
wortende frage,  wie  viel  von  der  einmischung  der  götter  auf  die  rech- 
nung  nordischer  bearbeitung  komme,  ob  z.  b.  die  Wanderung  der  drei  göt- 
ter, Odin,  Hone,  Loke  ^  eine  zutat  sei.     Das  blosse  auftreten  eines  „ein- 


1)  Heh.  Br.  und  Gudrhv.:  volk  der  Goten;  sollte  Got-{)j6d  heissen. 

2)  Prosaeinleitung  zur  zweiten  Sigurdarkvida.  —  W.  Grimm  (Heldensage  s.  385) 
sagt:  „die  götter  sind  eingeschoben." 

SBIT80HB.   F.  DBXJT8CHB    PHILOLOGIE.     BD.  UI.  2 


18  1^.  j;b8sen 

ä^ugigen  alten*'  hätte  sich  wol  leichter  dem  befestigten  Christentum  zu 
trotz  erhalten  können. 

Eben  so  ^enig  hilft  uns  hier  die  vergleichung  der  beiden  haupt- 
formen der  sage,  indem  wir  nicht  wissen,  wie  früh  die  den  deutschen 
quellen  eigentümlichen  änderungen  der  namen  und  ereignisse  eintraten, 
da  über  diese  punkte  eben  die  altem  deutschen  quellen  nichts  enthalten. 
Natürlich  kam  die  sage  nach  dem  norden ,  bevor  Hagen  (statt  des  Godo- 
mar)  die  tötung  Sigfrids,  und  bevor  Sigfrids  wittwe  (^tatt  des  Atle)  dßn 
verrat  an  den  Nibelungen  übernahm;  aber  wir  wjlssen  eben  nicht,  wie 
früh  es  die  Deutschen  so  erzählten.  Und  falls  die  Isländer  in  der  ver- 
weudi^ng  der  naiven  Gudrun  und  Grimhild  das  ursprünglichere  bewahrt 
haben»  hat  die  sage  ihre  wapderuug  nacli  dem  norden  begonnen,  ehe 
Sigfridp  weib  den  namen  Grimhild  erhielt;  wie  früh  sie  aber  bei  den 
Deutschen  so  hiess,  ist  uns  eben  unbekani^ 

Die  angelsächsischen  quellen,  so  dürftig  sie  sind,  schliessen  sich 
doch  deutlich  genug  zunächst  an  die  hochdeutschen  an.  Zweifelhaft  bleibt 
jedoch  diese  Übereinstimmung  in  den  zeilen  im  Beowulf,  wo  die  Wel- 
sunge  erwähnt  werden.*  Nach  der  natürlichsten  erklärung  der  wocte 
wäre  hier  eine  nicht -Übereinstimmung,  welche  eine  obschon  nur  relative 
Zeitbestimmung  implicieren  würde.  Es  wird  nämlich  (natürlich  gemäss 
der  damaligen  englischen  form  der  sage)  erzählt,  wie  ein  Sänger  den 
hofleuten  vorträgt:  „Was  er  gehört  hatte  von  Sigemunds  taten,  von 
den  weiten  fahrten  und  missetaten  Wälsings,  worüber  man  genaueres 
niclit  erfaliren,  ausser  nur  Pitcla  mit  ihm;  diese  unterhielten  sich  bis- 
weilen darüber,  der  oheim  und  sein  neffe,  wie  sie  bei  allerhand  unfug 
kameradcn  gewesen,  und  manche  der  „Eoten**  [was  Juten,  a))er  auch 
riesen  bedeuten  köntej  erschlagen  liatten.  Dem  Sigemund  entsprang 
grosser  rühm  nach  dem  tode,  indem  der  kampfderbe  den  wurm,  des 
hortes  hüter,  tötete.  Er,  der  edelingssolm ,  wagte  allein,  unter  dem 
grauen  felsen,  die  kühne  tat;  nicht  war  Fitela  mit  ihm;  doch  gelang  es 
ihm  den  wurm  zu  durchbohren,  dass  das  schwort  im  walle  stand,  und 
der  drache  starb.    Der  Wüterich  hatte  es  durch  kühnheit  erreicht,   dass 


1)  übrigens  wäre  es  ja  mogUch,  dass  diese  frau  einst  beide  namen,  Gudnin 
und  Grimhild,  führte  (wie  ja  Brynhild  auch  als  Sigrdrifa  auftritt),  und  dass  dld 
Deutseben  den  erstem  fallen  liessen ,  die  Norweger  den  letztem  auf  die  mutter  über- 
trugen. 

2)  V.  1753  — 1805  in  Thorpes  ausgäbe  (bei  Grein  v.  875-900).  V.  1806  ff. 
(901  ff)  reden  offenbar  nicht  mehr  von  Sigmunds  Irrfahrten,  sondern  von  denjenigen 
eines  Hcremod,  die  als  wo  mögUqh  noch  merkwürdiger  bezeichnet  werden.  So  ver- 
steht es  auch  Grein;  und  ebenfalls  W.  Grimm,  indem  er  (Heldensage  s.  15)  mit 
V.  1805  abbricht. 


ÜBEB  DIE  EDDALIEDEB  19 

er  den  schätz  frei  gebrauchen  konte.  Er,  der  sprössling  Wälses/ 
lud  die  blinkenden  kleinode  auf  das  schiff.  Er  war  bei  weitem  der 
berühmteste  landflüchtige  wanderer."  Hier  ist  also  Wälsing  correcter 
weise  so  viel  als  söhn  Wälses  und  eins  mit  Sigemund,  was  natür- 
lich ursprünglicher  ist  als  der  norrönen  erzählung  „Sigmundr  Völsungs- 
sonr/*  Hierüber  ist  kein  zweifei  möglich.  Sonst  aber  hat  man  die  ganze 
stelle  auf  zweierlei  art  aufgefstsst.  Entweder  sind  der  „Wälsing"  und 
der  „kampfderbe  sprössling  Wälses"  zwei  personen  (Sigmund  und  Sig- 
firid),  so  dass  der  sinn  wäre:  „dem  Sigmund  entsprang  nach  seinem  tode 
rühm  durch  die  tat  seines  sohnes ,  welcher ,  und  zwar  sogar  allein ,  ohne 
beihilfe  eines  Fitela,  den  drachen  zu  töten  vermochte;"  nach  welcher 
erklärung  hier  kein  wesentlicher  unterschied  von  den  andern  Überliefe- 
rungen der  sage  wäre.*  Oder  auch  ist  „Wälsing"  und  „ sprössling  Wäl- 
ses" eins  und  dasselbe,  beides  bezeichnung  des  Sigmund,  der  sonst  den, 
Pitela  bei  sich  hatte,  jedoch  demnach  nicht  bei  der  tötung  des^drachen; 
und  dann  fehlt  also  Sigfrid  in  der  geschlechtsreihe ,  ist  also  noch  gar 
nicht  erfunden  (indem  wir  hier  jedenfalls  ein  älteres  stadium  der  sage, 
nicht  ein  jüngeres,  vor  uns  haben).  Und  ferner  würde  folgen,  dass  der 
norröne  stamm  die  sage  aus  Deutschland  her  erhielt,  erst  nachdem  man 
in  Deutschland  den  söhn  Wälses  in  zwei  beiden  zerteilt  hatte,  indem 
man  nach  Sigmund  einen  Sigfrid  einschob,  dem  man  die  tötung  des 
drachen  zuteilte.  Die  Sprechweise  des  letzten  angelsächsischen  bearbei- 
ters  der  Beowulfsage  ist  nicht  eben  immer  sehr  präcis.  So  auch  nicht 
hier.  Und  obgleich  die  letztere  erklärung  wol  den  werten  gemäss  die 
natürlichere  wäre,  dürfte  man  doch  vielleicht  nicht  zu  fest  auf  dieselbe 
bauen. 

Wir  können  wol  annehmen,  dass  die  norwegische  geschichte  schon 
mit  Harald  Schönhaar,  in  der  letzten  hälfte  des  9.  Jahrhunderts ,  anfangt, 
wenigstens  in  manchen  dingen,  einigermassen  zuverlässig  zu  sein,  woge- 
gen für  die  zeit  vor  ihm  norwegische  geschichte  auch  nicht  einmal  exi- 
stiert. Unter  den  namen  der  söhne  dieses  königs  nun  finden  wir  (bei 
Snorre)  Guttormr*  und  Sigfrödr.  Inwiefern  man  diese  namen  (correcte 
Überlieferung  derselben  vorausgesetzt)  als  indicien  deutschen  einflusses, 
und  wol  eben  als  indicien  des  Vorhandenseins  der  deutschen  heldensage 
in  Norwegen  im  9,  Jahrhundert,  anerkennen  will,  liängt  davon  ab,  wie 
viel  gewicht  man   auf  die   oben   ))esproclienen  Verhältnisse  legt,   welche 

1)  Wälses  eafora.  Dies  wort  eafora  wird  in  d«Mi  Wörterbüchern  durch  proleSj 
fiUus  übersetzt. 

2)  Nicht  eben  wesentlich  ist  es,  dass  es  hier  nicht  (wie  in  der  Wölsungasaga) 
die  Ganten ,  sondern  wahrscheinlich  die  Juten  sind ,  gegen  die  Sigmund  kämpft. 

3)  So  soll  übrigens  auch  schon  ein  oheim  Haralds  geheissen  haben. 

2* 


20  B.   JESSEN 

es  unwahrscheinlich  machen  könten,  dass  diese  namen  einheimische  nor- 
dische wären.  Das  gewicht  dieser  Verhältnisse  aber  zugegeben,  müste 
man  femer  zugeben,  dass  der  so  ungewöhnliche  name  Sigfrödr  ein  indi- 
cium  abgeben  müste,  dass  die  sage  damals  nicht  schon  lange  in  Norwe- 
gen bekant  war,  indem  er  andeuten  würde,  dass  man  dem  sagenhelden, 
nach  welchem  Harald  diesen  söhn  benant  hätte,  noch  den  fremden 
namen  (Sigfrid)  belassen  hatte ,  und  erst  nach  Haralds  zeit  mit  dem  nor- 
rönen  namen  Sigurd  vertauschte,  ein  Umtausch,  der  ja  offenbar  um  so 
schwieriger  ausführbar  geworden  wäre ,  je  längere  zeit  die  sage  mit  samt 
dem  fremden  namen  gehabt  hätte,  einzuwurzeln  und  über  ganz  Norwe- 
gen sich  zu  verbreiten. 

Es  würde  nun  ferner  mit  diesen  indicien  übereinstimmen,  wenn 
man  aus  dem  9.  Jahrhundert  (und  dem  anfange  des  10.  *)  norwegische 
Skaldengedichte  hätte,  welche  hindeutungen  auf  die  sage  enthielten. 
Nun  finden  wir  freilich  in  der  Skalda,  in  der  Heimskringla  und  hin  und 
wider  in  andern  sagas,  einige  gedieh te  oder  bruchstücke  von  gedichten, 
die  den  „Skalden  Haralds  Schönhaar"  zugeschrieben  werden,  so  beson- 
ders dem  Thjodolfr  liinn  hvinverski,  der  das  Ynglingatal  sogar  noch 
vor  der  regierung  Haralds,  also  schon  um  die  mitte  des  Jahrhun- 
derts, sollte  verfasst  haben.  In  diesem  Ynglingatal^  werden  Winge' 
und  Jonakrs  söhne  genant.  Solche  Zeugnisse  müssen  aber  meines 
erachtens  wegfallen,  indem  überhaupt  an  die  autheutie  der  gedichte 
„der  Skalden  Harald  Schönhaars"  nicht  zu  glauben  ist,  und  speciel 
das  Ynglingatal  sicherlich  nicht  aus  dem  9.  Jahrhundert  herstam- 
men könte,  sondern  erst  aus  einer  zeit,  wo  die  geschichtlichen  Ver- 
hältnisse des  9.  Jahrhunderts  in  der  norrönen  sage,  unter  dem  ein- 
fluss  späterer  politischer  Verhältnisse,  eine  gründliche  Umgestaltung  erfah- 
ren hatten;  aus  einer  zeit,  wo  man  die  wol  frühestens  im  10.  Jahrhun- 
dert eingeführten  dänischen  königssagen  in  norwegischem  interesse  corri- 
gierte.  Der  berühmte  dänische  könig  öudfred  (Godofridus)  (in  norröner 
form  Gudrödr),  welcher  während  der  Streitigkeiten  Dänemarks  mit  Carl 
dem  Grossen  im  jähre  810  durch  verrat  eines  dienstmannes  getötet  wurde, 
ist  im  Ynglingatal  in  die  reihe  der  norwegischen  Fylkesköuige  aus  dem 
Ynglinggeschlechtc  eingefügt;  weshalb  die  Ynglingasaga  auch  nicht  die 
mindeste  ahnung  davon  hat,    dass  er  könig  von  Dänemark  war.*    Dass 

1)  Harald  starb  nämlich  erst  uin  930,  iu  sehr  holiem  alter. 

2)  In  Snorres  Ynglingasaga  cap.  2G  und  39. 

3)  Der  Vingi  des  Atlamäl. 

4)  Ynglingasaga  cap.  53.  —  um  deren  glaub  Würdigkeit  zu  erretten ,  hat  man 
eine,  besonders  durch  Munch  ausgebildete,  theorie  erfunden,  dass  diese  Ynglinge 
Südschleswig  erobert  hätten,  und  von  da  aus  das  kaiserreich  bekriegten,  indem  man 


ÜBER   TiTR   EDDALIEDER  21 

eine  solche  gänzliche  Umwandlung  und  Verschiebung  des  geschichtlichen 
schon  binnen  40  jähren  nach  seinem  tode,  als  noch  viele  seiner  Zeit- 
genossen lebten,  zu  stände  gekommen  sein  sollte,  ist  natürlicli  eine 
Unmöglichkeit.  —  Noch  weniger  respect  würden  dann  vorgebliche  noch 
frühere  vorharaldinische  Skaldenstücke  verdienen.  In  den  bruchstücken 
einer  Ragnars  dräpa  lodbrdkar*  (in  der  Skalda),  welche  unter  dem  namen 
„Brage  Skald  des  Alten *^  passieren,  werden  die  Wölsunge,  Jörmunrek 
und  Jonakrs  söhne  erwähnt.  Es  scheint  mir  sehr  naiv,  diesen  „ältesten 
namhaften  Skalden  Norwegens"  des  dagewcsenseins  auch  nur  für  verdächtig 
zu  halten.  Schon  sein  göttlicher  name ,  der  name  eben  des  Skaldengottes, 
sollte  ihn  solches  verdachtes  überheben,*  obschon,  „der  wolunterrichteten 
Egilssaga"  zufolge,  der  tod  ihn  noch  bis  ums  jähr  830  sollte  verschont 
haben.  Er  soll  sich  in  den  dienst  „Ragnars  Lodbrok"  begeben  haben. 
Aber  damit  ist  schon  ein  blosser  sagenkönig,  ein  typus  der  Wikingszeit, 
bezeichnet,  welcher  wol  erst  im  verlauf  des  10.  Jahrhunderts  aus  dem- 
jenigen Regner  (in  deutschen  quellen  Reginfridus) ,  nebenkönig  eines 
Harald  (Harioldus),  hat  emporwachsen  können,  welcher  dem  zuverlässi- 
gen berichte  Einhards  zufolge,  im  jähre  814,  nach  zweijähriger  unmerk- 
würdiger regierung,  in  einem  bürgerkriege  umkam.  Erst  nachdem  die 
dänische  sage  ihn  zu  etwas  übergrossem  erhoben  und  ihm  den  beinamen 
Lodbrok  (vielleicht  einer  andern  uralten  sage  entlehnt)  zugeteilt  hatte, 
erhielt  er  mit  der  nach  Norwegen  wandernden  sage  bedeutung  für  die 
Norweger ;  und  dann  mögen  sie  ihm  wol  sogar  die  nörröne  Skaldenkunst 
in  diesem  „Brage  Skald  dem  Alten"  zugesellt  haben,  wie  es  denn  viel- 
leicht auch  nicht  ganz  zwecklos  war,  den  beherscher  der  halben  weit 
und  sein  ganzes  geschlecht  hie  und  da  zu  gunsten  der  norrönen  Interes- 
sen zu  bearbeiten.  (Aus  den  bruchstücken  dieser  kaum  sehr  alten  drdpa 
ersieht  man  übrigens  nicht,  ob  mit  dem  daselbst  genanten  Ragnarr  der 
sagenkönig  Ragnarr  lodbrdk  gemeint  ist,  was  wir  aber  immerhin  auf  das 
wort  des  Verfassers  der  Skalda  glauben  können.) 

Die  sonderbare  naivetät,  womit  nordische  gelehrte  diese  Zeugnisse 
behandeln,  zeigt  sich  am  grellsten  in  bezug  auf  „das  alte  Bjarkamdl ,'*^ 

voraussetzt,  Dänemark  sei  in  mehrere  königreiche  zerfallen  gewesen.  Aber  die  ein- 
stimmige aoffassung  Einhards ,  Kimberts.  Adams,  Saxos,  Snorres  usw.  beweist,  dass 
Dänemark  damals  nur  ein  reich  bildete,  das  natürlich  nicht  norwegischen  gauköui- 
gen  Untertan  war,  sondern  umgekehrt  oft  norwegische  küstenstriche  beherschte, 
wodurch  erbansprüche  entstanden,  welche,  sowol  als  die  noch  spätem  dänischen 
anspruche  auf  ganz  Norwegen,  die  Norweger  durch  genealogische  fictionen  beseitigen 
wollten. 

1)  „er  kann  orti  um  Bagnar  lodbrok'^  (Snor.  Edda  I,  370.  436). 

2)  Die  existenz   zugegeben,    wäre   damit  nicht   die  authcntie  gegeben.     Man 
konte  ihm  eben  wie  dem  Ragnar,  dem  Bjarke,  dem  Starkad  lieder  andichten. 


22  B.   JB88EN 

welches  man  als  uraltes ,  und  zwar  dänisches ,  zeugnis  für  die  Nibelun- 
gensage  citiert.  Die  beiden  in  der  Heimskringla  ^  mitgeteilten  atrophen, 
zur  Kolfssage  gehörend,  mögen  immerhin  einem  ächten  heldenlied,  sogar 
einem  aus  Dänemark  eingeführten,  entlehnt  sein;  natürlich  in  solcher 
gestalt,  wie  sie  die  lieder  von  den  dänischen  königen  in  der  Wikingszeit 
erhielten;  dass  die  Kolfssage  einst  eine  ganz  andere  gestaltung  gehabt 
hatte,  ersieht  man,  wie  oben  erwähnt,  aus  dem  Beowulf.  Diese  beiden 
Strophen  nun  enthalten  nichts  von  den  Nibelungen.  In  der  Skalda  dage- 
gen finden  wir  als  benennungen  des  goldes:  „des  Rheines  roterz,"  „der 
Nibelunge  streitursache ,"  „Granes  ladung,"  „Pafnes  erde,"  in  drei 
andern  Strophen,  welche  als  zum  Bjarkamäl  gehörend  citiert  werdjen. 
Diesen  Strophen  aber  sieht  man  es  auf  den  ersten  blick  an ,  dass  sie  gar 
nicht  demselben  gedichte  wie  jene  zwei  ^  entnommen  sind.  Sie  haben 
ein  anderes  und  jüngeres  metrum.  Sie  haben  offenbar  nie  einem  ächten 
lieldenliede  zugehört.  Sie  sind  ein  blosses  Verzeichnis  von  kenningar 
(Umschreibungen)  des  goldes;  ein  Verzeichnis,  dem  man  mit  einer  den 
Isländern  sehr  geläufigen  freiheit  den  alten  namen  Bjarkanidl  zugeteilt 
hat,  indem  man  es,  durch  solche  kenningar  veraiüasst,  unter  den  ver- 
schiedenen sagen  auch  auf  die  Rolfssage  spcciel  beziehen  konte. 

Bündige  Zeugnisse  für  das  dasein  der  deutschen  heldensage  bei  dem 
norröuen  stanmie  im  9.  jalirhundert  wären  also  schwerlich  aufzutreiben. 
Die  besten  wären  noch  immer  jene  beiden  namen  Sigfrödr  und  Guttormr ; 
und  besonders  über  den  letztern  Hesse  sich  immer  noch  streiten ;  einer  von 
beiden  ohne  den  andern  hätte  hier  wenig  gewicht;  und  dann  müssen  wir 
noch  correcte  Überlieferung  voraussetzen.  Aus  dem  10.  Jahrhundert,  so 
wie  auch  aus  dem  11.  haben  wir  einige  Zeugnisse  aus  Skaldengedichten,  ^ 
deren  authentie,  wenigstens  zum  teil,  geringerem  zweifei  unterworfen  wäre. 
Wir  können  indess  immerhin  zugeben,  dass  es  doch  wahrscheinlich  ist, 
dass  die  sage  niclit  erst  so  spät  (nicht  erst  nach  Harald  Schönhaars  zeit) 
zum  uoirönen  stamm  gelangte. 

Über  den  weg,  den  die  sage  wanderte,  wissen  wir  nichts.  Es  ist 
nicht  eben  ausgemacht,  dass  sie  über  Dänemark  nach  Noi-wegen  kam. 
Sie  könte  aucli  dircct  aus  Deutscliland  oder  England  hergebracht  wor- 
den sein.  Dass  die  aus  der  isländischen  littoratur  bekante  form  der 
sage  aucli  in  Dänemark  gegolten  liabc ,  lässt  sich  nicht  dartun ,  im  gegen- 
satz  teilweise  widerlegen,  indem  gar  niclit  zu  bezweifeln  ist,  dass  1)  die 
anknüpfung  der  sage  von  Uelge  dem  Huudingstöter ,    2)  die  speciellere 


1)  Saga  Olafs  helga  cap.  220. 

2)  AUc  fünf  sind  in  den  Foryuddarsögur  I  s.  110  f.  zusammengestellt. 

3)  Das  Eiriksmdl;  Egül  Skallagrimssonr ;  IlaUfredr  vatidrcedaskdld  usw. 


ÜBEB  DIB  BDDALIEDEB  23 

verknftpfüng  der  Nibelangensage  tmd  der  Jörmünrekssage  durch  Äie  dritte 
heirat  Gudruns,  3)  die  anknüpftmg  der  foignar  Lodbrokssage  {Welche 
letztere  anknfipAing  jedcych  iti  keinem  bewahrten  Eddaliede  vorkönit) ,  das 
werk  der  norrönen  bearbeitung  ist.  Saxo  hat  die  Helge  -  Hütodingstöter- 
sage  und  die  Jarmerikssage ,  ohne  irgend  etwas  von  der  Nibelun^ensage 
zu  haben.  Er  stimt  also  insofern  mit  didt  deutschen  sage,  uhd  zWa^ 
im  bewahren  des  altem ,  überein ,  als  -ei*  vob  der  specielleren  a^kki^pfUWg 
der  Ermenrichssage  nichts  weiss,  und  die  fernere  dennoch  durchblicken 
lässt,  in^m  4<er  name  JBüdle  (anfangs  in  d^r  erzählung)  auf  gteichzei- 
tigbeit  JarMeriks  und  des  (bei  Saxo  ^fehlend^n)  Atle  zurückdeutet.  ^  Diasd 
Saxo  den  hexennamen  Gudrun  hat,  bleibt  ein  neutrales  Verhältnis,  indem 
man  dies^  namen  sowol  für  anlass  der  norrönen  formation^  als  für 
nachwirkung  derselbeh  gelten  lassen  kann. 

Es  fragt  sich  demnach  zunächst  nur,  ob  man  einst  in  Dänemark 
insofern  miW  der  norrönen  form  übereiiistinlte ,  dass  man  1)  Guttorm  * 
den  SiWard  töten  liess ,  2)  Atle  die  Nibeluhg^  vernichten  liess ,  3)  Siwaris 
weib  Gudrun  und  nicht  Grlttihüd  nante  (W^nn  übrigens  wirklich  Grim- 
hild  erst  spätere-  entstellüng  ist).  Die  bekiante  stelle  beim  Saxo  von 
dem  deutschen  sänger,  der  in  Däni^ark  den  Enud  Laward  dadurch 
warnte,  dass  er  „die  allbekante  treulosigkelt  Grimhilds  gegen  ihre  brü- 
der*'  vortrug,  enthält  einen  belege  dass  den  Dänen  im  12.  Jahrhun- 
dert die  nicht  -  isländische  darstellung  dieser  Verhältnisse  „allbekant^* 
war.  Alle  bekeflfenden  „  Kaempetisör "  schliessen  sich  ferner  der  nicht- 
isländischen formation  an,  nur  eine  wol  ausgenommen^  die  no.  4  in  der 
Sv.  Grundtvigschen  ausgäbe,  welche  einen  verrat  besingt,  der  demjeni- 
gen Atles  an  den  Nibelungen  ähnlich  sieht,  jedoch  mit  ganz  andern 
namen,  was  ich  so  erklären  möchte,  dass  dies  eine  norröne  E^mpevise 
wäre ,  in  welcher  man  eben  deshalb  die  namen  alle  änderte ,  weil  sie  der 
den  Dänen  bekanten  erzählung  zuwiderliefen.^    Es  fehlt  denmach  durch- 

1)  Saxo  erwähnt  auch  die  tötoig  der  neffen  Jarmeriks  (der  Harlunge),  wovon 
die  tiorröne  form  schweigt. 

2)  Der  name  Guttorm  komt  ein  par  tnal  bei  Saxo  Tor,  and  müste  ja^  falls  er 
ein  fremder  ist,  ans  Deutschland  oder  ans  Norwegen  her  in  gebrauch  gekommen  sein. 
Ist  er  ans  der  NibelungeAsage  her  in  aafbafaine  gekommen,  so  wäre  damit  noch  nicht 
erwiesen,  dass  man  in  derselben  Guttorm  als  den  mörder  Sigfrids  kante.  Die 
DietrichBsaga  hat  ja  den  Guttolin,  aber  nicht  als  den  mdrder. 

8)  Sv.  Gnmdtvig  (in  seiner  atisgabe  der  „  Polkeviser ")  versucht  auch  no.  2 
und  no.  8  der  „nordkchen  sage''  zu  Tindicieren.  Bei  no.  2  beruft  er  sich  auf  das 
daselbst  erwähnte  pferd  Siwards;  dasselbe  kömt  aber  auch  in  der  Dietrichssaga  vor, 
und  bewiese  ja  dennoch  nichts ,  weil  das  blosse  fehlen  eines  dctails  in  den  späten 
deutschen  qnelleii  ffir  die  altern  verlornen  nicht«  beweist.    Die  no.  3  soll  „nordisch" 


24  E-    JESSEN 

aus  an  beweisen,  dass  die  norröne  formation  (in  diesen  drei  oder  zwei 
punkten)  jemals  zugleich  die  dänische  (und  schwedische)  war.  Dass 
wenigstens  die  Helgelieder  und  die  Jörmunrekslieder  der  Edda  eine  nur 
norröne  formation  enthalten,  dürfen  wir  jedenfalls  als  ausgemacht  betrach- 
ten. Wie  es  aber  nun  auch  immer  um  die  redactionsform  der  sage  in 
Dänemark  mag  ausgesehen  haben,  ist  und  bleibt  der  ganze  Sagenkreis 
ein  deutscher  und  kein  nordischer. 

Ob  auch  die  eddische  göttersage,  neben  den  urgermanischen, 
deutsche  demente  enthält,  wird  sich  vielleicht  nie  mit  völliger  gewis- 
heit  entscheiden  lassen. 

Dass  die  Vorstellungen  von  dem  untergange  der  weit  bei  den  Deut- 
schen wesentlich  ganz  dieselben  waren  wie  bei  dem  norrönen  stamme, 
ersieht  man  besonders  aus  dem  „Muspill,"  worüber  ich  mich  hier  nicht 
zu  verbreiten  brauche.  Falls  die  hieher  gehörigen  vorst^lungen  dem 
christentume  entstanmien,  wären  sie  auch  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
von  Süden  nach  norden  gewandert  (etwa  um  die  zeit  der  Völkerwande- 
rung). Ich  weiss,  dass  die  annähme  christlichen  Ursprunges  bei  den 
altertumsforschern  nicht  in  gunst  steht,  kann  mich  aber  nicht  erwehren, 
dem  verdachte  nachzuhängen.  Die  Übereinstimmung  der  norrönen  lehre 
und  der  durch  das  alte  gedieht  Muspill  sichtbaren  deutschen  teils  mit 
einer  der  letzten  reden  Jesu,^  teils  mit  einem  abschnitte  in  der  Oflfen- 
barung   Johannis  ^    scheint   mii'    zu  gross,    um   nur    zufällig    zu   sein, 

sein,  weil  Siward  im  saale  getötet  wird,  und  weil  die  königinnen  sich  am  flusse 
zanken ;  aber  solches  bleibt  bei  der  armnt  an  norddeutschen  quellen  ohne  gewicht. 
In  dem  ersteren  punkte  schwanken  ja  auch  die  P]ddalicder.  Weit  entscheidender  ist 
es,  dass  in  diesem  liedc  (no.  3)  die  eine  heldin  Signild  heisst  (aus  Grimhild,  nicht 
aus  Gudrun  entstellt),  dass  Hagen  den  Siward  tötet,  und  dass  die  andere  heldin, 
also  freilich  eben  die  Brynhild  (durch  ein  zusammenziehen  und  verschieben  der  züge 
der  „unnordischen"  sagenform)  mitten  durchgehauen  wird.  —  übrigens  ist  bei  den 
„  Kaempeviser "  norröner  einfluss  immer  möglich. 

1)  Mt.  24.  Mr.  13.  Lc.  21.  —  Brüder  werden  sich  befeinden ,  Völker  sich  bekrie- 
gen ....  ein  grosser  angriff  auf  Jerusalem  ....  Die  sonne  verfinstert  sich ,  die  sterne 
fallen  ....  Messias  in  seiner  kraft  steigt  als  richter  herab  . . .  usw.  (Vgl.  in  der 
Völuspä :  hrceär  munu  herjask  ....  söl  mun  sortna  . .  hveifa  af  himni  heiäar  stjör- 
nur  usw.). 

2)  19„0  — 21.  —  „Das  tier"  wird  ergriffen  und  in  den  feuersee  geworfen  (vgl. 
Fenrir),  „  Die  schlänge ''  (satan)  wird  ergriffen  und  auf  tausend  jähre  in  den  abgrund 
geworfen  (vgl.  Miägardsormr),  Nach  den  tausend  jähren  bricht  sie  los,  mit  „Gog 
und  Magog**  (vgl.  die  riesengeschlechter) ,  gegen  „die  heilige  stadt"  (vgl.  Asgarär), 
über  „die  ebene  der  erde"  (vgl.  die  ebene  Vigridr)  vorriickend.  Es  fallt  feuer  vom 
himmel  und  verzehrt  sie  (vgl.  das  feuer  Surts).    Himmel  und  erde  vergehen  (vgl.  bei 


ÜBER  DIE   EDDALIEDER  25 

obschon  ich  mir  andrerseits  nicht  verhehlen  kann,  dass  es  wol  einige 
Schwierigkeit  hat,  sich  vorzustellen,  wie  das  gedieht  eines  mit  christ- 
lichen Vorstellungen  vertrauten,  und  dennoch  heidnischen  Sängers  sich 
als  Volksglaube  über  ganz  Deutschland  und  den  norden  hätte  verbreiten 
können.  Man  müste  solches  denn  eben  der  gigantischen  kraft  seines  dich- 
tergenies  zuschreiben. 

n. 

DIE   LIEDER  NORRÖN. 

Obschon  die  heroischen  sagen  der  „Sämunds-Edda**  deutsche 
sagen  sind,  versteht  es  sich  von  selbst,  dass  die  lieder,  die  heroischen 
sowol  als  die  mythischen,  nordische  lieder  sind,  ebenso  wie  derBeo- 
wulf  ein  englisches  gedieht  ist,  obschon  die  sagen,  von  denen  es  handelt, 
nicht  englische  sagen  sind.  Es  fragt  sich  nun,  inwiefern  man  (in  Ver- 
bindung mit  einer  bestimmung  des  alters)  noch  specieller  bestimmen 
kann,  ob  diese  lieder,  wie  man  es  der  auf  Zeichnung  auf  Island  zufolge 
erwarten  müste,  norröne  (norwegische  und  isländische)  lieder  sind,  und, 
dies  zugegeben,  ferner  dann  auch,  ob  man  irgendwie  norwegische 
und  isländische  bearbeitung  unterscheiden  könte.  Es  wäre  natür- 
lich viele  mühe  gespart,  falls,  wie  beim  Beowulf,  die  spräche  der  lie- 
der sogleich  den  ausschlag  gäbe. 

Die  sprachliehen  yerhSItnisse  haben  wir  demnach  zuerst  in 
erwägung  zu  ziehen. 

Noch  im  9.  und  10.  Jahrhundert  war  offenbar  der  sprachliche  unter- 
schied zwischen  den  stammen  des  nordens  so  unerheblich,  dass  man 
nicht,  wie  jetzt,  von  verschiedenen  nordischen  sprachen,  sondern  nur 
von  dialecten  hätte  reden  können.  Kaum  irgend  ein  grammatischer 
unterschied  würde  in  den  liedem  durch  die  isländische  aufzeichnung  her- 
vorblicken, als  nur  etwa  ein  solcher,  der  die  alliteration  (also  den  con- 
sonantischen  anlaut)  afficierte ,  indem  jeder  andere ,  ohne  beeinträchtigung 
des  metrums,  wol  einfach  durch  mechanische  einsetzung  der  isländischen 
wortformen  würde  verwischt  worden  sein.    Die  bezüglichen  alliterations- 

Snorre :  brendr  er  hinUnn  ok  jörä).  Das  grosse  gericht  wird  gehalten  (vgl.  in  der 
Völuspä:  pd  kemr  in  riki  at  regindomi).  Ein  neuer  himmel  und  eine  neue  erde 
erscheinen  (vgl.  öäru  sinni  jörä  or  csgi) ,  und  ein  neues  Jerusalem  aus  gold  und  edel- 
steinen  (vgl.  Gimle).  —  Dass  auch  der  norrönen  Vorstellung  nach,  Heiheim  und 
NastrÖnd  auch  nach  dem  Bagnarök  bewohner  haben  ^  must^n ,  folgt  teils  aus  dem 
regindomi,  teils  daraus,  dass  der  grosse  brand  nur  die  im  Ginnungagap  entstandene 
vergängliche  weit  verzehren  konte,  nicht  aber  Muspelheim  und  Nebelheim,  also  auch 
nicht  die  Wohnorte  im  letztem. 


26  E.   JES8BK 

veriiältnisse  berühren  übrigens  eben  so  wol,    zum  teil  noch  mehr,   das 
alter  als  den  helmort  der  gedichte. 

Im  ganzen  norden  ist  der  urgennanische  anlant  j^  weggefal- 
len, und  ebenso  der  anlaut  v  (:  w)  vor  o,  w,  y,  o,  <b,  ti,  3^,*  und 
zwar  ganz  bestirnt  nicht  erst  im  9.  Jahrhundert;  wie  viel  früher  aber, 
lässt  sich  nicht  eigentlich  feststellen.  In  den  von  Bugge  gelesenen® 
inschiiften  (denen  mit  den  altern  runen)  aus  „dem  altern  und  mittlem 
eisenalter"  stehen  solche  anlaute  noch,  ganz  bestimt  das  w  (Wodurid 
usw.) ,  vielleicht  das  j  (jah  ?) ,  was  also ,  falls  wir  hier  ein  älteres  Sta- 
dium der  jetzigen  nordischen  sprachen  selbst  hätten,  einen  entscheiden- 
den beweis  abgeben  würde,  dass  die  Eddalieder  in  ihrer  aufbewahrten 
gestalt  samt  und  sonders  erst  aus  einer  weit  späteren  zeit  stammen, 
ind^m  sie  samt  und  sonders  diese  anlaute  nicht  darbieten,  und  Wörter 
wie  z.  b.  dr  (ursprünglich  jdr),  ulfr,  ödinn  (ursprünglich  vidfr,  Vödinn) 
nur  vocalisch  alliterieren  lassen.  Ich  vermag  indessen  nicht  einzusehen, 
wie  die  von  Bugge  aus  diesen  Inschriften  herausgelesene  sprachform  ein 
directes,  obendrein  so  später  zeit  angehöriges  mutterstadium  sämtlicher 
nordischen  sprachen,  oder  auch  irgend  einer  derselben,  sein  könte,  und 
kann  andrerseits  aus  historischen  gründen  nicht  an  eine  hinlänglich  grosse 
und  überwältigende  nordische  Völkerwanderung  erst  im  8.  Jahrhundert 
glauben,  welche  die  jetzigen  nordischen  sprachen  eingeführt  hätte,  sehe 
mich  also  gezwungen,  in  diesen  inschiiften  die  spräche  eines,  später 
absorbierten,  eingedrungenen  herscherstammes  ^  zu  erblickeni,  die  sich  ein 
paar  Jahrhunderte  hindurch  der  spräche  der  grundbevölkerung  zu  trotz 
erhalten  hätte,  so  dass  diese  Inschriften  eine  ähnliche  Stellung  einneh- 
men würden  wie  die  nordischen  in  Grossbritannien.  Ich  für  meinen  teil 
sehe  mich  also  genötigt ,  auf  ein  so  bestimt  abgränzendes  chronologisches 
kennzeichen,  wie  das  den  inschiiften  zu  entnehmende  wäre,  verzieht  zu 
leisten.  Da  aber  doch  kaum  jemand  annehmen  würde,  dass  die  nordi- 
schen sprachen  schon  „im  altern  eisenalter"  das  w  verloren  hätten,  so 
würden  die  lieder  sich  doch  jedenfalls  selbst  ausserlialb  der  gränzen  so 
alter  zeit  stellen.  —  Es  könten  ein  paar  stellen  in  den  liedern  nadi- 
wirkung  des  anlautes  vo,  vu  zu  enthalten  scheinen,  nämlich 

1)  Was  man  in  isländischen  bnchem,  der  neuem  ausspräche  gemäss,  als  j 
druckt  (jörä  z.  b.),  war  vormals  ein  vocal  und  alliterierte  durchaus  vocalisch. 

2)  Nur  in  verbaler  flexion  kann  angleichung  das  v  wider  einsetzen ,  z.  b.  vinna 
vann  unninn  und  auch  vunninn. 

3)  Es  dürfen  meine  w^rte  nicht  als  eine  Gutheissung  sämtlicher  deutungen 
Bugges  gelten,  von  welchen  sehr  viele  überaus  problematisch  bleiben,  was  aber  in 
der  natur  der  Inschriften  liegt 

4)  Man  .könte  etwa  an  die  Eruier  denken? 


ÜBBB  DIB   BDDALIEDEB  27 

Lokas.  2  ^  mangi  er  per  i  ordi  vinr 

10  ristu  pd  Vidarr 

ok  Idt  tdfs  födur 
Härbardsl.  24      Oämn  d  jdrla 

pd  er  i  vai  faUa 

was  solchenfalls  also  so  zu  erklären  wäre,  dass  hie  und  da  ein  vers 
unverändert  aus  weit  altern  gedkhten  herübergewandert  wäre,  natürlich 
mit  hintansetzung  der  fui-  die  uns  vorli^enden  lieder  gültigen  allitera- 
tionsregeln.  Aber  auch  nicht  einnml  das  lässt  sich  kraft  dieser  paar 
beispiele  behaupten.  Die  beiden  erstem  lassen  sich  gar  zu  leicht  aus 
blosser  Unachtsamkeit  eines  Schreibers  erklären:  engl  statt  mangi, ^  und 
ein  upp  (upp  ristu  Vidarr)  überheben  diese  zeilen  des  verdachtes  eines 
dahinter  steckenden  voräi  und  vulfs.  Und  was  das  beispiel  auß  dem 
Harbardslied  betrifft ,  so  ist  dies  gedieht  sowol  metrisch  als  in  der  allite- 
ration  viel  zu  locker,  um  ganz  abnorme  sprachliche  Verhältnisse  (so  wie 
ein  Vödinn)  erhärten  zu  können.* 

Der  anlaut  vr  hat  sich  in  Schweden,  Dänemark  und  einem  gros- 
sen teile  des  südlichen  Norwegens  (so  in  Buskerud,  Thelemark,  Robyg- 
delag,^  meines  wissens  auch  in  der  bis  IßbS  norwegischen  provinz 
Bohuslen  oder  Viken^)  bis  jetzt  erhalten.  Längs  der  ganzen  Westküste 
Norwegens,  und  ebenso  auf  Island  (das  eben  aus  diesem  küstenlande 
bevölkert  ¥nirde)  ist  das  v  dieses  anlauts  gänzlich  geschwunden ;  ob  schon 
im  9.  Jahrhundert,  lässt  sich  kaum  dartun;  aber  wol  jedenfalls  im  10.; 
jedoch  konte  die  Veränderung  nicht  auf  einmal  längs  der  ganzen  Unge- 
heuern strecke  am  ocean  eintreten.  Da  der  schwund  des  v  seit  dem 
9.  — 10.  Jahrhundert  nur  hat  zunehmen  können,  dürfen  wir  annehmen, 
dass  damals  überhaupt  das  „Sendenfjddske"  (d.  h.  das  land  im  Südosten 
des  höchsten  gebirgsrückens),  oder  jedenfalls  das  ganze  land  zu  beiden  selten 
des  Skageraks ,  das  vr  wahrscheinlich  noch  unversehrt  wird  gehabt  haben. 
Aber  auch  falls  schon  damals  das  gebiet  des  vr  dieselbe  begränzung 
hatte,  wie  heutiges  tages,  würde  das  vorkonmien  dieses  anlautes  ein 
gedieht  nicht  aus  dem  norrönen  gebiete  verweisen;    auch  nicht  dann, 

1)  Die  citate  in  meiner  abhandlung  passen,  wo  anderes  nicht  bemerkt  wird, 
zu  den  in  Deutschland  verbreitetsten  ausgaben,  denen  von  Lüning  und  Möbius. 

2)  In  Lokas.  2  könte  man  wol  auch  ein  beispiel  der  freiheit  erblicken ,  die  drei 
Zeilen  in\  Ijöäahdttr  mit  einander  alliterieren  zu  lassen  (wie  in  Lokas.  14,  Häram.  79), 
wobei  die  dritte  nur  einen  stab  erhält. 

3)  Übrigens  findet  man  gelegentlich  die  alliteration  der  beiden  ersten  zeilen 
der  dreizeiligen  halbstrophe  (IßäähcMr)  Tersäumt,  z.  b.  Sölarljöd  76  (beide  halb- 
strophen),  grade  ein  sehr  correctes  lied. 

4)  Wo  man  vreV,  vrak,  vrang,  mc,  vrüit  sagt. 

5)  Vgl.  Ortsnamen  wie  Yraingebäck,  Yrangvatten. 


28  E.    JESSEN 

wenn  das  gedieht  erst  dem  9.,  10.  oder  11.  Jahrhundert  angehören 
könte;  es  könte  ja  eben  von  einem  Sänger  herrühren,  dessen  dialect 
das  V  noch  bewahrte.  Aber  auch  dichter,  in  deren  ausspräche  es  ver- 
schwunden war ,  werden  es  wol  gelegentlich  als  willkürlichen  archaismus 
verwendet  haben.  Einen  beleg  liefert  das  späte  und  christliche  gedieht 
Solarijod  ^  in  diesen  zeilen: 

26        (v)reiäiverk 

pau  er  pü  vunnit  hefir. 

Ferner  citiert  die  grammatische   abhandlung  des  Olafr  Hvitaskald^  als 

beispiel  des  vr  eine  zeile,   die  er  dem  Isländer  Egill  Skallagrfmssonr 

beilegt: 

vröngu  varar  Gungnis 

und  Olaf  sagt  hierüber:  „jetzt  heisst  das  in  der  dichtkunst:  alter  gebrauch 
des  V "  (nü  er  pcU  Jcallat  vindaiidin  forna  i  skaldskap).  Aus  den  vor- 
geblichen gedieh ten  „Brage  Skalds  des  Alten"  citiert  die  Skalda:^ 

vüdiä  vröngum  ofra 
vdgs  hyrsendir  cegL 

Den  Brage  dachte  man  sich  nun  ireilich  als  zu  einer  zeit  (anfangs 
des  9.  Jahrhunderts)  lebend ,  von  der  wir  nicht  wissen  können ,  wie  es 
um  das  vr  stand.  Mir  aber,  der  ich  die  „ Bragenlieder "  für  spätere 
und  wol  isländische  produete  halte, ^  ist  das  vr  in  vröngum  natürlich  ein 
willkürlicher  archaismus.  —  In  den  Eddaliedern  nun,  welche  durch  neu- 
bearbeitung  älterer  dichtung  entstanden  sind,  könte  das  vr  noch  ausser- 
dem auf  eine  andere  weise  blosser  archaismus  sein ,  indem  dieselben  nicht 
selten  zeilen  und  Strophen  aus  altern  gedichten  unverändert  herüberneh- 
men, so  dass  ein  vr  hier  für  die  altern  lieder,  viel  mehr  als  für  die 
Eddalieder  selbst,  belege  abgeben  könte,  obschon  man  natürlich  auch, 
und  eben  vorzüglich  in  gedichte  dieser  antiksten  form,  das  vr  mit 
absieht  als  passenden  archaismus  hineinbringen  konte.  In  den  Edda- 
liedern nun  hat  man  8  unzweifelhafte  beispiele*  des  bewahrten  vr  auf- 
gefunden : 

1)  Ist  nicht  zu  den  „Eddaliedern"  zu  rechnen,  steht  auch  in  keiner  der  bei- 
den handschriften. 

2)  Snorra  Edda,  Arn.  Magn.  ansg.  II.  132.  134. 

3)  Snorra  Edda  1 ,  504. 

4)  Ebenso  wie  z.  b.  das  dem  Kagnarr  lodbrok  angedichtete  Kräkumäl ,  welches 
aus  christlicher  zeit  herrührt  (vgl.  odda  messu  in  str.  11). 

5)  In  diesen  gedichten  können  natürlich  weder  für  noch  gegen  das  vr  solche 
Zeilen  ala  beweise  gelten ,  welche  (wie  in  pryraskv.  1.  Lokas.  18.  27.  Atlakv.  13. 
Rigsm.  1.  Sigrdr.  37)  auch,  sei  es  ohne  oder  mit  dem  w,  den  nötigen  stab  schon 
haben.    Ein  nebenstab  ist  ja  der  regel  eben  so  gut  gemäss^  wie  es  zwei  sind. 


ÜBRB  DIB  EDDALISDEB  29 


Hävam.  31 

en  at  vidi  (vjrekask 

Vaf|)iüan.  53 

pess  mun  Vidarr  (v)reka 

Lokas.  15 

vega  pü  gakk 

efpü  (v)reiär  ser 

Fä&isTTi.  7 

scei  maär  pik  (v)reiäan  vega 

17 

hvars  skclu  (v)reiäir  vega 

30 

hvars  skolu  (v)reiäir  vega 

Sigi-drff.  27 

hvars  skclu  (v)reiäir  vega 

AÜakv.  2 

vin  i  Valhöllu 

(vjreiäi  sdsk  peir  Hüna 

also  nur  für  die  beiden  Wörter  reka  und  reidr  (nebst  reidi),  und  so  dass 
fünf  dieser  acht  beispiele  die  uralte  alliterierende  formel  (vjreidr  vega 
enthalten,  drei  derselben  sogar  buchstäblieh  gleich  lauten.  Andrerseits 
finden  sich  mehr  als  doppelt  so  viele  beispiele  des  vor  r  abgeworfenen  v. 
Das  sieht  zusammen  so  sonderbar  aus,  dass  ich  darin  nicht  einmal  direct 
kennzeichen  einer  Übergangsperiode  oder  der  Verschiedenheit  norwegischer 
dialecte  erblicken  möchte,  sondern  vielmehr  in  den  fällen  mit  vr  nur 
willkürliche  archaismen,  indem  ich  mir  die  sache  so  denke,  dass  ein 
paar  stehende,  von  altersher  alliterierende  formein  mit  (v)reidr  und 
(vjrdca,  die  man  nicht  als  solche  aufgeben  mochte,  das  bewustsein  der 
altern  ausspräche  bei  diesen  beiden  Wörtern  erhielten,  und  ferner  zu 
willkürlich  archaisierendem  gebrauch  der  beiden  Wörter  auch  ausserhalb 
der  formein  anlass  gaben,  während  solches  bei  andern  Wörtern  aus  der 
Ursache  unterblieb,  weil  man  sich  bei  denselben  der  altern  ausspräche 
nicht  mehr  erinnerte.  Doch  läugne  ich  nicht  (z.  b.  bei  Vafl)rü(ln.  53) 
die  möglichkeit  unveränderter  herübernahme  einer  zeile  aus  einem  altern 
gedieht.  -—  Beispiele  nun  des  r  statt  des  ursprünglichen  v^-  sind  fol- 
gende aufgefunden: 

Hävam.  5  vUs  er  pörf 

Peim  er  vida  ratar^ 
17  sd  einn  veit 

er  vida  ratar 
lOG  Rata^  munn  letunik 

rums  um  fd 

1)  Hier,  und  17,  und  Alvism.  6  würde  die  2.  zeile  einen  stab  zu  viel  haben, 
wenn  man  die  ursprüngUche  ausspräche  vrata  gelten  liesse.  vida  vrcUa  ist  eine 
ursprfingUch  aUiterierende  formel;  dass  sie  dennoch  jedesmal  in  zweiter  zeile  steht, 
beweist  ausdrücklich,  dass  das  v  geschwunden  war. 

2)  Borer,  eigentUch  schnirkler,  aus  derselben  wurzel  wie  rata;  cf.  das  däni- 
sche vraade  et  hjul  (die  nahe  durchbohren). 


30 


E.  JUSSSV 


Lokas.  55 


Grimnism.  32 

Alvfsm.  6 

Helgakv.  Hjörv.  6 

20 
21 


kann  raär  rö 
Peim  er  rcegir  her 
Ratatoskr^  heitir  ikomi 
er  renna  shal 
Vingpörr  ek  heiti 
ek  hefi  vida  ratat 
rikr  rog-apcddr 
ne  Röäuls  völlum 
poU  Jm  heßr  reina^  rödd 
reini  nrnn  ek  per  pikkja 
ef  pü  reyna  kndtt 
Helgakv.Hund.il.   26    at  pü  at  rogi 

rikmenni  vart 
vilkat  ek  reiäi 
riks  pjöäkonungs 
ratar^  görliga 
rdä  SigurSar 
mtm  fyr  reiäi 
rik  hrüdr  viä  pik 
Rin  skal  rdäa 
rog-malmi  skatmi 
röndum  sleginn 
ok  rög-pornum^ 
rthiar  nam  at  rista 
rengdi  pcRr  Vingi 
röskr  ^  tök  at  rceda 
pött  kann  reiär  vceri 

also  für  die  Wörter  reiär  (nebst  reiäi)  ^  rata  (nebst  Rati,  Ratatoskr), 
rengja,  reini,  rög  (nebst  rcegja).  Bäcksichtlich  des  roigja  ist  zu  bemer- 
ken, dass  es  auch  im  Schwedischen  röja  heisst,  welche  form  während 


Gripissp.  26 


Atlam. 


36 


49 


Atlakv.     27 


29? 


51 


1)  Rata  ist  genitiv  von  Bali;  toskr  ist  stosszahn  (Bugges  derivation  aus  rota 
ist  falsch). 

2)  Siehe  hierüber  die  noten  in  Bugges  ausgäbe;  (v)retni  bedeutet  hengst. 

3)  Kaum  für  hruiar ,  da  in  diesen  liedern  r  statt  hr  fast  nie  vorkömt;  Bugge 
in  seiner  ausgäbe  s.  174  weiss  nur  ein  beispiel  anzuführen:  ran  statt  hras:  Havani. 
152.  —  Im  9.— -10.  Jahrhundert  stand  das  hr  wol  im  ganzen  norden  fest,  jeden- 
falls in  Norwegen ,  schwand  aber  nicht  viel  später ,  ausgenommen  auf  Island ,  wo  es 
sich  bis  jetzt  ziemlich  fest  gehalten  hat. 

4)  Siehe  hierüber  Bugges  ausgäbe  s.  432. 

5)  röskr  hiess  vielleicht  ursprünglich  vröskr  (verschieden  von  ra^kr);  da  aber 
nur  ein  nebenstab  nötig  ist ,  können  wir  hier  weder  str.  51  noch  50  noch  58  zum 
strengen  beweise  für  den  abfall  des  v  gebrauchen.    (Ebenso  verhält  sich  Bigsm.  1). 


ÜBXB  DIB  B9DAXJEDER  Sl 

der  Union  mit  Norwegen  im  14.  Jahrhundert  könte  eingeführt  worden 
sein.  Hätte  aber  das  Schwedische  unabhängig  vom  Norwegischen  das 
V  dieses  wertes  eingebflsst,  so  entstünde  die  frage,  ob  solches  so  früh 
geschehen  wäre,  dass  es  in  den  liedern  nur  ein  chronologisches,  nicht 
zugleich  ein  örtliches  kennzeichen  wäre.  Dass  ein  roegja  jedenfalls  nicht 
„dem  altern  und  mittlem  eisenalter"  angehört  hat,  versteht  sich  von 
selbst  —  In  einigen  liedern  (Hävamäl,  Lokasenna,  Atlakvida)  findet 
sich,  wie  wir  sehen,  beides:  vr,  und  r  statt  vr.  In  vielen  fehlen  bei- 
spiele  sowol  des  einen  als  des  andem.^  —  Es  versteht  sich  von  selbst, 
dass  r  statt  t;r  norrönes  kennzeichen  ist,  und  dass  bewahrtes  vr  hier  neu- 
tral bleibt,  indem  ja  das  südliche  Norwegen  das  vr  noch  jetzt  kent,  und 
dieser  anlaut  auch  in  sehr  alten  westnorwegischen  gedichten  stehen 
müste,  und  in  Jüngern  westnorwegischen  oder  isländischen  als  archais- 
mus  stehen  könte  (welches  letztere,  wie  ich  schon  gesagt  habe,  ich 
wenigstens  für  die  mehrzahl  der  fälle  als  meine  erklärung  festhalte). 

Das  Harbardslied  abgerechnet,  enthalten  sämtliche  lieder  beider 
Codices  den  postpositiven  artikel  kaum  über  drei  oder  vier  mal 
(wo  er  obendrein  von  Schreibern  könte  hineingebracht  worden  sein). 
Anders  im  Harbardslied;  es  gebraucht  oft  den  artikel  ungefähr  eben  so 
frei,  wie  es  isländische  prosa  tut,  characterisiert  sich  also  dadurch  auf 
doppelte  weise  als  ein  spätes  product,  indem  es  erstens  einer  zeit  ange- 
hört, wo  in  der  täglichen  rede  der  artikel  wenigstens  eben  so  häufig 
war,  was  den  runensteinen  nach*  keine  heidnische  zeit  wird  gewesen 
sein;  und  zweitens  einer  zeit  angehört,  wo  man  darauf  verfallen  konte, 
in  einem  liede  den  eigentlichen  poetischen  styl  (dem  der  artikel  wider- 
strebt) aufzugeben.  Natürlich  ist  der  artikel  direct  nur  ein  chronologi- 
sches kennzeichen.  Aber  je  jünger  ein  lied  ist,  um  so  unwahrschein- 
licher wird  es  ein  nicht -isländisches  oder  gar  ein  nicht -norrönes  sein 
können. 

* 

Ganz  ebenso  verhält  es  sich  mit  einem  andern  und  nicht  granmia- 
tischen  kenzeichen  später  zeit,  nämlich  fremdwörtern,  wie  besonders 
dreki  (Völusp.),  kalkr  (H^misk.,  Sigurdarkv.  III,  Atlakv.),  kista  (Völdkv., 
Sigrdrf.,  Atlam.).  Es  gibt  lateinische  eindringlinge,  wie  z.  b.  ketill, 
söäull^  vin,  solche,  .die  mit  dem  handel  oder  mit  dem  römischen  heer- 
wesen  in  Verbindung  standen,  welche  schon  zur  zeit  der  Völkerwande- 
rung oder  gar  früher  zu  den  Deutschen  gelangt  sein  köuten,  und  viel- 


1)  Wie  das  denn  auch  nicht  anders  sein  konte ,  da  es  der  wurzeln  mit  vr  nicht 
viele  gibt. 

2)  Auch  in  den  alten  dänisohen  und  schwedischen  gesetzen  ist  der  artikel  noch 
verhältnismässig  unhäufig.  —  Im  Harbardslied  steht  er  20  mal. 


32  B.    JESSEN 

leicht  nicht  Jahrhunderte  nötig  hatten,  um  nach  dem  norden  zu  wandern. 
Aber  dreki^  würde  keinesfalls  so  alt  eingebürgert  sein,  und  kallcr  und 
histtty  besonders  das  erstere,  erregen  verdacht,  dass  sie  mit  dem  Chri- 
stentum hereingekommen  seien. 

Lexicalisches,  das  über  norrön  und  nicht  norrön  entscheiden  könte, 
wird  sich  übrigens  schwerlich  auftreiben  lassen.  Der  Wortschatz  der 
Eddalieder  muss  natürlich  als  der  norröne  epische  Sprachschatz  gelten. 
Inwiefern  er  aber  speciel  dänische  (oder  schwedische)  demente  enthalten 
könte,  und  inwiefern  der  dänische  (und  der  schwedische)  epische  Sprach- 
schatz von  dem  norrönen  verschieden  war,  wird  sich  aus  der  Ursache 
nie  dartun  lassen,  weil  wir  keine  so  alte  dänische  (noch  schwedische) 
dichtungen  in  einheimischer  Überlieferung  haben. 

Ergiebiger  an  entscheidungsmitteln  als  die  sprachlichen  Verhältnisse 
sind  diejenigen,  woraus  wir  ersehen  können,  welche  landes - natnr  die 
phantasie  der  Verfasser  dieser  und  der  dahinter  liegenden  altern  lieder 
erfüllt  hat.  Einiges,  obgleich  nicht  vieles,  Hesse  sich  wol  auch  aus 
noch  andern  in  den  gedichten  hervortretenden  lebens Verhältnissen  folgern. 

Norwegen  und  Island  sind  felsenl ander,  Dänemark  ein  nie- 
driges land.  (Auch  die  uralten  hauptwohnsitze  der  Gauten  in  West- 
und  Ost-Gautland  sowol  als  gröstenteils  die  der  eigentlichen  Svear  um 
den  Mälarsee  sind  nicht  eigentliche  gebirgsländer ;  Westgautland  ist 
eine  grosse,  ziemlich  hoch  liegende  ebene,  wol  mit  einigen  „bergen," 
aber  keinesweges  ein  felsenland;  Schweden  ist  uns  indessen  hier  gleich- 
gültig, indem  alles  daraufhindeutet,  dass  schwedische  dichtung,  inclu- 
sive sogar  westgautische  königs-  und  heldensago,  dem  norrönen  stamm, 
jedenfalls  der  norrönen  litteratur,  fremd  blieb).  Ebenfalls  rücksichtlich 
der  Vegetation  ist  der  gegensatz  zwischen  Dänemark  und  Norwegen 
bedeutend  (wogegen  sich  hierin  der  grösto  teil  Schwedens  an  Norwegen 
schliesst.) 

Das  blosse  erwähnen  von  bergen  ist  nun  natürlich  nicht  genug, 
um  hier  irgend  welchen  ausschlag  zu  geben.  Auch  die  Dänen  mögen 
sich  das  Jötunland  (riesenland)  als  ein  gebirgsland  gedacht  haben,  so 
dass  derartige  Vorstellungen  nicht  sofort  hinreichen,  um  Dänemark  die 
prymskviäa  abzusprechen.  Wenn  die  Helgakvida  Hjörvardssonar  von 
Norwegen  als  von  einem  gebirgslande  redet,  beweist  auch  das  an  und 
für  sich  nichts,  da  auch  ein  Däne  so  von  Norwegen  reden  würde.  Auch 
„  die  felsen  des  Rheins "  in  der  Völundarkvida  und  der  Atlakvida  werden 

1)  Mass  wie  die  andern  aus  romanischen  ländem  hergekommen  sein,  obschon 
ursprünglich  ein  griechisches  wort. 


ÜBER  DIE   EDDALIEDER  33 

wol,  SO  wie  die  hunischen  ebenen  (Atiakv.  13),  auf  künde  der  wirklichen 
geographischen  Verhältnisse  beruhen.  Wenn  aber  in  den  Helgenliedern 
Dänemark  und  andere  Ostseeländer  als  ächte  gebirgsländer  auftreten,  so 
ist  das  ein  entscheidender  beweis,  dass  diese  lieder  keine  dänischen  sein 
können;  die  norröne  phantasie  hat  sich  hier  der,  übrigens  den  Norwegern 
wolbekjjnten,  Wirklichkeit  nicht  erinnert,  und  statt  derselben  norwegische 
natur  eingesetzt,  was  natürlich  kein  Däne  getan  hätte.  Und  wenn  über- 
haupt in  den  liedem  die  gebirgsnatur  einen  offenbar  norrönen  charac- 
ter  hat,  darf  dies  als  entscheidender  beweis  norröner  phantasie  gelten. 
Der  ausdruck  der  J)ryinskYida:  björg  „hrotnuciu''  bedeutet  hier  schon 
etwas,  wie  auch  in  der  Lokasenna  das  „fjoll^'  oll  skjalfa,  indem  in  bei- 
den fällen  nicht  nur  der  berg,  sondern  speciel  der  felsen,  der  steinberg 
hervortritt;  der  norrönen  phantasie  waren  felsenspalten  und  herabgestürzte 
felsblöcke  etwas  alltägliches.  Die  alltägliche  Vertrautheit  mit  norröner 
gebirgsnatur  blickt  aller  orten  durch.  Mit  dem  erwähnten  „zerbersten 
der  berge"  und  „erbeben  der  felsen**  vergleichen  wir  ferner  grjöthjörg 
ijnata  (Völusp.)  „die  steinberge  stürzen."  Der  zwerg  wohnte  auch  dem 
Dänen  im  „berge"  (hügel);  in  diesen  liedern  noch  specieller  im  „steine": 
d  eh  undir  steini  staä  (Alvfsm.  3),  hinter  der  steinwand  und  der  steinernen 
tür,  aus  der  er  herauskömt:  stynja  dvergar  fyr  steindurum,  veggbergs  visir 
(Völusp.).  In  der  einleitung  zum  Grfmnismdl,  sowie  auch  im  Hyndlu- 
Ijöd,  wohnt  die  riesin  im  hdlir  (steinhöle),  und  die  im  Helreid  Bryn- 
hildar  kömt  aus  dem  stein  hervor  (hriiär  6r  steini:  3)  und  hat  ein  auf 
dem  gestein  ruhendes  gehöfte  (grjöti  stttdda  garda  mina:  1).  Auch  der 
Däne  hätte  vielleicht  den  Skirne  über  „berge"  reiten  lassen ;  die  norröne 
phantasie  lässt  ihn  (Skfmism.  10),  und  ebenso  die  söhne  der  Gudrun 
(Hamdism.  11),  über  „die  nassen  felsen"  (ürig  fjoll)  ziehen  (vgl.  das 
tirgar  hrautir  des  Bfgsm.  und  des  Fjölsvm.) ,  eine  Vorstellung ,  die  offen- 
bar dem  westlichen  abhänge  des  norwegischen  gebirges  entnommen  ist 
(und  wol  auch  auf  Island  passt).  Über  die  „  reifbedeckten  felsen "  (heltig 
fjöll)  reitet  Sigurd  (PäMsm.  26),  und  ebenso  Rfgr  jarl  „den  dunkeln 
weg  über  die  reifbedeckten  felsen"  (Rfgsm.  34).  Im  Grögaldr-Fjölsvinns- 
mäl  (falls  man  übrigens  von  diesem  gedichte  in  Verbindung  mit  den 
Eddaliedern  reden  kann)  wird  von  zaubermitteln  gegen  „den  frost  auf 
dem  hohen  felsen"  (frost  d  fjalli  ha:  Grog.  12)  geredet;  und  in  einem 
Zusätze  zu  einer  strophe  im  Hävamäl  (89)  von  der  Übeln  aufgäbe  „auf 
dem  tauenden  felsen   ein  renntier^   holen   zu  sollen"   (eda  shjli  haltr 

1)  Das  remitier  uod  der  „weissbär^'  (Atlain.  18)  wären  wol  die  einzigen  tür 
uns  hier  nicht  neutralen  tiere  der  lieder,  indem  in  jenen  Zeiten  auch  die  vielen  „zie- 
genheerden"  dänischen  Verhältnissen  nicht  unangemessen  sein  möchten. 

ZBIT8CHR.    P.   DEUTSCHS   PHILOL.    BD.  III.  3 


34  E.    JESSEN 

henda  hrein  i  pdfjalU).  Dem  Hävamäl  ist  der  reisende  speciel  ein  über 
die  felsen  reisender  (wo  er  durchnässt  wird):  matar  ök  vdäa  er  manni 
porf  peim  er  hefir  um  fjall  farit  (str.  3 :  „  essen  und  kleider  sind  dem 
manne  nötig,  der  über  den  felsen  gereist  ist");  noch  bezeichnender  stellt 
str.  117  fahrt  über  fels  und  fjord^  zusammen,  was  ja  eben  auf  das  nor- 
wegische kfistenland  passt:  ä  fjalli  eäa  firdi  ef  pik  fara  tidir,  fdstu  ai 
virdi  vd  („must  du  fahren  über  fels  oder  Qord,  versieh  dich  mit  nah- 
rung  wol").  Im  ersten  Helge -Hundingstöter-liede  lassen  Granmars 
söhne  den  Svipud  und  den  Svegjud  entlang  „tauige  täler  und  dunkle 
bergesabhänge "  laufen  {dcda  döggötta,  dökkvar  Midir:  46);  und  im  zwei- 
ten klettert  Gudmund  in  „steilen  bergesklüffcen "  (brattar  bergskorar: 
20),  und  laufen  die  ziegen  vor  dem  wolfe  erschrocken  den  felsen  herab 
(af  ßaili:  35).  Einen  am  ehesten  wol  isländischen  eindruck  möchte  wol 
die  H^miskvida  machen  mit  ausdrücken  wie  hölkn  (steinland),  hrey^i 
(steinmassen) ,  Äo/^ridta  Ä«;err  (waldige  bergschlucht),  hraunhvalir,  hraun- 
Mar  (bewohner  der  stein-  oder  lavamassen),  bergbüi  (bergesbewohner; 
von  dem  (Egir)^  bergdanir  (bergesleute) ,  hdfjcdl  skarar  (des  haares 
hochfels,  d.  i.  haupt),  nebst  den  hreingalkn,  entweder  einer  art  unholde, 
die  in  ihrer  gestalt  zum  teil  renntier  waren,  jedenfalls  irgendwie  mit 
renntieren  zu  tun  hatten,  oder  auch  kenning  (Umschreibung)  für  wölfe 
(ungetüme,  Verfolger  der  renntiere);  also  jedenfalls  eine  norröne  Vorstel- 
lung. Die  von  der  gebirgsnatur  bedingten  fasse  (wasserföUe)  geben 
gleichfalls  anlass  zu  bildern,  die  ein  gar  undänisches  gepräge  haben. 
So  fängt,  in  der  einleitung  zum  zweiten  Sigurdsliede,  Otter  den  lachs 
im  fischreichen  fosse;  und  in  str.  2  sagt  der  von  Loke  im  foss  gefan- 
gene hecht:  margan  hefik  fors  um  farit  („durch  manchen  foss  bin  ich 
gedrungen");  wie  ja  auch  in  der  erzählung  in  der  Snorra-Edda  von  der 
gefangennehmung  Lokes  dieser  als  lachs  zwischen  dem  meere  und  dem 
foss^  auf  und  ab  schwimt.  Und  nun  gar  das  gemälde  in  der  Völuspä 
von  der  nach  dem  Ragnarök  verjüngt  emporsteigenden  erde;  wie  stellt 
sich  die  dem  äuge  des  dichters  dar?  „Es  fallen  fosse,  über  denen  der 
adler  schwebt,  zwischen  felsen  fischend"  (falla  forsar,  flygr  örn  yfir^ 
sd  er  d  fjalli  fiska  veidir).  Auch  das  Skfrnismal  hat  über  den  adler 
einen  der  dänischen  phantasie  ungeläufigen  ausdruck,  in  dem  ara  piifa 
(27),  das  die  felsenspitze  bezeichnet,  wo  sich  der  adler  zu  setzen  pflegt; 
in  Dänemark  setzt  er  sich  auf  die  höchsten  baumgipfel,  indem  ihm  hier 
die  erde  keine  hinlänglich  hohen  Sitzplätze  darbietet. 

1)  Langer  schmaler  meereseinschnitf. 

2)  Also  einem,    der  zu  hoch  oder  zu  steil  war  um  entweder  hinüber  zu  sprin* 
en  oder  hindurch  zu  dringen.    Die  kleineren  oder  sanfteren  halten  den  lachs  nicht  auf. 


ÜBER  DIB   EDDALIBDEB  35 

Die  dänischen  wälder  sind  buchen wälder ;  doch  gibt  es  eichenwald, 
und  vormals  war  die  eiche  häufiger  als  jetzt.  Noch  sparsamer  finden 
sich  andere  laubhölzer:  birken,  espen,  eschen,  ulmen  usw.  Nadelhölzer 
fehlen  durchaus  und  fehlten  wol  schon  vor  dem  „  broncealter  " ;  was  man 
jetzt  von  solchen  antrifft,  ist  alles  in  neuester  zeit  angepflanzt  worden. 
Auf  der  skandinavischen  halbinsel  wächst  die  buche  sehr  wenig  ausser- 
halb der  Provinzen  Schonen,  Bleking  und  Hailand, ^  nämlich,  obschon 
mit  geringer  Verbreitung,  in  Götarike,  und  ausserdem  an  ein  paar  orten 
im  südlichen  Norwegen  in  der  gegend  am  Christiania  -  Qord.  Längs  der 
norwegischen  Westküste  fehlt  sie  durchaus.  Die  laubwälder  Schwedens 
und  Norwegens  bestehen  meist  aus  birken.  Nächst  der  birke  ist  die 
espe  das  verbreitetste  laubholz.  Eichen  sind  recht  häufig.  Linden, 
ulmen,  ahorne,  eschen,  wilde  apfelbäume  usw.  wachsen,  wie  in  Dänemark, 
sparsamer,  und  nicht  in  nördlicheren  gegenden  (in  Norwegen  ungefähr 
in  der  einen  hälfte  des  landes).  Die  nadelhölzer,  nämlich  gran  (fichte) 
und  fyrr  oder  tall  (kiefer)  haben  das  übergewicht  über  die  laubhölzer.  Die 
fichte  ist  jedoch  in  einem  grossen  teile  Norwegens  unhäufiger ,  und  fehlt 
fast  durchaus  im  ganzen  Bergenstift,  und  überhaupt  längs  der  küste 
des  oceans  südlich  des  62.  grades;  ist  ja  auch  ein  dem  menschen  unwich- 
tigerer bäum  als  die  kiefer.  Als  brennholz  dienen  besonders  die  kiefer 
und  die  birke  (in  Dänemark  aber  die  buche).  —  Die  betreffenden  Ver- 
hältnisse nun  in  den  Eddaliedern  deuten  entschieden  auf  die  skandina- 
vische halbinsel,  und  wol  besonders  auf  die  südlichere  hälfte  der  norwe- 
gischen Westküste,  indem  die  buche  und  die  fichte  {gran)  nicht  vorkom- 
men, dagegen  ungefähr  alle  andern  norwegischen  hölzer,*  so  mehr- 
mals die  kiefer,  und  als  brennholz  diese  und  die  birke  (Völundarkv.  9. 
Gudrkv.  IL  12),  doch  bei  der  Verbrennung  einer  fürstlichen  leiche  ein 
Scheiterhaufen  von  eichenholz,  als  kostbarer  und  vornehmer  (Gudrhv.  20) ; 
ferner  als  gewöhnliches  material  zum  dachdecken  die  birkeurinde  (ncefr: 
Hävam.  59),  welches  auf  Dänemark  nicht  passt,  indem  einerseits  die 
birke  viel  zu  unhäufig  ist,  um  hiezu  das  gewöhnlichste  material  abgegeben 
zu  haben ,  andrerseits  heidekraut  und  stroh  nicht  (wie  letzteres  in  Skan- 
dinavien) zu  kostbar  für  solchen  gebrauch  war.  Unter  den  erwähuungen 
der  kiefer  wäre  noch  besonders  hervorzuheben  Hävamdl  49:  hrornarpöU 
sü  er  stendr  porpi  d,  hlyrat  henni  börkr  ne  harr  („  es  verdorrt  die  kie- 
fer, die  auf  dem  hofe  steht;  nicht  rinde  noch  nadeln  schützen  sie"), 
weshalb  ihr  der  freundlose  mann  verglichen  wird.    Diese  kiefer  also  ver- 


Die  Knytlingasaga  erwähnt  die  buchen-  und  eichenwälder  Hailands. 
2)  Die  meisten  bleiben  ja  neutral,  nur  nicht  die  nadelhölzer,  die  buche,  noch 
auch  die  birke,  falls  diese  als  ein  vorhersehender  bäum  auftritt. 

3* 


36  "  li.  JBSSEM 

kümmert,  weil  die  andern  kiefern  umher  weggehauen  sind.  Das  passt 
schlecht  auf  Schweden  und  die  inneru  teile  Norwegens,  indem  die  wenig 
empfindsame  Mefer  daselbst  auch  ohne  den  schütz  anderer  bäume  gedei- 
hen kann.  Es  wird  diese  stelle  nur  auf  die  äussere,  den  winden  des 
oceans  am  meisten  ausgesetzte  westliche  küste  Norwegens  passen. 

Auch  aus  dem  ackerbau  hat  das  Hävamäl  etwas  charakteristisches, 
nämlich  (str.  87):  akri  drsdnum  trüi  engl  rnaär,  ne  tu  snenima  syni 
(„dem  frühe  besäten  acker  traue  niemand;  so  auch  zu  früh  nicht  dem 
söhne").  In  Norwegen  (und  einem  grossen  teile  Schwedens)  kömt  die 
frühlingssaat  freilich  bestimt  genug  hervor,  wächst  auch  empor,  ist  aber 
danach  der  grösten  gefahr  ausgesetzt,  indem  der  oft  schon  zur  emte- 
zeit  oder  vor.  derselben  eintreffende  frost  alles  verderben  kann.  Sehr 
zutreffend  sagt  dies  Sprichwort  daher:  „so  auch  zu  früh  nicht  dem  söhne." 
Uns  Dänen  föllt  das  treffende  weg ,  und  steht  die  strophe  in  bedeutungs- 
armer unbestimtheit  da,  indem  bei  uns  die  frühlingssaat  nur  geringer 
gefahr  ausgesetzt  ist,  speciel  nicht  der  erwähnten  vor  dem  reifwerden, 
wol  aber  natürlich  dem  schaden  durch  hagel  und  zu  schweren  regen, 
der  ja  aber  ebensowol  die  Wintersaat  trifft.  —  Im  Harbardslied  (3) 
nent  Thor  als  seine  kost  auf  der  reise  „häringe  und  hafer."  Die  häringe 
passen  eben  so  gut  zum  seeländischen  und  schonischen  küstenlande  am 
öresund  als  zum  norwegischen ,  und  die  hafergrütze  ist  ^  ebensowol 
schwedische  als  norwegische  alltägliche  kost  des  gemeinen  mannes;  aber 
eben  beides  zusammen  möchte  man  wol  den  norrönen  indicien  zuzäh- 
len. —  Als  das  gewöhnliche  körn  nent  übrigens  das  Alvissmäl  die  gerste 
(zum  hier  und  zum  brod  angewendet ;  vgl.  lagastaf  und  ceti).  Roggen  * 
wird  in  den  liedern  nicht  erwähnt ,  auch  sonst  sehr  wenig  in  isländischen 
Schriften,  wol  aber,  nebst  weizen,  in  den  alten  noi-wegischen  gesetzen. 
Der  weizen  kömt  in  der  Ssemundar  -  Edda  nicht  vor;  dagegen  aber  im 
ßfgsmäl,  jedoch  nicht  als  auf  dem  felde  wachsend,  sondern  als  dünnes 
„flachbrod"  (neben  dem  weine)  auf  dem  tisch  bei  „Jarls"  vater,  d.  h. 
in  den  vornehmsten  und  reichsten  häusern.  Die  sagas  erwähnen  die  starke 
einfuhr  von  weizen  aus  England.  —  Andere  in  den  liedern  erwähnte 
gewächse  (als  heidekraut,  gras,  lauch)  sind  neutral. 

Es  ist  zu  bemerken,  dass  die  den  Verfassern  der  lieder  vorschwe- 
bende Vegetation  nicht  blos  die  isländische  ist,  indem  die  mehrzahl  der 
genanten  bäume  auf  Island  nicht  gedeiht  (wogegen  getreidebau  vormals 
auf  Island  gelingen  konte).  Falls  unter  diesen  liedern  isländische  bear- 
beitungen  norwegischer  poesie  vorkommen,  hielten  also  die  Isländer  die 

1)  Wenigstens  in  änuerh  gegenden  in  Schweden,  so  in  Wermland. 

2)  In  Dänemark  ist  bekantlich  der  roggen  das  hauptnahrungsmittel. 


ÜBER  DIE  EDDALIEDER  37 

ihnen  so  vertrauten  norwegischen  Verhältnisse  fest,  indem  sie  sich  gewöhn- 
lich erinnerten ,  dass  keins  dieser  lieder  auf  Island  spielte.  Von  der  im 
südlichen  Norwegen  vorkommenden  schmarotzei-pflanze  mistiUeinn  begeg- 
net uns  eine  gegen  autoptische  kentnis  derselben  zeugende  erwähnung, 
wovon  später. 

Ausserhalb  der  Vegetation  kömt  wenigstens  eine  speciel  isländi- 
sche Vorstellung  vor,  nämlich  im  iiveralundr  derVöluspä;  hverr  (kessel) 
ist  benennung  der  heissen  quellen  auf  Island;  das  hvera  lundr  (wo 
Loke  gebunden  liegt)  bezeichnet  einen  ort  voll  derselben,  beweist  also 
eine  isländische  Weiterbildung  des  „  vulcanischen "  mythus  von  dem 
gebundenen  Loke,*  und  stempelt  die  Völuspä  als  ein  isländisches  lied.  — 
Gletscher  sind  ja  in  Norwegen  und  Island  sehi*  häufig,  aber  natürlich 
in  Dänemark  (und  den  alten  Wohnsitzen  der  Gauten  und  Schweden) 
unbekant ,  weshalb  jökull ,  welches  in  der  isländischen  litteratur  eismasse 
jeder  beliebigen  grosse  bezeichnet,  in  den  entsprechenden  dänischen  und 
schwedischen  (jetzt  nur  provinciel  vorkommenden)  formen  egel,  ikhd 
nur  eiszapfen  bedeutet.  Dies  jöJcull  nun  steht  zweimal  in  den  Eddalie- 
dern, und  man  ist  darüber  sehr  uneinig,  wie  grosse  eismassen  es  daselbst 
bezeichne.  Die  eine  stelle  ist  Hymiskv.  10:  gekk  inn  i  sal,  glumdu 
jöklar;  var  karls  er  koni  kinnskogr  frerinn  („er,  der  rieseHyme,  gieng 
in  den  saal;  es  erdröhnten  die  jöklar;  der  „backenwald"  des  hereinkom- 
menden alten  war  gefroren");  die  jöklar  hier  verstehen  einige  von  eis- 
zapfen entweder  am  gefrornen  backenbarte  oder  draussen  am  dache;  in 
beiden  fUllen  scheint  mir  das  glunidu  unpassend;  glynija  bezeichnet  in 
den  liedem  einen  gewaltigen,  die  sinne  erschütternden  laut;  es  ist  den 
umständen  weit  angemessener ,  an  die  riesigen  eiszapfen  des  felsigen  rie- 
sensaales,  an  die  dröhnenden  eis-  und  schneegletscher  zu  denken,  was 
auch  darin  eine  stütze  findet,  dass  dieser  riese  nicht  eigentlich  Hymir, 
sondern  Y7mr  hiess;  Ymir  ist  aber  „der  dröhner."  •  Hymir  war  ein 
anderer  riese,  mit  dem  Thor  bei  einer  andern  gelegenheit  es  versucht 
den  mittelgartswurm  (Midgardsormr)  zu  fangen.  Die  Verwechselung  der 
beiden  namen  lässt  sich  schon  in  der  aufzeichnung  der  erzählung  bei 
Snorre  bemerken,  hat  aber  in  diesem  oflFenbar  sehr  späten  und  dem 
SnoiTe  unbekanten  liede  zur  zusammenschmelzung  der  beiden  mythen' 
geführt.  Bei  der  andern  stelle ,  Sigurdkv.  III ,  8 ,  möchten  die  gletscher 
zweifelhafter  sein,  scheinen  mir  jedoch  auch  hier  den  angemessenem 
sinn  hervorzubringen.  Es  heisst:  opt  gengr  hon  innan  iUs  um  fylld  isa 
ok  jöUa  aptan  hvern,  wo  isa  und  jöMa  sowol  genitiv  als  accusativ  sein 

'^ 

1)  Es  könte  übrigens  überhaupt  das  vtilcanische  dieses  mythus  von  den  Islän- 
dern herrühren. 


38  B.    JESSEN 

köüte.  Im  erstem  fall  ist  der  sinn:  „oft  geht  sie  (Brynhild)  mit  bösem, 
mit  eismassen  und  eiszapfen,  im  innern  angefüllt,  jeden  abend,"  wo  das 
bild  sich  ferner  so  variieren  lässt,  dass  ihr  inneres  entweder  einer  wil- 
den felsengegend  voller  eis  und  gletscher,  oder  auch  einem  mit  eismas- 
sen angefüllten  mcere^  verglichen  würde,  so  dass  diese  erstere  construc- 
tion  nicht  eben  an  die  bedeutung  „  eiszapfen "  gebunden  wäre.  Ich  ziehe 
aber,  mit  Lüning  und  mehrern  andern,  hier  die  accusativische  construc- 
tion  vor:  „oft  wandert  sie,  im  innern  mit  bösen  gedanken  erfüllt,  über 
eisfelder  und  gletscher,  jeden  abend,"  ein  bei  weitem  natürlicherer 
gedanke,  wie  wir  denn  wol  auch  voraussetzen  dürfen,  dass  die  sage  sie 
nicht  jeden  abend  hätte  wandern  lassen,  ohne  zu  wissen,  wo  sie  wan- 
derte. Bei  dieser  letztern  erklärung  würden  wol  übrigens  die  gletscher 
und  eismassen  alpeiigletscher  sein,  und  könten  somit  schon  der  deut- 
schen sage  angehört  haben,  würden  sich  aber  natürlich  leichter  in  nor- 
röner  als  in  dänischer  Überlieferung  erhalten  haben. 

Sociale  yerbältnlssc ,  *  die  uns  hier  fingerzeige  geben  könten ,  sind 
in  den  mythischen  liedern  nicht  wol  zu  erwarten. 

Die  heldenlieder  haben  hie  und  da  etwas,  das  auf  gar  verdächtige 
weise  an  das  Christentum  erinnert.  Das  Sigrdrifumdl  rät  von  räche  an 
verwanten  ab,  weil  nach  dem  tode  verzeihen  heilsam  werde  {pat  Jcveäa 
dauäum  duga:  22),  und  spricht  von  begraben  im  sarge  (34:  dar  i  Jcislu 
fari;  und  doch  gleichzeitig  im  hügel);  obendrein  mit  der  wunschformel, 
es  möge  der  tote  „selig  schlafen"  (oh  biäja  scelan  sofa).  So  verspricht 
auch  im  Atlamäl  Gudrun  dem  sterbenden  Atle  einen  „gemalten  sarg*' 
und  ein  „gewachstes  tuch"  für  seine  leiche  (101:  histu  steinda,  vexa 
vel  hl(BJu;  und  doch  gleichzeitig  die  leiche  in  ein  schiff  zu  legen!*). 
Das  Grögaldr-Fjölsvinnsmäl  spricht  geradezu  von  einem  „christenweibe" 
{kr istin  dauil  Jcona:  Grog.  13). 

Auf  die  eigentliche  wikingzeit  weist  im  2.  Gudrunenlied  (16)  der 
„kämpf  südlich  in  Fife"  (suär  d  Firn)  in  Schottland,  wo  „südlich** 
zugleich  einen  norrönen  Standpunkt  verrät.  Nicht  letzteres,  wol  aber 
die  beziehung  auf  die  wikingzüge  würde  durch  die  correctur  siiär  d 
Fjöni  (südlich  in  Funon)  wegfallen.*    Auch  durch  die  Helge  -  Hundings- 

1)  Vgl.  land  isa  als  Umschreibung  des  meores ,  und  jöklagangr  von  dem  trei- 
ben der  eisberge  und  eisschollen. 

2)  Vgl.  Maurer  in  dieser  Zeitschrift  II,  443. 

3)  Das  schiff  und  die  kista  muss  sie  „kaufen,"  kann  aber  das  tuch  wol  selbst 
wachsen. 

4)  Was  Bugge  (s.  424)  von  der  auffassung  sagt,  wonach  man  „von  Schonen 
südlich  nach  Seeland,  von  Seeland  südlich  nach  Füneu  reiste,"  beruht  auf  einer  aus- 
schliesslich norrönen  (für  Dänemark  durch  die  Sprechweise  Saxos  widerlegten)  vor- 


ObSB  DIB  SDDALIEDSB  99 

töter -lieder,  jedenfalls  das  erste,  blickt  der  einfluss  der  grossen  wiking- 
zöge  auf  die  dichtung  hindurch,  und  zwar,  wie  mir  (in  abweichung 
von  Lüning)  scheint,   noch    weit    entschiedener   als   durch    das  Atlamäl 
str.  96  —  97.      Es  versteht   sich,    dass    solcher  einfluss  der  wikingzüge 

lange  nach  ihrer  eigenen  zeit  fortdauern  konte. 

* 

Das  Hävamäl  ist  isländischen  Verhältnissen  unangemessen,  indem 
es  dem  „ königskinde "  (fjöäans  harn:  14)  rat  erteilt,  der  Verfasser  sich 
rühmt,  mehr  lieder  zu  wissen^  als  „des  königs  gemahlin"  (pjöäans 
kona:  147),  und  malplacierte  liebschaften  als  eine  gewöhnliche  veran- 
lassung kent,  „der  rede  des  königs"  in  der  volksversamlung  (pjödans 
mal:  115)  nicht  die  gebührende  auftnerksamkeit  zuzuwenden,  wie  er  sich 
denn  überhaupt  in  seinen  Verhältnissen  und  seiner  art  als  einen  hofmann 
beurkundet,  und  zwar  als  einen,  obschon  wol  etwas  ältlichen,  doch  kei- 
neswegs überaus  altertümlichen ,  falls  wir  nicht  viel  zu  hohe  begriflFe  von 
der  einfachheit  und  sittenreinheit  des  fernen  altertums  haben.  Das 
gedieht  ist  entschieden  noiTön,  und  entschieden  für  Norweger,  nicht  für 
Isländer  gedichtet,  wol  zu  einer  zeit,  als  Norwegen  schon  6in  reich 
war.  —  Das  fiigsmäl  (um  dies  mitzunehmen)  mit  seinem  vermeintlich 
aus  dem  Jarltum  emporstrebenden  kleinkönigtum,  dem  das  stärkere  und 
als  ein  fremdes  bezeichnete  dänische  königtum,  „Dans''  reich  (45),  als 
nachahmenswertes  muster  vorgehalten  wird,  enthält  eine  zum  teil  theo- 
retisierende  betrachtung  norwegischer  Standesverhältnisse,  welche  betrach- 
tung,  trotz  ihres  i-ückblicks  auf  die  zeit  vor  dem  Harald  Schönhaar, 
auch  ein  Isländer  hätte  anstellen  können.  —  Die  socialen  Verhältnisse 
geben  zum  teil  mehr  aufschluss  über  das  alter  als  direct  über  die  hei- 
mat  der  lieder.    Umgekehrt  steht  es  mit  den  physischen. 

Die  besprochenen  realverhältnisse ,  physische  und  sociale,  geben 
indessen  zusammen  ein  entschieden  norrönes  bild.  Da  die  gedichte  so  kurz 
sind ,  kann  jedes  far  sich  natürlich  hiervon  nur  wenig  liefern ,  manche 
nichts.  Die  heldenlieder  sind  hieran  reicher  als  die  mythischen  (doch 
nicht  die  Hymiskvida  und  die  Völuspä,  die  so  wolversehen  sind),  am 
reichsten  aber  unter  allen  liedem  das  Hävamäl,  wie  ja  zu  erwar- 
ten stand. 


steUungy  dass  Jütland  die  südlichste  dänische  provinz  sei,  welche  Vorstellung  dadurch 
aufgekommen  sein  wird,  dass  die  norwegischen  schiffer  auf  ihrem  wege  nach'  dem 
dänischen  (und  jütischen)  haupthandelsplatz  Hedeby  (Schleswig)  natürlich  von  nor- 
den her  immer  erst  zwischen  den  dänischen  Inseln  vorhei ,  und  dann  von  diesen  süd- 
lich nach  Jütland  kamen. 

1)  Genaue  kentnis  der  mythologie  bezeichnet  er  (160)  als  etwas  ungewöhn- 
liches ! 


40  E.    JESSEN 

Versuchen  wir  demnächst  zu  bestimmen,  was,  in  bezug  auf  die 
uns  vorliegenden  fragen,  dem  Charakter  und  andern  llttcrarlsehen 
Verhältnissen  der  lieder  zu  entnehmen  wäre. 

Bemerken  wir  im  voraus,  dass  in  der  Völuspä  die  anwendung  des 
stcf^^  und  in  einigen  liedern  die  versification  jüngeres  Stadium 
bezeichnet.  Das  Atlamäl  ist  im  tmlaJmUr  ^  abgefasst ,  so  auch ,  obschon 
mit  nicht  so  strenger  durchführung ,  die  Atlakvida,  wie  auch  ferner  im 
Hamdismäl  diese  jüngere  abart  des  epischen  fornyrädlag  stark  auftritt, 
übrigens  in  allen  drei  liedern  so  unangenehm  stolpernd  und  tactlos ,  dass 
unser  ohr  kaum  verse  vernimt.  Ein  gar  unantikes  potpourri  ist  die 
regellose,  an  keine  strophenform  gebundene  Vermischung  verschiedener 
versarten  im  Härbardsljöd.  Endlich  ist  auch  die  straffere  (der  art  des 
Ynglingatal  ^  sich  etwas  annähernde)  behandlung  des  achtzeiligen  fornyr- 
dalag  in  der  Hymiskvida  gleichfalls  zeichen  nicht  sehr  alter  zeit.  Es 
versteht  sich,  dass  diese  lieder  sich  nicht  hiedurch  sofort  als  die  jüng- 
sten beurkunden,  indem  ja  die  beiden  alten  reinen  formen,  das  ächte 
achtzollige  fornyräalag  ^  und  der  Ijöäahdttr  fortbestanden ,  wie  das  auch 
schon  das  Sölarljöd,  das  Grögaldr-Fjölsvinnsmäl  und  verse  in  mehreren 
Fornaldarsögur  bezeugen. 

Auch  der  stil  jener  fünf  Eddalieder  deutet  auf  späte  zeit,  der  im 
Harbardslied  duich  eine ,  übrigens  ungleichmässig  verbreitete  annähenmg 
an  die  art  der  täglichen  rede  zur  zeit  des  Verfassers,  der  in  den  vier 
andern  hingegen  vorerst  durch  seine  gesuchte,  gekünstelte,  nach  dem 
ungewöhnlichen  strebende  art.  Es  stellen  sich  hier,  wie  in  der  versifi- 
cation, die  beiden  Atlenlieder  und  auch  das  Hamdeslied  näher  an  einan- 
der ,  so  auch  darin ,  dass  das  künsteln  eine  gewisse  annäherung  an  prosa, 
jedoch  anderer  und  schwerfälligerer  art  als  im  Hdrbardsljöd ,  nicht  aus- 
schliesst;  während  das  Hymeslied  auch  wider  hier  mehr  für  sich  steht. 
In  andern  liedern  tritt  kein  so  decidiert  durchgeführter  modemer  stil 
auf.     Indessen  stehen  sie   sich   keinesweges   ganz    gleich.      Namentlich 

1)  Siehe  hierüber  Möbius  in  dieser  Zeitschrift  bd.  I  s.  4 1 0 ,  435. 

2)  Wo  die  vier  hebungen  regelmässig  alle  überall  ansgefiillt  sind,  die  vierte 
gewöhnlich  nur  mit  einem  nebenton. 

3)  Die  in  meiner  metrik  (s.  diese  zeit^chr.  11,  s.  142,  146)  geäusserte  Vermutung, 
dass  das  abgestumpfte  fornyräalag  (me  im  Ynglingatal  und  Haleygjatal)  unter  die 
benennung  galdralag  mit  hingehöre,  ist  zu  unsicher.  Aus  einer  papierhandschrift 
des  Hatt-atal  ersehen  wir  bestirnt  nur ,  dass  der  vorletzten  strophc  daselbst  (Ijodabättr 
mit  kehrversen)  der  name  galdralag  im  17.  Jahrhundert  beigelegt  wurde.  Ob  dieser 
name  auch  auf  die  letzte  strophe  (abgestum])ftes  fornyräalag)^  der  kein  neuer  bei- 
gelegt ist,  zu  erstrecken  sei,  ob  man  also  zwei  arten  galdralag  anzunehmen  habe, 
ersieht  man  nicht. 

4)  Bisweilen  Starjcaäarlag  genannt;  auch  JcHäuhättr? 


ÜBEB  DIE  EDDALIEDER  41 

möchte  ich  das  prätentiöse  erste  lied  von  Helge  dem  Hundihgstöter  als 
unantik  bezeichnen,  so  auch  verschiedenes  in  andern  heldenliedem,  und 
nicht  ganz  weniges  in  der  Völuspä,  so  zum  teil  die  Strophen  von  Balder 
und  Loke  und  von  dem  letzten  kämpfe.'  Den  reinsten  stil  haben  die 
mehrzahl  der  mythischen  lieder  und  die  Völundarkvida.  Ich  werde  spä- 
ter meine  gründe  geben,  die  Vegtamskvida  für  eins  der  allerjüngsten 
lieder  zu  halten,  obgleich  der  stil  keinesweges  modemer  ist  als  der  so 
vieler  anderer.  Denn  es  versteht  sich,  bewahrung  alten  epischen  stiles, 
die  ja  begabtem  dichtem  auch  später  gelingen  konte,  beweist  nicht 
sofort  höheres  alter.  Das  alter  der  lieder  ordnet  sich  nicht  ohne  weite- 
res nach  dem  stil. 

Dies  gilt  auch  in  bezug  auf  eine  specialität  des  stils,  die  um*- 
Schreibungen,  y,kenningarJ'^  Es  versteht  sich  übrigens,  dass  es 
Umschreibungen  gibt,  die  jedem  Zeitalter  angemessen  sein  möchten.  Es 
wird  wol  auch  schon  in  den  fernsten  zeiten  natürlich  gewesen  sein ,  z.  b. 
das  schiff  durch  „seehengst,"  oder  das  meer  durch  „  wogenstrasse "  zu 
bezeichnen.^  In  allen  sprachen  werden  wol  manche  nomina  propria 
Zusammensetzungen  sein ,  die  innerhalb  des  isländischen  begriffes  kenning 
fallen.  Es  gibt  unzählige  Umschreibungen,  z.  b.  solche  wie  „Odins  söhn," 
„Friggs  mann,"*  welche  natürlich  erst  dann  als  kenningar  auftreten, 
wenn  anhäufung  derselben  bewustes  vermeiden  directer  benennung  kimd 
gibt.  Die  norrönen  dichter  trieben  bekantlich  die  lust  zum  umschreiben 
bis  ins  enorme,  jedoch  nicht  in  allen  dichtarten,  sondern  nur  in  denje- 
nigen, jyo  sie  auch  den  reim  anwendeten  {drottkvcßär  hdttr  und  run- 
hcfida^),  auch  in  der  Jüngern  abgestumpften  abart  des  fornyräalag  (wie 
im  Ynglingatal) ;  dagegen  regelmässig  nicBt  im  epischen  stile,  und 
besonders  nicht  in  den  beiden  uralten  versarten  (der  epischen  achtzei- 
ligen  und  der  dialogischen  sechszeiligen  ^).  Anhäufen  und  künsteln  ,der 
kenningar  hat  sich  also  eben  ausserhalb  dieser  beiden  antiken  dichtarten 
entwickelt ,  so  dass  sich  die  Eddalieder  keineswegs  schon  aus  der  Ursache, 
dass  sie  viel  weniger  kenningar  haben  und  das  enorme  zusammenpacken 

1)  Str.  37,  38,  39,  53,  54  bei  Lüning;  37,  39,  40,  54,  55  bei  Möbius. 

2)  Nicht  alles,  was  wir  Umschreibung  nennen  mögen,  ist  „kenning.** 

3)  Aber  natürlich  gibts  weitere  Variationen  solcher  bilder ,  die  späteres  Sta- 
dium bezeichnen,  z.  b.  flotbrüsi  (fiiessbock),  hlunngoti  und  hlunnvigg  (schiffsrollen - 
hengst),  seglvigg  (segelross),  stagstjörnmarr  (rudertau  -  lenkungs  -  pferd). 

4)  Aber  Friggjar  angan  ist  schon  an  und  für  sich  künstelnde  bezeichnung. 

5)  Denselben  also,  wobei  man,  sowol  wegen  der  grossem  Schwierigkeit,  als 
wegen  ihrer  eigenschaft  als  loblieder  auf  mächtige  männer,  Überlieferung  des  verfas- 
sernamens  für  wichtig  hielt. 

6)  Der  mdldhdttr  bringt  in  Eddaliedern  nicht  merkbar  häufigere  anwendung 
der  kenningar  mit  sich ,  namentlich  nicht  im  Atlamäl.  Die  Atlenlieder  sind  ja  auch 
in  eminentem  grade  episch.    Anderwärts  kömt  decidierter  mälahdtir  wenig  vor. 


42  E.    JESSEN 

derselben  vermeiden,  in  eine  viel  ältere  zeit  als  die  der  speciel  soge- 
nanten  „  Skaldenpoesie  ^^  hinstellen  könten.  Es  dienen  uns  hier  wider 
das  Sfölarljöd,  das  Grögaldr-Fjölsvinnsmäl  und  andere  anerkantermassen 
sehr  späte  producte  (so  auch  unter  den  Eddaliedern  das  Atlamäl,  auch 
das  dritte  Gudrunslied,  über  deren  späte  entstehung  fast  alle  einig  sind) 
zum  sichern  masstab,  und  zum  unwiderleglichen  beweis,  dass  man  auch 
in  dieser  beziehung  die  dichtarten  wol  zu  unterscheiden  hat,  dass  es 
ganz  unkritisch  wäre,  dieselben  in  einen  häufen  zusammenzuwerfen  und 
wegen  der  kenningar  z.  b.  die  gedicht'e  in  der  Egilssaga  oder  das  Yng- 
lingatal  sofort  für  jünger  als  sämtliche  Eddalieder  zu  erklären.  Dage- 
gen innerhalb  ein  und  derselben  dichtart,  innerhalb  der  eddaliedersam- 
lung  selbst,  kann  auch  der  gebrauch  dieser  Umschreibungen  etwas  zu 
bedeuten  haben.  Es  haben  die  kenningar  der  Eddalieder  nicht  eben  ein 
sehr  altertümliches,  primitives  gepräge,  das  über  die  „Skaldenpoesie** 
hinaus  zurückdeuten  könte,  sondern  vielmehr  zum  grossen  teil  eben  ein 
solches,  dass  wir  mit  fug  annelmien  können,  sie  seien  aus  der  manier 
einer  den  Verfassern  geläufigem  dichtart  in  diese  antikem  dichtungsfor- 
men  eingedrungen ,  wo  sie ,  meinem  gefühle ,  im  ganzen  genommen  recht 
geschmacklos ,  unmotiviert  und  klotzig  dastehen.  Obschon  ich  einräume, 
dass  Umschreibung  und  indirecte  bezeichnung  gewissermassen  aller  poe- 
sie  zugehört,  würde  ich  doch  nicht  der  epischen  poesie  „des  altern  und 
mittlem  eisenalters"  solche  abgeschmacktheiten  zutrauen,  wie  z.  b. 
„fliessbock"  (flotbrüsi)  für  schiff,  „zweigv erderber"  (sviga  l<e)  für  feuer, 
„kampfbaum,"  „  kampfapfelbaum "  (hüdimeiär,  rögapaldr)  ojjier  gar 
„apfelbaum  des  panzergedinges "  (brynpings  apaldr)  für  kämpfer,  „fiiss- 
sohlenzweig"  (ükvistr)  für  zehe  usw.  Es  ist  hiebei  von  gewicht,  dass 
bei  weitem  nicht  alle  Eddalieder  mit  dergleichen  wol  versehen  sind.  Es 
gibt  eine  anzahl  derselben,  die  der  eigentlichen  kenningar  fast  gänzlich 
entbehren,  nämlich  die  meisten  götterlieder,  das  Hävamäl  und  die  Völun- 
darkvida  *  (so  auch  das  Kigsmäl).  Unter  den  götterliedern  haben  nur 
die  Völuspä*  und   noch  weit  mehr  die  Hymiskvida^  stärkeren  hang  zu 

1)  Doch  heräaklettr  (Lok.  57),  heimis  haugar?  (Härb.  44),  alfrödull  (Skirn.  4 
Vaf[)r.  47);  jötna  vegir  (Häv.  106).  —  Das  pjödvitnis  fiskr  (Grinin.  21)  und  das 
(pjöddr  oder)  porp  meyja  mögprasis  (Vaf{)r.  49)  stehen  wol  in  interpolierten,  und 
von  derselben  band  interpolierten  Strophen. 

2)  sviga  la,  aldrnari,  galgviär?  (gagl-?),  vald^r,  nioldpinurr;  veggbergs 
visir?;  Fenris  kindir?  (nämlich  falls  diese  wölfe  eben  nicht  voniFenre  stammen).  — 
hvedrungs  mögr,  yggjungr  dsa,  Friggjar  angan,  mögt  Hlödynjar ,  Fjörgynjar  bu/rr, 
Midgards  veurr,  bani  Belja,  Baldrs  andskotiy  brödir  ByleistSy  Ods  mey,  u.  a., 
welche  durcli  die  anhäufung  den  neutraleren  Charakter  verlieren. 

3)  hdfjcUl  skaraTy  hätün  hortia,  hjahnstofn ,  hlunngoti,  flotbrüsi,  lögfdkr, 
brimsvin,  vinfertU,   ölkjöU,  lögvelUr,  kinnskögr,  hoUrida  hverr,  mögr  miskorbünda, 


ÜBEB  DIE   EDDALIEDER  43 

diesem  putze;  abgesehen  davon,  dass  das  Alvfssmäl  wesentlich  eben  nur 
ein  Verzeichnis  von  kenningar  und  andern  heiti  (dichterischen  benennun- 
gen)  ist  Die  heldenlieder  über  den  Nibelungen  -  Sagenkreis  sind  mit 
kenningar,  und  zwar  grossenteils  recht  geschmacklosen  und  sehr  unpri- 
mitiven ^  ausgeputzt.  Die  zahl  lässt  sich  verschieden  berechnen ,  steigt 
aber  ^  in  diesen  heldenliedem  mindestens  weit  über  100  hinauf,  wovon 
freilich  fast  ein  viei*tel  auf  das  jüngere  (1.)  lied  von  Helge  dem  Hun- 
dingstöter  komt.  Nicht  eben  am  ärmlichsten  versehen  sind  solche  lieder 
(oder  bruchstücke),  welche  doch  sonst  im  vergleich  mit  andern  dieses 
kreises  ein  weniger  unprimitives  gepräge  tragen,  so  das  zweite  Helge - 
Hundingstöter -  lied ,   das  zweite  Sigurdslied,    auch  Fäfnismäl,^  in  deren 


gj^gjar  gnetir,  brjötr  bergdana,  hafra  dröttinn,  purs  rädbani,  ornis  einbani,  Sifjar 
verr,  Yggs  barn,  Hrungnis  spjalli,  dttrunnr  apa,  ulfs  hnitbrödir,  wngjörd  allra 
landa;  nach  Bugge  ferner  hreingaUcn  (für  wolf)  und  eürarmnheiäir  (39)  ,,  giftwarm- 
verderber"  (für  Winter). 

1)  So  eggleiks  hvötuär,  naddels  bodi,  dafa  Darradry  dolgrögnir,  brynpings 
apaldr,  hüditneidr,  hrottavieidr,  dolgoidr,  hvassa  vdpna  hhjnfy  skjaldar  börr,  hialni- 
stafr,  auästafr^  hringdrifij  geirmimiry  geirnjördr,  geirniflungr,  hjalmgtinnar  (kein 
eigenname);  feikna  faedir;  vdr  gullSy  hörgeffij  menskögul ,  mörk  menja,  Unnvengis 
bü;  stagstjornmatY,  hlunnüigg,  seglvigg,  seglmarr;  rakka  hjörtr;  vefnisting;  hlid- 
farmr  Grana,  eldr  oriubeds ,  ognar  Ijouii ,  lindar  logi;  lindar  vddi,  herr  als  vidar ; 
betüogij  benvöndr;  ükvistr;  mödakarn;  skökr  bituh ;  hölkvir  hvilbedjar?;  grati 
alfa;  Crunnar  systra  gögl;  langr  lyngfiskr  lands  Haddingja;  Kolgu  systir;  Mistar 
marr;  neit  Menju  göd?;  gränstod  Gridar;  hälu  sker^ ;  Hugins  barr,  hrafns  hroß- 
lundir?  usw.  (Vgl.  auch  Jheiti  wie  z.  b.  gylfi,  csgir).  Das  meiste  hievon  ist  noch 
um  ein  bedeutendes  unprimitiver  als  die  angelsächsischen  kenningar  (J.  Grimm  meint 
mit  recht ,  diese  seien  im  ganzen  frischer  und  kräftiger  als  die  nordischen).  Andrer- 
seits finden  sich  in  den  eddischen  Nibelungenliedern  auch  minder  gesuchte ,  der  unmit- 
telbaren anschauung  näher  verwante  Umschreibungen^  z.  b.  hringbroti,  vägmarr, 
valstefnaf  hjörping.  Oft  aber  wird  eine  scheinbar  bescheidnere  kenning  docli  im 
contexte  anstössig  und  abgeschmackt,  so  z.  b.  das  insipide  skidijäm  (scheideeisen, 
d.  L  Schwert:  Hamd.  16),  vandstyggr  (Atlkv.  18,  falls  es  mit  Bugge  als  bezeich- 
nong  für  pferd  zu  nehmen  ist),  sverda  deüir  (ib.  36;  ganz  unmotiviert).  Gelegent- 
lich häufen  sich  mehrere  synonyme  hervorstechend  zusammen,  so  in  11  Sig.  16  —  17 
fünf  für  schiff;  so  auch  in  Fäfn.  36  hüdimeidr  und  hers  jadarr.  Natürlich  gibts  hier 
auch  Umschreibungen ,  die ,  ohne  auf  unmittelbarer  anschauung  zu  ruhen ,  doch  ganz 
einfach  sind,  wie  z.  b.  OSgis  dottvr,  bani  FafniSy  usw. 

2)  Ebenso  die  nicht  zu  diesem  kreise  gehörende  Helgkv.  Hjörv.  mit  rogapaldr 
und  vignesta  böl,  ausser  dem  etwas  gemässigtem  folks  oddviti,  —  II  Uelg.  Hund.: 
Crunnar  systra  gögl,  gränstod  Gridar,  nebst  den  erträglichem,  wie  folks  oddviU, 
folks  jadarr,  sdrdropi,  valdögg  u.  a.  —  II  Sig.:  lindar  logi,  und  in  swei  strophen 
zusammen  folgende  fünf,  die  an  und  für  sich  nicht  alle  zu  den  ärgern  gehören: 
^Rißvils  hestr,  seglvigg ,  vdgmarr,  saetre,  hlunnvigg;  in  einem  vielleicht  Jüngern  stück 
(19  —  25)  stehen  hrottameidr,  hjalmstafr,  nebst  den  weniger  prätentiösen  systir  Mäna, 
hjörleikr,  —     Fafnism.  hat  in  wahrscheinlich  altem  stücken  eisköld,  kUdikihr,  spil- 


44  E.    JESSEN 

zum  teil  sehr  gekünstelten  Jcennhigar  ich  indicien  sehe,  dass  sogar  die 
weniger  unantiken  unter  diesen  heldenliedern  einem  späten  Stadium  ange- 
hören. Man  vergleiche  sowol  wegen  der  Umschreibungen  als  wegen  des 
stils  überhaupt  die  im  reinsten  epischen  stile  gehaltene  J)rymskvida, 
und  man  wird  den  unterschied  fühlen.  Wie  schon  oben  angedeutet,  ist 
das  in  andern  beziehungen  so  überaus  unantike  Atlamäl  verhältnismässig 
sehr  frei  von  diesen  Umschreibungen.^ 

Betrachten  wir,  in  bezug  auf  die  vorliegende  frage,  die  beiden- 
lieder  specieller. 

Unter  denselben  ist  das  erste,  dieVölundarkvida,  das  antikste, 
einfach  episch,  wie  es  heroische  dichtung  auf  primitivem  Stadium  sein 
müste.  Natürlich  braucht  antikere  form  nicht  sofort  weit  höheres  alter 
zu  beweisen.  Es  scheint  mir  wol,  als  ob  man  ein  excerpieren  aus  einem 
altern  liede  hindurchhört.  Die  erste  strophe  ist  von  einem  kräftigen 
poetischen  hauche  belebt,  was  man  nicht  eben  dem  ganzen  gedichte 
nachsagen  kann.  Der  ton  ermattet  sogleich.  Poesie  hohen  ranges  ist 
es  überhaupt  nicht,  und  möchte  dennoch  unter  den  eddischen  heldenlie- 
dern in  ästhetischer  beziehung  beinahe  den  vorrang  behaupten  (doch 
jedenfalls  nicht  vor  dem  letzten  abschnitt  dos  zweiten  Helge  -  Hundings- 
töter-liedes,  demjenigen,  der  von  der  Zusammenkunft  der  Sigrun  mit 
dem  toten  handelt).  Zur  frage  über  norrön  oder  nicht  norrön  enthält 
das  Wölundslied  in  form,  stil,  Charakter  imd  in  beziehungen  zu  andern 
sagen  oder  liedern,  kaum  irgend  etwas  entscheidendes.  Ich  kann  also 
rücksichtiicli  dieser  frage  nur  auf  den  oben  erwähnten  nicht- dänischen 
gebrauch  von  kiefernbrennholz  verweisen. 

Das  nächste  lied,  die  Helgakvida  Hjörvardssonar,  ist  ganz 
unbedenklich  für  ein  norrönes  zu  erklären.  Der  held  ist  im  liede  ein 
Norweger  y  und  die  sage  (meines  wissens)  überdies  auch  nicht  einmal 
ausserhalb  der  norrönen  litteratur  widergefunden.  Obschon  form  und 
darstellung  von  primitiverer  art  ist  als  in  den  meisten  der  folgenden 
heldenlieder ,  liegt  doch  in  diesem  liede  eine  sehr  späte  sagenformation 
vor,  indem  die  besungenen  taten  meist  in  südlicheren,  sogar  deutschen 
ländern  vor    sich   gehen,    eine    erweiterung  des   Schauplatzes,    die   ein- 

lir  baugay  fjörsegi;  in  einem  willkürlichen  einschiebsei  (12  — 15)  hjMögr;  in  einem 
vielleicht  Jüngern  stück  (34-^39)  hUdimeidi\  hers  jadarr;  und  in  einem  unbedenklich 
jungem  (40 — 44)  ögnar  Ijomi,  litidar  vädi,  fiörgefn. 

1)  Doch  hörr  skjaldar  und  ilkvistr.  Hiebei  ist  zu  erinnern,  dass  es  das  längste 
dieser  lieder  ist.  Auch  über  spätes  alter  der  IIl  Gudrkv.  ist  man  einverstanden; 
sie  enthält  nur  die  bescheidnere  Umschreibung  herja  stilUrf  ist  aber  so  sehr  kurz 
(10  Strophen). 


ÜBEE  OlS   BDDALIBDER  45 

fluss  sowol  der  Wikingzeiteu  als  der  eingeführten  nicht  norrönen  sagen 
bezeugt.  —  Dass  die  eine  der  beiden  eddischen  Helge  -  sagen  der  andern 
mehreres  entlehnt  hat,  liegt  am  tage  (vgl.  Eylimi,  Sigarr,  Sigarsvellir,* 
Frekasteinn,  Varins-vik  oder  -fjördr,  und  die  behauptung,  „Sigrun  sei 
die  widergeborene  Schwaba."  ^)  Da  diese  gemeinsamen  züge  der  einhei- 
mischen dänischen ,  von  Saxo  bewahrten  sage  von  Helge  dem  töter  Hun- 
dings  und  Hödbrodds  fremd  sind,  gehören  sie  vielleicht  ursprunglich  der 
norwegischen  von  Helge  Hjörwards  söhn  an,  könten  jedoch  zum  teil  auch 
mit  der  deutschen  Wölsungensage  hereingekommen  sein ,  in  welchem  fall 
wol  gegenseitige  einwirkung  der  beiden  Helgesagen  anzunehmen  wäre. 

Die  lieder  über  den  Nibelungen-sagenkreis,  d.  h.  die 
übrigen  17  heldenlieder  der  „Sämundar-Edda,"  sind  samt  und  sonders 
gleichfalls  für  norröne  lieder  zu  erklären. 

Wie  früher  erwähnt ,  veranlasst  uns  die  sagengeschichte  Saxos  anzu- 
nehmen, dass  die  Verschmelzung  mit  der  Helge -Hundingstöter- sage  und 
die  nähere  anknüpfung  der  Jörmunreks-sage  (d.  h.  dritte  heirat  Gudruns, 
und  Schwanhild  als  tochter  Sigurds  und  Gudruns)  norröne  erfindungen 
seien.  Die  eddische  formation  der  Helgensage  würde  Saxo  genötigt 
haben ,  entweder  die  Wölsunge  in  die  dänische  heldensage  hineinzultigen, 
oder  den  Helge  aus  derselben  zu  entfernen.  Die  in  Norwegen  importierte 
dänische  sage  von  diesem  könige  und  die  deutsche  von  den  Wölsungen 
müssen,  wir  können  nicht  sagen  auf  welchem  wege,  bei  dem  norrönen 
stamme  verschmolzen  sein.  Die  umgekehrte  verwandelung ,  wodurch  ein 
ursprünglich  der  Wölsungensage  zugehörender  held  aus  dieser  sonst  bei 
Saxo  gänzlich  fehlenden  sage  ausgeschieden  und  in  die  dänische  königs- 
reihe  incorporiert  wäre,  hat  alle  Wahrscheinlichkeit  wider  sich.*  Hätte 
Saxo  die  wittwe  Sigfrids  und  Etzels  als  mutter  der  Schwanhild  und 
der  „hellespontischen  gebrüder"  gekaut,  würde  er  keine  Ursache 
gehabt  haben  solches  zu  verschweigen,  da  es  seiner  dänischen  sagen- 
geschichte in  keiner  beziehung  zuwiderlief.  Er  steht  auch  in  der  Jarme-  • 
riks-sage  auf  älterm  boden  als  die  Edda,  indem  er  mit  den  deutschen 
quellen  in  nichtanknüpfung  dieser  sage  an  die  Nibelungensage  überein- 
stimi  Es  existiert  nichts,  was  uns  zu  einer  so  gewagten  hypothese 
bringen  sollte,  wie  diejenige  es  wäre,  die  dänische  sage  sei  bei  Saxo 
zwei  mal  zu  dem  ursprünglichem  Stadium  zurückgekehrt  Wir  können, 
obschon  hier  nicht  von  mathematisch  zwingenden  beweisen ,  sondern  nur 

1)  Siehe  prosaschluss  Aet  Helgkv.  HjÖrv.  und  drittes  prosastückchen  in  Helg. 
Hund.  n. 

2)  Saxo  identificiert  ihn  mit  Helge,    dem  vater  Rolf  Krakes;  ob  diese  identifi- 
cation  onursprünglich  ist,  bleibt  eine  frage  for  sich. 


46  B.    JESSEN 

von  natürlicher,  ungezwungener  Ordnung  der  data  die  rede  sein  kann, 
mit  gröster  Zuversicht  behaupten ,  beide  Verschmelzungen  seien  norröne 
formationen.  Somit  wären  denn  fürs  erste  die  beiden  ersten  und  die 
beiden  letzten^  dieser  17  lieder  schon  wegen  der  sagenformation  für 
norröne  zu  halten.  Und  der  samler  (so  wie  ferner  auch  der  Verfasser 
der  Völsungasaga)  hat  keine  diesen  Verschmelzungen  widerstreitende  dar- 
stellungen  gekant,  da  er  solches  zweifelsohne  notiert  hätte,  indem  er 
ja  so  ausdrücklich  den  widei-spruch  der  lieder  über  Sigurds  tod  hervor- 
hebt. Dass  nun  diese  Verschmelzungen  am  anfang  und  ^m  ende  der 
sage  auch  in  dem  dazwischenliegenden  teile ,  d.  h.  in  der  darstellung  der 
hauptsage  selbst,  hervortreten  sollten,  wäre  auch  dann  nicht  notwendig 
zu  erwarten,  wenn  diese  dazwischenliegenden  lieder  jünger  als  die  Ver- 
schmelzungen wären,  und  wäre  unmöglich  in  correct  überlieferten  lie- 
dern,  die  älter  als  die  Verschmelzungen  wären.  Die  geschichte  mit  den 
Hundingssöhnen  reicht  aber  in  der  Edda  in  die  geschichte  Sigurds  selbst 
hinein  und  kömt  erst  in  den  beiden  ersten  Sigurdsliedern  zum  abschluss.* 
Die  geschichte  von  Gudnins  dritter  heirat,  mit  deren  folgen  (in  Verbin- 
dung mit  erwähnung  Schwanhildens  als  einer  tochter  Sigurds),  ist  im 
drittel^  Sigurdslied  (str.  53  und  59  —  61)  excerpiert,  und  ferner  im  Atla- 
mäl  (str.  102)  angedeutet,  indem  daselbst,  in  Übereinstimmung  mit  dem 
Hamdeslied  und  dem  dritten  Sigurdslied,  das  mislingen  des  Selbstmord- 
versuches der  Gudrun,  und  die  Verlängerung  ihres  lebens  bis  auf  „ein 
ander  mal**  (wie  es  prägnant  heisst)  berichtet  wird.^  Also  wären, 
meiner  ansieht  nach,  schon  wegen  dieser  beiden  sagen  Verschmelzungen 
nicht  weniger  als  8  von  den  17  liedern  als  entschieden  norröne  zu 
bezeichnen. 

Ferner  ist  der  inhalt  des  sonderbaren   liedes  Oddrünargrätr ,   der 
überdies  auch  wider  im  dritten  Sigurdsliede  (str.  56)  teilweise  excerpiert 
wird,  ausserhalb   der  norrönen  litteratur  unbekant,  und  unterliegt  dem 
^  verdachte  norröner  erfindung,  oder  auch  so  später  einführung  aus  Deutsch- 
land her,   dass   er   durchaus  nicht  „gesamtnordisch**   sein  könte.    Über 


1)  Helgkv.  Hund.  I  und  II,  Gndrünarhvöt ,  Hamdismäl. 

2)  Gripisspä  9.  Sigkv.  11,  15  f.  Ist  auch  in  dem  verlorenen  liede  erwähnt 
worden,  wonach  Völsungasaga  cp.  25  erzählt  wird  (Fornaldarsögur  I  s.  180:  hann 
drap  sonu  Hundings  konungs  ok  hefndi  födur  sins  ok  Eylima  modurfödur  sins). 

3)  Ob  man  recht  hat  SÖrle  und  Hamde  zu  den  „acht  fürsten"  des  zweiten 
Sigurdliedes  str.  5  zu  rechnen  (was  noch  einen  beleg  für  die  Verschmelzung  mit  der 
Jörmunrekssage  gäbe),  ist  mir  nicht  klar.  —  Dass  in  einem  verlorenen  liede  sogar 
die  ankntipfung  der  Ragnarssage  sei  belegt  gewesen,  lässt  sich  nicht  mit  Sicherheit 
aus  Völsungasaga  cp.  27  folgern  (Fornaldarsögur  I  s.  187 :  dötttir  okkar  Sigiirdar, 
Aslaugu,  skal  her  uppfcpda  med  pSr), 


ÜBER  DIE  BDDALIEDEB  47 

sehr  spätes  alter  dieses  liedes  ist  man  denn  auch  schon  ziemlich  einig. 
Ich  bezweifle,  dass  es  dänische  altertumsforscher  als  ein  „gemeinsam- 
nordisches^'  oder  als  ein  dänisches  in  schütz  nehmen  möchten. 

Diejenigen  gelehrten,  welche  die  Nibelungensage  im  norden  als  eine 
nicht  enÜehnte,  und  die  lieder  als  nicht  norröne ,  sondern  „gesamtnor- 
dische'' wollen  angesehen  wissen,  sind  darüber  einverstanden,  dass  die 
anknüpfung  der  Dietrichsage  eine  später  aus  Deutschland  hergenommene 
zutat  sei,  und  werden  schwerlich  diese  anknüpfung,  oder  überhaupt  die 
Dietrichsage,  schon  „im  altem  und  mittlem  eisenalter"  (d.  h.  vor  der 
eigentlichen  Wikingzeit)  im  norden  eingebürgert  sein  lassen^  werden  also 
dem  dritten  Gudmnslied  kein  hohes  alter  zugestehen.  Die  meisten  reden 
von  dem  späten  alter  dieses  liedes  in  einem  tone,  als  ob  sie  es  recht 
gem  den  Isländem  schenken  möchten.  Aber  auch  das  zweite  Gudruns- 
Ued  ruht  auf  der  anknüpfung  der  Dietrichsage,  indem  die  prosaeinlei- 
tung  sagt,  es  enthalte  die  klage  Gudruns  im  gespräch  mit  Dietrich, 
worin  sich  der  samler  nicht  irrt,  indem  ja  die  Übersicht,  welche  Gudrun 
lyer,  ältere  lieder  excerpierend ,  über  ihr  leben  gibt,  eben  bis  auf  den 
Zeitpunkt  reicht,  wo  sie  sich  mit  Dietrich  soll  unterhalten  haben,  wie  es 
denn  auch  nicht  leicht  wäre  zu  erraten,  an  welche  andere  person  als 
den  Dietrich  diese  klage  gerichtet  wäre.  Mir,  der  ich  die  Nibelungen- 
sage im  norden  nicht  für  so  sehr  alt  eingebürgert  halte,  ist  übrigens 
nichts  im  wege,  die  Dietrichsage  und  die  Nibelungensage  mit  einander 
verbunden  (und  wäre  es  auch  sogar  mit  solchen  details  versehen,  wie 
denen  des  Oddrünargrätr)  nach  dem  norden  gelangt  sein  zu  lassen ,  indem 
ich  das  dem  dritten  Gudmnsliede  (und  von  manchen  auch  dem  Oddrü- 
nargrätr) beigelegte  späte  alter  auf  die  samlung  überhaupt  ausdehne.^ 

Oben,  in  den  bemerkungen  über  „landesnatur/'  glaube  ich  dar- 
getan  zu  haben,   dass  das  Hävamäl  ein  norrönes  lied  ist.    Dies  zieht 

1)  Auch  Sigords  tötung  im  freien  (zweites  Gadrunslied  und  brot  af  Brynkü- 
darkvidu,  oder  wie  Bugge  es  nent,  brot  af  Sigurdarkvidu)  sehen  sich  die  nordischen 
gelehrten  in  der  ärgerlichen  läge  für  spätere  deutsche  zutat  erklären  zu  müssen,  während 
es  meinem  Standpunkt  gleichgiltig  bleibt,  ob  es  schon  zwei  deutsche  Versionen  dieser 
begebenheit  gegeben  habe^  und  ob  die  tötung  im  bette  (drittes  Sigurdslied)  deutsche 
Version,  oder  Variation  deutscher  version  wäre  (vgl.  Hans  Sachsens  darstellnng) ,  oder 
aber,  ob  dies  spätere  norröne  erfindung  wäre;  wie  ich  überhaupt  jener  künstelnden, 
verwickelten  erklärungen  überhoben  bin,  wonach  eine  menge  einzelheiten  (so  femer 
der  Schauplatz  am  Rhein,  die  deutsdien  Völkerschaften,  das  entfliehen  nach  Däne- 
mark als  fremdem  lande,  usw.)  spätere  einmischung  deutscher  umdichtungen  wären, 
indem  solches  aUes  mir  nur  einfach  Zeugnis  für  deutschen  und  gegen  nordischen 
Ursprung  der  sage  überhaupt  ist  (ohne  dass  ich  z.  b.  bei  dem  entfliehen  nach  Däne- 
mark, die  möglichkeit  nordischer  hinzudichtung  zum  deutschen  bestand  der  sage  zu 
läugnen  brauche). 


48  £.   J£SS£N 

nun  ferner  das  Sigrdrffumäl  mit  sich ,  welches  offenbar  eine  nachahmung 
ist  der  beiden  letzten  abschnitte  des  Hdvamäl,  nämlich  des  Loddfdfnis- 
tndl  und  des  rünatalspdUr  (zusammen  str.  111  — 165),  in  umgekehrter 
Ordnung,  indem  im  Sigrdrffumäl  der  rünatalspättr  (mnencapitel)  zuerst, 
die  lebensmaximen  zuletzt  stehen.  Dass  eins  der  beiden  lieder  dem 
andern  zum  vorbild  gedient  hat,  liegt  am  tage;  und  das  Sigrdrifumäl 
für  das  ältere  zu  erklären,  wird  um  so  weniger  jemand  einfallen;  als  es, 
wie  oben  erwähnt ,  so  sehr  deutlich  von  einem  Christen  herrührt.  Es  ist 
das  Sigrdrifumäl^  eben  nichts  als  ein  späteres  experiment,  ein  versuch 
die  frage  zu  beantworten,  wie  die  in  altern  epischen  liedern  erwähnten 
(aber  schwerlich  solcher  weise  ausgeführten)  weisen  und  heilsamen  leh- 
ren der  Sigrdrffa  möchten  gelautet  haben,  wobei  denn  der  Verfasser, 
wenn  er  ein  Isländer  war,  sehr  wahrscheinlich  kein  anderes  hinlänglich 
umfassendes  vorbild  haben  konte  als  eben  das  Hävamäl,  obschon  er  in 
seinem  rünatalspättr  (nämlich  in  den  wenig  zutreffenden  Strophen  14  — 
17)  vielleicht  daneben  andere  ihm  irgendwoher  bekante  rwwa^s- Stro- 
phen, und  zwar  ziemlich  ungeschickt,  möchte  benutzt  haben,  währeiyi 
wider  der  schluss  (str.  19)  specieller  an  den  schluss  des  Hävamäl  geraahnt. — 
Im  zweiten  Sigurdslied  und  im  Fäfnismäl  sind  mehrere  sprichwörtliche 
Strophen  zerstreut ,  die  ganz  an  die  art  des  Hävamäl  erinnern ,  was  ja 
aber  nicht  hinlänglich  ist,  um  nachahmung  desselben  und  entlehnung 
aus  demselben  bestimt  zu  behaupten,  da  sie  eben,  wie  oft  das  Hävamäl, 
allgemein  gebräuchliche  Sprichwörter  enthalten  mögen ;  ^  so  Fäfnisra. 
str.  17,  deren  letzte  hälfte  mit  der  str.  63  des  Hävam.  zusammentrifil 
{pä  kann  pat  finnr,  er  med  frceknum  kemr,  at  engi  er  einna  hvatastr). 
Weniger  sprichwörtlich  scheint  H  Sigurdkv.  str.  25 ,  die  an  Hävam.  str.  60 
(pveginn  ok  mettr  usw.)  erinnert,  und  mir  wol  eine  nachbildung  dersel- 
ben zu  sein  scheint,  wie  ja  denn  auch  daselbst  (in  II.  Sigurdkv.)  ganze 

1)  Str.  6  —  37,  wozu  dann  str.  2,  3,  4  passende  einleitung  wäre,  wogegen 
str.  1  und  5  die  letzten  fragmente  eines  andern  liedes  sein  werden ,  vielleicht  dessel- 
ben wol  schon  damals,  ein  par  bruchstücke  abgerechnet,  nur  seinem  Inhalt  nach 
noch  bekanten  liedes ,  woraus  der  Verfasser  von  Helreid  Brynhildar  (str.  6  f.)  schöpfte, 
und  welches  direct  oder  durch  vermittelung  des  Helreid  dem  dritten  prosastück  beim 
Sigrdfm.  zu  gründe  liegt.  —  Es  wundert  mich  indessen ,  dass  Bugge  (ausg.  s.  416 
und  423)  dem  einfaUe  beitritt,  str.  6,  8,  9,  10  des  Helr.  aus  diesem  liede  heraus- 
zunehmen, nnd  in  das  Sgrdrfm.  hinüber  zu  versetzen,  als  ob  diese  Strophen  mit  dem 
yigrdrfm.  ein  gedieht  ausmachen  würden.  Man  hat  sich  vielmehr  im  Sigrdrfm., 
nebst  der  prosa,  auch  str.  1  und  5  hinwegzudenken;  dann  eben  bleibt  ein  vollstän- 
diges gedieht  übrig(obschon  es  die  handschrift  nicht  als  besonderes  gedieht  bezeich- 
net, wol  weil  es  die  handlung  nicht  weiter  führt). 

2)  Ebenso  wäre  es  nicht  notwendig,  dass  der  Verfasser  der  Sverrissaga  die 
Worte  fdr  er  hvatr  usw.  eben  aus  Fäfuism.  str.  6  entlehnt  hätte  (vgl.  Bugge  s.  220). 


ÜBER   DIE   BDDALIEDEB  49 

füiif  Strophen  unmittelbar   davor   stehen,    die  wie   ein   versuch   in   der 
manier  des  Hävamäl  aussehen. 

Bei  dem  letzten  teil  des  Fäfnismäl  ist  zu  bemerken ,  dass  der  sara- 
1er  der  lieder  daselbst  nicht  weniger  als  sieben  vögel  (igäur)  reden  lässt, 
die  nach  diesem  liede  erzählende  Völsungasaga^  sechs,  wogegen  die  kurze 
erzählung  in  der  Snorra-Edda*  nur  von  zwei  vögeln  weiss,  die  dann 
eben  die  beiden  ersten  von  den  im  Fäfnismäl  stehenden  Strophen  hersa- 
gen ,  wie  auch  das  bild  (aus  christlicher  zeit)  auf  dem  schwedischen  Kam- 
sundsberg  nur  zwei  hat,^  dagegen  das  am  portal  der  Hyllestad-kirche  im 
Säterdal  in  Norwegen  drei.*  Dass  es  nur  ein  Irrtum  des  samlers  wäre, 
jede  der  sieben  Strophen  einem  andern  vogel  in  den  mund  zu  legen, 
scheint  mir  wenig  plausibel.  Er  müste  denn,  ohne  zu  wissen  was  er 
tat,  bnichstücke  von  zwei  oder  drei  liedern  zusammengeworfen  haben. 
Es  wäre  doch  wol  einfacher,  hier  eine  spätere  und  isländische  formation 
dieses  abschnittes  der  sage  zu  sehen,  sich  die  sache  etwa  so  zu  denken, 
dass  man  aus  älterer  nur  bruchstückweise  bewahrter  dichtung  die  beiden 
ersten  Strophen  (32  und  33^)  noch  hatte,  und  in  neuer  behandlung  des 
stoflFes  noch  fünf  vögelstimmen  hinzudichtete  (str.  34 — 38);  ferner  wären 
dann  auch  die  fünf  letzten  Strophen,  die  gleichfalls  von  vögeln  gespro- 
chen werden,  neudichtung,  und  wol  ursprünglich  dann  gleichfalls  sieben, 
wovon  zwei  verloren  wären,  so  dass  die  vögel  zwei  mal  sieben  Strophen 
gesungen  hätten,  die  ersten  sieben  aufmunterung  zur  tötung  ßegins,  die 
letzten  sieben  prophetierende  Übersicht  über  Sigurds  spätere  Schicksale. 
Snorre  würde  dann  diese  neudichtung  entweder  verworfen  oder  nicht 
gekaut  haben,  falls  man  übrigens  in  so  gedrängter  erzählung  wie  der 
seinigen  auf  blosse  nichterwähnung  von  einzelheiten  gewicht  legen  will. 

Dass  die  erste  Sigurdarkvida  -(Gripisspä) .  eines  der  jungem  lieder 
in  der  samlung  ist,  darüber  ist  man  ziemlich  einig.  Ich  habe  schon  zu 
verschiedenen  malen  positive  gründe  angeführt,  es  speciel  für  ein  norrö- 
nes  zu  erklären.  Ich  kann  ferner  Bugges  meinung^  beitreten,  dass  es 
speciel  jünger  ist  als  die  so  eben  besprochenen  Fafnismäl  und  Sigrdrffii- 
mäl,  indem  die  Strophen  11  — 18  auf  diesen  beiden  liedern,  so  wie  wir 
sie  jetzt  haben,  ruhen  müssen,  woraus  ich  also  consequent  zu  folgern 

1)  Cap.  19  (Fomaldarsögar  I  s.  164),  wo  der  Inhalt  einer  strophe  (37)  fehlt. 

2)  In  der  Skalda.    Eopenhagener  ansg.  I  s.  358.    (Egilssons  ansg.  s.  74). 

3)  Auf  dem  des  Gökssten  ist  nur  einer  deutlich;  aber  es  ist  beschädigt  nnd 
defect. 

4)  Vgl.  in  Bugges  Eddaansg.  s.  415. 

5)  Welche  denn,  als  bruchstücke,  nicht  entscheiden  würden,  ob  das  ältere 
lied  zwei  oder  drei  gehabt  hätte. 

6)  S.  LXX  und  415  in  seiner  ausgäbe. 

ZBITSCHB.    F.  DBUTSCHB    PHILOLOGIE.     BD.  UI.  4 


50  E*    JESSEN 

habe,  dass  die  Gripisspä  auf  Island  und  von  einem  Christen  verfasst  ist. 
Es  sind  die  Strophen  11  — 18  ein  an  misverständnissen  leidendes  excerpt 
aus  den  genanten  beiden  liedern,  welche  der  Verfasser  so  verstanden 
hat,  als  ob  Sigurd  einen  besuch  bei  Gjuke  fniher  als  bei  Sigrdrifa  und 
Heime  abzustatten  hätte,  und  als  ob  Sigrdrifa  und  Brynhild  zwei  per- 
sonen  wären;  wozu  ihn  eben  jene  beiden  lieder  verleiten  konten,  indem 
sie  nicht  ausdrücklich  sagen,  wer  die  Sigrdrifa  sei,  und  in  den  schluss- 
strophen  des  Fäfnismäl  die  heirat  mit  Gjukes  tochter  früher  als  die  reise 
nach  der  felsenburg  Sigrdrifas  erwähnt  wird,  welchem  Verhältnis  der 
Verfasser  der  Gripisspä  eine  chronologische  bedeutung  beigelegt  hat. 

Kücksichtlich  der  in  der  handschrift  den  beiden  Atleliedern  bei- 
gelegten benennung  „grönländisch"  trete  ich  ferner  Gröndals  und  Bug- 
ges^  ansieht  bei^  dass  dabei  unmöglich  an  etwas  andres  als  das  ameri- 
kanische Grönland  zu  denken  ist,  welches  ja  am  schluss  des  10.  Jahr- 
hunderts von  Isländern  colouisiert  wurde,  und  zu  anfang  des  11.  das 
Christentum  annahm.  Bugge  meint  mit  recht,  dies  epitheton  in  groen- 
lendsJcu  möge  sehr  wol  bezeichnen  können:  „in  Grönland  verfasst/'  und 
beruft  sich  dabei  auf  die  bekanten  (oben  auch  von  mir  erwähnten)  indi- 
cien,  dass  das  Atlamäl  von  einem  Christen  herrührt,  nebenbei  auch  auf 
den  „weissbären"  der  strophe  18  dieses  liedes,  welches  er  sich  also  als 
frühestens  im  11.  Jahrhundert  verfasst  vorstellen  wird,  wie  ja  denn  auch 
schon  andre  nordische  gelehrte  es  als  ein  sehr  spätes  anerkant  haben.* 
Aber  entschieden  muss  ich  Bugge  widersprechen,  wenn  er  diese  benen- 
nung, wider  das  zeugnis  der  handschrift,  auf  das  Atlamäl  beschränken 
möchte,  weil  es  seiner  meinung  nach  befremdend  wäre,  zwei  grönländi- 
sche lieder  über  dasselbe  sujet  zu  haben.  Im  gegenteil,  ich  würde  es 
befremdend  finden,  wenn  nur  das  eine  der  beiden  lieder  ein  grönländi- 
sches wäre.  Sie  stehen  einander  im  character,  stil,  spräche,  versifica- 
tion  so  nahe,  und  stellen  sich  in  diesen  beziehungen  in  so  schneidenden 
gegensatz  zu  den  liedern  über  die  vorausgehenden  teile  der  sage,  dass 
man  sich  versucht  ftihlen  möchte,  sie  fflr  zwei  zu  verschiedenen  Zeiten 
gelieferte  producte  desselben  mannes,  oder  für  zwei  concurrenzstücke 
über  aufgegebenes  sujet  in  aufgegebenem  stil  und  metrum  zu  halten. 
Ich  gehe  noch  weiter,  und  gestehe,  dass  es  mich  ein  wenig  befremdet, 
nicht  auch  das  Hamdismäl  als  ein  „grönländisches"  bezeichnet  zu  finden, 
obschon  es  nur  in  geringerem  grade   die  characteristischen  eigenschaf- 

1)  Siehe  dessen  ausgäbe  s.  433,  vgl  428  (292,  282). 

2)  Man  kann  dies  so  aosgedrüokt  finden,  als  ob  dies  das  einzige  gedieht  in 
der  samlnng  wäre,  das  nicht  älter  als  die  eigentliche  wikingzeit  wäre;  es  wird  aber 
noch  jünger  sein. 


ÜBER  DIE    EDDALIEDER  51 

ten,  den  ton  und  die  förbung  der  Atlelieder  zur  schau  ti'ägt.  Es  wii'd 
kein  zufall  sein,  dass  wir  eben  nur  die  beiden  letzten  abschnitte  des 
Sagenkreises,  nämlich  die  Atlensage  und  die  Jörmunreksage  in  so  nahe 
verwanter  modernerer  form  behandelt  finden,  während  wir  eben  nur  in 
Sigurds-,  Brynhilds-  und  Gudruns -liedern  einer  moderneren  form  ganz 
andrer  art  begegnen  (wovon  weiter  unten).  Das  Hamdismäl  scheint 
Bugge  für  viel  älter  als  das  Atlamäl  zu  halten ;  denn  von  der  strophe  24 
des  Hamdismäl  {styrr  varä  i  rannt  usw.)  behauptet  er,^  sie  sei  von 
„  Brage  Skald  dem  alten "  in  dessen  Eagnarsdräpa  ^  benutzt  (rösta  varä 
i  ranni),  wobei  Bugge  aber  ausser  acht  lässt,  dass  auch  umgekehrt  das 
Hamdismäl  die  Ragnarsdräpa  möchte  benutzt  haben,  oder  beide  eine 
gemeinschaftliche  quelle.  Aber  auch  wenn  unser  Hamdismäl  quelle  der 
drdpa  wäre,  gäbe  das,  meiner  früher  ausgesprochenen  ansieht  gemäss, 
gar  keinen  chronologischen  anhält,  indem  die  authentie  der  Bragelieder 
(ja  obendrein  die  existenz  des  Brage)  zu  läugnen  ist.  Eine  Ragnars- 
dräpa über  diese  sage  ist  ein  indicium,  dass  die  Verknüpfung  der  Rag- 
nars  -  und  der  Nibelungensagt  schon  bewerkstelligt  war.  Aber  die  Rag- 
narssage,  um  so  mehr  diese  Verknüpfung,  konte  erst  lange  zeit  nach 
dem  tode  Ragnars  entstehen. 

Von  grosser  bedeutung  ist  uns  femer  ein  epitheton,  welches  die 
handschrift  nur  drei  liedern  beilegt,  nämlich  „das  alte"  (in  forna,  in 
fornu).  Erstens  nämlich  benent  sie  einen  abschnitt  der  bruchstücksam- 
lung,  die  zusammen  das  zweite  Helge -Hundingstöter-lied  ausmacht: 
^yVÖlsungahviäa  in  forna*'  welche  benennung  vor  str.  12  steht,  und, 
wie  Bugge  ^  richtig  bemerkt,  nur  die  folgenden  strophen  bezeichnen 
kann,  wie  viele,  ob  vielleicht  alles  bis  zum  schluss  des  „ zweiten  Helge- 
Hundingstöter-liedes,"  ersieht  man  nicht.  Und  in  der  tat  gehört  dies 
alles  zu  dem  altertümlicheren  in  der  samlung ,  und  ist  jedenfalls  älter  als 
die  behandlung  im  ersten  Helge -Hundingstöter-liede,  welches  eben  ein 
versuch  ist,  eine  partie  dieser  sagenabteilung  in  verbesserter  und  nicht 
bruchstückartiger  weise  widerzuerzählen.  Zweitens  erwähnt  die  hand- 
schrift im  prosastück  nach  dem  hrot  af  Brynhildarhviäu  „das  alte 
Gudrunlied"  (Cruärünarkv^iäa  in  forna)  in  solcher  weise,  dass  man 
ersieht,  damit  ist  das  zweite  Gudrunlied  gemeint.'*    Auf  den  ersten  blick 

1)  In  seiner  ausgäbe  s.  441.  —    Es  ist  bei  ihm  str.  23. 

2)  Snorra-Edda  I  s.  372.  —  Im  andern  bmchstück  dieser  drdpa  alliteriert 
ursprüngliches  vr  mit  r:  reiär  mit  reifnis  und  raäalfs  (s.  438).  Vgl.  ein  früher 
citiertes  bruchstückchen  von  „Brage,"  wo  vr  mit  v  alliterierte. 

3)  Ausgabe  s.  193.  —     Es  ist  daselbst  str.  14. 

4)  Weshalb  Bugges  ausgäbe  diese  benennung  in  die  Überschrift  dieses  liedes 
aufnimt. 

4* 


52  £.   JESSEN 

möchte  hier  die  benennung  „das  alte"  überraschen.  Den  nordischen 
gelehrten  muss  dieses  lied  für  ein  im  vergleich  spätes  gelten,  weil  es 
Sigurd  im  walde  und  südlich  des  Eheins^  töten  lässt,  und  weil  es,  dem 
Zeugnis  der  prosa  zufolge,  die  worte  Gudruns  an  Dietrich  enthält.  Auch 
mir  ist  es,  wegen  der  weiter  zu  besprechenden  form,  ein  sehr  spätes, 
und  zwar  isländisches  product.  Vergleicht  man  es  aber  mit  den  andern 
Gudrunliedern,  meine  ich,  dass  man  einräumen  muss,  dieselben  möch- 
ten leicht  ganz  richtig  noch  jünger  sein.  Wegen  des  dritten  Gudrun- 
liedes ,  desjenigen  mit  dem  Dietrich  und  der  Herkja  in  den  versen  selbst, 
werden  nun  die  nordischen  gelehrten  hierüber  auch  natürlich  keine 
Schwierigkeiten  machen.  Das  erste  Gudrunlied  liegt  ihnen  näher  am 
herzen,  wird  aber  wahrhaftig  eben  so  wenig  ein  „altes"  sein.  Besehen 
wir  es.  Es  fangt  mit  denjenigen  zeilen  an,  die  gleichfalls  im  zweiten 
Gudrunlied  stehen  (str.  11),  welche  behaupten,  dass  Gudrun,  bei  Sigurds 
leiche  sitzend,  weder  weinen  noch  die  bände  zusammenschlagen  konte. 
Das  muss  derjenigen  Version  zugehören,  wonach  Sigurd  draussen  im 
walde  getötet  wird,  und  Gudrun  im  walde  1)ei  der  leiche  sitzt  (der  Ver- 
sion des  zweiten  Gudrunliedes  und  des  brot  af  Brynhüdarhviäu),  Denn 
nach  derjenigen  des  dritten  Sigurdliedes ,  wo  er  im  bette  erschlagen  wird, 
ist  das  erste,  was  sie,  bei  der  leiche  sitzend,  tut  (str.  29  —  30),  die 
bände  so  derb  zusammenzuschlagen,  dass  „die  becher  im  schranke* 
erschallen,  die  gänse  im  hofe  aufschreien,"  und  so  überlaut  zu  weinen, 
dass  es  bis  ins  gemach  der  Brynhild  ertönt,  die  darüber  „aus  ganzer 
seele  lacht."  Das  erste  Gudrunlied  nun  ruht  auf  beiden  Versionen  zu- 
gleich; denn  das  nicht -weinen -können  geht  im  hause  vor  sich;  daselbst, 
während  sie  bei  der  leiche  sitzt,  finden  sich  die  „jarle"  ein,  um  sie 
weinen  zu  machen,  geben  aber  die  sache  auf,  wonach  die  drei  furstin- 
neu,  Gjaflaug,  Herborg  und  Gullrönd,  von  denen  sonst  auch  nicht  das 
mindeste  bekant  ist,  und  die  eigens  für  dies  lied  werden  erfanden  sein, 
eintreten ,  und  so  abgeschmackte  trostgründe  ^  vortragen ,  dass  man  sich 
über  das  fortdauernde  nicht -weinen  wenig  wundert.  Zuletzt  gelingt  es 
doch  der  Gullrönd,  durch  eine  sonst  unbekante,  wol  speciel  für  dieses 
lied  erdachte  scene,    die  Gudrun  zum  erwünschten  weinen  zu  bringen; 


1)  Vgl.  fyr  handan  ver  str.  7,  und  d  stidrvega  str.  8. 

2)  Oder  was  sonst  i  vä  (str.  29)  bedeuten  mag.  Bugges  Vorschlag,  es  sowol 
hier  als  Hävam.  25  (26)  für  i  vrä  verschrieben  sein  zu  lassen ,  finde  ich  extravagant. 
Eher  möchte  mau  mit  Vigfusson  das  r  wirklich  in  der  ausspräche  elidiert  sein  las- 
sen. Beide  mal  verschrieben  wird  es  jedenfalls  nicht  sein.  Ich  meine,  es  ist  eben 
nur  ein  seltenes,  noch  nicht  erklärtes  wort,  das  mit  vrd  nichts  zu  tun  hat. 

3)  Die  Gjaflaug  hat  „fünf  männer*'  verloren,  und  sich  immer  zu  trösten 
gewust. 


ÜBER  DIE   EDDALIEDER  53 

und  da  „regnete  es  über  die  knie  (wol  auch  durch  das  dunkle  tresk?) 
und  die  gänse,  die  herlichen  vögel,  schrieen  dabei  auf"  (str.  15  — 16), 
was  also  das  weinen  des  dritten  Sigurdliedes  ist.  Gudrun  spricht  nun 
ihren  jammer  in  einer  rede  (str.  18  —  22)  aus,  deren  anfang  sie  offenbar 
wider  direct  ihrer  späteren  rede  an  Dietrich  (nämlich  der  strophe  2  des 
zweiten  Gudrunliedes)  entlehnt.  Über  diese  erleichterung  des  Schmerzes 
wird  nun  Brynhild  zornig,  welche  mit  der  GuUrönd  repliken  wechselt 
(str.  23  —  24),  die  so  vornehmen  damen  wenig  anstehen;  wonächst  sich 
Brynhild  etwas  besonnener  an  das  dritte  Sigurdlied  str.  37  —  39  wen- 
det, woselbst  sie  ihre  pecuniären  interessen  in  der  heiratsfrage  offen 
bekent,  hier  aber,  im  excerpte  (I.  Gudr.  25  —  26),  nur  andeutet.  Plötz- 
lich aber  steigert  sich  ihr  zorn  so,  dass  sie  (str.  27)  die  scene  damit 
abschliesst,  „feuer  aus  den  äugen  zu  sprühen  und  gift  zu  schnauben," 
was  ihr  doch  keins  der  andern  lieder  nachzusagen  weiss.  Es  dürfte  mir 
kaum  als  extra vaganz  verübelt  werden,  wenn  ich  dies  sonderbare  lied 
für  einen  willkürlichen  isländischen  versuch  halte,  etwas  neues  aus  dem 
in  einigen  liedern  gepriesenen  nicht -weinen  und  nicht -händeschlagen 
zu  machen,  und  dasselbe  mit  dem  gewaltigen  weinen  und  händeschlagen 
anderer  lieder  zu  combinieren ,  und  wenn  ich  ferner  den  verdacht  hege, 
dass  der  Verfasser  der  Völsungasaga  hierüber  bescheid  wüste,  und  des- 
halb vorsätzlich  unterliess,  dies  lied  zu  benutzen,  und  dass  gleichfalls 
der  samler  der  lieder  recht  wol  wüste,  dass  dies  lied  ein  neues  war, 
und  mit  ganz  besonderem  hinblick  auf  dieses  das  zweite  ein  (im  vergleich) 
„altes"  nent,  obschon  er  nebenbei  auch  noch  an  die  beiden  andern 
Gudrunlieder,  das  dritte  und  die  Gudrunarhvöt ,  gedacht  haben  mag. 
Ich  möchte  nämlich  wol  annehmen,  dass  er  auch  die  Gudrunarhvöt  als 
ein  neues  lied  gekant  hat,  und  indirect  als  ein  solches  bezeichnet,  wenn 
er  drittens  das  Hamdismäl  „das  alte  Hamdeslied"  nent.  Er  scheint 
eben  so  wenig  wie  wir  irgend  ein  andres  lied  zu  kennen ,  das  auf  irgend 
welche  weise  ein  Hamdeslied  wäre ,  als  eben  nur  die  Gudrunarhvöt ,  wird 
wol  auch  wider  hier  „alt"  mit  beziehung  auf  irgend  eins  der  andern 
lieder  gebraucht  haben, ^  und  hätte  nicht  umhin  können  zu  bemerken, 
dass  das  eine  der  beiden  lieder  mit  so  gutem  fug  wie  das  andere  sich 
als  ein  Hamdeslied  betrachten  liesse,  was  in  beiden  fällen  nur  teilweise 
zutreffende  benennung  abgibt,  wie  denn  andrerseits  auch  „Gudrunar- 
hvöt" ungenaue  bezeichnung  ist,  indem  „ Gudruns  antreiben **  zur  erschla- 
gung Jörmunreks  nur  einleitung  ist,  um  eine  Situation  aufzutreiben,  wo 
Gudrun  einmal  wider  eine  excerpierende  Übersicht  über  ihr  leben  geben 
könte.    Der  erste  teil  der  Gudrunarhvöt  kann  aus  dem  Hamdismäl  (in 

1)  So  ist  mir  auch  die  beuennung  Bjarkamäl  in  forna  zeugnis,  dass  man  vom 
jüngeren  alter  eines  andern  Bjarkmndl  gewust  hatte  (vgl.  oben  s.  21  f.). 


54  B.    JESSEN 

etwas  minder  corrumpierter  gestalt  des  letzteren  als  der  jetzt  vorliegen- 
den) hergenommen  sein,  obgleich  auch  beide  auf  gemeinsame  quelle 
zurückfuhren  könten.  Dass  die  bezeichnung  von  drei  dieser  heldenlieder 
als  „alten"  eine  Vorstellung  von  andern  als  im  vergleich  neuen  impli- 
ciert,  folgt  von  selbst.  Eine  samlung  von  liedern  aus  „  dem  älteren  und 
mittleren  eisenalter*'  .würde  durchgängig  so  „/brw"  gewesen  sein,  dass 
von  einer  Unterscheidung  des  mehr  und  des  minder  „fornen,^^  geschweige 
denn  von  einer  kleinen  aristokratie  aus  nur  drei  speciel  „fornen^''  lie- 
dern bestehend,  gewis  nicht  die  rede  gewesen  wäre. 

Wol  nicht  ohne  bedeutung  ist  es,  welche  der  lieder  der  Verfasser 
der  Völsungasaga  nicht  benutzt  hat.  Er  hat  ja  nämlich  sonst,  neben 
ein  par  verlorenen,^  eben  die  uns  bewahrten  benutzt  und  grossenteUs  in 
prosa  umgesetzt,  wobei  parallele  lieder,  so  die  beiden  Atlenlieder,  und 
die  beiden  letzten  (Gudrhv.  und  Hamdm.),  je  beide  durchblicken.  Nicht 
benutzt  sind:  Helgakvida  Hundingsbana  II,  Oddrünargrätr ,  Gudrünar- 
kvida  III  und  I ,  Helreid  Brynhildar ,  welche  liste  meines  erachtens  kund 
gibt,  dass  die  nichtbenutzung  eine  vorsätzliche  war.  Der  erste  teil  der 
sage  von  Helge  dem  Hundingstöter  steht  in  der  Helgakv.  Hund.  II 
(str.  1  —  27)  unvollständig,  unordentlich,  wenig  klar,  dagegen  in  der 
Helgakv.  Hund.  I  viel  vollständiger,  ordentlicher  und  leichter  zu  lesen. 
Der  zweite  teü  dieser  sage,  welcher  im  ersten  liede  fehlt,  hat  so  wenig 
bedeutung  für  die  Wölsungengeschichte  (mochte  vielleicht  auch  noch 
dem  bewustsein  nicht  zu  undeutlich  als  etwas  dieser  geschichte  ursprüng- 
lich fremdes  dastehen),  dass  er  sehr  passend  wegbleiben  konte,  indem 
der  sagaverfasser  die  sache  nur  mit  der  bemerkung^  abzufertigen  brauchte, 
dass  „Helge  die  Sigrun  heiratete  und  ein  berühmter  könig  ward."  Ähn- 
liche bewantnis  wie  mit  dem  weggelassenen  teile  der  Helgensage  hat  es 
mit  Oddrünargrätr  und  Gudrünarkvida  IIL  Auch  wenn  der  sagaverfas- 
ser den  inhalt  dieser  beiden  lieder  nicht  für  willkürliche  erfindung  hielt, 
würde  er  ihn  als  überflüssig  ausgeschlossen  haben ,  den  der  Gudrkv.  HI 
um  so  mehr,  als  er  sich  überhaupt  auf  die  Dietrichsage  nicht  einlässt, 
die  er  doch  sehr  wol  kante,  da  er  ja  bekantlich  eben  aus  den  abteilun- 
gen  in  der  saget  pidreks ,  die  von  den  Weisungen  und  Nibelungen  han- 
deln,  etliches  entlehnt  hat.^    Helreid  Brynh.  und  Gudrkv.  I  wird   der 

1)  Die  in  der  lückc  der  handschrift  zwischen  Si{frdrifumäl  und  hrot  af  Bryn- 
hildnrktndu  gestanden  haben  müssen.  —  Bugge  (LXVII)  setzt  die  cntstehung  der 
schriftlichen  liedersamlung  um  1240,  die  saga  in  die  letzte  hälftc  des  13.  Jahr- 
hunderts. 

2)  Völs.  cap.  9  (Fomalds.  I  s.  141),  wo  in  den  Schlussworten  ok  er  kann  her  ekki 
sidan  vidpessa  sögii  das  her  (hier)  andeutet,  dass  man  anderswo  mehr  vom  Helge  erzählte. 

3)  Siehe  hierüber  z.  b.  diese  zeitschr.  I  s.  417  unten. 


ÜBER  DIE  EDDALIEDER  55 

sagaverfasser  geradezu  als  ganz  verwerflich  betrachtet  haben;  er  könte 
sehr  wol  sogar  positive  künde  gehabt  haben,  dass  diese  beiden  als  will- 
kürliche erfindungen  entstanden  waren.  Es  hat  demnach,  meines  bedün- 
kens,  die  liste  der  nichtbenutzten  lieder  durchaus  keinen  zufä^Uigen 
Charakter. 

Nachdem  ich  hiemit  eine  reihe  mehrfach  in  einander  greifender, 
und  alle  17  lieder*  angreifender  litterarischer  Verhältnisse  aufgeführt 
habe,  die  uns  mit  vereinter  kraft  zu  dem  resultat  hindrängen,  dass  diese 
lieder  (selbst  die  altertümlichsten  nicht  ausgenommen)  unmöglich  „dem 
altern  und  mittlem  eisenalter,"  also  den  zeiten  vor  der  grossen  wiking- 
zeit,  zugehören  können,  vielmehr,  wenigstens  gröstenteils ,  sogar  erst 
dem  Zeitalter  nach  den  wikingzügen  zugehören  werden,  ferner  dass 
sie  keinesweges  dänische  (noch  auch  schwedische)  lieder  sein  können, 
sondern  nur  norröne,  am  ehesten  isländische,^  bleibt  noch  übrig,  den 
Charakter  und  ästhetischen  wert  dieser  heldenlieder  (ein  gebiet, 
worauf  wir  schon  gelegentlich  hinüberstreifen  musten)  näher  zu  erwä- 
gen, um  zu  sehen,  inwiefern  auch  hierin  bestätigung,  speciel  in  der 
frage  über  isländisch,  zu  finden  wäre. 

Es  versteht  sich  denn  nun  sofort  von  selbst,  dass  diese  lieder  sich 
in  der  genanten  beziehung  auf  ein  überaus  unprimitives  Stadium  hinstel- 
len. Sie  bilden  ja  nämlich  keine  einheit ,  auch  da  nicht  einmal ,  wo  von 
keiner  Verknüpfung  verschiedener  sagen  die  rede  sein  könte,  sondern  nur 
von  ursprünglicher,  unteilbai'er  einheit  der  sage.  Rechnen  wir  die  Jör- 
munrekssage  und  die  Helgensage  ab:  die  geschichte  Sigurds  und  der 
Nibelunge  bildet  zusammen  eine  einheit,  öine  sage,  somit  ursprünglich 
natürlich  6in  gedieht.  Und  will  man  den  Untergang  der  Nibelunge 
gleichfalls  abziehen:  nun  wol,  es  muss  doch  wenigstens  Sigurds,  Bryn- 
hilds  und  Gudruns  geschichte  immer  eine  einheit  gebildet  haben,  die 
ursprünglich  nur  insofern  in  mehrere  lieder  kann  zerlegt  gewesen  sein, 
als  sie  zu  weitläufig  für  nur  einen  vertrag  war,  das  gedieht  also  von 
selbst  in  mehrere  einander  fortsetzende  cantos  zerfallen  muste ,  wie  alle 
grösseren  volkstümlichen  epischen  gedichte,  wie  die  Dias,  die  Odyssee, 
das  Nibelungenlied ,  der  Beowulf  usw.  Die  Edda  liefert  aber  nicht  eine 
reihe  cantos,  die  zusammen  6m  gedieht,  entsprechend  der  einheit  der 
sage,  bilden,   sondern  eine  anzahl  vereinzelter,   losgerissener  versuche, 

1)  Am  schwächsten  das  kurze  brot  af  Sigwäar-  oder  Brynhildarkviäu  für 
sich  genormuen.    Aber  es  will  nicht  für  sich  genommen  sein. 

2)  inclusive  grönländische.  —  Auch  die  von  Norwegern  colonisierten  inseln 
nördlich  und  westlich  Schottlands  dürfen  nicht  ausgeschlossen  sein.  £twas  speciel 
auf  dieselben  deutendes  weiss  ich  nicht  vorzubringen. 


56  e:.  JESSEN 

partieen  oder  personen  der  sage  für  sich  zu  besprechen ,  ^  und  zwar  so, 
dass  die  darstellung  oft   nicht  einmal  eine  direct  epische  ist,   sondern 
eine  indirecte,  indem  irgOAd  eine  person  die   begebenheiten  memoriert 
oder  prophetiert;    ferner  so,    dass  bei  den  zuhörern   schon   gründliche 
kentnis  der  sage  vorausgesetzt  wird:  nur  wer  in  der  sage  wolbewandert 
ist,  vermag  die  einzelnen  lieder  zu  verstehen.    Ich  vermag  hierin  durch- 
aus keinen  „erhabenen  grossartigen  überblick,"  geschweige  denn  etwas 
uraltertümliches,  primitiv  germanisches  oder  nordisches,  noch  überhaupt 
in  der  art,   wie  es  ausgeführt  ist,   irgendwie    etwas   volkstümliches   zu 
entdecken     (obschon    ich    nicht  jedwede    Zerstückelung    einer    sage    in 
kleine  von  einander  unabhängige  lieder  sofort  für  etwas  unvolkstümliches 
erkläre).    Ich  höre  keinesweges  „das  ältere  und  mittlere  eisenalter,"  ja 
auch  nicht  einmal  die  wikingzeit   in   diesen  liedern  singen.    Im  gegen- 
teil,   es  klingt  mir   wie   die   schwächliche,   unpoetische  neubearbeitung 
der  letzten  epigonen,  wie  versuche  litterarischer  liebhaber.    Wie  sollte 
man  sich  die  sage  in  solchen  langweiligen,  unharmonischen,  zersplitter- 
ten übersichts-  und  repetitions  -  darstellungeh   ein   halbes   oder   ganzes 
Jahrtausend  hindurch   im    ganzen   norden   überliefert   denken?     Warum 
sollte  man  eben  an  dieserlei  form  die  langen  zeiten  hindurch  hartnäckig 
festgehalten  haben?    Es   muss  ja  doch  vor  dieser  eine  zusammenhän- 
gende,  und  vor  allem  eine  directe  darstellung  der  sage  als  einer  nicht 
schon  bis  zum  überdruss  bekanten  und  eingeübten  gegeben  haben.    Und 
es  muss  eine   solche  darstellungsart  die  einzige  wirklich  volkstümliche 
gewesen  sein,   die  einzige  wirklich  geniessbare  und  unterhaltende,    die 
einzige,  wodurch  das  spannende  und  erregende  der  handlung  nicht  ver- 
loren gienge ,  die  einzige  ohne  commentar  verständliche ,  somit  die  einzige, 
worin  sich  die  sage  verbreiten  und  leicht  überall  erhalten  könte.    Man 
mache  doch  einmal  das  gedankenexperiment  durch,    wie  sich  die  sage 
seit   „dem  altern  und  mittlem  eisenalter"    (oder  auch   nur   durch  die 
Jahrhunderte  der  wikingzeit)    mittelst  der   uns    bewahrten   lieder  hätte 
von  „Südscandinavien"  aus  über  den  ganzen  norden  verbreiten  und  über- 
all erhalten  sollen.      Die  eine  generation  nach    der  andern  hätte,  mit 
geduld,  ja  mit  heisshunger  und  entzücken  solchen  unsinn  angehört,  wie 
z.  b.  dass  Gripir  dem  Sigurd  dessen  ganze  geschichte  im  excerpte  vor- 
hererzählt (wie  in  I.  Sigkv.) ,  so  dass  Sigurd ,  der  erzritterliche  held ,  die 
Brynhild  mit  dem  vollen   bewustsein  besucht  hätte,   dass  er,   und  wie 

1)  Wir  mögen  biebei  die  weise  bemerken ,  wie  mehrere  lieder  anheben :  är  var 
alda  pat  er  arar  (ftdlii  (I.  Helg.  Hund.) ;  dr  var  pats  Gudrun  göräisk  at  deyja 
(I.  Gudr.);  dr  var  pats  Sigu/rdr  sötti  Gjüka  (III.  Sig.)j  -^1^/t  sendi  dr  tu  Gun- 
nars  (AtUcv.)j  so  mag  ein  gedieht,  aber  nicht  leicht  ein  neuer  abschnitt  desselben 
anheben. 


ÜBER  DIE   EDDALIEDEB  57 

er  sie  hintergehen  werde;  dass  ferner  Gudrun  eben  so  präcis  detaillier- 
ten, obschon  ebenso  excerpierenden  bescheid  über  ihre  künftigen  erleb- 
nisse  von  der  Brynhild  anhören  muss,^  so  dass  gleichfalls  Gudrun  zur 
offenen  betrügerin  wird  an  Sigurd  und  an  Brynhild,  und  Brynhild  alles 
recht  verliert,  sich  hernach  von  dem  durch  die  waberlohe  reitenden 
Sigurd  täuschen  zu  lassen,  und  den  betrug  erst  lange  nach  der  heirat 
zu  entdecken ;  dass  Brynhild  noch  einmal  dem  Gunnar  und  vielen  andern 
die  geschichte  mit  Atle,  so  auch  die  mit  Oddrun  und  die  mit  Jörmun- 
rek  excerpierend  vorhersagt  (III.  Sig.),  und  nachdem  sie  bedauert  hat, 
dass  der  tod  sie  unterbricht  (sonst  würde  sie  mehr  sagen  ^),  sofort  noch 
auf  dem  wege  nach  der  untei-welt  einen  neuen  anfall  der  redesucht  hat, 
und  ein  hexenweib,  von  dem  sie  ohne  jede  veranlassung  aufgehalten 
wird ,  mit  einem  excerpierenden ,  psychologisch  abwägenden  vertrag  über 
ihre  vita  regaliert  (Helr.  Brynh.);  wie  denn  auch  Gudrun  dem  Dietrich 
ihr  leben  übersichtlich  erzählt ,  mit  der  vorhersagung  des  zu  begehenden 
gatten-  und  kindermordes  abschliessend  (IL  Gudr.),  und  diese  geschichte 
später  noch  einmal  monologisch  widerholt  (Gudrhv.);  und  gleichfalls  auch 
die  Oddrun  diffuse  Übersichten  über  partieen  der  sage  der  Borguy  vor- 
trägt, die  doch  wol  ungefähr  eben  so  guten  bescheid  wissen  mochte, 
überall  wäre  die  geduld  der  zuhörer  durch  nutzlose,  unpoetische  repe- 
titionen  des  bekanten  hingehalten  worden,  und  in  allen  richtungen  der 
effect  der  handlung  vernichtet,  indem  man  alles  erst  prophetierend, 
dann  repetierend  hätte  durchgehen  müssen.  Das  Interesse  an  den  perso- 
nen  und  ihrem  Schicksal  sollte  sich  frisch  erhalten  haben,  obschon  alle 
psychologische  denkbarkeit,  jede  begreifliche  Vorstellung  von  mensch- 
lichen seelenzuständen  und  menschlichem  handeln  vernichtet  wäre ,  indem 
nichts  mehr  geschehen  konte,  was  die  handelnden  personen  nicht  schon 
alle  voraus  wüsten  (inclusive  ihrer  eignen  verkehrten  schritte,  und  aller 
folgen  derselben).  Ich  kann  mir  die  Verbreitung  und  längere  mündliche 
Überlieferung  der  sage  in  so  monströser  abart  der  sagendarstellung  nicht 
denken,  ja  nicht  einmal  recht  vorstellen,  dass  diese  abart  die  ältere, 
acht  epische  und  directe  darstellung  ohne  weiteres  verdrängt  hätte.  Ich 
finde  es  bei  weitem  vernünftiger  anzunehmen,  dass  so  etwas  nicht  ein- 
mal dem  spätesten  Stadium  des  volkstümlichen  heidnischen  gesanges, 
sondern  einem  litterarischen,  somit  christlichen  Zeitalter  zugehört.  Den- 
ken wir  uns  diese  lieder  als  litterarische  ergänzungsversuche  eines  zeit- 

1)  Dies  ist  nämlich  der  wesentliche  inhalt  des  liedes  gewesen ,  wonach  cap.  25 
der  Völsungasaga  erzählt  wird.  Das  lied  seihst  ist  durch  die  bekante  lücke  in  der 
Eddahandschrift  verloren  gegangen. 

2)  Tnart  ek  sagda,  munda  ek  fleira,  er  mer  meir  mjotuär  mdlrüm  gcefi 
(in.  Sig.  68). 


58  E.    JESSEN 

alters,  wo  man  den  Inhalt  der  gesamten  sage  noch  sehr  wol  wüste,  wo 
aber  in  der  tradition  der  werte  der  alten  lieder  viele  grössere  und  klei- 
nere lücken  eingerissen  waren,  die  alte  einheitliche  liederreihe  nur  noch 
in  ungenügendem,  fragmentarischem  zustande  vorlag.  Das  würde  wol 
nur  auf  die  isländischen  litterarischen  zustände  passen.  Sieht  man  die 
Sache  in  derartigem  lichte ,  dann ,  meine  ich ,  ordnen  sich  alle  facta  natür- 
lich und  zwanglos.  Eine  solche  dichtung  würde  die  altern  fragmente 
vielfach  incorporieren.  Man  begreift  nun ,  wie  die  enorme  abgeschmackt- 
heit  (die  sich  ja  auch  in  so  manchen,  zum  teil  oben  berührten  details 
kund  gibt  ^)  neben  der  grossartigen  poesie  der  hauptsage  selbst  beste- 
hen kann,  so  wie  auch  neben  dem  poetischen  schwunge  einiger  strophen 
und  Strophenreihen  (so  des  letzten  teiles  der  ü.  Helg.  Hund.,  und  ver- 
schiedener in  andern  liedern,  besonders  Fäfnism.  und  IL  Sigkv.,  zer- 
streuter Strophen*).  Man  begreift,  wie  die  alle  andern  altgermanischen 
heldensagen  überbietende  tiefe  psychologische  richtung  der  hauptsage  spä- 
ter, auf  dem  afterstadium  unsrer  lieder,  zu  jenen  ermüdenden  vortragen 
der  damen  verfuhrt  hat,  jenem  redseligen  und  unzarten  demonstrieren 
über  ihre  eigne  psychologische  Stellung.  Man  begreift,  wie  das  dem 
Interesse  wirklich  forderliche  dunklere  und  andeutende  prophetieren  der 
volkstümlichen  darstellung  („dir  werden  die  bauge  zum  tode;"  „meines 
goldes  soll  niemand  gedeihen;"  „ dir  ist  kurzes  leben  beschieden ; "  „euch 
wird  der  eidbruch  verderben;"  und  dgl.)  auf  dem  repetierenden,  auf- 
summierenden Stadium  zu  dem  absurden  excerpierenden  detailprophetie- 
ren  unserer  lieder  verleitet  hat.  Man  begreift  wie  schon  in  den  alter- 
tümlichsten liedern  so  manches  offenbar  wenig  alte  (so  vor  allem  die 
Verschmelzung  mit  der  Helgensage)  auftreten  kann:  es  werden  sogar 
die  ältesten  frühestens  dem  spätem  teil  der  wiMngzeit  entstammen. 

Den  grösten  und  am  wenigsten ,  vielleicht  gar  nicht  von  weijb  später 
erneuernder  band  berührten  Überrest  älterer  dichtung  haben  wir  im  zwei- 
ten Helge  -  Hundingstöterliede ,  wogegen  das  erste  jüngere  bearbeitung  des 
ersten  teiles  der  geschichte  Helges  ist,  eine  direct  epische,  und  dennoch 

1)  Vgl.  das  früher  bemerkte  über  kenningar,  über  den  stil  der  Atlenlieder, 
zum  teil  des  Hamdesliedes ,  über  die  Sonderbarkeiten  der  Gndr.  I ,  auch  der  Sig.  III 
usw.  Als  ganz  besonders  grelle  beispiele  möchten  noch  genant  werden:  kofia  varp 
öndu  enn  konungr  fjörvi  (Sig.  HI,  29);  gingu  allir  ok  p6  f}msvr  hana  cU  letja: 
hratt  af  halsi  hveim  par  ser  (ib.  41  —  42j ;  fi  opt  svikinn  (Atlam.  52) ;  em  ek  litt  tei- 
kintif  lifs  tel  ek  van  enga  (ib.  88)  usw. 

2)  Wenn  auch  sogar  sonst  sehr  unbefangene  deutsche  altertumsforächer  (von 
nordischen  will  ich  nicht  reden)  sich  in  überschwänglichem  lob  der  eddischen  helden- 
lieder  ergehen,  meine  ich  eben,  dass  solche  vereinzelte  poetische  stellen,  und  noch 
mehr  die  poesie  der  sage  ihr  äuge,  in  bezug  auf  den  eigentlichen  Charakter  der  lie- 
der überhaupt,  geblendet  hat. 


Ober  die  bddaliedeb  59 

in  ihrer  art  unantike  bearbeitung,  die  übrigens  atrophen  mit  dem  zwei- 
ten gemeinsam  hat,  welche  also  aus  älterer  bearbeitung  herübergenom- 
men sind.  Das  widererzählen  hört  man  dem  ganzen  ersten  liede  an, 
das  eilende  übersichtliche  excerpieren  besonders  den  Strophen  9  — 14. 
Der  schwülstige,  prätentiöse  stil,  und  die  zahlreichen  kenningar  sind 
oben  erwähnt.  Poetisches  talent  möchte  man  dem  Verfasser  nicht 
absprechen;  aber  weder  hat  er  den  rechten  alten  epischen  stil  getroffen, 
noch  auch  sonst  hier  ein  befriedigendes  gedieht  geliefert.^  —  Überreste 
älterer  dichtung  liegen  wol  auch  vor  in  11.  Sigkv.  str.  1  — 18  und  26, 
und  in  Fäfhism.  1  —  10  und  16  —  33,  wogegen  das  übrige  unter  diesen 
beiden  Überschriften  meines  bedünkens  von  späterer  band  herrühren  muss, 
was  ich  schon  früher  angedeutet  habe.^  —  Schon  der  hinzugedichtete 
schluss  des  Fäfhismdl  enthält  jenes  detaillierte  und  doch  excerpierende 
prophetieren ,  welches  ich  unbedenklich  der  litterarischen  isländischen 
Überarbeitung  des  Stoffes  zuschreibe.  Biographische  übersichts  -  und  repe- 
titionslieder,  zum  teil  prophetierende ,  alle  von  geringem  ästhetischen 
werte,  sind  nun  ferner:  I.  Sigkv.  (d.  i.  Gripisp.);  III.  Sigkv.;  das  durch 
die  lücke  in  der  handschrift  verlorene ,  aber  in  Völsungasaga  cap.  25 
benutzte  Bry nhildlied ;  Helr.  Brynh. ;  IL  Gudrkv.;  Gudrhvöt.;  Oddrü- 
nargr.;  wahrscheinlich  auch  das  brot  af  Brynhildarkviäu,  dessen  frag- 
mentarische kürze  jedoch  kein  sicheres  urteil  gestattet.  —  Ganz  willkür- 
liche experimente  aus  demselben  Zeitalter  wie  die  soeben  aufgezählten 
lieder  werden  sein:  Sigrdrifumäl  und  I.  Gudrkv.;  über  beide  habe  ich 
schon  meine  ansieht  ausgesprochen.  Nicht  anders  möchte  es  sich  viel- 
leicht mit  ni.  Gudrkv.  verhalten,  worüber  ich  übrigens  sonst  nichts 
bestimteres  vorzubringen  weiss.  ^  —  Übrig  bleiben  nun  die  beiden  Atlen- 
lieder  und  das  Hamdeslied,   welche  wider  direct  episch  sind,    und  eine 

1)  Das  in  der  Morkinskiima  und  in  der  Hrokkinskinna  aufbewahrte  (in  Forn- 
raannasögur  VII  s.  6  ff .  und  in  der  Christiania  -  ausg.  der  Mork.  s.  132  AT.  gedruckte) 
im  achtzeiligen  fornyrädlag  abgefasste  lied  des  skaldon  Gisl  Illugason  über  könig 
Magnus  Barfuss,  welches  jedenfalls  nicht  älter  als  das  jähr  1100  ist  (und  dessen 
authentie  wol  nicht  zu  bezweifeln  wäre),  zeigt  in  behandlung  des  nietrums  und  in 
der  phraseoiogie  so  entschiedene  ähnlichkeit  mit  dem  ersten  liede  über  Helg.  Hund., 
dass  es  erlaubt  wäre,  den  Gisl  für  den  Verfasser  auch  dieses  letzteren  zu  halten. 
Einen  entscheidenden  beweis  für  diese  Vermutung  vermag  ich  jedoch  nicht  vorzu- 
bringen. 

2)  Die  mythologischen  strophen:  Fäfn.  12  —  15,  müssen  wol  ein  ganz  zufälli- 
ges, ungehöriges  einschiebsei  sein.  —  Dem  dreimaligen  (v)reiär  vega  des  Fäfnism. 
(zwei  mal  in  Sprichwörtern)  ist  übrigens  kein  gewicht  beizulegen  (vgl.  oben  s.  29). 

3)  Das  heimliche  gespräch  zwischen  Gudrun  und  Dietrich  (II.  Gudr.)  möchte 
den  einfall  erregt  haben,  Atle  werde  eifersüchtig  geworden  sein,  und  dieser  einfall 
die  III.  Gudr.  ohne  andern  Zusammenhang  mit  der  sage  hervorgerufen  haben. 


60  E.    JESSEN 

klasse  fiir  sich  bilden.  Trotz  der  durchgängig  directen  darstellung  sind  sie 
ganz  und  gar  nicht  altertümliche  Überreste ,  obschon  sich  das  Hamdismäl 
näher  an  ältere  dichtung  hält  als  die  x^tlenlieder.  Ich  habe  über  diese 
drei  meine  auffassung  schon  früher  dargelegt,  so  auch,  dass  mir  das  Ham- 
dismäl in  seiner  bewahrten  gestalt  unbedenklich  demselben  Zeitalter  und 
derselben  „schule"  zugehört,  wie  die  beiden  andern.  —  Bei  der  lücke 
in  der  handschrift  zwischen  Sigrdrifumäl  und  brot  af  Brynhildarkviäu, 
welcher  lücke  die  capitel  23  —  28,  gröstenteils  auch  29,  in  der  Völ- 
sungasaga  entsprechen,  bleiben  wir  natürlich  in  ungewisheit  über  den 
Charakter  der  daselbst  verlorenen  lieder,  nur  dass  ganz  deutlich  das 
cap.  25  der  saga  auf  einem  prophetierenden  übersichtsliede  beruht ,  dessen 
einleitung  eine  Situation  zu  wege  brhigen  sollte,  wo  Brynhild  prophetie- 
ren  könte,  und  eben  diese  detaillierte  prophetie  die  hauptsache  war. 
Es  ist  möglich ,  dass  die  lücke  ferner  neubearbeitungen  ähnlich  dem  drit- 
ten Sigurdliede  enthalten  hat,  aber  auch,  dass  daneben  grössere  Über- 
reste älterer  dichtung  sind  aufgezeichnet  gewesen  (wie  ja  denn  jedenfalls 
die  neubearbeitungen  stellen  aus  derselben  unverändert  werden  herüber- 
genommen haben) ;  endlich  auch ,  dass  längere  prosastücke  die  geschichte 
vervollständigt  haben  (so  möchte  man  wol  noch  immer  mit  P.  E.  Mül- 
ler und  Keyser  und  gegen  Bugge  mutmassen,  dass  den  capiteln  23 — 24 
der  saga  kein  lied,  oder  kein  vollständiges,  als  grundlage  gedient 
hat).  Wenn  Bugge  (in  der  note)  meint,  das  hrot  af  ,,Sigurdarikviäu''' 
(==  Brynhildarkviäu)  werde  der  Überrest  eines  überaus  langen  Sigurd- 
liedes  sein,  dessen  bei  weitem  grösserer  teil  durch  die  lücke  verloren 
wäre ,  und  dem  gegenüber  die  handschrift  die  lange  III.  Sigkv.  als  „  die ' 
kurze"  (in  sJcamma)  bezeichnen  konte,  habe  ich  hiebei  zu  bemerken, 
dass  der  name  „Siguräarhvida  in  skamma"  näher  besehen  nur  einem 
teile  dieses  liedes  angemessen  ist ,  so  dass  das  ganze  vielleicht  auch  einen 
umfassenderen  namen  getragen  hätte,  in  welchem  fall  der  schluss  auf 
übergrosse  länge  eines  andern  Sigurdliedes  unsicherer  wird.  —  Die 
früheren  teile  des  Sagenkreises,  die  „Vorgeschichte,"  wird  man  wol  der 
ueubearbeitung  weniger  wert  gehalten  haben.  Wahrscheinlich  hat  I.  Helg. 
Hund,  als  vereinzelter  versuch  dagestanden,  pieses  lied  ist^im  8.  und 
1).  capitel  der  saga  benutzt.  Mit  dieser  ausnähme  werden  aber  den 
ersten  13  capiteln  der  saga  schwerlich  vollständige  lieder  zu  gründe  lie- 
gen. In  den  wechselreden  blicken  mehrmals  alliterationsstäbe  durch. 
Man  wird  wol  am  ehesten  nur  mehrere  bruchstücke  der  älteren  dichtung 
übrig  gehabt  haben,  in  so  verkümmertem  zustande,  dass  sie  der  auf- 
nähme in  die  liedersamlung  nicht  wert  gehalten  wurden.  Es  werden 
solche  bruchstücke  meist  dialogische  gewesen  sein  (wie  ja  auch  in  der 
liedersamlung  die  altertümlicheren  Überreste  fast  nur  wechselreden  sind). 


ÜBER  DIE  BDDALIEDEB  61 

Den  Inhalt  auch  dieses  teils  der  sage  muss  man  ganz  gut  festgehalten 
haben.  Aber  ich  muss  Bugge  widersprechen ,  wenn  er  es  ^  für  erwiesen 
hält,  der  sagaverfasser  habe  eine  menge  hieher  gehörige  lieder  ausser 
denen  der  „Sämundar-Edda"  gehabt.  Bugges  gi-ünde  sind  sehr  schwach; 
sie  erhärten  nur,  was  jedenfalls  niemand  bezweifeln  könte:  dass  der  saga- 
verfasser einige  fragmente  von  sonst  verlorenen  liedern  kante.  Sein  lie- 
derschatz  war  meines  bedünkens  sonst  eben  nur  die  uns  erhaltene  sam- 
lung*  in  nicht  lückenhaftem  zustande,  von  welcher  er  mehrere  der  lie- 
der (vorsätzlich)  nicht  benutzte.  —  Bugges  meinung,  dass  die  samlung 
mit  dem  Hamdismäl  wirklich  abgeschlossen,  und  der  codex  regius  also 
nicht  „in  fine  mancus"  sei,*  trete  ich  unbedenklich  bei,  obschon  Bugge 
nicht  bemerkt  zu  haben  scheint,  dass  auf  der  letzten,  ursprünglich  wol 
leer  gelassenen  halbseite,  nach  einem  Zwischenräume,  eine  anzahl  jetzt 
wol  völlig  unleserliche  zeilen  hinzugefugt  sind,  ob  mit  derselben  hand 
wie  vorher,  vermag  ich  nicht  zu  entscheiden.  Dass  das  manuscript  zur 
zeit,  als  diese  zeilen  hinzugefügt  wurden,  nicht  noch  mehr  blätter  am 
ende  enthielt,  schliesse  ich  daraus,  dass  diese  zeilen  ganz  bis  an  den 
untern  rand  reichen,  während  sonst  im  codex  ein  breiter  marginalraum 
unten  leer  steht.  Der  sonst  ungebräuchliche  Zwischenraum  vor  diesen 
Zeilen  bezeichnet  wol  auch  dieselben  als  eine  zutat  (man  könte  auf  eine 
note  über  Heime  und  Aslaug  raten,  entsprechend  dem  schluss  der  Völ- 
sungasaga). 

Gegen  die  haltlosen  berufimgen  auf  den  vermeintlich  höheren 
stand  altdänischer  cultur,  und  gegen  die  hergebrachten  phrasen  über 
die  herlichkeit  dieser  lieder  als  beweis  ihres  entstehens  im  vorgeb- 
lichen culturlande ,  glaube  ich  hier  eine  ziemlich  hinlängliche  menge  Ver- 
hältnisse zusammengestellt  zu  haben,  welche  die  abfassung  dieser  hel- 
denlieder  ganz  und  gar  nicht  dem  „altern  und  mittlem  eisenalter"  in 
„  Südscandinavien ,"  sondern  gröstenteils  einem  isländischen  litterarischen* 
Zeitalter  (dem  11.  — 12.  Jahrhundert,  vielleicht  sogar  auch  dem  anfange 
des  13.)  zuweisen  müssen,  obschon  eimge,  jedenfalls  doch  norröne,  bruch- 
stücke  älter  sein  werden. 

1)  In  seiner  Eddaausg.  XXXIV  —  XLI. 

2)  Deren  prosastücke  er  ja  gleichfalls  gelegentlich  benutzt. 

3)  Ausg.  S.V.—  Ein  indicium ,  dass  am  ende  nichts  fehlt ,  wäre  wol  auch 
der  umstand ,  dass  nicht  das  letzte ,  sondern  im  voraus  schon  das  vorletzte  blatt  (als 
überflüssig)  abgeschnitten  ist. 

4)  Mit  welchem  ausdruck  (in  ermangelung  eines  präciseren)  ich  das  Zeitalter 
dieser  lieder  von  dem  der  eigentlichen  heidnischen  volkstümlichen  poesie  unterscheide. 
Ich  verwahre  mich  gegen  eine  solche  deutung  meiner  worte,  als  ob  ich  meinte,  die 
lieder  müsten  sogleich  schriftlich  verfasst  sein,  was  übrigens  bei  einigen  nicht 
unmöglich  wäre. 


62  E.    JESSEN 

Hier,  zwischen  den  beiden-  und  den  götter-liedern,  möchte  ich 
ein  par  werte  über  das  nur  im  Fluteyjarbök  (um  1390)  aufbewahrte, 
gewöhnlich  aber  in  ausgaben  der  „Eddalieder"  aufgenommene  Hynd- 
luljöd  einschieben.  Obschon  ton  und  Charakter  durchgängig  ganz  einer- 
lei ist,  trete  ich  Bugges  meinung  bei,  dass  es  nicht  ein  lied  sei,  dass 
str.  28  —  43  (bei  Lüning  28  —  41,  bei  Bugge  29  —  44)  stück  eines 
mythologischen  liedes  ist  (Völuspd  in  skamma  wird  es  in  der  Snorra- 
Edda  benant^).  Das  übrige,  das  Verzeichnis  der  heroen  und  heroen- 
geschlechter,  wird  übrigens  auch  nicht  vollständig  sein;  so  möchte  nach 
str.  27  (28)  eine  erwähnung  Sigurd  Rings  und  Kagnar  Lodbroks  aus- 
gefallen sein.  Dass  die  beiden  lieder  ohne  Ursache  zusammengefügt 
wären,  finde  ich  ganz  unwahrscheinlich.  Da  der  ton  so  ganz  derselbe 
ist,  vermute  ich,  man  wird  eine  bestimte  künde  gehabt  haben,  dass 
beide  zusammengehörten,  dass  beide  von  einem  Verfasser  herrührten, 
der  denn  in  einem  liede  (das  er  nach  der  altern  Völuspä  „die  kürzere 
Völuspä"  benante)  eine  schematische  Übersicht  seiner  mythologischen 
kentnisse  an  den  tag  gelegt  hätte,  in  einem  andern  eine  derartige  über 
sein  sagengeschichtliches  wissen.  Das  mythologische  lied  nun  rührt  von 
einem  Christen  her;  denn  dem  Verfasser  war  die  mythenweit  etwas  ver- 
gangenes, wie  das  mehrmals  seine  präterita  bezeugen:  „Freyr  hatte 
dieGerdr,  diese  war  tochter  desG;fmir;**  „einungetüm  [Hei  oder  Mid- 
gardswurm]  schien  (pöUi)  vor  allen  das  ungeheuerlichste  zu  sein;'* 
„Haki  war  söhn  der  Hvedna"  usw.  Einem  beiden  waren  Freyr,  Qerdr, 
Gymir,  Hei  (oder  Midgardsormr)  alle  noch  am  leben,  und  Gerdr  noch 
immer  gemahlin  des  Freyr ;^  er  hätte  nm-  sagen  können:  Freyr  hat  die 
Gerdr,  usw.  Das  eigentliche  Hyndluljöd,  ebenso  herplappernd  als  die- 
ses mythologische,  und  im  höchsten  grade  confus,^  ist  übrigens  dem 
sagenbestand  der  isländischen  litteratur  ganz  angemessen:  es  bekümmert 
sich  nicht  sonderlich  um  die  vielen  kleinkönigsgeschlechter ,  sondern 
vorerst  um  die  Tnglingar  (Harald  Schönhaars  geschlecht),  Skjöldungar, 
Skilfingar,  Völsungar  (oder  Ylfingar),  Gjükungar,  Ödlingar  (geschlecht 
des  Eylimi:  str.  25),  nent  auch  Arngrimssöhne ,  Halfsrecken  und  einige 
andere  noiTöne  familien.     Es  hat  die  eigentümliche  norröne  Verknüpfung 

1)  I,  42  —  44,  wo  eine  atrophe  citiert  wird. 

2)  Letzteres  ist  zwar  aus  dem  Skimismäl  allein  nicht  ganz  deutlich  zu  erse- 
hen ;  die  Snorra  -  Edda  aber ,  die  sich  hierin  nicht  irren  würde ,  erklärt  das  Verhält- 
nis für  eine  förmliche  ehe. 

3)  K.  Maurer  (Quellenzengnisse  über  das  erste  landrecht  usw.  s.  92)  sagt: 
,,Die  confose  art,  wie  dieses  genealogische  lied  die  ...  gcschlechter  und  personen 
durcheinander  mischt,  nimt  ihm  jede  weitere  bodeutung,  als  etwa  die  eines  Zeugnis- 
ses, dass  die  in  ihm  genanten  namcn  wirklich  in  jedermans  mund  waren.'' 


ÜBER  DIE    EDDALIEDER  63 

des  norwegischen  königtums  mit  dem  dänischen;^  femer  die  der  Helgen- 
sage (str.  25)  und  die  der  Jörmunreksage  mit  der  Nibelungensage  (Jör- 
munrek  wird  str.  24  ausdrücklich  „Schwiegersohn  Sigurds*"  genant).  Es 
ist  dies  ganz  entschieden  ein  norrönes  lied.  Beide  lieder  sind  solche 
gelehrsamkeitsproducte,  dass  sie  nur  dem  „litterarischen"  isländischen 
Zeitalter  zugehören  können. 

Gehen  wir  demnächst  an  die  besprechung  der  götterlieder  in 
der  „  Sämundar  -  Edda." 

Der  codex  regius  enthält  ja  deren  9:  Völuspä,  Vaf{)rüdnismäl, 
Grinmismäl,  Skfrnismäl,  Härbardsljöd,  Hyraiskvida,  Lokasenna,  pryms- 
kvida,  Alvissmäl.  Im  Arnamagnäanischen  handschriftbruchstück  stehen 
von  diesen  nur  5  (in  anderer  Ordnung:  Härb.,  Skirn. ,  Vafl)r,  Grimn., 
H^m.,  die  drei  ersten  defect^)  und  ausserdem  (zwischen  Härb.  und 
Skirn.)  Vegtamskvida,  die  im  codex  regius  fehlt,  und  von  der  ebenfalls 
die  Snorra-Edda  nichts  weiss.  Auch  Härb.,  Hym.  und  sogar  prymskv. 
sind  der  Snorra-Edda  fremd,  wogegen  sie  die  sechs  übrigen  benutzt, 
indem  das  Skaldskaparmäl  zwei  Strophen  aus  Alvissmäl  und  zwei  aus 
Grimnismäl  citiert,  die  Gylfaginning  eine  aus  Lokasenna,  eine  aus  Skir- 
nismäl,  wie  sie  auch  dieses  lied  weiter  benutzt,  und  grossenteils  nach 
Völuspä,  Vaft)rüdnismäl,  Grinmismäl  ausgearbeitet  ist,  von  welchen  dreien 
viele  Strophen  vorkommen.  —  Erinnern  wir  uns ,  dass  wir  (mit  Bugge) 
die  ganz  unrichtig  sogenante  „Sämundar -Edda"  für  jünger  als  die 
Snorra-Edda  zu  halten  haben;  dass  letztere,  wahrscheinlich  sowol  Gyl- 
faginning als  Skaldskaparmäl,  jedenfalls  letzteres,  wirklich  von  Snorre 
(t  1241)  herrühren  muss;  dass  die  Gylfaginning  jedenfalls  etwas  älter 
als  das  Skaldskaparmäl  ist;  dass  die  urhandschrift  der  liedersamlung, 
die  wir  „Sämundar -Edda"  nennen,  (wie  Bugge  meint)  erst  um  die 
mitte  des  13.  Jahrhunderts  wird  entstanden  sein;  dass  der  uns  erhaltene 
codex  dieser  samlung  (cod.  reg.)  wol  aus  dem  schluss  desselben  Jahrhun- 
derts (also  nicht  viel  jünger  als  die  aus  den  heldenliedem  der  samlung 
excerpierte  Völsungasaga)  ist;  dass  das  arnamagnäanische  handschrift- 
bruchstück, dessen  lieder,  die  Vegtkv.  ausgenommen,  alle  einer  hand- 

1)  Dieselbe  blickt  auch  imBigsmäl  hervor,  und  ist  vielleicht  in  einem  verlo- 
renen schluss  des  liedes  durchgeführt  gewesen,  worüber  vgl.  Buggcs  anmerknng 
8. 149  f.  Dies  lied  steht  nur  in  einer  handschrift  der  Snorra-Edda;  was  gleichfalls 
mit  dem  Grottasöngr  der  fall  ist.  Über  letzteres  gedieht  habe  ich  hier  nichts  bestirn- 
teres vorzubringen.  Es  scheint  mir  einen  ungewöhnlich  neutralen  Charakter  zu  haben. 
Norröne  indicien  wären  wol  nur  kcemia  Gratti  or  grjd  fjaüi  (10)  und  setberg  (11). 

2)  Nach  Hym.  folgen  ein  par  Zeilen  der  prosa  zur  Völundarkv.,  dann  lücke 
und  dann  teile  der  Snorra-Edda  und  anderes. 


64  E*    JESSEN 

Schrift  der  „Sämundar-Edda"   entnommen  sind,  im   früheren  teile  des 
14.  Jahrhunderts  geschrieben  ist. 

In  der  Snorra-Edda  finden  sich  spuren  und  fragmente  von  noch 
etwa  einem  dutzend  andrer  mythischer  lieder.^  I.  s.  102  (bei  Egilsson 
s.  17)  wird  citiert  aus  einem  „  Heimdallargaldr " : 

niu  em  ek  niceära  mögr,        niu  cm  ek  systra  sonr, 
I.  94  (E.  15)  zwei  Strophen  eines  liedes  über  Njördr  und  Skacti: 

leid  erumk  fjoll  usw. 
I.  118.  (E.  21—22)  anderthalb  über  die  Gnd: 

Jivat  par  flygr  usw. 
I.  286,  288  (E.  60,  61)  zwei  eines  liedes  überjpoVr  und  Geirrödr: 

vaxattu  Vimur  usw. 

I.  340  (E.  69)  eine  halbe  aus  einem  nicht  näher  bestimbaren  liede  (viel- 
leicht einem  beschreibenden): 

at  Glasir  stendr  usw. 

I.  180  (E.  39)  aus  einem  dialogischen  liede  über  Balders  tod  und  Her- 
mods  ritt  nach  der  untei-welt  die  strophe: 

pökk  mun  grata  usw. 

ausser  welcher  in  dieser  erzählung  noch  viele  andre  durchblicken,  so 
(obschon  nicht  in  jedem  fall  mit  gleicher  gewisheit,  indem  alliteration 
auch  zufallig  eintreffen  kann,  alliterierende  redensarten  ausserdem  nicht 
notwendig  mitzählen):  pd  nuelti  Frigg:  eigi  munu  vdpn  cda  vidir 
granda  Baldri,  eida  hefi  ek  pegit  af  öllum  peim.  pd  spyrr  konan: 
hafa  allir  lüutir  eida  unnit  at  eira  Baldri?  pd  svarar  Frigg:  vex 
vidarteinungr  fyr  austan  ValhöU  usw.  Man  hört  den  Ijödulidttr  hin- 
durch: 

eigi  mmm  Mnum  vdpn  eda  vidir  granda, 

,  af  öllum  hefik  eida  pegit, 

hafa  eida  unnit  allir  lüutir 

(ey)  at  eira  Baldri? 

mdarteinungr  vex  fyr   ValhöU  austan, 

sd  pötti  ungr  at  krefja  eids. 

1)  Ungerechnet  (versteht  sich)  mythologische  „  skaldenlieder "  (porsdräpa, 
Ilaustlöfig)  nnd  blosse  alliterierende  Verzeichnisse  von  namen  und  Jieiti  (inclusive  die 
porgrimspula  und  die  Kaifsvisa:  Bugge  s.  332  —  334). 


ÜBER  DIB  BDDALIBDBB  65 

ek  se  eigi  hvar  er  Bald/r^ 

oh  annat,  at  vdptdauss  enik, 

sd  hverr  til  annars,  väru(m)  med  einum  hug 

tu  pess  er  vunnit  hafäi  verkit, 

hverr  er  sd  med  dsum,  er  eignask  vili 

allar  dstir  minar, 
(dstir)  6k  hylli^  ok  d  Hdveg  vili  rida, 

ef  kann  fdi  funnit  Bcädr? 

niti  ncetr  (nidr)  reid  ek  padan 

dökkva  dala  ok  djtipa. 

ridu  fimm  fylhi  inn  fyrra  dag. 

hvi  ridr  Jni  Mr  d  Helveg? 

liggr  nidr  ok  nordr. 

hljop  sd  hesfr  svd  hart  yfir  grind, 

at  hvergi  kom  hann  (höfum)  nrer. 

sd  ek  par  i  öndvegi  sitja 

Baldr  brödur  minn, 

ef  allir  hlutir  i  heimi  hann  grdta 

skal  hann  fara  til  dsa  aptr; 
enu  ef  vid  nuelir  nökkurr,  eda  vili  eigi  grdta, 

pd  Jialdisk  hann  med  Helju. 

sendi  Frigg  ripti  ok  enn  fleiri  gjafar, 

Ftdlu  fingrgull 

Und  noch  mehr  Hesse  sich  mitnehmen.  —  Während  sonst  die  erzählungen 
in  der  Snorra- Edda  (mehr  oder  weniger)  den  Charakter  von  litterarischen 
excerpten  (sei  es  nun  direct  aus  liedern  oder  zunächst  aus  volkstümlichen 
erzählungen)  tragen,  gibt  es  eine,  die  nicht  so  grosse  eile  hat,  die  wie 
eine  kleine  saga  aussieht,  nämlich  die  von  Thors  reise  nach  Utgard 
(I.  142  f.;  bei  E.  28  f.).  Durch  diese  blickt  meines  erachtens  deutlich 
hie  und  da  ein  sehr  einfaches  lied  im  achtzeiligen  metrum  hervor.  So: 
. .  ok  vigdi  hafrstökurnar,  stodu  pd  upp  hafrarnir,  ok  var  annarr 
haltr  eptra  fceti;  man  denke  sich  etwa: 

vigdi  hann  stökur,  stodu  upp  hafrar; 

var  annarr  haltr  eptra  foeti, 

herdi  hann  hendr  at  Jmniarskapti, 

ZKIT8CHK.    P.    DBUT8CUB   PHILOL.    BD.  lU.  5 


66 


B.   JESSEN 


bdäu  ser  friääTj 
aUt  pat 

sefaäisk  hawn^ 
er  ey  pjona  pOTj 

haU  aUt  i  hagga, 
steig  v/m  daginn 

stöä  kann  upp, 
reiddi  kann  hamar 

m 

Ijöst  hdnum  ofan 
sökk  hamars  muär 

miändtt  er  nü 

Jdjöp  at  hdmmi 
Ijöst  d  punn-vcmga 

pola  kögursveinum 

mei/ri  muntu  vera 

sd  skcd  ganga 
er  Logi  heitir, 

hljöp  köttr  grdr 
Idgr  er  pörr 

Sjjdm  fyrsty 
kaUid  hingat 
fdisk  kann  vid  hana, 
er  eigi  m&r  litush 

g6kk  i  höll 

svd  for  enn 

cU  fangi  kann  knüdisk, 
vard  kann  lauss  d  fötum, 
dar  feil  d  kn6 

eigi  mim  pörr 
fleirum  mönnum 

par  er  pü  sdtt 
prjd  dcUa^ 

engi  hefir  ordit, 
at  eigi  komi  elli 


hudu  at  fyrir  kvcemi 
er  dttu  pau. 

tök  i  s(ßtt  hörn  peirra, 
pjalfi  ok  Röskva. 

d  bak  ser  lagdi, 
hddr  störum. 

(steig  fdsti  ai)j 
hart  ok  tut, 
d  hvirfH  midjan, 
i  höfud  djüpt. 

ok  enn  mal  at  sofa. 

ok  hamar  reiddi, 
er  vissi  upp. 

köpryrdi. 

enn  mer  lizk  pü, 

d  golf  fram, 

ok  vid  Loka  freista. 

d  golf  hallar. 
ok  (hddr)  lüill, 

hvar  er  föstra  min; 
kerling  Elli; 
feilt  hefir  hon  menn, 
üsterkligri. 

gömiU  kerling. 

fang  pat: 

pvi  fastara  stod  hon; 

ok  eigi  lengi, 

foeti  ödrum. 

pu/rfa  at  bjoda 
fang  d  höU. 

setberg  hjd  hÖU, 
einn  djüpastan. 

ok  engi  mun  verda, 
öUum  tu  falls. 


ÜBBB  DIB  BDDALIBDBB  67 

Natürlich  ist  nicht  zu  verlangen,  dass  die.  prosa  mit  so  wenig  nach- 
hilfe  den  nötigen  poetischen  klang  erhalten  sollte.  Wir  brauchen  nicht, 
oder  nicht  jedes  mal ,  des  gedichtes  ipsissima  verba  producieren  zu  kön- 
nen. Es  genügt,  dass  schon  die  prosa  so  oft  der  mechanik  der  verse 
angemessen  ist.  Weitere  Umstellungen  und  änderungen  würden  (wie  bei 
der  prosa  der  Völsungasaga)  nocli  hinzuzudenken  sein.  —  In  der  erzäh- 
lung  vom  Fenre  ist  die  beschreibung  des  bandes  (L  108;  bei  E.  19)  ein 
vers,  der  etwa  so  gelautet  hat: 

göräu  peir  fjötv/Ty  oh  Gleipni  hetu, 

af  kattar  dyn,  af  konu  skeggi, 

af  bjargs  rötum,  af  bjarnar  sinu, 

af  anda  fisks ,  af  fugls  mjölk. 

Einen  mislungenen  versuch  den  vers  zu  restituieren  hat  Bugge  aus 
einer  Eddahandschrift  unter  die  „ bruchstücke "  aufgenommen.^  —  In 
der  erzählung  von  den  kleinodien  stehen  gegen  den  schluss  hin  (I.  344; 
bei  E.  70)  folgende  stäbe :  dcemdu  peir^  at  dvergr  cetti  .  .  band  Loki 
at  leysa  höfu£  .  .  er  hann  vildi  taka  kann ,  var  kann  vits  fjarri  .  . 
Loki  dtti  sküa,  er  kann  rann  lopt  ok  log  .  .  vildi  höggva  af  Loka 
höfud  .  .  hann  dtti  höfud  en  eigi  hals  .  .  vil  stinga  rauf  ok  rifa 
saman  .  .  betri  er  alr  brödur  mins  .  .  vifjadi  sanian  ok  reif  6r  (BSu- 
mim.  —  Offenbar  auch  mehrere  in  der  von  der  gefangennähme  Lokes 
(I.  182;  bei  E.  39,  40):  fal  sik  i  fjalli  , ,  brd  ser  i  lax  liki  ok  falsk 
i  Frdnangrs  forsi  .  .  hverja  vel  tu  mundu  flnna  at  taka  hann  i  forsi 
.  .  .  Loki  för  fyrir;  leggsk  nidr  milli  steif m;  drögu  net  yfir;  kendu 
peir,  at  kvikt  var  fyrir;  fara  i  annat  sinn  upp  til  forsins,  —  Viel- 
leicht einige  in  der  von  Thor  und  H^fmir  (I.  166  f.;  bei  E.  35):  litil 
mun  at  per  lidsemd  vera,  er  pü  ert  [litill  ok]  ungtnenni  eitt  .  .  .  d 
vastir  er  um  kmnnir,  er  vanr  emk  at  sitja,  ok  draga  flata  fiska,  — 
Vielleicht  einige  in  der  von  Thor  und  Hrungnir  (I.  270  f.;  bei  E.  56  f): 
er  ridr  lopt  ok  log  *  .  .  Jafngödr  i  jötunheimum  (med  jötnum)  .  .  .  sök- 
kva  Asgardi ,  ok  drepa  öll  gud,  nema  Freyju  ok  Sif  vil  ek  heim  foera 
.  .  asa  öl  mun  ek  allt  drekka  . .  .  hafdi  vadit  nordan  yfir  EU-vaga, 
ok  borit  i  meis  d  baki  örvandil,  6r  Jötunheimum,  ok  pat  til  jarteikna, 
at  meisi  6r  hafdi  stadit  ein  td. 

Dass  eine  solche  anzahl  lieder  noch  im  13.  Jahrhundert  auf 
Island  vollständig  wäre  memoriert  gewesen,  ohne  dass  ein  ein- 
ziges von  diesen  seinen  weg  in  die  „Sämundar-Edda,"  oder,  in  form- 
licher   aufzeichnung,    in    irgend    eine    handschrift    der    Snorra-Edda 

1)  Nr.  13  8.  335.  —  Mochten  nr.  12  {Sagr  heitir  sdr  usw.)  und  14  (flugu  hraf- 
nar  tveir  usw.)  (Möbius  nr.  6  und  8  s.  205  —  6)  nicht  „kinderreime**  sein? 

2)  Doch  nur  alliterierende  formel. 

5* 


68  E.   JESSEN 

gefunden  hätte,  wird  man  kaum  wahrscheinlich  finden.  Und  jeden- 
falls vermögen  die  oben  angeführten  spuren  und  fragmente  der  lieder 
nichts  weiter  zu  erhärten,  als  dass  solche  lieder  existiert  hatten,  dass 
man  den  Inhalt  (die  mythen)  noch  sehr  wol  wüste,  manche  strophe 
(besonders  wechselreden)  noch  herzusagen  im  stände  war,  auch  biswei- 
len, wo  man  letzteres  nicht  mehr  konte,  doch  eine  einigermassen  feste 
prosaische  überlielerungsform  hatte ,  worin  sich  die  alliteration  noch  bis- 
weilen kundgeben  konte.  Am  vollständigsten  wird  man  (von  den  jetzt 
besprochenen)  noch  das  Balders  -  und  Hermods  -  lied  gehabt  haben.  Falls 
die  Sache  so  stand,  würde  es  mit  der  Überlieferung  dieser  mythenpoesie 
ebenso  ausgesehen  haben,  wie  mit  derjenigen  der  älteren  Nibelungen- 
"dichtung. 

Diese  ansieht  gewint  nun  ausserordentlich  an  stärke  und  Sicherheit, 
wenn  wir  uns  vor  äugen  stellen,  einerseits,  dass  diese  nur  fragmentarisch 
hervorblickenden  lieder  zur  ächten,  volkstümlichen,  direct  darstellenden, 
einfach  besingenden  poesie  ^  gehört  haben ,  einer  epischen  und  dialogi- 
schen poesie,  wo  von  den  späteren  künsteleien  noch  nicht  die  rede  war, 
andrerseits,  dass  von  den  wirklich  erhaltenen  liedem,  denen  der  „Sämun- 
dar-Edda,"  näher  besehen  nur  zwei  zu  dieser  altertümlicheren  klasse 
gehören,  nämlich  die  prymskvida  und  das  Skfrnismäl,  während  die 
übrigen,  jedoch  in  verschiedenem  gi*ade,  sich  als  übersichts-  und  gelehr- 
samkeits- lieder,  oder  gar  als  willkürliche  experimente  herausstellen. 
Übrigens  wäre  es  ja  wol  denkbar,  dass  jene  beiden  (besonders  das  Skfmis- 
rnäl)  ebenfalls  nicht  ohne  erneuernde  bearbeitung  so  ziemlich  vollständig 
vorliegen  könten;  nur  müste  dann  die  erneuernde  band  in  beiden  fällen 
(und  wol  ganz  besonders  bei  der  einfacheren  J)rymskvida)  eine  meister- 
hafte gewesen  sein.  Dass  von  den  beiden  formen  die  epische  (wie  in 
prjmskv.)  älter  als  die  dialogische  (wie  in  Skfrn.)  ist,  folgt  von  selbst.  — 
Dass  jüngere  lieder  in  der  „  Sämundar  -  Edda "  (z.  b.  Völuspä)  manches 
mit^  wenig  oder  ohne  Veränderung  aus  älteren  werden  herübergenommen 
haben,  ist  ferner  in  der  natur  der  sache  begründet. 

Bei  der  älteren  (der  nicht  „  litterarischen ")  mythenpoesie  spielt  die 
frage  über  norrön  oder  nicht  norrön  eine  weniger  bedeutende  rolle.  Denn 
teils  waren  ja  die  meisten  mythen  urgermanische ,  teils  ist  es  wahrschein- 
lich, dass  einige  sich  von  den  Deutschen  her  nach  dem  norden  verbrei- 
tet hatten.  Und  die  Überlieferung  und  Verbreitung  wird  in  älterer,  in 
heidnischer  zeit  ununterbrochen  besonders  durch  lieder  vor  sich  gegan- 
gen sein.     Es  ist  daher  grade  was  wir  von  vornherein  hätten  erwarten 

1)  Nur  über  das  Ueimdallargaldr  und  das  lied,  woraus  das  Olasir  stetidr 
usw.  (wenn  übrigens  dies  ein  götterlied  war)  herjErenoninien  ist,  können  wir  keine 
bestirntere  nieinung  haben. 


ÜBER  DIE   EDDALIEDER  69 

müssen ,  wenn  dann  und  wann  sehr  ähnliche  stellen ,  oder  gar  fast  diesel- 
ben Strophen ,  bei  anderen  germanischen  Völkern  anzutreffen  sind  (wie  der- 
artiges auch  in  der  Nibelungendichtung  zu  erwarten  gewesen  wäre ,  falls 
wir  nämlich  hinlänglich  alte  nichtnorröne  Nibelungenlieder  hätten).  Bugge 
mag  vielleicht  recht  haben ,  wenn  er  (s.  LXX)  meint ,  die  strophe  3  der 
Völuspä  (. .  jörd  fannsk  ceva,  ne  upphiminn  . .)  verglichen  mit  dem  Weis- 
senbrunner  gebete  (. .  dat  erda  ni  tvas,  noh  üfhimil  ..)  erweise  sich 
(zum  teil)  als  eine  wenig  veränderte  urgermanische.  Der  wesentliche 
Inhalt  der  früher  erwähnten  beiden  strophen  aus  einem  liede  über  Njördr 
und  Skadi  komt  bei  Saxo  ^  in  lateinischer  versificierter  paraphrase  vor, 
jedoch  in  eine  andere  sage  (die  von  Hadding  und  Eegnild)  verwoben. 
Das  lied  könte  demnach  ein  ursprünglich  gemeinsames  sein.  Da  es  aber 
gar  sonderbar  ist,  dass  eben  nur  genau  die  beiden  selben  strophen  sich 
auf  Island  und  in  Dänemark  erhalten  hätten,  entsteht  der  verdacht,  sie 
möchten  norrönes  specialgut  sein,  das  sich  irgendwie  nach  Dänemark 
und  in  eine  ganz  andere  dänische  sage  verirrt  hätte.  Ferner  wird  der 
wesentlichste  Inhalt  der  prymskvida  in  einer  schwedischen  und  in  einer 
dänischen  Kaempevise  erzählt;  und  von  einer  entsprechenden  norwegischen 
hat  man  noch  eine  strophe  übrig. ^  Man  überzeugt  sich  leicht,  dass  die 
Ksempeviser  eben  der  J)rjTnskvida  entstammen  können,  dass  aber  das 
umgekehrte  Verhältnis  nicht  anzunehmen  ist,  dass  somit  (in  diesem  einen 
falle)  dem  umstände,  dass  Snorre  das  isländische  lied  nicht  benutzt,^ 
keine  eingreifende  bedeutung  beizulegen  ist.  Da  nun  der  mythus  ein 
urgermanischer  sein  wird,  hätten  wir  auf  den  ersten  blick  Ursache,  die 
^rymskvida  för  ein  urgemeinsames  lied  zu  halten ,  das  sich  in  Norwegen, 
Schweden  und  Dänemark  in  die  drei  Kaempeviser  verwandelt  hätte. 
Näher  besehen  ist  dies  dennoch  keine  natürliche,  sondern  eben  eine 
extravagante  auflfassung.  prymskvida  ist  das  einzige  erhaltene  epische 
mythenlied  acht  volkstümlichen  und  antiken  gusses.^  Nun  wäre  es  doch 
gar  zu  erstaunlich,  falls  ganz  unabhängiger  weise  wider  dieses  lied  in 
drei  andern  ländern  das  einzige  heidnische  mythenlied  (in  mittelalter- 
licher neubearbeitung)  wäre.  Es  ist  viel  einfacher,  anzunehmen,  auch 
die  Kaempevise  sei  eine  norröne,  in  Dänemark  und  Schweden  eingeführte.^ 

1)  Müllers  ansg.  I.  s.  53.  55. 

2)  Nr.  1  in  den  samlungen  von  Sv.  Grundtvig  und  von  Arwidson ;  bei  Gmndt- 
vig  steht  auch  die  norwegische  strophe  angeführt. 

3)  prymr  steht  aber  in  der  Snorra-Edda  unter  riesennamen. 

4)  Ein  solches  ist  nämlich  die  H^iskvida  nicht;  hierüber  weiter  unten. 

•  5)  Sprachliche  indicien  dieses  Verhältnisses  wären  das  Locke  und  das  Loye  (Lete, 
Lewe),  indem  man  im  Dänischen  wol  eher  ein  Loge  statt  Locke  zu  erwarten  hätte, 
und  Loie  oder  Leie,  wie  auch  das  Frojenborg  des  schwedischen  liedes,  auf  norröne 
diphthongische  ausspräche  deutet  (Laufey,  Freyja);  das  Haffsgaard  (=  Asgarär) 


70  B.   JESSEN 

Auch  mit  manchen  andern  Ksempeviser  muss  solches  der  fall  sein,^  wie 
denn  auch  Saxo  (obschon  er  keinen  isländischen  einfluss  auf  die  Ordnung 
der  eigentlichen  dänischen  königssage  zuliess)  verschiedene  norröne  spe- 
cialsagen hat.*  Es  liegt  nun  eben  am  tage,  dass  von  den  drei  Kaempe- 
viser  eine  die  grundlage  der  beiden  andern  ist  Es  lässt  sich  demnach 
auch  nicht  einmal  von  der  J)rymskvida  erweisen,  sie  sei  ein  „südskan- 
dinavisches" lied;  wie  viel  weniger  von  irgend  einem  andern  Eddaliede? 
Dass  ^rymskvida  und  Skfrnismäl  wol  norröne  indicien  enthalten ,  ist  frü- 
her erwähnt.  —  An  der  übermässig  langen  zauberrede  im  Skirnismäl 
mag  man  jetzt  anstoss  nehmen.  Sonst  muss  man  diesen  beiden  liedejn 
bedeutenden  dichterischen  wert  zugestehen. 

Es  giebt  freilich  noch  ein  mythisches  lied  mit  epischer  und  direc- 
ter  (weder  prophetierender  noch  memorierender)  darstellung  des  Inhal- 
tes, nämlich  die  H;fmiskvida.  Es  ist  aber  dennoch  eben  so  wenig 
wie  die  Atlenlieder  ein  wirkliches,  uraltes  Volkslied.  Eben  wie  bei  den 
Atlenliedern  macht  die  garstige  form,  das  offenbare  widererzählen,  die 
unnatürliche  redeweise ,  die  abwesenheit  wahrer  poesie ,  eine  vielhundert- 
jährige volkstümliche  Überlieferung  undenkbar.  Die  vielen  und  gesuch- 
ten kenningar  und  die  behandlung  des  metrums  deuten  auf  die  spätere 
„skaldenzeit,"  und  wol  am  ehesten  auf  Island  hin.  In  der  mythendar- 
stellung  zeigt  sich  eine  doppelte  vermengung  nicht  zusammengehörender 
dinge.  Erstens  ist  H;fmir  (mit  dem  Thor  auf  fischfang  ging)  mit  Ymir 
(bei  dem  Thor  den  kessel  holte)  zusammengeworfen,  was  bei  Snorre  noch 
nicht  der  fall  ist,  wenigstens  noch  nicht  realiter,  indem  Snorre  (ohne 
zweifei  auf  einem  wirklichen  volksliede  ftissend)  den  fischfang  ohne  Zusam- 
menhang mit  dem  kesselholen  erzählt,*   obschon   die  haudschriften  zwi- 

könte  sogar  specicl  auf  die  isländische  und  zum  teil  westnorwegische  ausspräche  von 
ä  wie  au  deuten. 

1)  Für  norrön  halte  ich  auch  die  von  Angelfyr  (=  Anganti/r;  nr.  19  bei  Sv. 
Grundtvig);  femer  die  von  Sveidal  (=  Svipdagr;  nr.  70);  die  von  Kragelü  (=  JKrdfca, 
Äslaug;  nr.  22,  23),  indem  ja  Saxo  die  geschichte  mit  Kräka  und  Ragnar  nicht 
kent  (also  nicht  nur  die  ankntipfung  an  die  Nibelungensage,  sondern  sogar  diese 
geschichte  selbst  muss  eine  norröne  sein). 

2)  Z.  b.  die  von  Ano  sagütarit^s  (==  Ann  bogsveigir) ;  die  von  Refo  Thylensis 
(=  Gjafa-Refr)  und  dem  freigebigen  könig  Götrik  (den  Saxo  für  eins  mit  dem 
berühmten  Gotfrid  hielt).  Die  mythe  von  Geruith  (=  Geirröär)  erklärt  Saxo  für  eine 
aus  Island  hergebrachte  (Geruthi  acceptam  a  Thylensibus  fatnam).  Norrön  ist  die 
sage  von  Örwarodd  und  Hjalmar,  somit  auch  die  von  Angantyr;  so  auch  einiges  in 
der  von  Starcath  (Starkand),  welche  ja  dennoch  in  ihren  grundzügen  eine  urgerma- 
nische sein  wird ,  wie  ja  auch  Saxo  wüste ,  dass  Starkandsagen  in  Deutschland  ver- 
breitet waren  (anders  kann  ich  die  werte  s.  274  nicht  verstehen :  . .  etüim  apud  omnes 
Sveonum  Saxonumque  provincias  speciosismna  sibi  monumenta  pepererat). 

3)  I.  166  f.  (bei  E.  35  f.). 


ÜBBB  DIE  BODALIBDEB  71 

sehen  den  beiden  namen  H^mir  und  Yniir  schwanken,  was  wir  indessen 
nicht  dem  Snorre  selbst  zuzuschreiben  brauchen.  Es  wird  dies  eine 
isländische  Vermischung  zweier  namen  und  später  zweier  sagen  sein. 
Zweitens  ist  nun  hiermit  auch  der  verfall  mit  dem  hinkenden  bock  in 
Verbindung  gebracht,  den  Snorre  (auf  einem  wirklichen  volksliede  ftis- 
send)  mit  Thors  reise  nach  ütgardr  verknüpft.  Snorre  hat  die  H^mis- 
kvida  entweder  nicht  gekaut,  oder  mit  vorsatz  nicht  benutzt.  Es  ist 
sehr  möglich,  dass  sie  erst  im  13.  Jahrhundert  verfasst  ist.  Jedenfalls 
können  wir  sie  unbedenklich  für  einen  isländischen  litterarischen  versuch 
halten,  womit  auch  die  werte  in  str.  38  wol  übereinstinmien:  hverr  kann 
um  pat  goämdlugra  görr  at  shilja?  d.  i.  „wer  von  den  mythologen  kann 
hierüber  [über  den  verfall  mit  dem  bock]  specieller  handeln?" 

Die  übrigen  lieder  (welche  im  gegensatz  zu  den  drei  jetzt  besproche- 
nen voraussetzen ,  dass  der  zuhörer  den  stoff  schon  inne  hat)  sind  gelehr- 
samkeitsgedichte ,  übersichts-  und  repetitionsgedichte ,  mit  indirecter, 
prophetierender,  memorierender,  katechisierender,  oder  auch  disputieren- 
der („sewwa")  darstellung  mythischen  stoflfes;  eins  derselben,  das  Alvlss- 
mäl,  übrigens  eigentlich  nicht  einmal  ein  mythisches. 

Dass  nun  derartige  darstellungsweise  auch  schon  in  heidnischer 
zeit,  sogar  vor  der  entdeckung  Islands,  wird  in  anwendung  gewesen  sein, 
möchte  ich  nicht  läugnen.  Man  bedenke  aber ,  dass  '/lo  dieser  lieder  von 
so  unprimitiver ,  so  wenig  volkstümlicher  art  sind.  Sie  sind  einer  genera- 
tion  angemessen,  der  es  bei  den  mythen  zunächst  am  memorieren  der 
specialia,  am  paradieren  mit  diesen,  gelegen  war.  Sind  es  derartige  lieder, 
die  man  ohne  Zeugnisse,  ohne  beweise,  bloss  mit  berufiing  auf  die  ver- 
meintliche obherschaft  dänischer  „cultur,"  dem  „älteren  und  mittleren 
eisenalter"  in  „Südscandinavien"  zuweisen  kann?  Wie  könten  eben 
solche  „südscandinavische"  lieder  eine  einheimische  norröne  liederdich- 
tung  überflüssig  oder  gar  unmöglich  machen?  Ist  es  nicht  sehr  wahr- 
scheinlich ,  dass  die  Isländer  sich  auch  mit  dem  versificieren  ihrer  mytho- 
logischen gelehrsamkeit  abgegeben  haben  selten?  und  hätte  man  nicht 
eben  derartige  lieder  von  den  Isländern  zu  erwarten? 

Das  vornehmste  dieser  lieder  ist  die  Völuspä.  Wer  würde  den 
hohen,  nicht  nur  mythologischen,  sondern  auch  poetischen  wert  dieses 
gedieh tes  läugnen  wollen?  Hat  man  es  aber  damit  sofort  für  das  älteste 
aller  Eddalieder,  oder  gar  für  ein  urnordisches  zu  erklären?  Es  war  in 
seiner  vollständigen  gestalt  eine  gedrängte,  excerpierende  Übersicht  der 
götterlehre.  Es  wird  manches  aus  älteren  liedem  unverändert  herüber- 
genommen haben.  Nicht  aber  solche  excerpte  sind  es,  wie  das  über 
Gullveig,  das  über  Öds  mey  und  pörr,  das  über  Baldr,  Hödr  und  Loki, 
das  über  Odins  und  Widars  kämpf  mit  dem  wolf ,  das  über  Thors  mit 


72  E.   JESSEN 

dem  wui*m ,  die  sich  viele  Jahrhunderte  hindurch  mündlich  würden  erhal- 
ten haben.  Es  finden  sich  unantike  Wendungen ,  wie  J>d  knd  Vota  vig- 
hönd  sntia  (liddr  vdru  hardgör  höpt)  ör  pörmum  nach  skaldenmanier 
mit  solcher  parenthese,  und  Vala  Jwrmum  weit  auseinander  getrent; 
Icetr  hann  megl  hvectrungs  mund  um  standa  hjör  tu  hjarta;  so  unter 
den  nicht  wenigen  kenningar  einige  von  den  gesuchteren ;  ferner  das  kaum 
sehr  alte  fremdwort  ^reki;  das  verdächtige  goäpjöä  (vgl.  oben  s.  17),  das 
auf  einfluss  der  deutschen  heldensage  deuten  möchte  (eben  wie  im  VafJ)r. 
das  Hreidgotar,^  im  Härb.  das  Valland,  im  Grimn.  das  Bin)\  weiter 
verschiedene  indicien  norröner  laudesuatur,  vor  allen  das  speciel  islän- 
dische hvera  lundr;  endlich  das  „stef"  Es  wird  aller  Wahrscheinlich- 
keit nach  ein  isländisches  gedieht  etwa  aus  dem  10.  Jahrhundert  sein, 
welches  am  anfang  und  ende  (vielleicht  auch  sonst)  etliclies  aus  altern, 
nicht  excerpierenden  liedera  unverändert  möchte  aufgenommen  haben. 
Einem  Christen  würde  es  nicht  zuzuschreiben  sein ,  obschon  besonders  die 
stelle  broßdr  munu  berjask  usw.  verdacht  erregen  möchte.^ 

Auch  die  Lokasenna,  meine  ich,  könte  man  sich  wol  von  einem 
beiden  verfasst  denken.  Natürlich  auch  von  einem  Christen,  doch  nicht 
von  einem  eigentlichen  eiferer  für  das  Christentum.  Der  Verfasser  spricht 
sine  ira;  sein  Standpunkt  ist  ein  weltlicher,  zudem  ein  frivoler  und 
indifferenter.  Aber  freilich  ist  sein  gedieht  offenbar  nichts,  als  eine  Über- 
sicht der  schwächen,  der  angreifbaren  punkte  in  der  götterlehre.  Und 
obschon  die  amüsante,  unwiderlegliche  kritik  das  gedieht  wol  populär 
machen  konte,  kann  ich  mii*  doch  nimmer  denken,  dass  dies  die  uralte 
form  der  sage  vom  zwist  Lokes  mit  den  göttern  wäre.  Es  liegt  dahin- 
ter eine  ältere,  die  dem  Verfasser  unseres  liedes  nur  zum  motiv  gedient 
hat,  um  seine  ketzerische  kritik  in  dramatische  form  zu  bringen.  Es 
wird  früher  nur  von  einem  Wortwechsel  die   rede  gewesen  sein,    worin 

1)  Dass  sich  die  Dänen ,  der  behauptung  Snorres  gemäss .  jemals  Goten  (anders 
als  in  der  bedeutung  „männer")  oder  gar  (wie  die  deutschen  Goten)  Hredgot^n 
genant  hätten ,  davon  findet  sich  meines  wissens  keine  s])ar  bei  Saxo  noch  auch  sonst 
in  Dänemark.  —  Hrelägotar  in  Vafpr.  12  möchte  ai)pellativ  sein,  erweist  sich  übri- 
gens mit  angelsächsisch  HrMgotan  verglichen  als  fremdwort 

2)  Die  in  Haupts  zeitschr.  VII.  315  f.  aufgeführten  Zeugnisse  bezeugen  die  exi- 
stenz  der  mythen ,  nicht  die  der  Völuspä  (ausgenommen  vielleicht  die  stelle  bei  Arnor 
Jarlaskald  um  die  mitte  des  11.  Jahrhunderts,  und  die  bei  Gunnlaug  im  12.).  Bei 
den  daselbst  citierten  vermeintlich  dem  9.  Jahrhundert  zugehörenden  gedichten  läugne 
ich  ja  überdies  auch  die  authentie.  —  Hier  möchte  ich  die  bemerkung  anbringen, 
dass  ich  Mob  ins  bedenklichkeiten  (zeitschr  I.  408)  gegen  Bugges  Ordnung  der  Völu- 
spä beitrete.  Beweisen  lässt  sich  die  richtigkeit  derselben  jedenfalls  nicht,  weshalb 
ausgaben  sich  derselben  enthalten  solten.  Dem  Übersetzer  ist  sie  ganz  gewis  lockend 
genug. 


ÜBEB  DIB   EDDALIEDEB  73 

Loke  sich  offen  rühmte,  den  tod  Balders  verursacht  zu  haben,  also  den 
göttem  juridischen  grund  gab ,  ihn  gefangen  zu  nehmen  und  zu  binden. 
Dies  ist  mythologisch  das  hauptmoment,  ist.  auch  in  unserm  liede  nicht 
verschwunden,  indem  Loke  sich  jener  tat  rühmt  (wie  denn  auch  Balder, 
Nanna  und  Hödr  abwesend  sind).  Niemand  wird  aber  hierin  das  eigent- 
liche sujet  unseres  liedes  sehen.  Unser  lied  hat  nicht  mehr  den  unmit- 
telbaren mythologischen  zweck.  Das  sujet  desselben  sind  eben  nur  die 
kritischen  details;  der  mythus  ist  ihm  nur  ein  äusserliches  motiv.  Dass 
auch  das  heidentum  seine  Freidenker  hatte,  brauchen  wir  eben  so  wenig 
zu  bezweifeln,  wie,  dass  es  eine  komische  poesie  wird  gehabt  haben. 
Wir  müssen  es  denn  wol  als  unentschieden  stehen  lassen,  ob  unser 
gedieht  von  einem  beiden  oder  einem  Christen  herrührt.  An  speciellen 
fingerzeigen  ist  es  arm.*  Es  deutet  (wie  auch  das  Harbardslied)  auf 
einige  uns  nicht  näher  bekante,  offenbar  unanständige,  sagen  hin.  Mit 
detaillierter  mitteilung  solcher  Sachen  waren  die  Isländer  gewöhnlich 
zurückhaltend  (so  besonders  Snorre).  Der  lückenfreie  text  ist  (wie  auch 
bei  VafJ)r.,  Härb.,  Vegt.,  Alv.)  nicht  eben  zeichen  sehr  langer  münd- 
licher Überlieferung. 

Noch  ärmer  an  bestimmenden  einzellieiten  war  ursprünglich  das 
Vafprüdnismäl,  eine  katecbisierende  senna,  die  sich  ein  viel  beschei- 
deneres ziel  stellt,  als  die  Loka- senna,  indem  sie  nur  (übrigens  in  sehr^ 
sauberer  form)  eijie  anzahl  mythologischer  detailkentnisse  auftischt.  — 
Der  abschnitt  str.  44 — 53  wird  eine  hinzudichtung  sein  (älter  als  Snorre, 
jünger  als  Alvfssmäl).  Denn  ursprünglich  wiid  natürlich  Vafprüdnir 
12  fragen  beantwortet  haben,  bei  der  13.  aber  stecken  geblieben  sein. 
Die  5  fragen  (und  antworten)  nach  der  12.  sind  später  eingeschoben, 
und  zwar  erst  wol  nur  die  4,  welche  in  der  manier  des  liedes  bleiben, 
wogegen  die  vorsätzlich  rätselhafte  in  str.  48—49  wol  von  einer  dritten 
band  interpoliert  wäre.  —  Die  hinzudichtung  widerstreitet  sowol  der 
Völuspä  als  dem  altern  teil  des  Vaf l)rüanismäl ,  indem  str.  50 — 51  schwer- 
lich andern  sinn  haben  können  als  den,  dass  nach  dem  Eagnarök  nur 
vier  götter  leben:  Vütarr,  Vali,  Möiti,  Magni,  wogegen  Völuspä  Höär^ 
Baldr,  Hoenir  und  näher  besehen  alle  resir  leben  lässt,  wie  auch  Vaf- 
prüdnismäl  39  den  Njörär  als  lebend  und  zu  den  Wanen  zuiückgeschickt 
erwähnt,  was  (eben  wie  die  stelle  in  Völuspä)  rück  -  auswechselung  des 
Njörär  und  des  Hoenir,  somit  existenz   sowol  der  Äsen  als  der  Wanen 

1)  Das  Sdmsey  der  str.  24,  wol  die  insel  im  Kattegat,  braucht  eben  so  wenig 
wie  Ulesey  in  Härb.  37  (falls  dies  das  Läsö  im  Kattegat  ist)  kentnis  dänischer  sagen 
(somit  späte  zeit)  zu  bezeugen ,  indem  ja  einheimische  norröne  sage  ebensowol  solche 
allbekante  inseln  verwenden  konte,  wie  einheimische  dänische  sage  norröne,  schwe- 
dische, deutsche,  englische,  slawische  länder. 


74  B.    JBS8EN 

impliciert.  Die  hinzudichtung  in  Vafl)rüdnismäl  unterliegt  also  dem 
stärksten  verdacht ,  auf  blossen  misverständissen  älterer  liederbruchstücke 
zu  beruhen,  also  von  einem  Christen  herzurühren.  Bei  der  behauptung 
der  str.  47,  dass  es  Fenrir  sei,  der  die  sonne  verschlinge,  brauchen  wir 
also  weder  Fenrir  nach  skaldenmanier  appellativ  stehen  zu  lassen,  noch 
auch  an  irgend  welche  urindogermanische  Identification  des  höchsten 
gottes  und  der  sonne  zu  denken,  sondern  einfach  an  misverständnis  eines 
nlfr  in  einem  altern  bruchstück.  Somit  wäre  die  ganze  hinzudichtung 
als  mythologische  quelle  zu  verwerfen,  also  auch  die  mit  Völuspä  wenig 
vereinbare  stelle  (45)  über  Lif  und  Leifprasir  ziemlich  wertlos,  oder  nicht 
leicht  verwertbar.  —  Die  hinzudichtung  hat  endlich  auch  noch  dem 
liede  einen  neuen  schluss  geschafft:  feigum  munni  mcdlta  ek  mina 
forna  stafi  6k  um  ragna  rök,  indem  ja  Vaf|)rudnir  erst  in  derselben, 
nicht  im  altern  teile  von  ragna  rök  geredet  hatte  (wenn  man  nicht  etwa 
an  die  frage  str.  17  denken  wollte).  Der  aufzeichner  gibt  sowol  den 
alten  schluss  (nü  ek  viä  Odin  deildak  usw.)  als  den  neuen,  dass  man 
nach  belieben  wähle. 

Das  Grimnismäl  ist  nichts  als  eine  Vorratskammer  mythologi- 
scher specialia,  die  man  in  solcher  form  memorieren  wollte.  Der  ramen 
ist  einer  sonst  unbekanten  norrönen  heldensage  entlehnt,  in  der  man 
Odin  in  einer  Situation  hatte,  wo  es  ihm  venneintlich  passend  wäre, 
solche  gelehrsamkeit  auszukramen.  Nach  dem  ersten  plane  hätte  er  viel- 
leicht nur  die  12  vornehmsten  götterwohnungen  herzählen  sollen  (str. 
4 — 17),  wo  er  wol  schon  lückenhafte  Vorstellung  von  der  götterweit 
verrät.  Das  erst  weggelassene  Älfheimr  ist  nachher  in  str.  5  eingeschal- 
tet worden,  so  dass,  der  ausdrücklichen  Zählung*  der  handschrift  zuwi- 
der, jetzt  13  Wohnorte  erwähnt  stehen.  Str.  18  —  50  folgt  eine  polter- 
kammer  mit  allerlei  details ,  die  übrigens  der  Verfasser  selbst  ^  als  erwei- 
terung  des  repertoriums  hinzugefugt  haben  könte.^  Verschiedenes  wird 
andern  liedern  entnommen  sein,  so  str.  40  (ör  Ymis  holdi  usw.)  viel- 
leicht direct  dem  Vafpr.  str.  21.  Snorre  kante  das  lied  in  der  jetzigen 
gestalt.     Es  wird  ein  isländisches  und  schwerlich  ein  heidnisches  sein. 

Wider  ein  gelehrsamkoitslied  in  der  beliebten  form  der  senna  ist 
das  Härbardsljöd,  in  welchem  ich  eben  so  wenig  eine  tiefe  absieht,* 

1)  Vgl.  diese  zeitschr.  bd.  I  s.  414. 

2)  Man  hat  gemeint,  das  lied  sei  fnicht  und  abbild  eines  karapfes  zwischen 
dem  Odinscultus  und  dem  Thorscultus,  obendrein  so,  dass  ersterer  den  vornehmen, 
letzterer  den  „bauern"  eigen  gewesen  wäre.  Ein  solcher  kämpf  zwischen  beiderlei 
cultus  hat  nicht  eiistiert.  Der  tempelcultus  sowol  Thors  als  Odins  (und  aller  göt- 
ter)  war  nur  in  den  bänden  gewisser  vornehmer  geschlechter ,  die  das  recht  zur 
goden- würde  hatten.    Thor  war  bei   den  vornehmen  eben    so  beliebt  wie  bei  den 


ÜBEB  DIE  BDDALIEDEB  75 

noch  auch  einen  „tiefkomischen  humor"  zu  sehen  veraiag,  wie  in  der 
Lokasenna  eine  „tieftragische  Zerrissenheit"  Mit  dem  wirklichen  humor 
der  Lokasenna  hat  dieser  kraftlose,  trockene,  langweilige  versuch  nichts 
gemein ,  obschon  der  Verfasser  wol  den  frivolen  indifferentismus  der  Loka- 
senna hat  copieren  wollen;  dass  er  dieselbe  vor  äugen  hatte,  macht  die 
zeUe  (in  26)  ok  pöUiska  pü  pd  pörr  vera  (die  ebenso  in  Lok.  60  steht) 
wahrscheinlich,  wenn  auch  nicht  gewis.  Sein  zweck  ist  nur,  mittelst 
einer  senna  seine  „forna  staß^''  seine  gelehrsamkeit  in  den  Odins-  und 
Thors -mythen,  besonders  den  in  isländischen  Schriften  ungern  behandel- 
ten, paradieren  zu  lassen.  Es  ist  ein  durchaus  „litterarisches"  product. 
Und  wenn  die  Snorra  -  Edda  von  demselben  nichts  weiss ,  mögen  wir  dies, 
in  Verbindung  mit  den  übrigen  Verhältnissen  (so  auch  spräche  und  ver- 
Bification),  als  indicium  betrachten,  dass  das  Harbardslied  ein  isländi- 
sches product  des  13.  Jahrhunderts  ist.  Als  mythologische  quelle  kann  es 
sich  nicht  neben  die  Snorra -Edda  stellen;  so  wenn  str.  19  Thor  zum  töter 
des  Thjasse  macht,  der  die  äugen  Thjasses  an  den  himmel  wirft,  was 
dem  bericht  der  Snorra -Edda  (I,  214)  widerstreitet,  haben  wir  dem  Snorre 
die  grössere  Zuverlässigkeit  beizulegen.  Es  ist  wol  möglich,  dass  das 
„motiv"  des  liedes  eine  mythe  war,  in  welcher  Odin,  verkappt,  dem 
Thor  eine  überfahrt  verweigerte.  Das  lied  kann  aber  nicht  die  urnor- 
dische einkleidung  einer  solchen  mythe  sein;  es  enthält  nur  die  islän- 
dische „litterarische"  Verwendung  der  einzelnen  Situation. 

Der  „ramen"  derVegtamskvida  kann  hingegen  keine  ächte  mythe 
enthalten.  Der  ritt  Odins  nach  Heiheim  wird  nur  eine  ganz  willkürliche 
nachbildung  von  Hermods  ritt  sein.  Denn  falls  Odin  genau  dasselbe ,  was 
er  in  Völuspä  36  --  38  (bei  Bugge  31  —  33  ^)  von  der  daselbst  memorie- 
renden völva  vortragen  hört,  schon  vor  Balders  tod  (nach  dem  rat  aller 
götter)  bei  einer  andern  völva  als  prophetie  angehört  hatte ,  hätte  er  weder 
gestatten  können,  dass  man  dem  mistilteinn  keinen  eid  abforderte,  noch 
auch  dass  Hödr  zur  belustigung  der  Äsen  den  mistilteinn  auf  Haider  warf, 
noch  auch  überhaupt,  dass  man  mit  Balder  einen  bei  so  traurigem  bewust- 
sein  seines  Schicksals  gänzlich  abgeschmackten  scherz  triebe.  Man  wird 
es  somit  nicht  als  zuverlässige  mythische  züge  behandeln  können,  wenn 
die  völva  in  Heiheim  statt  in  Jötunheim  begraben  ist,  und  wenn  die 
Wohnung  in  Heiheim  wie  ein  griechisches  elysium,  wie  ein  „schönes" 
haus  voll  gold  und  lustiger  getränke ,  geschildert  wird.  Übrigens  möchte 
ich  nicht  läugnen ,  dass  grade  diese  einleitung  (str.  1  —  7  *)  von  poe- 
ärmeren; er  war  kein  ackerbaner.  Eben  die  vornehmen  waren  ackerbauer  nnd 
bcßndr. 

1)  Bei  Ltining  str.  36—37  und  die  note  hiezu. 

2)  Bei  Möbius  das  nicht  eingeklammerte  in  1  —  11. 


76  B.   JESSEN 

tischem  talent  zeugt.  Es  folgt  (str.  8  — 12^)  das  wirkliche  sujet  des 
liedes:  prophetierende  übersieht  der  Baldersmythe ,  mittelst  dialogisie- 
render (katechisierender)  paraphrase  der  betreffenden  Strophen  (36  —  38) 
in  Völuspä.  Einmal  (str.  11:  Binär  herr  usw.)  kann  der  paraphrast  sich 
hiebei  nicht  mit  8  zeilen  behelfen ,  sondern  muss  dies  eine  mal  10 
gestatten.  Schon  in  der  Völuspä  ist  das  meidr  (bäum),  vom  mistilteinn 
gebraucht,  nicht  eben  zeichen  autoptiöcher  kentnis  dieser  pflanze;  die 
werte  sind:  stöct  um  vaxinn  völlum  hcerri  mjör  ok  mjöJc  fagr  mistil- 
teinn. Dies  hat  nun  der  Verfasser  der  Vegt.  obendrein  so  verstanden, 
als  ob  der  mistilteinn  ein  hoher  (völlum  hcerri)  und  herlicher  (mjök 
fagr)  bäum  wäre,  indem  er  sagt:  Hödr  berr  hdvan  hröärbadm  pinig.^ 
Aus  den  letzten  werten  hieselbst  in  Völuspä,  nämlich  en  Frigg  um 
gret  i  Fensölum  vd  Valhallar  macht  Vegt.,  nach  dem  vorbild  anderer 
lieder  (so  des  Vaf|)r.)  ein  rätsei  (ein  sehr  abgeschmacktes),  womit  Odin 
die  scene  verlassen  kann:  hverjar  Wo  pmr  meyjar,  er  at  muni  grata, 
ok  d  himin  verpa  halsa  sTcaxdum?  (skötum,  sJcöttum?),  Die  zu  gebende 
antwort  wü'd  gewesen  sein:  Friggs  äugen.  Es  folgen  dann  die  beiden 
ungeschickten  Schlussstrophen.  —  Die  sechszeilige  formel  in  str.  1  wird 
der  str.  14  der  J)rymskv.  entnommen  sein.  —  Die  Snorra-Edda  weiss 
von  unserm  liede  nichts.  Auch  fehlt  es  in  der  eigentlichen  „Sämun- 
dar-Edda/*  Es  steht  erst  in  der  Arnam.  handschrift  (nach  1300).  — 
Alle  umstände  zusammengenommen,  wird  es  förmlich  unnatürlich,  das- 
selbe für  irgend  etwas  anderes  als  einen  isländischen  litterarischen  ver- 
such des  13.  Jahrhunderts  zu  halten. 

Das  Alvissmäl  endlich  (ziemlich  un eigentlich  ein  „götterlied") 
ist  freilich  etwas  älter,  jedenfalls  älter  als  die  Snorra-Edda  (auch  als 
die  hinzudichtung  zu  Vafpr.) ,  wird  aber  schwerlich  eine  wirkliche  my the 
zum  ramen  benutzt  haben,  geschweige  in  heidnischer  zeit  entstanden 
sein.  Es  ist  dem  Vafl)r.  nachgebildet ,  also  wieder  ein  beispiel  der  engen 
litterarischen  Verknüpfung  unserer  wenigen  götterlieder,  womit  es  so  sehr 
wol  stimt,  sich  wenigstens  die  mehrzahl  derselben  innerhalb  eines  nicht 
überaus  langen  Zeitraums  und  auf  Island  verfasst  zu  denken.  —  Machen 
wir  zum  Verständnis  des  liedes  ein  gedankenexperiment.    Lassen  wir  eine 

1)  Bei  Möbius  12  - 16. 

2\  Zu  diesem  pinig,  „hieher,'*  d.  i.  nach  dem  orte,  wo  Balder  stand,  wo 
also  der  gedanke  eben  verweilt,  vergleiche  man  feil  hSr  i  morgun  ai  Freka' 
steint  in  Helg.  Hjörv.  39 ,  und  Bugge  in  der  note  zu  dieser  strophe.  —  Sonderbar 
genug  tritt  Bugge  dennoch  der  erklärung  bei,  dass  hroär-haämr  (-barmt)  bezeich- 
nung  des  Balder  sei.  Aber  weder  könte  hera  hier  „schicken"  bedeuten,  noch  auch 
Hödr  den  Balder  nach  Heiheim  tragen ,  noch  auch  der  transport  nach  Heiheim  vor 
dem  töten  Balders  (kann  man  Baldri  at  bana  veräa)  stehen. 


ÜBER  DIE   EDDALESDEB  77 

anzahl  altertums-  und  skaldendichtungs- kundiger  Isländer  beisammen 
sein,  die  sich  auch  mit  litterarischen  exercitien  die  zeit  vertreiben.  Es 
wird  die  aufgäbe  gestellt,  in  katechisierender  form,  nach  muster  des 
Vafl)r. ,  eine  samlung  von  6  mal  13  kenningar  und  anderen  heiti  für 
erde,  himmel,  mond,  sonne  usw.  zu  liefern.  Derjenige,  dem  dies  zu- 
fällt, löst  die  aufgäbe  genau,  kann  sich  aber  nicht  enthalten,  über 
diese  art  gelehrsamkeit  und  poesie  ein  wenig  zu  ironisieren.  Den  gelehr- 
ten macht  er  zum  „allweisen"  zwerg,  der  den  Wafthrudne  noch  über- 
trifft, indem  er  auch  die  13.  frage  beantwortet,  und  der  dennoch  in 
seinem  eifer  nicht  bemerkt,  dass  sogar  der  ungelehrte  und  un weise  Thor 
doch  mehr  klugheit  hat ,  und  dass  seine  gelehrsamkeit  beim  ersten  strahl 
des  tageslichts  unnütz  wird  und  in  nichtigkeit  vergeht.  Noch  deutlicher 
wird  die  ironie,  wenn  man  sich  erinnert,  dass  dieser  geistige  zwerg  sich 
einer  nähern  Verbindung  mit  den  grösten  himlischen  mächten  fähig 
glaubt.  Obgleich  die  liciti  das  sujet  sind ,  meine  ich  also ,  dass  der  Islän- 
der auch  eine  andere  idee  hineingebracht  hat,  wodurch  das  lied  erst 
erträglich  wird. 

Bei  der  mehrzahl  der  götterlieder  deuten  demnach  Charakter  und 
litterarische  Verhältnisse  durchaus  nicht  auf  „das  ältere  und  mittlere 
eisenalter"  in  „Südscandinavien,"  noch  auch  zunächst  auf  die  wiking- 
zeit  hin,  sondern  vielmehr  auf  ein  mehr  „litterarisches"  Zeitalter,  somit 
auf  Island.  —  Die  litterarische  einkleidung  (den  ramen)  abgerechnet, 
werden  sie  im  ganzen,  obschon  nicht  unbedingt,  als  zuverlässige  quellen 
zur  mythologie  gelten  müssen,  stimmen  auch  (Hym.  ausgenommen) 
sehr  wol  mit  den  erzählungen  der  Snorra-Edda,  und  mit  den  mytholo- 
gischen beziehungon  in  „Skaldenliedern,"  so  dass  in  der  isländi- 
schen litteratur  nur  eiu  Stadium  der  mythenentwicke- 
lung  vorliegt,  nämlich  das  späteste  norröne. 

Übrig  bleibt  die  didaktische  poesie,  d.  h.  das  Hävamäl.  — 
Obschon  dasselbe  wieder  aus  drei  liedern  besteht,  meine  ich  (wie  beim 
Hyndluljöd),  dass  an  keine  willkürliche  zusammenwerfung  zu  denken  ist. 
Dieselbe  persönlichkeit;  dieselbe,  nicht  hohe,  art  dichterischer  fähigkeit, 
Charakter,  ton,  manier;  lebensanschauung ;  dieselbe  lockere  moral;  die 
in  allen  drei  teilen  vorkommenden  beziehungen'  zur  mythe  vom  dichter- 
met  (welche  übrigens  mit  Snorres  erzählung  übereinstimmen,  nicht  aber 
grundlage  derselben  sind ,  wozu  sie ,  als  blosse  fragmentarische  andeutun- 
gen,  unbrauchbar  waren);  ferner  die  ebenfalls  in  allen  drei  teilen  vor- 
kommende beziehung  zur  }wll  Hdva:  —  aUes  zusammen  beweist  mir,  dass 

1)  Grossenteils  iraiams:  vgl.  Thorpc,  Cod.  Exon.  p.  VIII  — IX. 


78  B.    JESSEN 


alle  drei  teile  von  einem  Verfasser  herrühren,  der  dieselben,  als  eine 
trilogie,  selbst  verknüpfte,  und  zusammen  als  eine  samlung  von  mal 
Hdva  wollte  betrachtet  wissen,  übrigens  wol  Sprichwörter  und  stellen 
aus  andern  liedern  adoptierte,  wie  denn  andrerseits  einige  von  den  inter- 
polationen  (z.  b.  str.  84  —  86)  von  andrer  band  herrühren  mögen.  Nähere 
ausführung  ist  hier  weniger  nötig,  indem  die  früher  erwähnten  beweise 
norwegischer  herkunft  (worauf  es  hier  ankomt),  nicht  nur  im  ersten 
abschnitt  vorkommen  (was  denn  ferner  den  gemeinsamen  Ursprung  noch 
äusserlicher  bestätigt).  —  Dass  das  Sigrdrifumäl  nachahmung  der 
beiden  letzten  abschnitte  (also  eigentlich  nicht  den  heldenliedern  zuzu- 
zählen) ist,  (was  ein  zeugnis  für  das  zusammengehören  dieser  beiden 
abschnitte  hinzufugt),  habe  ich  früher  erwähnt. 


Nachträgliche  bemerkungen. 

1.  Den  bezeichnungen  „älteres,  mittleres,  jüngeres  eisen- 
alter" wünscht  die  redaction  eine  erörternde  bemerkung  beigefügt,  weil 
dieselben  in  Deutschland  unüblich,  auch,  nebst  den  verwanten  „bronce- 
alter"  und  „steinalter,"  in  ziemlichem  miscredit  seien.  Die  jetzige  chro- 
nologische bestinmiung  von  selten  der  dänischen  archäologen  ^  ist  diese : 

„älteres  dänisches  eisenalter"  c.  250  —  450  n.  Chr. 

„mittleres  dänisches  eisenalter"  c.  450  —  700. 

„jüngeres  dänisches  eisenalter"  c.  700  — 1030; 
so  dass  also  das  „jüngere  eisenalter "  etwa  100  jähre  vor  der  in  dem- 
selben einbegriflfenen  eigentlichen  wikingerzeit  (d.  h.  der  zeit  der 
grossen  dänischen  und  norwegischen  plünderungs-  und  eroberungszüge 
über  die  nordsee  im  9.  — 11.  Jahrhundert)  angefangen  hätte.  Vor  c.  250 
n.  Chr.  stellen  unsere  archäologen  das  dänische  „broncealter"  von  unbe- 
stimbarer  dauer,  und  vor  dieses  natürlich  das  „steinalter."  Über  natio- 
nale Verhältnisse  dieser  beiden  perioden  haben  sie  es  pro  tempore  auf- 
gegeben, irgend  etwas  bestirnteres  zu  behaupten,  während  sie  jedenfalls 
die  herschende  bevölkerung  im  ganzen  „eisenalter"  für  eine  germanische 
halten.  —  Ich  bitte  zu  bemerken ,  dass  ich  diese  benennungen  vermeint- 
licher Perioden  mit  hinzugefügten  citationszeichen  zu  verwenden  pflege, 
indem  ich  dieselben  nicht  als  die  meinigen  adoptiere,  sondern 
sie  nur  deshalb  habe  gebrauchen  müssen,  weil  ich  mit  einer  dänischen 
theorie  zu  tun  habe,  die  sich  so  formuliert  hat:  „Die  Eddalieder  (wesent- 
lich in  der  noch  vorliegenden  gestalt)  sind  in  Dänemark  (vielleicht  auch 

1)  Siehe  z.  b.  den  1869  publicierten  katalog  („Ledetraad'')  des  Museum  for 
nordiske  Oldsager. 


ÜBEB  DIB   EDDALIEDER  79 

in  Südschweden)  im  , älteren  und  mittieren  eisenalter'  verfasst;"  dem 
gegenüber  sich  meine  ansieht  so  formulieren  muste:  „unsere  Eddalieder 
sind  auf  norrönem  boden,  zwar  zum  teil  schon  im  Jüngern  eisenalter' 
(nämlich  in  der  eigentlichen  wikingerzeit) ,  doch  in  der  vorliegenden 
gestalt  gröstenteils  erst  nach  dem  Jüngern  eisenalter/  und  zwar  meist 
auf  Island,  verfasst;  die  deutsche  heldensage  war  schon  in  der  wikin- 
gerzeit im  norden,  sogar  auf  norrönem  boden,  verbreitet,  ob  noch  frü- 
her ,  ob  schon  vor  dem  ausgang  des  ,  mittlem  eisenalters  ,*  ^  wissen  wir 
nicht."  Natürlich  kann  ich  die  möglichkeit  so  früher  einwanderung  die- 
ser sage  nicht  läugnen,  indem  ich  ja  eben  die  möglichkeit  so  früher 
oder  noch  früherer  einwanderung  gewisser  göttersagen  angedeutet  habe, 
ausserdem  an  so  frühe  oder  noch  frühere  einwanderungen  deutscher  her- 
schergeschlechter  mit  ihren  gefolgen  zu  glauben  geneigt  wäre,  welcher 
art  einwanderungen  natürlich  manche  deutsche  sage  sowol,  als  auch  die 
runenschrift ,  hätten  mitbringen  können. 

Ich  ergreife  diese  gelegenheit,  um  eine  berichtigung  anzubringen, 
die  am  schicklichsten  von  einem  Dänen  vorzubringen  ist,  deren  Veröf- 
fentlichung mir  aber  dennoch  in  Dänemark  schwierig  werden  würde. 
Es  haben  sich  die  dänischen  archäologen  der  jetzt  herschenden  schule 
bemüht,  und  es  ist  ihnen  auch  gelungen,  nicht  nur  in  Dänemark,  son- 
dern in  Europa  die  Vorstellung  zu  verbreiten,  dass  die  periodeneintei- 
lung  in  ein  „stein-,  ein  bronce-  und  ein  eisenalter"  eine  originale  idee 
dieser  schule,  etwas  vor  dieser  schule  nicht  dagewesenes,  eine  „ent- 
deckung"  von  selten  dieser  schule  sei.  Der  verstorbene  Thomson  habe 
zuerst  (in  Ledetraad  til  nordisk  Oldkyndighed)  im  jähre  1836  diese  idee, 
zunächst  nur  noch  als  Vermutung,  aufgestellt;  Worsaae,  und  nebenbei 
andere  Kopenhagener  archäologen  hätten  sie  dann  weiter  gesichert  und 
articuliert.^  Ich  bin  in  der  archäologischen  litteratur  wenig  belesen  und 
kann  es  nicht  unternehmen,  die  alte  natürliche  Vorstellung  von  früherem 
gebrauch  der  steine  als  der  metalle  litterarisch  zu  verfolgen.  Ich  begnüge 
mich  damit,  die  Thomsensche  entdeckung  in  ganz  demselben  umfange 
wie  1836,  schon  aus  dem  jähre  1813  zu  belegen,  nämlich  aus  der 
Udsigt  over  Nationalhistoriens  celdste  og  mcerkdigste  Perioder,  T.  I, 
2.  hälfte,  wo  die  ganze  theorie  s.  73 — 76  zu  lesen  steht.  Dies  buch  ist 
von  dem  in  Dänemark  noch  allbekanten,  aber  heutzutage  wol  nur  noch 
von  dänischen  fachmännern  der  altertumswissenschaft  gelesenen,  Vedel 

1)  D.  h.  zunächst  des  dänischen  „mittleren  eisenalters;'*  es  ist  nicht  eben  die 
meinong  der  archäologen,  dass  die  chronologischen  bestimmnngen  ganz  unverändert 
auf  Schweden  und  Norwegen  passen  müsten. 

2)  Vgl.  z.  b.  Worsaae  Blekingske  Mindesmarker  1846  s.  4  note  1 ;  und  in  Aar- 
beger  f.  vutrd.  Oldkyndighed  1866  s.  112. 


80  E.    JESSEN 

Simonsen  verfasst  S.  76  schliesst  er  seine  ansieht  in  folgende  werte 
zusammen:  „Die  waflFen  und  das  hausgerät  der  ürskandinavier  waren 
also  zuerst  von  stein  und  holz ;  später  lernten  sie  das  kupfer  zu  bearbei- 
ten (. . .  sogar  dasselbe  zu  härten^),  und,  wie  es  scheint,  am  spätesten 
das  eisen.  ...  Ihre  culturgeschichte  könte  man  also,  von  dieser  seite 
aus  betrachtet,  in  ein  stein-,  ein  kupfer-  und  ein  eisen -alter  einteilen, 
obschon  diese  keinesweges  durch  so  entschiedene  grenzen  getrent  waren, 
dass  das  eine  nicht  in  das  andere  hineingereicht  hätte,  und  dass  nicht 
die  ärmeren  klassen  nach  einführung  der  mittleren  [gerätschaften]  noch 
fortgefahren  hätten,  die  ersten  zu  gebrauchen,  so  auch  die  mittleren 
nach  einführung  der  letzten,  wie  solches  ja  auch  in  unsern  tagen  mit 
gefiissen  aus  thon,  zinn  und  porcellan  der  fall  gewesen  ist."  *  Vedel  Simon- 
sen ist  zu  loben,  weil  er  die  einfache  benennung  „kupferalter"  nicht 
mit  der  affectiert  lautenden,  und  von  allgemeinerem  Standpunkte  aus 
unpraktischen  „broncealter"  vertauschte,  obschon  es  ihm  nicht  entgan- 
gen war,  dass  das  kupfer  „gehärtet"  war.  —  Von  einer  Thomsenschen 
„entdeckung"  darf  also  die  rede  gar  nicht  sein.  Das  hauptsächlichste 
der  weiteren  gliederung  des  Systems  ist  die  aufstellung  eines  „älteren,  mitt- 
leren ,  jüngeren  eisenalters."  Worsaae  hatte  früher  den  anfang  des  eisen- 
alters  auf  c.  700  „  festgestellt. "  Wahrnehmungen  (besonders  des  archi- 
vars  Herbst)  liefen  bald  dieser  annähme  zuwider;  und  dfis  blosse  aufgeben 
einer  vollständig  aus  der  luft  gegriffenen  Jahreszahl  ermöglichte  zwei  (oder 
wenn  man  will  drei)  neue  „entdeckungen,"  die  „entdeckung  des  älteren 
eisenalters,"  und  die  „entdeckung  des  mittleren  eisenalters"  (somit  auch 
die  eines  „jüngeren").  —  Natürlich  lässt  sich  die  frage  nicht  abweisen, 
ob  die  Thomsensche  „entdeckung"  ilire  europäische  berühmtheit  einer 
nicht  -  belesenheit  der  Kopenhagener  archäologen,  oder  dem  Kopenha- 
gener kameradenwesen  zu  verdanken  hat.  Es  lässt  sich  leider  ein  nicht- 
gelesenhaben  früherer  archäologischer  arbeiten,  speciel  der  Wedel- Simon- 
schen,  sämtlichen  Kopenhagener  archäologen  nicht  zutrauen.  Und  lei- 
der steht  der  hier  besprochene  fall  nicht  vereinzelt.^    Die  entdeckungs- 

1)  ü.  h.  bronce  zu  verfertigen. 

2)  Geijers  sohwodischo  geschichte  (in  Lefflers  deutscher  Übersetzung  18.'52,  bd.  I 
8.  lO^O ,  offenbar  die  oben  ang«*fiihrte  stelle  excerpierend ,  sagt  dasselbe  in  4  Zeilen. 

3)  Eine  derbe  ])robe  dieser  oanieraderie  ist  die  note  i)  (zum  eisenalter)  p.  48  im 
Icatalog  des  Kopenbag<»ner  niuseums  für  nordische  altertümer ,  woselbst  bei  der  deutung 
der  horninschrit't  (ek  hkw((ijafiti''r  holtin(ja*r  honui  fawido)  nicht  Bugge  citiert  ^ird. 
sondern  ein  Däne,  und  somit  einem  sowol  in  Dänemark  als  in  Norwegen  öifentlich 
gertigten  attentate  gegen  das  volle,  exclusive  eigentumsrecht  Hugges  (an  diese  deutung. 
somit  an  die  darin  enthaltenen  lehren ,  dass  eine  gewisse  rune  ein  s  oder  r  finale  sei, 
dass  die  „thematischen**  vocale  «,  /,  u  auch  in  nominativen  «'rhalten  seien,  usw.,  end- 
lich an  die  einfache  Übertragung  dieser  lehren  auf  die  andern  inschriften)  in  arger  weise 


ÜBBB  DIB  BDDALIBDBB  81 

manie  in  Verbindung  mit  der  kameraderie  möchte  leicht  in  verfuhrung 
geleitet  haben.  Fast  möchte  man  einen  verdacht  hegen  ^  dass  etwaige 
gewissensscrupel  mit  der  leichtsinnigen  bemerkung  seien  beschwichtigt 
worden,  Vedel  Simonsen  spreche  ja  von  einem  „kupferalter,"  Thomson 
von  einem  „broncealter!" 

2.  Einige  monate,  nachdem  meine  abhandlung  an  die  redaction 
gesant  war,  hielt  Worsaae  einen  (aus  zeitungsreferaten  bekanten)  ver- 
trag, der  es  als  möglich  oder  wahrscheinlich  bezeichnete,  dass  diejenigen 
„  bracteaten ,"  auf  denen  man  einen  mann  (oder  köpf)  mit  einem  vogel, 
oder  mit  einem  vierfüssigen  tiere,  oft  mit  beiden,  sieht,  auf  die  Sig- 
fridsage  zu  beziehen  wären,  womit  nach  Worsaaes  (in  den  Zeitungen 
referierten)  werten  die  existenz  der  „Eddalieder"  schon  im  „mittleren 
eisenalter"  gesichert  werden  würde. ^  Ich  werde  auf  Worsaaes  Vermu- 
tung zurückkommen  können,  falls  dieselbe  in  gedruckter  darstellung 
erscheinen  wird.  Hier  will  ich  nur  ein  par  kurze  bemerkungen  geben, 
indem  ich  daran  erinnere,  dass  ich  es  nur  für  unwahrscheinlich,  nicht 
für  völlig  unmöglich  halte,  dass  die  Nibelungensage  schon  vor  dem  aus- 
gang  des  vermeintlich  „mittleren  eisenalters"  nach  dem  norden  hätte 
gelangen  können.  Ich  habe  die  abbildungen  der  bracteaten  im  Atlas  de 
Tarcheologie  du  Nord*  nachgesehen,  und  meine,  mich  überzeugt  zu 
haben,  dass  dieselben  keine  solche  beziehung  ei*weisen,  wie  es  ja  über- 
haupt unmöglich  wäre,  in  dem  manne  der  bilder  eben  den  Sigfrid  nur 
mittelst  eines  vogels,  eines  pferdes  oder  eines  drachens  zu  erkennen.* 
Specieller  ist  zu  bemerken:  1)  Der  vogel  oder  die  vögel  der  bildchen 
sitzen  nie,  wie  in  der  Sigfridsage,  auf  einem  bäume,  sondern  schweben 
über  dem  manne ,  oder  sitzen  auf  ihm  oder  dem  (vermeintlichen)  pferde ; 

Vorschub  geleistet  wird.  —  Bugge  veröffentlichte  seine  deutung,  mit  vorbehält  wei- 
terer anwendung ,  1865  in  der  Tidsknft  for  Phüologt  og  Ptedagogik,  Die  bewahmng 
der  (vermeintlichen)  „  thematischen  *'  und  anderer  im  nordischen  weggefallenen  vocale 
hätte  übrigens  schon  Mnnch  so  ziemlich  ebenso  gelehrt,  nur  dass  er  andere  casus 
statt  der  nominative  erhielt,  welche  Bugge  mittelst  des  8  (oder  r)  finale  erhält.  Es 
versteht  sich  von  selbst,  dass  die  ganz  einfache,  mechanische  Übertragung  dieses 
finalen  buchstaben  auf  andere  inschriften  (z.  b.  Tune,  Tanum,  Wamum,  Berga  usw.) 
Bugges  eigentunh  ist  (vgl.  meine  note  in  Äarhöger  for  nordisk  Oldkyndighed  og 
Historie  y  1867,  p.  275). 

1)  E.  Maurers  jüngster  (meiner  ansieht  so  günstiger)  beitrag  zu  dieser  Zeit- 
schrift accentuiert  solcherweise  die  sonderung  der  frage  nach  dem  alter  der  vorlie- 
genden lieder  von  derjenigen  nach  dem  alter  der  sage  im  norden,  dass  nunmehr 
sogar  dänische  gelehrte  diese  beiden  fragen  schwerlich  öfter  identificieren  werden. 

2)  Die  mit  inschriften  sind  auch  im  Stephensschen  runenwerke  abgebildet 

3)  Die  isländische,  im  Eopenhagener  museum  bewahrte  abbildung  Theodorichs 
stellt  diesen  zu  pferde  dar ,  von  einem  vogel  begleitet ,  und  einen  drachcn  erlegend, 

CB1T80HR.    F.   DBUT8CHB    PHILOLOOIB.     BD.  III.  6 


82  B.   JESSEN 

2)  nirgends  durchbohrt  ein  mann  einen  „wurm"  (ormr)  von  unten,  wogegen 
auf  vielen  bracteaten  ein  unbewaffneter  mann  ein  vierfüssiges  tier  vor  sich 
hat,  das  er  abzurichten  scheint,  wobei  er  oft  demselben  oder  einem  vogel 
ein  Signal  durch  emporhalten  der  band  gibt,  auf  einem  bildchen  (no.  65) 
auch  zugleich  den  daumen  in  den  mund  zu  stecken  scheint  ^  welches 
letztere  auf  die  erzählung  vom  braten  des  herzens  des  wurmes  zu  bezie- 
hen das  bild  selbst  verbietet;  3)  wo  ein  mann  oder  manneskopf  auf 
einem  vierfassigen  tiere  abgebildet  wird,  kann  dies  tier  gewöhnlich 
nicht  einmal  ein  pferd  sein,  wegen  der  hörner,  oder  des  hartes,  oder 
der  schlangenförmigen  zunge,  oder  der  gespaltenen  fasse;*  4)  wo  wir 
einen  kämpf  mit  einem  vierfassigen  tiere  sehen  (no.  73),  also  doch  am 
ehesten  etwas  specieller  zutreffendes  zu  suchen  hätten,  passt  die  darstel- 
lung  durchaus  nicht  zu  unserer  sage ,  geschweige  denn  wo  der  kampfende 
es  mit  zwei  tieren  zu  tun  hat  (no.  87).  —  Ich  bin  an  die  voreiligen 
entdeckungen  Worsaaes  so  gewöhnt,  dass  ich  mich  kaum  zu  bedenken 
hätte,  schon  jetzt  die  beziehung  auf  den  Sigfrid  für  gänzlich  aus  der 
lufk  gegriffen  zu  erklären;  indessen  ^  ich  könte  ja  später  diese  erklärung 
modificieren,  falls  tatsachen,  die  ich  nicht  bemerkt  hätte,  aufgewiesen 
würden.  —  Am  ehesten  könte  ich  es  noch  begreifen,  falls  man  in 
no.  69  —  72  des  Atlas  beziehungen  auf  die  Wielandsage  vermuten  wollte. 
Aber  sogar  dies  fö,llt  bei  genauerer  besichtigung  zusammen.  —  Dass 
die  bracteaten  nicht  auch  dem  „jüngeren  eisenalter ^'  angehören,  wird 
man  nicht  beweisen  können.  Und  somit  käme  es  bei  den  einzelnen 
bracteaten  darauf  an,  (nicht  nur  den  entstehungsort,  sondern  auch)  das 
alter  speciel  zu  bestimmen,  eine  oft  ganz  unlösbare  aufgäbe. 

3.  Zu  s.  16.  Nach  J.  Fritzner  wäre  der  name  Brede,  als 
neutral ,  daselbst  zu  streichen.  Pritzner  bemerkt  in  einem  neulich  erschie- 
nenen aufsatze,  welcher  im  zweiten  heft  des  ersten  Jahrganges  der  nor- 
wegischen historischen  Zeitschrift  s.  179  —  86  gedruckt  ist:* 

a)  dass  dieser  name,  Brede,  im  östlichen  Norwegen  gebräuchlich 
sei.  —  Hiebei  wäre  indessen  noch  zu  erinnern,  dass,  felis  die  daselbst 
übliche  form  wirklich  genau  Brede  ist,  solches  den  namen  wol  eben  als 
einen   eingeführten   charakterisieren    würde,    indem   die  lautverhältnisse 

1)  Das  tier  mit  gespaltenen  fassen  ist  auch  auf  schwedischen  runonsteinen  nicht 
unhäufig ;  die  no.  78  in  Dybccks  (jüngerem)  runcnwerke  (I)  erweist  schlagend ,  dass 
es  kein  pferd  ist,  indem  daselbst  ein  pferd  nebenbei  dargestellt  ist  Wahrscheinlich 
haben  wir  an  ein  imaginäres  tier  zu  denken;  nicht  aber  an  das  pferd  Odins,  wie 
man  gelegentlich  vermutet  hat ;  denn  dies  dachte  man  sich  als  ein  achtbeiniges  (siehe 
das  bild  in  Stephens  runenwerk  p.  224?) 

2)  „Bevise  Navnetxe  %  de  nordiske  FöZsttnj/eWflw/n,  at  disse  ere  laante  flra  Tyd- 


ÜBBB  DU  EDDALIKDBB  88 

jetziger  norwegischer  dialecte  entweder  ein  Br^e  (Brte'e)  oder  ein  Bride 
erwarten  liessen. 

Sonst  enthält  Fritzners  aufsatz  nichts,  das  irgend  welche  modifi- 
cation  meiner  bezüglichen  bemerkungen  veranlassen  könte.  Fritzners 
bemerkungen  zu  gunsten  nordischen  Charakters  der  sage  sind  nämlich 
ferner  folgende: 

b)  der  name  Sigge  sei  in  Schweden  üblich  gewesen.  —  Eben 
deswegen  habe  ich  ihn  oben,  als  einen  gewissermassen  neutralen,  weg- 
gelassen, obschon  doch  zu  bemerken  bleibt,  dass  er  auf  norrönem  gebiet 
nicht  üblich  war ,  wie  ihn  Fritzner  denn  auch  da  nur  zwei  mal  aufgefun- 
den hat,  das  eine  mal  in  einer  Urkunde  (anno  1348)  aus  Jamtaland 
(welches  übrigens  in  kirchlicher  beziehung,  und  in  ^BMtaMrii^ einer  periode 
auch  in  weltUcher ,  unter  Schweden  gehörte) ,  das  andere  mal  im  namen 
eines  hofes  in  Norwegen:  Siggagarär. 

c)  Völsungr  sei  keine  unnordische  wortform.  —  Versteht  sich; 
ist  wol  auch  von  niemand  behauptet  worden.  Gewöhnlich  wurden  ja 
fremde  germanische  namen  in  der  isländischen  litteratur  eben  in  die  cor- 
recte  norröne  form  umgesetzt. 

d)  Sinfjötli  komme  einmal  in  einer  Urkunde  des  mittelalters  als 
name  eines  Norwegers  vor.  —  Es  stellt  sich  dies  ähnlicher  weise  wie 
das  einzelne  male  vorkommende  aber  dennoch  als  unüblich  zu  bezeich- 
nende Sigfröär  (nachahmung  des  deutschen  namens  Sigfrid). 

e)  Sigurdr  sei  keine  unnordische  form.  —  Versteht  sich.  Pritz- 
ner  hat  nicht  bemerkt,  dass  das  linguistische  indicium  hier  eben  in  der 
divergenz  der  beiden  namen  Sigurdr  und  Sigfrid  liegt  (vgl.  oben  s.  17). 

f)  Gjükasteinn  konmie  als  name  eines  hofes  in  Norwegen  vor 
(jetzt  Ojösteen).  —  Da  die  form  des  namens  Ojüki  nicht  unnordisch 
ist,  würde  dieser  name  in  der  vorliegenden  frage  nur  dann  nicht  neutral 
bleiben,  wenn  er  entweder  in  Deutschland  (in  der  form  Oibich)  oder  im 
norden  üblich  gewesen  wäre.  Meines  Wissens  war  er  sowol  im  norden 
als  in  Deutschland  unüblich. ^  Das  blosse  Gjükasteinn,  eben  wie  Oibi- 
chenstein,  beweist  nur  bekantschaft  mit  der  sage^  ein  Verhältnis,  das 
keiner  beweise  bedarf,  da  wir  ja  eben  die  Eddalieder  als  hinlänglichen 
beweis  vor  uns  haben. 

g)  Erpr  sei  keine  unbedingt  unnordische  form,  sondern  im  ver- 
gleich mit  ^'orpr  nur  ein  wenig  aufifällig;  komme  auch  ein  par  mal  als 
mannsname  vor.  —  Dies  verhält  sich  so ;  weshalb  ich  auch  die  form  Erpr 


1)  Förstemann,  altdeutsches  namenbuch  (Kordhausen  1856)  1,  450  gibt  fast 
ein  dutzend  belege  für  das  vorkomroen  des  eigennamens  Gibico  bis  zum  10.  Jahr- 
hundert. Red. 

6* 


84  B.   JESSEN^  ÜBEB  DIE  EDDALIEDER 

oben  nur  als  eine  verdächtige,  nicht  als  eine  entscheidende  bezeich- 
net habe. 

h)  Jönakr  könne  wol  trotz  der  unerhörten  endung  -akr  eine  nor- 
dische form  sein.  —  Ich  kann  dies  nicht  einräumen,  und  betrachte  das 
Jönakr,  sowol  wegen  des  -akr  als  wegen  des  Jon-,  als  eine  unnordi- 
sche form. 

i)  Der  name  eines  hofes  in  Norwegen,  Nevlungen,  beweise  viel- 
leicht Verbreitung  der  sage,  indem  die  ältere  form  Niflungar  werde 
gewesen  sein,  und  dieses  erst  name  einiger  „scheren"  (klippen)  im 
meere,  hernach  auch  des  ihnen  gegenüber  aufgeführten  hofes  sei.  —  Das 
klingt  sehr  plausibel,  würde  aber  nur  Verbreitung  der  sage,  nichts  über 
deren  ursprüngliche  heimat  beweisen. 

j)  Im  namen  eines  hofes  in  Norwegen,  Hünaborg,  „könne  mau 
spur  des  einflusses  der  Nibelungensagen  zu  finden  glauben.".  ~  Die 
bescheidene  und  hypothetische  form  dieser  bemerkung  ist  zu  loben,  indem 
der  name  auch  nur  Bärenburg  bedeuten  könte,  und  überhaupt  die  vie- 
len germanischen  Ortsnamen  mit  Hün-,  Haun-j  Hün-  usw.,  nicht  spe- 
ciel  auf  die  Nibelungensage  zu  beziehen  sind,  dieses  Hünaborg  eben  so 
wenig  wie  die  isländischen  meeresbuchten  Hünaflöi  und  Hünafjörär, 
oder  wie  das  dänische  kirchspiel  Hunesogn,  die  dänischen  dorfnamen 
Hunehy,  Hundorp,  die  deutschen  Haundorf,  Haunstadt,  Haunstetten, 
Hünfeld,  Himenherg  usw.  Nicht  einmal  zu  erwähnen,  dass  ein  name 
wie  Hünahorg  uns  nichts  über  die  erste  heimat  der  sage  lehren  könte.  ^ 

Fritzner  meint  ausserdem  in  dem  norwegischen  Ortsnamen  Roä- 
marsstaäir  verglichen  mit  dem  Hroämarr  der  Helgakviää  HjörvaräS' 
sonar  ein  indicium  der  norrönen  heimat  der  Nibelungensagen  gefunden 
zu  haben.  Bei  den  übrigen  in  dieser  bemerkung  implicierten  fehlschlüs- 
sen  brauche  ich  aber  nicht  zu  verweilen,  da  dieses  lied  ja  gar  nicht  zu 
den  Nibelungenliedern  gehört,  sondern  eine  norröne  sage  behandelt. 

KOPENHAGEN.  E.   JESSEN. 

1)  Eine  ansprechende  etymologie  nnd  erklärung  von  hün  und  den  damit  zusam- 
mengesetzten namen  gibt  G  e  r  1  a  n  d  in  Kuhns  Zeitschrift  ftlr  vergleichende  Sprachfor- 
schung 10,  275  fgg.  Red. 


85 


DIE  NITHARDHANDSCHRIFT  UND   DIE   EIDE  VON 

STRASSBUßG. 

Seit  längerer  zeit  schon  spürte  ich  der  vielberufeuen  einzigen  Nit- 
hardhandschrift  nach,  die,  abgesehen  von  ihrem  historischen  werte,  für 
mich  ganz  besonders  interessant  war  wegen  der  berühmten  eidschwüre  vom 
jähre  842,  dieser  ältesten  denkmäler  der  deutschen  mid  französischen 
spräche,  welche  keiner  der  deutschen  gelehrten,  die  darüber  geschrieben, 
im  original  zu  gesiebte  bekommen  hat  und  auch  von  französischer  seite 
seit  fünfzig  jähren ,  so  viel  ich  weiss ,  nur  ChevaUet.  Die  abweichungen 
der  facsimiles ,  die  nur  auf  ungenauigkeiten  der  widergebung  beruhen  kon- 
ten,  so  wie  einzelne  schwierigere  stellen  Hessen  eine  nachvergleichung 
immerhin  noch  als  wünschenswert  erscheinen.  Trotz  der  einschlägigen 
äusserungen  bei  Pertz^  und  Chevallet*  war  es  mir  durch  die  mitteilung 
eines  französischen  gelehrten,  (der  mir,  nicht  ohne  einige  geheimnis- 
tuerei,  den  codex  bei  günstiger  gelegenheit  einmal  auf  der  bibliothek  zu 
zeigen  versprochen),  voUkonmien  bekant,  dass  diese  wertvolle  handschrift 
per  fas  et  nefas  noch  immer  in  der  Pariser  kaiserlichen  bibliothek  auf- 

1)  Mon.  SS.  II»  650  „Sed  enm  (Frebeniin)  nonnunqnam  fefellisse,  ectypon  a 
V.  Cl.  Roquefort  in  glossario  lingnae  Bomanicae  public!  juris  factum  atque  a  nobis 
repetitum  et  collatio  codicis  nobiscum  communicata  evidentissime  ostendunt.  Siqui- 
dem  codex  saeculo  XYII.  bibliotbecae  Palatinae  Yaticanae  sub  numero  1964  inlatus 
bello  ultimo  Parisios  rediit  ibique  a  Cl.  Roquefort  evolutus  et  ab  alio  viro  docto 
cuius  nomen  ignoro  rei  tamen  diplomaticae  peritissimo  cum  editione  Bouquetiana 
dUigentissime  collatus  est.  Mox  Italio/e  redditus  Romcie  lotet,  nee,  vel  maxitna  cu/ra 
nostra  adhibita  üerum  emersit.  Sed  quo  plurimum  gratulandum  nobis  censemus, 
collationem  istam,  in  qua  nihil  desiderari  posse  videtur  flagitantibus  nobis  summa 
cum  benivolentia  transmisit  V.  Ol.  Gu^rard  bibl.  reg.  adscriptus  etc."  Was  übri- 
gens Freher  anlangt,  so  ist  zu  seiner  entschuldigung  anzuführen,  dass  er  die  hand- 
schrift ebensowenig  gesehen,  wie  irgend  ein  anderer  deutscher  gelehrter,  trotz  Mass- 
manns ausdrücklicher  behauptung  des  gegenteils  {Äbschwörungsformeln ,  p.  57,  anm. 
49).  In  dem  seiner  abhandlung  Yorangehenden  dedicationsschreiben  an  den  bekanten 
Bongars  (den  samler  der  wertvoUen  mss. ,  die  heute  die  zierde  der  Bemer  stadtbi- 
bliothek  ausmachen),  dankt  er  jenem  ausdrücklich  dafür,  dass  er  den  damals  in  Peta- 
vius  besitz  befindlichen  Nithard  für  ihn  collationiert.    (Siehe  Dom  Bouquet,  VU,  35). 

2)  A.  de  Chevallet,  origme  et  formation  de  la  langtie  frangaüe  1  (1853)  p.  83: 
„J'ai  fait  faire  avec  grand  soin  11  y  a  plusieurs  annees  un  fac-simile  des  serments 
apres  un  ms.  de  Nithard  provenant  de  la  biblioth^que  du  Vatican  et  depos^  a  la 
bibliotheque  nationale.  C'est  un  Yolume  en  velin  petit  in-folio  a  deux  colonnes 
d'une  belle  Venture  du  IX*  si^le  ou  du  commencement  du  X*  il  est  cot^  Vat. 
no.  1964.  Deptiis  lors  ce  ms.  est  retowme  ä  Borne  et  doit  avoir  ^  rHntigre  dans 
la  bibliotfUgit*e  du  Vontican." 


86  BBAKELMAKM 

bewahrt  werde  und  dass  Frankreich  den  widerholten  reclamationen  der 
päpstlichen  regierung,  welche  ihren  kostbaren  palatinus  1964  gern  wider- 
gehabt hätte,  andauernd  nur  ein  taubes  ohr  geliehen.  Die  art  aber, 
wie  man  Pertz  zu  mystificieren  gesucht^  und  die  ausdrücke,  in  denen 
noch  Chevallet  (1853)  von  der  handschrift  spricht  (anm.  2),  schreckten 
mich  ab,  einen  directen  versuch  bei  den  bibliotheksbeamten  zu  machen, 
zumal  ich  weder  in  den  geschriebenen  noch  in  den  gedruckten  catalogen, 
die  damals  in  der  abteilung  für  handschiiften  zugänglich  waren  ^  den 
codex  nachgewiesen  -fand.  Es  überraschte  mich  daher  einigermassen, 
als  im  September  dieses  jahres  mein  freund  dr.  Wilhelm  Arndt ,  der  sich 
gerade  mit  der  geschichte  der  Karolinger  beschäftigte  und  mit  dem  ich 
von  der  handschrift  sprach,  behauptete,  dieselbe  in  einem  der  in  der 
hiUiotheque  de  Vicde  des  chartes  von  Leopold  Delisle  veröffentlichten 
cataloge  des  Fonds  lafin  verzeichnet  gesehen  zu  haben.  Sofortige  nach- 
suchungen in  dem  betreffenden  catalog,  der  erst  seit  km-zem  im  manu- 
scriptensaale  aufgestellt  war,  ergaben  kein  resultat  und  ich  glaubte  an 
einen  irtum  oder  an  eine  Verwechselung  mit  der  auch  im  handschriftlichen 
cataloge  des  Supplement  latin  (Catalogue  des  mss.  latins  du  nouveau 
fonds  du  Roi,  Auteurs,  II)  verzeichneten,  früher  dem  kloster  Sfc  Victor 
zugehörigen  abschrift  aus  dem  fünfzehnten  Jahrhundert,  worin  die  schwüre 
ausgelassen.^  Nach  einiger  zeit  gelang  es  dr.  Arndt  jedoch,  die  betref- 
fende erwähnung  in  Delisles  Inventaire  des  mss.  conservis  ä  la  hiUio- 
theque  imperiale  sous  les  n""  8823  — 11503  du  fonds  laiin  1863,  p.  49 
vdderzufinden.  In  der  tat ,  da  stand  der  Nithard  verzeichnet ,  nur  ganz 
kurz  in  einer  zeile  (9767.  Hist.  de  Nithard.  IX.  s.),  ohne  anführung  des 
in  derselben  handschrift  befindlichen  Flodoard,  wie  versteckt  unter  längeren 
titeln,  und  war  mir  deshalb  früher  bei  flüchtiger  durchsieht  des  betreffenden 
catalogs,  in  welchem  ich  überdies  ein  manuscript  nicht  suchte,  welches 
die  bibliothekverwaltung  so  lange  sorgfältig  verheimlicht,  völlig  entgan- 
gen. Ob  die  gründe,  welche  die  französische  regierung  resp.  die  biblio- 
theksverwaltung  zu  solcher  Verheimlichung  veranlassten,  heute  nicht  mehr 
obwalten,  weiss  ich  nicht;  vielleicht  verdankt  sie  den  unbestrittenen 
besitz  des  Schatzes  der  dankbarkeit  des  papstes  für  den  wirksamen  bei- 
stand, welchen  Frankreich  ihm  in  der  behauptung  seines  territoriums 
geleistet  —  genug,  der  codex,  wenn  auch  in  den  schränken  der  reserve 

1)  Pertz  hat  dies  ohne  zweifei  wol  gemerkt,  wenn  er  es  auch,  ans  rücksioht 
auf  die  bibliothekverwaltung,  in  seinen  oben  angeführten  Worten  nicht  zwischen  den 
Zeilen  lesen  Hess.  Die  frisch  geschriebene  collation  Gnerards,  die  ihm  dieser  (wie 
dr.  Arndt  mir  mitteilt)  als  längst  von  einem  ungenanten  gemacht,  stückweise  über- 
lieferte, hat  den  erfahrenen  gelehrten  wol  kaum  täuschen  können. 

2)  Früher  St.  Victor  287,  jetzt  Fonds  latin  14663.    Siehe  unten  s.  89. 


DIE  STRASaBUBOER  EIDE  87 

sorgföltig  verschlossen,  wurde  auf  verlangen  unweigerlich  hervorgeholt 
und  zur  benutzung  gegeben.  Dr.  Arndt,  welcher  die  handschrift  zum 
behufe  einer  neuen  ausgäbe  nochmals  zu  vergleichen  beabsichtigte,  schaffte 
die  Pertzsche  ausgäbe  und  das  facsimile  in  den  scriptores  herbei,  ich 
besorgte,  für  die  schwüre,  Roquefort,  Raynouard,  Diez,  Chevallet,  Mül- 
lenhoff  und  was  sonst  von  litteratur  erforderlich,  und  wir  begannen  eine 
neuvergleichung,  deren  resultate  ich  im  nachfolgenden  gebe. 

Diese  resultate  sind  an  und  iur  sich  nicht  sehr  bedeutend  und  neh- 
men ihren  wert  nur  aus  der  Wichtigkeit  der  denkmäler ,  um  deren  Wort- 
laut es  sich  hier  handelt  Immerhin  aber  sind  sie  noch  beträchtlich 
genug,  wenn  man  bedenkt,  dass  vier  facsimiles  (Roquefort,  de  Mourcin, 
Pertz ,  Chevallet)  dieser  texte  in  die  Öffentlichkeit  gekonmien  sind.  Dass 
überhaupt  diese  palaeographischen  nachtrage  möglich  sind,  erklärt  sich 
zum  teil  aus  der  ungenauigkeit  der  facsimiles,  zum  grösseren  teile  daraus, 
dass  keiner,  der  die  schwüre  veröffentlicht  und  erklärt  hat,  in  der  läge 
gewesen  ist  oder  sich  die  mühe  gegeben  hat,  die  Schreibweise  und 
namentlich  die  corrigierweise  des  copisten  im  zusammenhange,  sowol  im 
übrigen  texte  des  Nithard  als  im  Flodoard  (der  von  demselben  Schreiber 
herrührt)  zu  studieren.  Nicht  einmal  letzteren  umstand  hat  man  gekaut 
oder  beachtet ,  sonst  hätte  man  wol  kaum  den  codex  noch  in  das  9.  Jahr- 
hundert setzen  können,  da  Flodoard  erst  894  geboren  ist. 

Ich  schicke  eine  genaue  beschreibung  der  handschrift  voraus,  da 
eine  solche  nirgends  existiert  und  auch  Pertz  eine  solche  zu  geben  nicht 
im  stände  war,  da  er  nur  die  coUation  von  Guörard  zu  gesiebte  bekam. 

Ms.  des  Fonds  latin  9768   (früher  Suppl  latin   623). 

Die  handschrift  umfasst  46  blätter  pergament  in  quart,  nämlich 
sechs  quatemionen,  von  denen  die  dritte  durch  fehlen  zweier  blätter 
nach  fol.  18  unvollständig.  Da  beide  in  der  handschrift  enthaltene  werke 
vollständig  sind,  so  scheinen  die  beiden  fehlenden  blätter  vor  der 
benutzung  ausgeschnitten;  in  der  nat  stehen  noch  schmale  pergament- 
streifen über,  so  dass  die  correspondierenden  blätter  im  heft  vollstän- 
dig fest  sitzen.  Vom  blatt  18  selbst  ist  nur  ein  kleines  stück  erhalten; 
nach  Vollendung  der  handschrift  scheint  das  hier  am  ende  des  Nithard 
freigebliebene  pergament  weggeschnitten  zu  sein,  um  anderweitig  ver- 
want  zu  werden.  Jede  seite  hat  zwei  columnen  zu  33  zeilen,  die  mit 
dem  griffel  vorgezeichnet ,  beziehungsweise  eingeritzt  sind,  wie  das  bis  zum 
ende  des  12.  Jahrhunderts  die  regel  war.  Der  einband  ist  ein  schweins- 
lederband des  17.  oder  18.  Jahrhunderts,  er  stamt  aus  der  zeit,  da  die 
handschrift  dem  vatican  angehörte  und  trägt  die  Ordnungsnummer  (1964) 


88  BBAKWT.MANW 

dieser  bibliothek  in  gold  gepresst  auf  dem  rücken ,  wie  andere  handschrif- 
ten  der  kaiserlichen  bibliothek ,  die  früher  dem  vatican  angehörten ,  z.  b. 
die  proven9alischen  Chansonniers  F.  fr.  12473  und  12474,  welche  die 
vaticannummern  3204  und  3794  noch  auf  dem  rücken  tragen.  Von 
einem  noch  früheren  besitzer  des  Nithard  zeugt  der  name  Pdavius  auf 
dem  unteren  rande  des  fol.  1'  und  oben  rechts  von  derselben  band: 
Q  50,  welches  die  ordnungsnuramer  in  Petavius  bibliothek  zu  sein  scheint. 
Aus  seiner  zeit  und  wol  auch  von  ihm  ist  die  foliierung  der  handschrift 
in  arabischen  Ziffern,  sowie  eine  anzahl  randglossen  und  die  ausfallung 
einer  lücke  (bei  der  teilung  unter  Karl  und  Ludwig  im  jähre  843).  Aus 
ziemlich  neuer  zeit  endlich  stammen  die  Stempel  der  Pariser  kaiserlichen 
bibliothek  auf  dem  r°  des  ersten  und  dem  v"  des  letzten  blattes.  Merk- 
würdiger weise  ist  der  Stempel  der  ersten  republik ^  über  den  Stempel 
gedruckt,  der  nach  Leopold  Delisles  Versicherung  nur  unter  der  restau- 
ration  angewendet  wurde,*  letzterer  scheint  sogar  auf  dem  v**  des  letz- 
ten blattes  absichtlich  verwischt. 

Was  den  inhalt  der  handschrift  anlangt,  so  reichen  die  annalen  des 
Nithard  von  fol.  1'  — 18';  fol.  18""  ist  leer,  (von  dem  ganzen  blatt  ist, 
wie  schon  angeführt,  nur  ein  fragment  übrig,  da  alles .  unbeschriebene 
weggeschnitten)  ebenso  fol.  19';  auf  fol.  19"^  folgen,  von  demselben  Schrei- 
ber geschrieben,  die  annalen  des  Rheimser  domherrn  und  kirchenarchi- 
vars  Flodoard,  das  hauptwerk  dieses  nachfolgers  des  Hincmar,  welche 
von  919  —  966  reichen.  Auch  die  Zusätze  eines  unbekanten  Verfassers 
über  die  jähre  976  —  978  sind  von  demselben  Schreiber  nachgetragen, 
ein  beweis,  dass  die  handschrift  auf  keinen  fall  über  das  ende  des 
10.  Jahrhunderts  zurückreicht.  Es  kann  also  keine  rede  davon  sein,  die 
handschrift  „frühestens  an  das  ende  des  9.  Jahrhunderts  zu  setzen,"  was 
Diez  {Altr.  sprachd.  p.  3)  Pertz  (SS.  11,  650  „quamvis  ex  specimine 
scripturae  saeculo  nono  decimove  tribuamus)  und  andere  für  möglicli 
hielten,  natürlich  ohne  zu  wissen,  dass  der  Flodoard  in  derselben  hand- 
schrift steht  und  von  demselben  schreiber  herrührt  Die  handschrift 
gehört  sicherlich  frühestens  dem  ende  des  10.,  möglicherweise  gar  erst 
dem  anfang  des  11.  Jahrhunderts  an,  da  auch  die  annalen  des  Flodoard 
nicht  das  original,  sondern  nur  eine  ziemlich  fehlerhafte  abschrift  sind. 

1)  B.  und  F.  (B^publique  fran9aise)  monogrammatiBch  verschlungen,  mit  der 
Umschrift  Btbliotheque  nationale;  die  zweite  republik  hatte  dieselbe  Umschrift,  nur 
Bi  und  F.  in  lateinischen  majuskeln  getrent  nebeneinander. 

2)  Drei  lilien  in  ovalem  felde ,  von  der  kröne  überragt  und  mit  der  Umschrift 
Bibliothique  roytüe,  fast  derselbe  Stempel,  nur  mit  kreisrundem  felde,  scheint  am 
ende  des  ancien  rigime  im  gebrauch  gewesen;  ihn  tragen  alle  handschriften  des 
Fonds  Cangi, 


DIB  STaASSBUBGXa  EIDE  89 

Wie  der  Flodoard,  so  ist  auch  der  Nithard  ziemlich  fehlerhaft 
geschrieben.  Der  Schreiber  hat  sich  oft  selbst  corrigiert;  doch  ist  auch 
die  band  eines  gleichzeitigen  correctors  zu  unterscheiden,  der  nament- 
lich SS.  n.  663,  32  das  „in  basilicam  ubi  nunc  quiescunt"  mit  verwei- 
sungszeichen  am  unteren  rande  nachgetragen  hat.  An  derselben  stelle  hat 
eine  dritte  band  die  heiligennamen  bis  ^.Botomagorum  archiepiscopi" 
am  rande  rechts  nachgetragen.  —  Der  rubricator,  für  den  der  räum 
zu  initialen  und  Überschriften  freigelassen  ist ,  scheint  sein  werk  gar  nicht 
einmal  begonnen  zu  haben ,  wenn  nicht  etwa  die  grüne  färbe ,  mit  welcher 
anfangsbuchstaben  bei  absätzen  und  satzanfängen  auf  den  beiden  ersten 
Seiten  ziemlich  grob  bemalt  sind,  für  einen  begin  gelten  soll.  —  Die 
älteren  und  neueren  besitzer  des  Nithard  sind  mit  dem  schätze  nicht 
allzu  sorgsam  verfahren,  wie  eine  anzahl  dintenflecke,  zum  teU  nicht 
ohne  schaden  des  textes,  bezeugen. 

Die  zweite  Nithardhandschrift ,  ebenfalls  in  der  kaiserlichen  biblio- 
thek  (Fonds  latin  14663,  früher  St.  Victor  287)  ist  eine  abschrift  der 
eben  beschriebenen,  die  im  15.  Jahrhundert  genonmien  worden  ist,  und 
hat  mithin  keinen  selbständigen  wert  Es  ist  eine  papierhandschrift,  im 
kloster  St.  Victor  aus  allerlei  mss.  desselben  klosters  und  anderer  sam- 
lungen  zusanmiengeschrieben.  Ich  nenne  unter  den  etwa  dreissig  bis 
vierzig  werken ,  die  sie  enthält ,  nur  ,^ndulphi  de  Columpna  tractatus 
de  statu  Romani  imperii/'  eine  Chronique  de  Normandie  (1087  — 1239) 
und  eine  merkwürdige  lateinische  anecdote  über  den  Ursprung  des  könig- 
reichs  Tvetot.^  Nithard  und  Flodoard  beschliessen  die  handschrift,  der 
Schreiber  hat  sie  (nach  einer  bemerkung  am  ende  des  Nithard)  für  öin 
werk  genommen.  Wir  erfahren  dabei  gleichzeitig,  dass  das  original 
damals  der  abtei  St  Magloire  gehörte.  Die  abschrift  hat  weder  buch- 
überschriften  noch  capitelabteüungen ;  für  die  eide  ist  die  hälfte  von 
fol.  286'  freigelassen,  auch  hat  der  Schreiber  die  von  dritter  band  nach- 
getragenen heiligennamen  (SS.  II.  663,  u.  ob.)  unberücksichtigt  gelassen, 
während  er  die  einschaltung  zweiter  band  in  basilicam  —  quiesctmt  in 
den  text  au&ahm. 

Dom  Bouquet  hat  die  abschrift  far  seine  ausgäbe  benutzt ,  in  erman- 
gelung  des  Originals,  das  damals  schon  im  vatican  war  (recueil  des 
historiens,  VII,  11). 


1)  Ein  vollständiges  inhaksverzeichnis  findet  sich  bei  Leopold  Delisle:  Ifwen- 
taire  des  manuscrita  de  Vobbaye  de  Saint -Victor  conservis  ä  la  btblioMque  impi' 
riale  sotis  lea  numiros  14232—15175  du  fonds  Icttin,  Paris,  Durand  et  Pedone 
Lanriel,  1869,  p.  37. 


90  BBAKELMANN 

Die  facsimiles. 

Facsimiles  der  eide  finden  sich 

1)  bei  Boquefort,  Glossaire  de  la  langue  romane  I,  XX. 

2)  De  Mourcin,  Serments  pretös  ä  Strasbourg.    Par.  1815.  XIV. 

3)  Pertz,  SS.  ü.  777. 

4)  De  Chevallet,  origine  et  formation  de  la  langte  frangaise  I,  83. 

Die  facsimiles  bei  De  Mourcin  und  Pertz  stammen  aus  Roquefort,  das 
Ghevallets,  welches  nur  die  romanischen  eide  umfasst,  ist  selbständig, 
aber  wenig  sorgfältig  ausgeführt.  De  Mourcins  facsimile  ist  das  beste, 
weil  er  das  ungenaue  specimen  bei  Roquefort  nach  neuvergleichung  der 
handschrift  berichtigt. 

Es  war  mir  aufgefallen,  dass  das  facsimile  bei  Pertz  zu  dem  bei 
Roquefort  gar  nicht  stimte  und  vielfach  ein  falsches  zeichen,  einen  fal- 
schen buchstaben  gab,  wo  jener  das  richtige  hatte.  Namentlich  steht 
bei  Pertz  in  damno  fit  (st.  sit)  und  darnach,  ebenso  schwarz,  wie  von 
alter  band ,  ein  strich ,  der  im  original  aus  Petavius  zeit  herrührt  und  in 
Boqueforts  facsimile  nicht  reproduciert  ist,  ebensowenig  wie  da  fi;t  steht; 
femer  liest  Pertz  deutlich  sie  hex  bei  R.  richtig  sie  hec;  weiter  bei  Pertz 
geganga,  bei  R.  richtig  gegango;  tärorumque  populus  quiq*  bei  Pertz, 
qui;  richtig  bei  R.;  und  noch  andere  kleinigkeiten ,  wie  sorbrihchit  far 
forbrihchit  u.  a.  m.  Nicht  am  wenigsten  war  dabei  unklar ,  woher  Pertz 
den  strich  hatte,  der  bei  Roquefort  sich  nicht  fand,  wol  aber  im  origi- 
nal, das  der  herausgeber  der  monumenta  doch  nicht  gesehen.  Es  lag 
nahe,  anzunehmen,  dass  Gußrard,  der  die  an  Pertz  überlieferte,  „von 
einem  unbekanten  aber  sehr  geschickten  paläographen'^  genonmiene  col- 
lation  natürlich  auch  selbst  gemacht  hatte,  auch  die  Roquefortsche  col- 
lation  in  seiner  weise  neuverglichen  und  verbösert  Ich  bemerkte  jedoch 
bald,  dass  De  Mourcin  in  seiner  abhandlung  verschiedene  ungenauigkei- 
ten  in  dem  facsimile  Roqueforts  rügte  (z.  b.  p.  39.  71.  81  u.  a.  a.  o.), 
die  ich  nur  in  dem  der  Scriptores  bemerkte.  Von  den  anmerkungen 
Massmanns  {Ahsehwikungsforrndn  180  — 182,  anm.  3.  6.  7.  9.  10)  zu 
Roqueforts  facsimile  lässt  sich  dasselbe  sagen ,  sie  finden  nur  auf  das  fac- 
simile bei  Pertz  auwendung.  Es  scheint  mir  daraus  zur  evidenz  hervor- 
zugehen ,  dass  in  einer  anzahl  von  exemplaren  des  Glossaire  de  la  langt^e 
roniane,  namentlich  in  den  beiden  der  Pariser  kaiserlichen  bibliothek, 
welche  ich  verglichen  habe,  das  ältere  höchst  fehlerhafte  facsimUe,  auf 
welches  sich  De  Mourcin  und  Massmann  beziehen  und  welches  Pertz  in 
den  Scriptores  reproduciert  hat,  herausgenonmien  und  durch  ein  correc- 
teres  (vielleicht  nach  Mourcins  berichtigter  tafel)  ersetzt  worden  ist 
Leider  aber  basieren  sämtliche  deutsche  bearbeitungen  der  schwüre  auf 


DIE  8TBA8ABUROBB  EIDE  91 

dem  facsimile   bei  Pertz,  beziehungsweise  auf  dem  fehlerhaften  speci- 
men  bei  Roquefort. 

Ich  gehe  jetzt  zu  den  paläographischen  nachtragen  und  berichti- 
gungen  über. 

Der  schwur  Ludwigs  des  Deutschen. 

en  avant  Diez  bemerkt  hierzu:  (AUr,  sprachd,  7)  „Pertz  emen- 
diert  ohne  not  in  avatU/' 

in  avant,  welches  auch  Massmann  {Ahschwörungsformdn  p.  58 
anm.  50)  als  falsch  bei  Pertz  rügt ,  ist  nicht  emendation  desselben ,  son- 
dern correctur  erster  band  im  ms.,  wie  das  auch  auf  sämtlichen  facsi- 
miles  deutlich  zu  sehen  ist  Das  lang  durchgiezogene  i ,  ähnlich  einem  j, 
komt  auch  sonst  in  der  handschrift  häufig  vor,  z.  b.  fol.  35" b:  sciljcd, 
fol.  35''  a :  vjsi  —  regelmässig  aber  ist  es ,  wenn  ein  vocal  in  i  verändert 
wird;  es  wird  dann  direct  auf  den  vocal  geschrieben  und,  zum  zeichen 
der  correctur,  lang  durchgezogen.  So  ist  olsidebus  fol.  32' a  zeile  19 
v.  0.  in  absidibus  corrigiert;  fol.  32' b  stand:  rdicto  Remis  Hugone  dia- 
cono  Heriherto  ßio ,  es  ist  in  der  angegebenen  weise  Heriberti  corrigiert. 
Fol.  45''b,  z.  15  V.  0.  stand:  QuiqtteSemis  ordinatur  ah  episcopos,  durch 
daraufgeschriebenes  langgezogenes  i  ist  episcopis  corrigiert.  Der  mis- 
laut,  woran  sich  Diez  stösst,  muss  also  wol  zugelassen  werden  und  die 
sprachliche  consequenz  des  denkmals ,  in  dem  in  nun  sieben  mal  gebraucht 
ist,  ist  nur  um  so  grösser.* 

salvarai  eo  salvara^eio  bei  Pertz  ist  druckfehler,  oder  fehler  in 
Gu^rards  collation.  Der  codex  bietet  also  diese  Schreibung ,  die  übrigens 
nach  den  bei  Diez  (p.  8)  angeführten  beispielen  zu  rechtfertigen  wäre, 
wirklich  nicht,  seine  lesart  wird  übrigens  auch  von  sämtlichen  facsimiles 
getreu  reproduciert. 

ei  in  adiudha  Das  erste  d  ist  im  ms.  durch  daruntergesetzten 
punkt  deutlich  expungiert,  was  alle  facsimiles  und  herausgeber  vernach- 
lässigt haben.  Der  Schreiber  expungiert  zuweilen  mit  zwei  punkten, 
einem  oberhalb  und  einem  unterhalb  des  zu  tilgenden  buchstabens,  wie 
geUu  (Pertz  separatabdr.  d.  Nith.  p.  40)  und  ad  (ibid.  p.  51)  —  mit 
einem  punkt,  wenn  die  correctur  darüber  geschrieben  wird,  wie  gra- 
tenter  fol.  3'a;  indulxü  fol.  4'b;  sacramentam  fol.  12^b;  aber  auch  wenn 
dies  nicht  der  fall,  ist  die  expunction  mit  nur  einem  darunter  gesetzten 
punkte  häufig,  z.  b.  SteUingua  fol.  15' a  (Pertz  separatabdr.  p.  46).  Ganz 
in  derselben  weise  ist  auch  eidem  etwas  weiter  unten  expungiert,  wo  die 

1)  Bnrgay  {grammaire  de  la  langue  (Totl  I,  19)  hat  übrigens  das  facsimile 
richtig  gelesen,  ebenso  Müllenboff  (Denkmäler  p.  479). 


92  BRAKELMANN 

Schreibung  Steilinga  ausserdem  die  richtigkeit  der  ersten  correctur  belegt. 
Es  heisst  da  fol.  15'b:  „Igitur  metuens  Lodhuvicus  ne  eidem  Nortmanni 
necnon  et  Sdavi  propter  affinitatem  Saxonibus  qui  se  Stellinga  nomi- 
naverant  etc.  Auch  fol.  18'  ist  inteperiaes  ebenso  corrigiert.  In  dersel- 
ben weise ,  wie  die  richtigkeit  der  correctur  Stellinga  in  der  oben  ange- 
führten belegstelle ,  wird  die  richtigkeit  der  correctur  aiudha  in  unserem 
denkmale  dui'ch  das  später  wider  vorkommende  aiudha  belegt;  es  ist 
also  falsch,  umgekehii  in  diesem  zweiten  falle  das  in  der  ersten  stelle 
corrigierte  erste  d  (oditMlha)  widerherzustellen,  wie  einige  herausgeber 
getan  haben. 

Für  den  vocalischen  oder  consonantischen  Charakter  des  i  (vgl.  die 
bemerkung  von  Diez,  Spra^ihd.  8)  in  aiudha,  aiue  ist  übrigens  eine 
laisse  aus  dem  Oxforder  Alexander  (Bodleian  libr.  264  f.  128')  besonders 
interessant,  die  ich  bei  Michel,  Chronique  des  dues  de  Normandie  II, 
516  mitgeteilt  finde.  Die  Wörter  aiue  und  liue  stehen  daselbst  mit 
hastive  pensive  trive  in  assonanz.  Äius  oder  ajiie  findet  sich  übrigens 
noch  in  der  burgundischen  Übersetzung  der  predigten  des  heiligen  Bern- 
hard (Fonds  fran9ais  24768  fol.  1'),^  die  wol  kaum  älter  als  das  letzte 
drittel  des  12.  Jahrhunderts,  während  das  ms.  aus  dem  anfange  des  13. 

salvar  dist  Burguy  meint,  dass  hier  ebensogut  dift  gelesen  wer- 
den kann  (Grammaire  I,  20).  Trotz  genauester  besichtigung  der  hand- 
schrift  und  vergleichung  sonstiger  st  kann  ich  mich  davon  nicht  über- 
zeugen; es  steht  da  dist.  Ob  f  und  t  in  der  selten  vorkommenden  Ver- 
bindung fl  verbunden  werden,  wie  s  und  ^,  steht  zu  bezweifeln.  Die 
Schwierigkeit  debet:  dist  bleibt  freilich  bestehen;  ob  sie  durch  die  lesung 
dift  gehoben  wäre? 

alzresi  in  Pertz  facsimile  ist  fehlerhaft  widergegeben,  es  steht  t 
da,  ebensogut  wie  zwei  zeilen  weiter 

Sit  statt  fit  und  in  den  lateinischen  einleitungs werten  zum  schwüre 
Karls  hec  und  nicht  hex  steht. 

Schwur  Karls   des  Kahlen. 

scal  in  thiu  Nach  MüllenhofT  (Denkm.  p.  479)  soll  im  ms.  iu 
stehen;  das  n  ist  deutlich. 

so  sama  Grimm  (SS.  U.  666,  anm.  49)  vermutet,  dass  vielleicht 
auch  in  der  handschrifb  sama  zu  lesen  ist,  wenn  man  genau  sieht.  Es 
steht  deutlich  soso  I  ma. 


1)  Die  stelle  ist  gedruckt  bei  Leroux  de  Lincy,  Lee  qacUre  livrea  des  rois 
p.  521)  der  ajt^e  schreibt,  wie  Michel  im  Charlemagne  und  die  herausgeber  des  Roland. 


DIB  8TBA88BUBOBB  BIDB  93 

indi  mit  Ludheren  Nach  Müllenhoff ,  479  soll  hier  die  handschrift 
luohcren  haben ;  in  der  handschrift  ist  von  einem  o  nichts  zu  sehen  und 
diese  lesart  verdankt  wol  der  bemerkung  Grimms:  (SS.  II.  666,  zeile  45 
der  anm.,  2.  col.)  „vielleicht  ist  luoheren  ludheren  mit  oben  erbliche- 
nem oder  übersehenem  strich"  ihren  Ursprung. 

ne  gegangu  Grimm  sagt  (SS.  U.  666,  1.  col.  d.  anm.  z.  öl): 
„Das  voranstehende  geganga  ist  allzu  deutlich,  als  dass  man  gegangu 
lesen  k5nte,  wie  die  grammatik  fordert,  möglich,  dass  der  Schreiber  in 
dem  ihm  vorliegenden  text  u  far  a  nahm  und  a  setzte."  Auch  Müllen- 
hoff und  die  anderen  herausgeber  notieren  nach  dem  an  dieser  stelle 
geradezu  gefälschten  Boquefortschen  facsimile  resp.  der  Pertzscheu  repro- 
duction  geganga  als  lesart  des  codex ,  während  da  deutlich  gegango  steht, 
wie  De  Mourcin  schon  1815  erkante.  Derselbe  gelehrte  gibt  in  seiner 
schon  mehrfach  citierten,  sehr  sorgfilltigen  arbeit  folgende  aufklärung 
über  die  entstehungsgeschichte  der  Koquefortschen  lesart  (p.  71):  „Selon 
le  facsimile  de  M.  de  Roquefort  on  auroit  nege  ganga.  Cette  fatäe  pro- 
ment  de  ce  que  la  derniere  lettre  de  gegango  etant  couverte  dienere  et 
entierement  illisihle,  M.  de  Roquefort  a  cru  devoir  y  suppleer  un  a« 
L'o  etoit  preferalle.  Au  surplus  la  ta^he  etoit  recente;  je  Vai  legerement 
frottee  avec  le  bout  du  doigt  et  un  peu  de  salive;  Vo  s^est  alors  parfai- 
tement  decouvert, "  —  De  Mourcin  hat  ,den  dintenfleck  so  gründlich 
abgerieben,  dass  heute  kaum  noch  spuren  davon  sichtbar  sind;  das  o  ist 
ganz  deutlich.  Als  curiosum  notiere  ich,  dass  Marquard  Freher,  der 
auch  (nach  ßongars  coUation)  gegango  liest,  hier  gefango  bessern  möchte. 

the  minan  Auch  die  handschrift  hat  the,  nicht  ehe;  wenn  die 
untere  ecke  des  t  nicht  so  rund  geworden  wie  gewöhnlich,  (so  spitz  wie. 
im  facsimile  ist  sie  jedoch  im  codex  nicht)  so  rührt  das  offenbar  (nach 
dr.  Arndts  scharfsinniger  bemerkung)  daher,  dass  die  feder  sich  an  der 
besonders  stark  vorgerissenen  linie  gestossen.  Es  ist  daher  durchaus 
nicht  notwendig,  das  t  graphisch  füi*  ein  z  zu  nehmen  und  ein  verse- 
hen des  Schreibers  anzunehmen  (vgl.  Grimm  SS.  II.  666,  anm.  col.  1 
z.  49  —  51). 

Schwur  der  romanischen  Völker. 

quique  in  den  lateinischen  einleitungsworten  ist  bei  Roquefort - 
Pertz  schlecht  widergegeben  (quiq*  statt  quiq;). 

que  son  fradre  druckt  Diez  ohne  bemerkung,  während  die  hand- 
schrift deutlich  quae  {que  mit  cßdille:  quf)  hat.^ 

« 
1)  So  auch  Pertz  und  Müllenhoff. 


94  BRAKELKANN 

Lodhuwig  Die  handschrift  hat  nicht  loghuuuig  (Diez,  Sprachd. 
p.  13),  sondern  lodhuuuig. 

Schwur  der  deutschen   Völker. 

sinemo  Codex:  sine  w.o,  nicht  der  erste  strich,  wie  Grimm  ver- 
mutete, sondern  der  dritte  ist  verblichen,  aber  nur  teilweise,  der  untere 
teil  ist,  als  punkt,  noch  sichtbar,  was  das  facsimileBoquefort-Pertz  ver- 
nachlässigt. 

hidhuunige, 

Ltidhuunig  und 

sorbrihchit  im  facsimile  Roquefort  - Pertz  sind,  wie  Massmann  bei 
den  beiden  ersten  schon  vermutete,  ungenauigkeiten  der  reproduction. 
Der  codex  gibt  sehr  deutlich:  Lndhuuuige,  Ludhtmuig  und  forbrihchit 

wirdhu  Grimm  sagt  (SS.  II,  666  col.  2  d.  anm.  25):  „Ob  es  mr- 
dhit  (erit)  oder  wirdhic  oder  etwa  wirdhu  lautet ,  kann  gezweifelt  wer- 
den." MüllenhoflF  notiert  wirdhic  als  lesart  des  codex,  so  steht  auch 
deutlich  im  facsimile  Roquefort -Pertz,  während  im  original  unzweifel- 
haft wirdhit  steht. 

PARIS,  IM   OCTOBER    1869.  JULIUS   BRAKELMANN. 


Nachschrift. 

Die  Vermutung  des  herrn  dr.  Brakelmann,  dass  das  Roquefortsche 
facsimile  der  Strassburger  eide  nachträgliche  correcturen  erfahren  habe, 
und  dass  die  abzüge  nicht  in  allen  exemplaren  des  Wörterbuches  genau 
übereinstimmen,  scheint  in  der  tat  gegi'ündet  zu  sein.  Das  facsimile  in 
meinem  exemplare  von  Roqueforts  glossaire  (Paris  1808) ,  welches  ich 
vor  etwa  20  jähren  in  einer  Weigelschen  auction  zu  Leipzig  als  neues 
unaufgeschnittenes  buch  gekauft  habe,  bietet  folgendes: 

z.  10.  mialtre  \  ß,  mit  solcher  anlehnung  des  unteren  hakens  von  l  an 
den  gi^undstrich  des  t,  dass  das  t  allerdings  einem  js  ähnlich  wird. 

z.  13.  zwar  ßt,  aber  so  unklar  und  undeutlich,  dass  es  auch  als  fit  gele- 
sen werden  kann. 

z.  14.  fic^ec,  aVer  e  und  c  stossen  an  ihren  oberen  enden  so  zusammen, 

dass  man  auch  ex  lesen  kann, 
z.  21.  ifUhi  utha  zenmgfofo  \  madtw  -  unzweifelhaft  deutlich, 
z.  22.  luheren  unzweifelhaft  deutlich, 
z.  23.  nege  gango  *  zheminan    Das  o  in  gegango  ist  unzweifelhaft  klar  und 

deutlich,   aber  seine  gestalt  ist  etwas  runder  und  voller,   als  die 


DIE  BTRASaBUBOSB  EIDB  95 

der  übrigen  o  des  facsimile.  Desgleichen  unzweifelhaft  ein  e, 
nicht  t 

z.  26.  quiq;  unzweifelhaft  klar  und  deutlich. 

z.  28.  que  an  der  unteren  biegung  des  e  ist  ein  langer  nach  links  gehen- 
der strich  angesetzt. 

z.  32.  lodhu\uuig  unzweifelhaft  deutlich. 

z.  34.  ßne  n.ohruodher  Der  punkt,  als  rest  des  dritten  m- Striches,  ist 
erheblich  kleiner  als  die  zu  interpunktionszeichen  verwendeten 
punkte,  aber  doch  ganz  deutlich  erkenbar. 

z.  35.  Das  erste  wort  kann  hidhuuuige,  aber  auch  ludhuuuige  gelesen 
werden.  Das  letzte  wort  der  zeile  dagegen  bietet  unzweifelhaft  nur 
liul  I  huuuig. 

z.  36.  forbrih  \  chit  mit  unzweifelhaft  deutlichem  f,  nicht  f. 

z.  39.  uuirdhit  mit  unzweifelhaft  deutlichem  t,  dessen  langgeschwun- 
gener querstrich  bis  an  das  voranstehende  i  reicht. 

HALLE.  J.   ZACHEB. 


BRUCHSTÜCKE    AUS    DEM    WILLEHALM    YON   ORANSE 

DES  ULRICH  VON   DEM  TÜRLIN. 

Von  dem  früheren  abgeordneten  herrn  Herrmann  aus  Mülheim  a.  d. 
Mosel  erhielt  ich  unlängst  ein  mit  versen  beschriebenes  pergamentenes 
folioblatt ,  auf  dessen  unterem  rande  folgende  werte  st^en :  „  annotation- 
buchlein  deß  hauß  Manderscheidt  welcher  gestaldt  et  quibus  annis  die 
GrafTen  von  Manderscheidt  gelebt  und  regirt  haben  ab  Aö.  1387  biß 
1510.  15  etc.'^  Da  das  queer  geknickte  blatt,  wie  dieser  anscheinend 
von  einer  band  des  17.  Jahrhunderts  queer  darauf  geschriebene  neue 
titel  andeutet,  zum  umschlage  eines  dünnen  quartheftes  gedient  eu 
haben  scheint,  welches  zu  notizen  über  die  grafen  von  Manderscheidt 
bestirnt  war,  drängt  sich  die  Vermutung  auf,  dass  auch  die  zer- 
störte handschrift  selbst,  der  das  blatt  entstamt,  zu  der  alten,  rei- 
chen und  berühmten  samlung  der  grafen  von  Manderscheidt  auf  ihrem 
schlösse  zu  Blankenheim  in  der  Eifel  gehört  haben  möge.  Das  geschlecht 
dieser  grafen  starb  in  der  mänlichen  linie  um  die  zeit  der  franzö- 
sischen revolution  aus;  in  den  revolutionsstürmen  ward  das  schloss 
zerstört,  und  die  dort  angehäuften  schätze  und  Seltenheiten  gien- 
gen  teils  zu  gründe,  teils  wurden  sie  in  alle  weltgegend^  zerstreut 
Einzelne  der  ehemals  dort  befindlichen  altdeutschen  handschriften  sind 
almählich  wider  zu  tage  gekommen:   so  eine  pergamenthandschrift  des 


96  HAAG 

Tristan  vom  jähre  1323,  jetzt  im  besitze  des  herrn  regierungsrates  von 
Groote  zu  Köln;  eine  andere  pergamenthandschrift  des  Tristan  aus  dem 
vierzehnten  Jahrhunderte,  jetzt  in  der  königlichen  bibliothek  zu  Berlin; 
eine  (in  PfeifiFers  ausgäbe  nicht  benutzte)  pergamenthandschrift  des  Bar- 
laam,  jetzt  in  der  königlichen  Universitätsbibliothek  zu  Bonn;  eine  hand- 
schrift  des  Wigalois,  eine  des  Eenner,  auch  eine  papierhandschrift  des 
Willehalm  von  Oranse,  im  besitze  des  herrn  von  Groote.  (Vgl.  Tristan, 
von  meister  Gotfrit  von  Straszburg,  herausgegeben  von  E.  von  Groote. 
Berlin  1821.  4.  p.  LXVII  fgg.  Wolfram  von  Eschenbach,  zweite  aus- 
gäbe, von  Karl  Lachmann.    Berlin  1854.  s.  XXXIII.) 

Das  folioblatt  enthält  6  in  längslinien  gerahmte  spalten ,  von  je 
43  Zeilen,  zwischen  feingezogenen  queerlinien,  im  ganzen  also  258  Zei- 
len. Die  schöne  und  deutliche  schritt  könte  ihren  zögen  nach  zwar  viel- 
leicht noch  dem  13.  Jahrhundert  angehören,  wird  aber  wol  mit  grösse- 
rer Wahrscheinlichkeit  in  das  14.  zu  setzen  sein.  Jeder  vers  begint  mit 
einem  grossen  anfangsbuchstaben  und  schliesst  mit  einem  punkte.  Inter- 
punction  fehlt ;  nur  an  sehr  wenigen  stellen  begegnet  ein  punkt  oder  strich 
auch  innerhalb  der  zeile.  Hie  und  da  sind  Wörter,  buchstaben  oder 
buchstabenteile  durch  untergesetzte  punkte  getilgt,  oder  auch  durch- 
strichen. Die  verse  103  und  242  beginnen  mit  grosser  blauer,  vers  181 
mit  eben  solcher  roter  initiale.  Letztere  ist  jedoch  wol  zu  unrecht 
gesetzt,  da  sie  nicht  mit  einem  grösseren  absatze  der  erzählung  zusam- 
menfällt, und  ihr  auch  nur  2,  nicht  3  reime  vorangehen.  Am  unteren 
rande  der  kehrseite  steht  die  Signatur  .lifj. 

Der  Schreiber  braucht  v  an-,  in-  und  auslautend  für  w,  v  mit 
darüber  gesetztem  häkchen  für  ü  und  für  iu,  mit  darüber  gesetztem  e 
für  üe,  mit  darüber  gesetztem  o  ßn  tto,  iv  mit  häkchen  über  v  für  iu, 
o  mit  darüber  gesetztem  e  für  (b,  setzt  an-  und  inlautend  langes,  aus- 
lautend kurzes  s,  hat  för  0  und  ^  nur  einerlei  zeichen,  und  weiss  zwi- 
schen ^  und  s  nicht  mehr  richtig  zu  unterscheiden,  wie  er  denn  neben 
de  fflr  da^  auch  wc  nicht  nur  für  wa^,  sondern  auch  für  was  verwendet. 
Zuweilen  setzt  er  auch  einen  circumflex,  jedoch  ohne  folgerichtigkeit, 
und  selbst  an  ganz  ungehöriger  stelle,  wie  er  auch  in  Verwendung  der 
grossen  anfangsbuchstaben  nicht  folgerichtig  verfährt. 

In  dem  nachstehenden  genauen  abdruckt  sind,  statt  der  eben  ange- 
gebenen Schreibweise,  die  jetzt  üblichen  typen  verwendet,  die  eigennamen 
mit  grossen  anfangsbuchstaben  versehen,  und  die  wenigen  abkürzungen 
welche  sich  auf  die  allgemein  üblichen  beschränken,  aufgelöst  worden, 
mit  ausnähme  von  vn,  um  den  verschiedenen  möglichen  auflösungen  in 
und,  unt  und  unde  nicht  vorzugreifen.  Von  einsetzung  unserer  jetzt 
üblichen  interpunction  ist  abstand  genommen  worden,  weil  die  incorrect- 


AUS   ULRICHS   V.   D.   TÜRLIN  WILLEHALM  97 

heit,  an  welcher  der  text  durch  schuld  des  Schreibers  zu  leiden  scheint, 
doch  kaum  erlaubt  haben  würde,  sie  überall  richtig  und  reinlich  durch- 
zuführen. 

recto  a.    Ist  mir  ze  dez  Margraven  kunne. 

Der  hohesten  froeden  wunne. 

Die  min  hertze  gehaben  kan. 

Ist.  so  ich  sich  ir  einen  an. 
5  Ir  trost  mich  zefroeden  leit. 

Swaz  ich  in  leide  han  gebeit. 

Daz  hat  ein  selig  end  genomen. 

Nu  waz  der  Markis  komen. 

Dem  wart  dez  bruoders  komen  kunt. 
10  Do  er  erbeitzte  er  gie  zestunt. 

Zuo  der  kunegin  da  er  in  vant. 

Er  tet  hie  bruoders  liebi  erkant. 

Ein  rieh  enpfahen  braht  in  dez  inne. 

Ouch  sprach  er  zuo  der  küneginne. 
15  Nu  pflig  sin  frowe,  als  er  dir  si. 

Wisse  er  ist  dir  mit  triuwen  bi. 

Daz  firoete  der  küneginnen  sin. 

Nu  schier  gie  uf  den  Palas  hin. 

Viviantz  vfi  diu  ritterschaft. 
20  Arnolt  wart  mit  liebe  kraft. 

Enpfangen  als  da  zehove  zam. 

Diu  künegin  nu  wasser  nam. 

Grave  Arnolt  vn  der  Markis  hie. 

Diu  künegin  dez  niht  enlie. 
25  Si  tete  nach  züchten  schin. 

Arnolt  und  diu  künegin. 

Diu  schoene  Alyse  vn  der  Markis. 

Hie  wart  gedient  in  zühte  wiz. 

Gantzer  wille  si  dar  zuo  treip. 
30  Der  grave  nu  alda  beleih. 

Wol  uf  sehs  tage  frist. 

Arnolt  sprach  daz  du  so  bist. 

Hie  heime  vfi  niht  tagalte  pfligst. 

Schafife  daz  du  iht  so  ligest. 
35  Du  hast  hie  iunger  mage  vil. 

Die  wol  tuont  ritters  getete  spil. 

28.  ursprünglich  wirt,  undeutlich  corrigiert;  es  soll  wol  wart  gemeint  sein. 

ZEITSCUK.    F.    DEUTHCHS   PULLOL.    BU.  lU.  7 


98  HAAG 

• 

Betrahte  daz  vfi  volge  mir. 

Mach  uns  froede  e  ich  kom  von  dir. 

Ez  ist  wol  zit  daz  man  daz  tuo. 
40  Nu  horte  diu  küneginne  zuo. 

Der  dize  rede  vil  wol  behagt. 

Si  sprach  er  hat  dir  war  gesagt. 

Ez  zimet  dir  wol  nach  dime  komen. 
b.     Da  wirt  froede  von  vernomen. 
45,  Sit  si  von  hoher  arte  sint. 

Vn  ob  sümlichiu  kint. 

In  iungen  iaren  sint.  waz  dar  umbe. 

Die  wisen  leren  die  tumben. 

Bitz  er  manlicher  getat  gewon. 
50  In  dirre  rede  lie  si  niht  von. 

Daz  ich  in  wü  dez  bringen  inne. 

Ob  ich  in  von  hertzen  minne. 

Sin  arte  wirt  von  mir  gehoehet. 

Sin  tugent  hat  zuo  mir  gefloehet. 
55  Vil  liebi  diu  mich  hat  ergetzet. 

Ob  ich  an  liebi  was  geletzet. 

Sin  pris  wirt  von  mir  getiurt. 

Sit  sich  sin  triuwe  hat  gehiurt. 

Gen  mir  in  gantzer  liebi  hol. 
60  Der  grave  sprach  von  recte  iu  sol. 

Unser  künne  bieten  6r6. 

Nu  tet  er  nach  ir  beider  lere. 

Berhtramen  er  besante. 

Der  bette  ze  Proventz  in  dem  lande. 
65  Vil  guoter  bürge  die  man  da  vant  in. 

Da  was  er  gevam  hin. 

Do  der  Margrave  wider  kam. 

Kyberten  vfi  Hues  zim  nam. 

Die  waren  ime  gesezzen  na, 
70  Dem  Markise  si  ritten  sa. 

Er  tet  in  dize  rede  kunt. 

Berhtram  sprach  ez  ist  ein  ftmi 

Der  dem  lande  ze  froeden  frumi 

Ouch  schaffe  ich  wol  daz  uns  kumpt. 

68.   Der  letzte   strich  des   m   in  Kyhertem  ist  durch  untergesetzten    punkt 
getilgt.  —  hves 


AUS   ULBICIIS  y.   D.  TÜaiiN  WILLBHALM  99 

75  Her  der  ritterschefte  vil. 

Der  Margrave  sprach  bruoder  ich  wil. 

Hundert  ritter  ich  machen  wil. 

Dez  stoze  ich  niht  langer  zil. 

Ouch  Süllen  in  allen  enden. 
80  Werben  wir.  daz  ez  geschehe. 

Ze  disen  pfingsten  daz  man  sehe. 

Daz  uns  ge  niht  an  froeden  abe. 

Welle  mir  uz  daz  ich  habe. 

Du  vfi  min  bruoder  Kybert. 
85  Hundert  edel  knappen  die  swert. 

Enpfahen  mit  Yiviantze. 
c.    Man  muoz  hie  froede  sehen  gantze. 

Also  wil  diu  könegin. 

Do  sprach  Eybert  da  süllen  wir  sin. 
90  Qebetes  iemer  undertan. 

Der  tugent  daz  wol  verdienen  kan. 

Sit  daz  si  uns  ze  froeden  wart. 

Ditz  was  nu  ungespart 

Si  ritten  hin  vfi  her  vfi  besauten  sich. 
95  Dez  bewert  diu  aventiure  mich. 

Ez  ergie  als  ich  geseit  hau. 

Gen  Oranse  si  zogten  dan. 

Dar  koment  tusent  ritter  oder  mer. 

Nu  wart  nach  Kyburge  l§r. 
100  Daz  rieh  gezelt  hie  uf  geslagen. 

Ouch  sach  man  vil  soumer  tragen. 

Beide  karren  vfi  wagen. 

Pfu  huob  sich  manger  hande  spil. 

Der  ich  nu  niht  sagen  wiL 
105  Floeten  tambren  vfi  schalmien. 

In  dem  kle  muez  ir  kamer  sin. 

Ffir  den  witen  palaz. 

Diu  ritterschaft  erbeitzet  was. 

Vfi  giengen  schowen  uf  daz  rivier. 
110  Hie  zehen.  dort  sechs,  da  liht  vier. 

Vfi  benamen  sich  dem- sweize  gar. 

Hie  manig  reidez  valwes  har. 

Der  geste  houbet  hie  ziert. 

Besolt  vfi  geviert. 
115  Si  uf  den  palas  giengen. 


100  HAAG 

Da  si  nach  witze  enpfiengen. 

Der  Markis  vn  diu  künegin. 

Nu  bedahte  vil  tiurer  pfelle  schin. 

Termis  den  palas  überal. 
120  Der  beiden  ricbeit  sich  nit  hal. 

Daz  moht  man  an  Kyburge  sehen. 

Ouch  saz  bi  ir  an  den  man  spehen. 

Mohte  minne  geleze  wol. 

Nu  wart  der  Palas  froeden  vol. 
125  Die  tische  man  richte  vü  gab  gnuok. 

Mit  videln  harpfen  man  für  truok. 

Dirre  froede  gie  doch  ein  angest  zo. 

Ouch  konden  alle  ir  frowen  nuo. 

Den  gesten  man  schuof  guot  gemiach. 
verso  a.     130  Dez  morgens  do  man  messe  sprach. 

Do  hiez  diu  künegin  dar  tragen. 

Der  ich  niht  gar  mag  gesagen. 

Von  pfelle  semit  vn  ander  d'lachen. 

Hundert  rittern  die  an  swachen. 
135  Die  wät  mohten  wol  enpfahen. 

Nach  den  hotten  sach  man  gaben. 

Hundert  oi*s  vfi  niwe  gereit. 

Vn  als  vil  schilten  dar  bereit. 

Be  vie  vil  riebe  spangen  mit  golde. 
140  In  die  buckeln  als  si  solden. 

Die  spangen  zir  sliezen. 

Bereit  wol  ane  verdriezen. 

Mit  meisterlichem  flize. 

Nieman  mir  daz  verwize. 
145  Ob  ich  iu  prüefe  daz  ich  nie  gesach. 

Diu  aventiur  mir  sin  verlach. 

Als  da  stat  wie  was  geheri 

Sin  schilt  ob  daz  min  zunge  mert. 

Daz  sol  man  durh  zuht  mir  wissen  nit. 
150  Sit  man  Kyburge  der  wirde  gibt 

So  kan  ich  kum  geliegen  hie. 

122  Der  Schreiber  hatte  den  Vel^  irttÜmlich  mit  mokte  geschlossen;  dann  hat 
er  dies  mohte  wider  ausgelöscht,  und  hinter  dem  der  folgenden  zeUe  mit  einem 
striche  interpungiert. 

138  schulten,  aber  das  zweite  l  durch  untergesetzten  pnnkt  getilgt. 


IT  % 


AUS   ULRICHS  V.   D.   TÜRLIn  WILLEHALM  101 

Der  Margrave  och  die. 

Viviantzes  schilt  gesellen. 

Ob  sich  die  nu  bereiten  wellen. 
155  la  vil  wafenroke  vfi  richer  deke. 

Diu  froede  git  hertzen  weke. 

Swa  man  die  durh  froede  tuet. 

Von  pfelle  mangen  riehen  huot. 

Man  mähte  zuo  dem  riehen  kleid. 
160  Kyburge  hertze  liebe  geit. 

Gen  Viviantz  vfi  gen  Milen. 

Ouch  waren  gesant  mit  ilen. 

Vil  botten  als  ichs  han. 

Die  manig  sehoen  kastelan. 
165  Berhtram  vfi  ander  brahten  gen  der  Marke. 

Nach  schowen  vil  starke. 

Mit  den  vil  schoener  pferiden  gie. 

Nu  was  groze  frcede  hie. 

Vf  der  burk  vfi  in  dem  plan. 
170  Vil  buhurt  sach  man  hie  began. 

Vor  der  kfinegin  Yli  den  frowen. 

Man  mohte  hie  frien  graven  schowen. 
b.    Hie  an  dez  Margraven  schilt. 

Da  wart  Kyburge  tugende  gezilt. 
175  So  hohe  daz  man  ir  tugende  iach. 

Ouch  was  bereit  als  ich  S  sprach. 

Nach  der  aventiure  sage. 

Diz  was  an  dem  pfingest  tage. 

Von  der  ritterschaft  wart  gedrank. 
180  Do  man  nu  die  messe  gesank. 

Oar  nach  segente  man  in  diu  swert. 

Der  Mai^rave  nieman  anders  gert. 

Der  segente  sinem  neven. 

Wan  ein  kappelan  hies  Steven. 
185  Dez  hertze  sich  so  gemeine  hielt. 

Wan  er  gen  gotte  vil  tugende  wielt. 

Ouch  hielt  er  sinen  orden  wol. 

Nu  wart  der  palas  aller  vol. 

Den  man  nu  schiere  rumpte  hie. 

168.  Dem  o  in  groze  ist  ein  «  übergeschrieben. 

181.  smgente,  aber  das  erste  n  dorch  untergesetzte  punkte  getilgt 


102  UAAO 


190  Do  diu  messe  vn  der  segen  ergie. 

Vfl  man  in  diu  swert  umbe  gurt. 

Do  huob  sich  ein  buhurt. 

Der  wol  ein  wibes  hertze  vie. 

Viviantz  sich  so  anlie. 
195  Daz  man  in  für  si  alle  priste. 

Ob  ich  iu  hie  nu  wiste. 

Von  sime  schilte  vfi  siner  riehen  wat. 

Her  Wolfram  daz  geseit  hat. 

Ez  ist  niht  dürft  daz  ichs  sage. 
200  Dar  nach  an  dem  dritten  tage. 

Diu  ritterschaft  ze  lande  kerte. 

Die  Sit  iamer  trüren  lerte. 

Als  iu  daz  msere  noch  kündet. 

Her  Wolfram  hat  ez  ergründet. 
205  Der  MarMs  hie  minne  koufte. 

Daz  mangen  von  dem  leben  sloufbe. 

Kyburgez  süezi  wart  hie  sur. 

Ir  kamen  boese  nächgebum. 

Von  den  der  walt  wart  geoeset 
210  Her  Wolfram  daz  hat  zerloeset.  . 

Daz  wir  sin  niht  dürfen  fragen. 

Ouch  beginnet  iu  der  leide  betragen. 

Wie  irs  vor  haut  gehört. 

Reinen  hertzen  her  nach  froede  stört. 
215  Vfi  trüebet  sinen  reinen  muot. 
c.    Nu  hoerent  ob  ez  iu  dunket  guoi 

Viviantz  vfi  sin  geselleschaft. 

Die  pflagen  nu  solicher  ritterschaft. 

Daz  man  in  prises  getete  iach. 
220  Viviantz  do  ze  Milen  sprach. 

Ob  du  wilt  wir  sülen  besehen. 

Vfi  mit  gemeinem  munde  iehen. 

Vfi  giengen  zuo  der  künegin. 

Ez  sol  mit  iwem  hulden  sin. 


193.  wibvs  hertzen,  mit  haken  Qbcr  dem  v  und  zwei  paukten  unter  dem  n. 
197.  sime  ist  zweimal  geschrieben,  das  zweite  aber  durchstrichen. 
199.  vor  ichs  steht  ein  durchstrichenes  ist, 
203.  m're. 
209.  difi. 


AUS   ULRICHS  V.    D.   TÜRLIM  WILLEHALM  103 

225  Frowe  daz  wir  riten  hin. 

Durh  Sehens  die  keiserin. 

Yfi  minen  herren  den  künig  Loys. 

Da  vinden  wir  mangen  Franzoys. 

Da  wirt  iwer  wirde  bekant 
230  Na  hat  der  Wolfram  nieman  genant. 

Won  den  klaren  Viviantz. 

Den  er  vant  uf  Alitzschantz. 

Der  Margrave  ob  im  erbeitzte. 

Den  leit  ze  iamer  reizte. 
235  Do  der  in  wibes  hertzen. 

Owe  dez  iemerlichen  schmertzen. 

Die  klage  ir  e  hant  vernomen. 

Nu  land  uns  aber  wider  komen. 

Da  diu  rede  g  beleip. 
240  Kyburg  si  niht  wider  treip. 

Dez  willen  der  si  ze  frceden  b'eip. 

üVu  enbot  Alyse  diu  magei 

Bi  Viviantze  gruozes  vil. 

Si  ritten  dan  in  kurtzem  zil. 
245  Vn  kerten  rehte  gen  Litun. 

Dunalde  dez  küneges  garzun. 

Hin  wider  lief  si  fragten  mere. 

Er  Seite  daz  der  künig  were. 

Ze  Muleun  yfi  diu  keyserin. 
250  Gen  Oranse  ich  gesant  bin. 

Getarst  duz  sagen,  ia  herre  wol. 

Min  herre  der  Margrave  sol. 

Die  schoene  Alysen  bringen  wider. 

Min  frowe  lit  an  froeden  nider. 
255  Vfi  froede  mit  iamer  an  ir  iaget 

Si  gesehe  Alysen  die  maget. 

Ob  ir  kumit  mit  dem  MarMs. 

Daz  bringet  in  wol  lones  pris. 


In  diesem  bruchstücke  treten  uns  die  namen  von  personen  des  kär- 
lingischen  Sagenkreises  entgegen.  Wir  finden  von  den  sieben  söhnen  des 
grafen  von  Narbon  (vgl  Wolfram,  Willehalm  5,  16)  den  ältesten,  den 
markgrafen  Wilhelm  von  Oransche   (Markis  vgl.  Wh.  3,  11),    den  zwei- 

225.  Jiein,  mit  punkt  unter  dem  e. 


104  HAAG 

ten  Bertram  (Wh.  6,  .22),  den  fünften  Arnalt  (=  Arnold  Wh.  6,  27\ 
den  siebenten  Gybert  (=  Kybert  Wh.  6 ,  29) ;  ausserdem  Viviantz ,  Wil- 
helms Schwestersohn  (Wh.  23,  1),  Kyburg,  gemahlin  Wilhelms  (Wh. 
7,  30) ,  welche  früher  Arabelle  hiess  und  gemahlin  des  heidnischen  königs 
Tybald  war  (Wh.  8,  2).  Es  wird  das  Schlachtfeld  Aüschantz  (Wh.  165,  4) 
und  der  berg  Munleün  (Wh.  198,  15)  erwähnt  usw.  Von  diesen  perso- 
nen  finden  wir  bei  Kyburg  (der  künegin)  den  markis,  Viviantz  und 
Arnold.  Letzterer  fordert  die  königin  auf,  ritterspiele  zu  veranstalten. 
Kyburg  geht  gern  darauf  ein.  Es  wird  nach  rittern  geschickt,  um  die- 
selben zu  dem  feste  einzuladen ,  an  dem  auch  Viviantz  mit  andern  knap- 
pen das  Schwert  empfangen  solle.  Nach  der  anweisung  Kyburgs  werden 
zelte  aufgeschlagen  und  die  ritter  gut  bewirtet  und  reichlich  beschenkt. 
Bei  den  spielen  zeichnet  sich  Viviantz  aus.  Nach  beendigung  der  fest- 
lichkeit  bitten  Viviantz  und  Milen  um  Urlaub,  da  sie  zur  kaiserin  und 
dem  könige  Loys  gehen  weiten.  Die  beiden  ritter  brechen  auf,  nach- 
dem Alyse  ihnen  viele  grnsse  aufgetragen  hat  und  kommen  zu  Dunalde, 
von  dem  sie  hören,  die  kaiserin  befinde  sich  zu  Muleun. 

Es  fällt  aber  diese  festlichkeit  vor  die  zeit,  in  welcher  uns  Wol- 
fram von  Eschenbach  die  obengenanten  personen  vorfuhrt.  Denn  Wol- 
fram begint  sein  gedieht  nach  vorausgesanter  einleitung  mit  der  Vor- 
bereitung zum  kämpfe  gegen  die  beiden,  und  schildert  uns  alsdann  die 
Schlacht  bei  Alischantz,  in  welcher  Viviantz  getödtet  wird.  Die  mit- 
geteilten verse  können  also  nicht  aus  dem  Willehalm  des  Wolfram  von 
Eschenbach  herstammen.  Denn  solte  man  auch  wirklich  der  ansieht  sein, 
Wolframs  Willehalm,  wie  wir  ihn  jetzt  besitzen,  sei  uns  nicht  vollstän- 
dig überliefert,  so  können  die  258  zeilen  doch  unmöglich  teile  des  ver- 
lorengegangenen Stückes  und  somit  des  Wolframschen  Willehalm  sein. 
Denn  in  den  zeilen  198  und  199  lesen  wir: 

her  Wolfram  da;  geseit  hat, 
es  ist  niht  dürft,  da;  ich;  sage. 

Zwar  spricht  auch  in  stellen  seines  Willehalm  Wolfram  von  sich  selber, 
aber  immer,  indem  er  die  erste  person  hinzusetzt,  z.  b.  Wh.  6,  19: 

ich  Wolfram  von  Eschenbach. 

Von  einem  andern  dichter  also  als  Wolfram  müssen  die  obigen  zeilen 
herrühren.  Einem  früheren  Verfasser,  als  Wolfram,  können  wir  sie  jedoch 
der  angeführten  verse  (198  und  199)  wegen  nicht  zuschreiben;  sonst 
wäre  dies  an  sich  nicht  grade  unmöglich,  da  ja  der  anfang  von  Wil- 
helms und  Arabellens  geschichte  bereits  vor  Wolfram  in  Deutschland 
bekant  war  (vgl.  Wolframs  Willehalm  7,  23  ff.). 


AUS  ULRICH  V.  D.  TÜRLIM  WILLEHALM  105 

Wir  haben  demnach  in  den  oben  mitgeteilten  versen  ein  bruchstück 
aus  einem  werke  eines  späteren  nachwolframischen  dichters  vor  uns.  Da 
wir  nun  wissen ,  dass  der  ungenügende  anfang  des  Wolframschen  Wille- 
halm den  Ulrich  von  dem  Türlin  bewogen  hat,  die  mangelnde  Vor- 
geschichte, oder,  wie  er  selbst  sie  nent,  die  „vorrede"  hinzuzudichten, 
in  welcher  er  die  entfahrung  Arabellens  und  ihre  lebensschicksale  bis 
zur  Schlacht  bei  Alischanz  weitläufig  erzählt,  werden  wir  das  obige 
bruchstück  in  dem  gedichte  dieses  Ulrich  aufsuchen.  In  der  ausgäbe 
Casparsons^  finden  wir  nun  zwar  freilich  keine  spur  davon,  aber  wir 
erinnern  uns ,  dass  diese  ganz  ungenügende  ausgäbe  nur  ein  abdruck  einer 
einzigen  handschrifb  ist,  und  dass  es  noch  eine  andere,  vollständigere, 
und  nach  Lachmanns  urteile  (Wolfram  p.  XLI)  echtere  recension  gibt, 
welche  z.  b.  in  der  Heidelberger  handschrift  no.  395  erhalten ,  aber  frei- 
lich noch  ungedruckt  ist.  Und  da  komt  uns  denn  ein  glücklicher  zufall 
zu  hilfe,  dass  ein  anderes,  kürzeres,  von  v.  56  bis  223  unseres  textes 
reichendes  bruchstück  schon  vor  jähren  in  Begensburg  gefunden  und 
durch  Karl  Roth  bekant  gemacht  worden  ist,*  von  welchem  Roth 
(s.  XXn)  zugleich  feststellen  konte,  dass  es  mit  dem  texte  des  schluss- 
stückes  der  Heidelberger  handschrift  no.  395  übereinstimt. 

Hiemach  entstamt  also  unser  oben  abgedrucktes  bruchstück  einer 
handschrift,  welche  den  vollständigeren  und  echteren  text  des  Willehalm 
von  Oranse  Ulrichs  von  dem  Türlin  enthielt ,  und  gehört  zu  dem  schluss- 
stücke  dieses  gedichtes. 

Vers  207  des  bruchstückes  ist  mit  geringer  änderung  entlehnt  aus 
Wolframs  Willehalm  12,  30. 

BERLIN.  DR.  HAAG. 

1)  Wilhelm  der  Heilige  von  Oranse  erster  teil,  von  Türlin  oder  Ulrich  Tur- 
heim,  einem  dichter  des  schwäbischen  Zeitpunktes.  Aus  einer  handschrift  heraus- 
gegeben durch  W.  J.  C.  G.  Casparson.    Cassel  1781.    4. 

2)  Dichtungen  des  deutschen  mittelalters  in  bruchstncken  aufgefunden  und  mit 
erlänterungen  herausgegeben  von  dr.  Karl  Roth.  Stadtamhof  1845.  —  no.  "VTH. 
Wilhehn  von  Oransche.   S.  134—141. 


106  R.    WÖRNEE 


VIRGIL   UND   HEINRICH  VON  VELDEKE. 

Die  folgende  abhandlung  soll  ein  versuch  sein,  an  einem  beispiele 
die  behandlung  antiker  stoffe  in  unserer  poesie  des  mittelalters  eingehend 
nachzuweisen.  Aus  diesem  nachweis  ergeben  sich  von  selbst  die  rich- 
tigen gesichtspunkte  für  beurteilung  eines  dichters,  über  welchen  kein 
geringerer  kenner  unserer  litteratur,  als  Gervinus  ist,  ein  vernichtendes 
urteil  gefölt  hat.  (Gesch.  d.  poet.  N.-L.  der  Deutschen  I,  p.  293  —  302). 
Diesem  urteile  ist  zwar  schon  widersprochen  worden,  so  von  Ettmül- 
1er  in  der  vorrede  seiner  ausgäbe  des  dichters  p.  XVIII,  da  aber  Ger- 
vinus am  angeführten  orte  zur  begründung  seiner  ansieht  nicht  wenig 
einzelheiten  aus  Veldekes  Eneit  anführt,  so  wird  auch  nur  ein  genaues 
eingehen  auf  die  eigentümlichkeiten  des  gedichtes  zu  einer  überzeugen- 
den berichtigung  jenes  Urteils  führen.  Seitdem  A.  Pey  (Eberts  Jahrb.  11, 
1  fiF.)  den  nachweis  geführt  hat,  dass  Veldeke  seiner  französischen  vor- 
läge, dem  roman  d'Eneas  des  Benoit  de  Sainte-More,  genau  gefolgt  ist, 
dass  die  meisten  abweichungen  von  Virgil  nicht  von  ihm ,  sondern  schon 
von  Benoit  herrühren,  dass  auch  stellen,  welche  noch  Gervinus  für  Vel- 
dekes eigentum  hielt,  nur  gewante  und  freie  nachahmung  des  franzö- 
sischen Originals  sind ,  seitdem  sind  freilich  bereits  eine  anzahl  der  abur- 
teilenden aussprüche  von  Gervinus  hinfallig  geworden.^  So  kan  das 
urteil  des  litteraturhistorikers :  „Der  rittersman  hat  keinen  begriff  von 
dem,  was  er  übersetzt"  (Handb.  der  Gesch.  d.  poet.  N.-L.  d.  Deut- 
schen 1842.  p.  44)  bei  dem  unkundigen  nur  falsche  und  schiefe  begriffe 
erwecken.  Der  rittersmann  hat  seine  französische  vorläge  sehr  wol  ver- 
standen und  man  würde  ihm  gewis  unrecht  tun ,  wenn  man  ihn  für  einen 
gewöhnlichen  Übersetzer  erklären  wolte.  Denn  seine  spräche  fliesst  so 
gewant  und  ungezwungen,    dass   er  in   dieser  hinsieht  sich   nicht  nur 

1)  Da  der  französische  Originaltext  des  romans  d'Eneas  von  Benoit  de  Sainte- 
More  leider  noch  ungedrackt  ist,  können  wir  über  ihn  und  über  das  Verhältnis  der 
bearbeitung  Veldekes  zum  französischen  original  nicht  mehr  wissen,  als  Alexander 
Pey  in  seiner  oben  angeführten  abhandlung:  „L'Enöide  de  Henri  de  Veldeke  et  le 
roman  d'Eneas  attribuc  a  Benoit  de  Sainte-More"  auf  p.  1 — 45  des  Ü.  bandes  von 
Eberts  Jahrbuch  für  romanische  und  englische  litteratur  (Berlin  1860)  mitgeteilt  hat. 
Es  lässt  sich  also  im  einzelnen  freilich  meist  nicht  mit  der  vrünschenswerten  Sicher- 
heit erkennen,  ob  und  wie  weit  Heinrich  von  Benoit  abweicht  oder  nicht.  Der  Ver- 
fasser der  vorliegenden  abhandlung  war  somit  ausser  stände,  über  das  Verhältnis 
Heinrichs  zu  Benoit  mehr  und  genaueres  zu  bieten ,  und  muss  in  dieser  beziehung  den 
geneigten  leser  auf  die  darstellung  von  Pey  verweisen ,  sowie  überhaupt  die  abhand- 
lung sich  nur  auf  dem  deutschen  text  der  Ettmüllerschen  ausgäbe  und  dem  von  Pey 
dargebotenen  aufbauen  konte.  Bed. 


VIBOUi   UNO   HEINRICH  V.    VELDEKE  107 

wesentlich  vor  seinem  nachahmer  Herbort  von  Fritzlar  auszeichnet,  son- 
dern auch  manchem  modernen  Übersetzer  eine  lehre  geben  könte.  Hat 
er  doch  in  dem  berühmten  gespräche  über  die  minne  die  französische 
vorläge  so  meisterhaft  nicht  nur  in  das  treffende  deutsche  wort,  son- 
dern auch  in  das  entsprechende  deutsche  gefülil  umgesetzt,  dass  Qervi- 
nus  steif  und  fest  behauptete ,  das  müsse  des  Deutschen  eigene  erfindung 
sein.  Es  beschleicht  uns  zwar  zunächst  eine  art  wehmut ,  dass  hier  auch 
Gtervinus  schönes  lob  zurückgenommen  werden  muss  (cf.  p.  300),  aber 
so  übersetzen  heisst  fast  gleich  viel  wie  von  neuem  schaffen;  es  gibt 
stellen  in  Luthers  bibel,  die  so,  wie  sie  sind,  von  keinem  als  von  Luther 
so  gesagt  sein  könten.  Und  in  diesem  sinne  kan  immer  Gervinus  urteil 
stehen  bleiben:  „die  deutsche  dichtung  jener  zeit  hat  gewis  weniges  an 
lieblichkeit,  an  herzlichkeit ,  an  inniger  Unschuld  und  naivetät  diesen 
gesprächen  der  Lavinia  und  ihrer  mutter  zu  vergleichen."  Dass  übrigens 
Heinrich  v.  Veldeke  im  einzelnen  vielfach  von  seiner  französischen  vor- 
läge abweicht,  wird  die  folgende  darstellung  ergeben.  Um  das  Verhält- 
nis des  antiken  gedichts  zu  dem  mittelhochdeutschen  in  das  richtige 
licht  zu  setzen,  lege  ich  zunächst  den  gang  der  handlung  bei  Virgil  und 
bei  Veldeke  vergleichend  dar,  sodan  stelle  ich  zusammen,  was  von 
antikem  sich  bei  Veldeke  erhalten  hat,  und  gebe  zuletzt  eine  Übersicht 
über  das  „  moderne ,"  welches  unwilkürlich  in  die  Eneit  eingedrungen  ist. 


L 
Virgil  führt  uns  in  der  Äneide  sogleich  mitten  in  die  handlung 
hinein.  Es  sind  schon  sieben  jähre  verflossen,  seit  Äneas  seinem  vater- 
lande den  rücken  kehren  muste ,  seine  flotte  ist  aus  dem  sicilischen  hafen 
Drepanum  abgesegelt  und  fährt  der  küste  Italiens  zu,  da  erblickt  Juno 
die  verhassten  Überreste  der  Trojaner  schon  nahe  dem  ziele  ihrer  bestim- 
mung  und  eingedenk  ihres  alten  grelles  und  wol  wissend,  dass  spröss- 
linge  trojanischen  blutes  einst  ihr  geliebtes  Carthago  zerstören  werden, 
dem  sie  die  weltherschaft  zugedacht  hat ,  eilt  sie  zum  Äolus  und  bestimt 
ihn,  die  troischen  schiffe  feniab  von  Italiens  küste  zu  verschlagen  oder 
auch  im  meere  zu  begraben.  Da  bricht  der  seesturm  los.  Die  fahrzeuge 
des  Äneas  werden  zerstreut,  eines  im  meere  versenkt,  bis  endlich  Nep- 
tun durch  sein  gewaltiges  qtws  ego  die  winde  zügelt  und  das  aufgeregte 
meer  zur  ruhe  bringt.  Äneas  erreicht  mit  7  schiffen  von  zwanzig  die  Liby- 
sche küste.  Er  erlegt  für  seine  erschöpften  gefährten  sieben  am  ufer 
weidende  hirsche  und  richtet  den  gesunkenen  mut  jener  mit  tröstenden 
werten  auf.  Unterdessen  wendet  sich  Venus  besorgt  um  ihren  geliebten 
söhn  an  den  vater  der  götter  und  menschen  wegen  der  unaufhörlichen 


108  E.    WÖRNER 

irrsale,  die  dem  Äneas  verhängt  sind  und  erhält  von  Jupiter  die  tröst- 
liche Versicherung,  dass  Äneas  Italien  erreichen,  die  kriegerischen  Völ- 
ker des  landes  besiegen  und  den  grund  zu  der  künftigen  weitmacht  Roms 
legen  werde.  Als  am  nächsten  morgen  Äneas  mit  dem  treuen  Achates 
auf  kundschaft  ausgeht,  komt  ihm  in  dem  walde,  der  die  käste  umgibt, 
seine  göttliche  mutter  entgegen,  unter  der  gestalt  einer  jägerin,  gibt  ihm 
auskunft  über  die  herrin  des  landes  Dido,  weist  ihn  nach  dem  nahen 
Carthago  und  sagt  ihm  die  glückliche  rückkehr  der  verschlagenen  schiffe 
voraus.  Jene  beschleunigen  ihren  weg  und  sehen  bald  das  geschäftige 
Carthago  vor  sich  liegen.  Durch  eine  wölke  dem  blicke  der  menge  ent- 
zogen durchschreiten  sie  die  stadt,  bis  sie  zu  dem  tempel  der  Juno 
gelangen,  an  dessen  pforte  sie  glücklich  mit  ihren  verloren  geglaubten 
gefährten  zusanmientreffen ,  die  eben  herbeieilen  um  an  dem  throne  der 
königin  für  sich  und  ihre  gestrandeten  schiffe  recht  und  schütz  zu  suchen. 
Dido  nimt  den  Äneas  und  seine  gefährten  ehrenvoll  und  gastfreundlich 
in  ihrem  palast  auf;  erfreut  über  die  aufiiahme  sendet  Äneas  den  Acha- 
tes nach  den  schiffen,  damit  er  den  Ascanius  samt  reichen  geschenken 
herbeibringe.  Aber  Venus  fürchtet  noch  inmier  die  doppelzüngigen  Car- 
thager,  die  Schützlinge  der  Juno,  und  um  die  Dido  mit  noch  stärkeren 
banden  an  Äneas  zu  fesseln,  sendet  sie  in  der  gestalt  des  Ascanius,  den 
sie  nach  Greta  entrückt,  ihren  söhn  Amor,  und  während  nun  Dido  den 
vermeintlichen  Ascanius  beim  gastmahle  küsst  und  liebkost,  wird  ihr 
unauslöschliche  liebe  zum  Äneas  eingehaucht.  Am  ende  des  gastmahls 
bittet  Dido  ihren  lieben  gast,  von  aiifang  an  ihr  Trojas  fall  zu  erzäh- 
len. —  Soweit  das  erste  buch.  —  Es  folgt  nun  im  zweiten  buche  der 
Aneide  die  erzählung  des  Aneas  über  die  letzten  Schicksale  Trojas.  Der  bau 
des  hölzernen  rosses ,  der  scheinabzug  des  griechischen  heeres,  die  geteil- 
ten meinungen  der  Trojaner,  ob  sie  die  merkwürdige  hinterlassenschaft 
ihrer  feinde  in  die  stadt  führen  sollen  oder  nicht,  die  abmahnende  rede 
des  priesters  Laocoon ,  der  mit  der  lanze  gegen  den  bauch  des  hölzernen 
Ungeheuers  stösst,  dass  die  wafifen  der  darin  verborgenen  Griechen  klirren. 
Die  auf&ndimg  des  Sinon  und  dessen  listige  feinerdachte  rede,  durch 
welche  verbunden  mit  dem  wunderbaren  tode  des  mahners  Laocoon  die 
, Trojaner  dahin  umgestimt  werden,  den  hölzernen  coloss  durch  den  nie- 
dergerissenen teil  ihrer  mauer  in  die  stadt  zu  bringen  und  endlich  den 
langersehnten  tag  des  friedens  festlich  zu  begehen.  Dann  bei  nächtlicher 
weile  die  rückkehr  der  Griechen  von  Tenedos  und  das  öffnen  der  tore 
durch  ihre  dem  bauche  des  rosses  entstiegenen  genossen.  Äneas  wird 
aus  dem  schlafe  aufgeschreckt  durch  die  erscheinung  des  Hector,  der 
ihn  zur  flucht  und  zur  rettung  der  heimatlichen  Penaten  auffordert. 
Dann  die  lebendige  beschreibung  des  kampfes  in  der  Strasse  der  bren- 


VIBGIL   UND   HEINSICH   V.   VELDEKX  109 

nenden  Stadt,  die  heldentaten  des  Ätieas,  die  sclilacht  um  die  königs- 
borg  und  der  tod  des  Priamus ,  dann  die  feine  motivierung  der  flucht  des 
Äneas,  zu  der  ihn  seine  göttliche  mutter  selbst  mahnt,  der  widerstand 
des  greisen  Anchises  (der  lieber  unter  den  trünmiern  Trojas  sterben  will), 
endlich  durch  unverkenbare  götterzeichen  gebrochen,  und  Äneas,  den  grei- 
sen vater  auf  dem  rücken,  seinen  söhn  an  der  band  führend,  gefolgt 
von  der  treuen  Creusa,  aus  der  stadt  fliehend.  Endlich  ausserhalb  der 
Stadt  bei  dem  tempel  der  Ceres  angekonmien  macht  er  die  schreckliche 
entdeckung,  dass  er  in  der  eile  der  flucht  seine  gattin  verloren  hat. 
Seine  rückkehr  in  die  stadt,  das  lange  vergebliche  suchen,  bis  ihm  der 
schatten  der  geliebten  erscheint.  Darauf  seine  flucht  mit  den  Trojanern, 
die  sich  zu  ihm  gesellt  haben,  in  das  Idagebirge.  —  Im  dritten  buche 
werden  nun  die  siebenjährigen  irrfahrten  des  Äneas  behandelt,  ehe  er  nach 
Afrikas  küste  verschlagen  wiid.  Am  Ida  hat  er  sich  seine  schiffe  gebaut 
und  geht  mit  begin  des  sommers,  ungewis  wohin  ihn  sein  Schicksal 
fahren  wird,  in  see.  Der  kurze  aufenthalt  an  der  durch  den  mord  des 
Priamiden  Polydor  befleckten  thrakischen^  küste ,  die  ankunft  auf  Delos, 
wo  ihn  das  apollinische  orakel  in  dunkeln  werten  sein  künftiges  heimat- 
land  zeigt: 

Dardanidae  duri,  quae  vos  a  stirpe  parentum 

Prima  tulit  teUus,  eadem  vos  ubere  laeto 

Accipiet  redttces.   Antiquam  exquirite  matrem. 

Hie  damus  Aeneae  cundis  dominabitur  oris 

Et  nati  natorum  et  qui  nascenttir  ab  iUis,    III,  94  —  98. 

Äneas  wendet  sich  hierauf  nach  Greta,  wohin,  wie  Anchises  meint,  das 
Orakel  weist.  Bereits  ist  die  stadt  Pergamum  gegründet,  als  die  Troja- 
ner durch  pest  und  dürre  wider  hinweggetrieben  werden.  Die  heimat- 
lichen Penaten  selbst  erscheinen  im  träume  dem  Äneas  auf  Apollos 
geheiss  und  deuten  ihm  das  orakel: 

Est  locus,  Hesperiam  Graii  cognomine  dicunt: 
terra  antiqtuij  potens  armis  atque  ubere  glebae; 
Oenotri  coluere  viri:  nunc  fama,  minores 
Itaiiam  dixisse  ducis  de  nomine  gentem, 
Hae  nobis  propriae  sedes;  hinc  Dardanus  ortus, 
lasiusque  paier,  genus  a  quo  principe  nostrum. 

III,  163  —  168. 

Nach  der  abfahrt  von  Greta  überfilllt  ihn  ein  mächtiges  Unwetter,  das 
ihn  drei  tage  und  nachte  auf  dem  meere  umherwirft  und  ihn  endlich  an 
die  küste  der  Strophaden  treibt,  wo  seine  gefährten  mit  den  Harpyen 
zu  tun  bekommen.    Eine  von  ihnen,   Gelaeno  verkündigt  ihm,   dass  er 


110  E.   WÖRNER 

zwar  nach  Italien  kommen  und  dort  landen  würde,  dass  er  aber  nicht 
eher  würde  eine  stadt  gründen  können,  bis  grimmer  hunger  sie  gezwun- 
gen hätte  ambesas  ahsumere  mensas:  III,  257.  Es  folgt  dan  die  fahrt 
durch  das  Ionische  meer  bis  zur  küste  von  Epirus,  der  aufenthalt  bei 
dem  Priamiden  Helenus  und  der  Andromache,  die  ihm  mit  rat  und  tat  ' 
beistehen.  Dan  die  fahrt  entlang  der  südküste  Italiens,  die  abenteuer 
am  fusse  des  Ätna,  und  endlich  die  ankunft  in  dem  hafen  von  Drepa- 
num  an  der  westspitze  Siciliens,  wo  der  greise  Anchises  den  mühen  der 
Seefahrt  unterliegt.  So  schliesst  Äneas  seine  erzählung  mit  dem  Zeit- 
punkte, mit  welchem  das  erste  buch  der  Äneis  began. 

Vielfach  in  haupt-  und  nebenzügen  abweichend  begint  die  deut- 
sche Äneide  Heinrichs  von  Veldeke.  Das  verschlungene,  kunstvolle 
gefüge  der  handlung  bei  Virgil  ist  vermieden;  Veldeke  hält  sich  genau 
an  die  zeitliche  aufeinanderfolge.  Menelaus  belagert  um  der  ihm  von 
Paris  geraubten  Helena  willen  die  stadt  und  nimt  sie  endlich  ein ,  nichts 
wird  von  den  Griechen  verschont,  gesunde  und  kranke  erschlagen ,  Pria- 
mus  findet  mit  seinen  vier  söhnen  den  tod.  Nur  ein  vornehmer  man, 
der  an  dem  einen  ende  der  stadt  wohnt,  der  herzog  Äneas,  der  söhn 
der  göttin  Venus,  diu  frowe  ist  über  die  minne,  rettete  sein  leben.  Er 
hatte  zu  jener  zeit  von  den  göttern  vernommen,  dass  er  sein  leben 
erhalten  und  nach  Italien  fahren  solte,  woher  Dardanus  der  gründer 
Trojas  stamte.  So  kent  also  Äneas  schon  hier  den  ort  seiner  bestim- 
mung,  den  er  bei  Virgil  erst  nach  längerer  Irrfahrt  auf  Greta  erfährt. 
Als  nun  der  verhängnisvolle  augenblick  gekommen  ist,  da  versammelt 
Äneas  seine  verwanten  und  dienstmannen  um  sich  (sine  möge  und  sme 
mcm)^  teilt  ihnen  die  Weisung  der  götter  mit  und  stelt  ihnen  frei,  ob 
sie  bleiben  und  kämpfend  sterben  oder  mit  ihm  das  land  verlassen  wol- 
len; in  beiden  jßUen  werde  er  zu  ihnen  stehen.  Sie  entscheiden  sich 
allgemein  dafür,  mit  ihm  das  land  zu  räumen  und  so  zieht  er  nun  mit 
3000  rittem  aus,  seinen  söhn  fuhrt  er  an  der  band,  seinen  altersschwa- 
chen vater  lässt  er  hinter  sich  her  tragen,  auf  der  flucht  verliert  er 
siöine  gattin,  der  dichter  sagt  scherzhaft:  „ich  weiss  nicht  wer  sie  ihm 
nahm."  Man  sieht,  mit  keinem  werte  suchte  der  dichter  die  flucht  zu 
beschönigen,  nicht  wie  bei  Virgil  kämpft  Äneas  bis  zum  letzten  augen- 
blicke,  um  erst  dann  von  den  göttern  dazu  aufgefordert  der  stadt  den 
rücken  zu  kehren.  Es  komt  hier  dem  dichter  nur  darauf  an,  kurz  und 
schlicht  die  facta  zu  erzählen ,  ohne  sie  tiefer  zu  motivieren.  Er  besteigt 
mit  seinen  leuten  20  schiffe,  die  die  Griechen  wol  gerüstet  unfern  sei- 
nes hauses  stehen  gelassen  hatten,  und  bald  sind  sie  auf  der  hohen  see; 
aber  durch  den  hass  der  Juno,  die  dem  Paris  noch  immer  nicht  die  bevor- 
zugung  der  Venus  vergessen  kan  (cf.  Virg.  Aen.  I,  26),  werden  die  Tro- 


VIBGIL   UND   HEINRICH  V.    VT.LDEKE  111 

janer  sieben  jähre  lang  auf  dem  meere  umhergetrieben  und  immer  fem 
gehalten  von  dem  lande,  wo  Äneas  gern  wäre,  von  Italien.  Der  dichter 
hat  durch  so  merkwürdige  erfindung  dem  Aneas  den  weiten  weg  in  das 
Idagebirge  und  den  bau  der  flotte  gespart.  Einmal  zeigt  Juno  den  Tro- 
janern gar  unsanft  ihre  macht;  drei  tage  und  nachte  verfolgt  sie  die 
schiffe  mit  stürm  und  wind,  regen  und  hagel,  so  dass  sogar  eins  von 
ihnen  im  meere  versinkt,  erst  am  vierten  tage  legt  sich  das  Unwetter. 
Veldeke  hat  in  der  beschreibung  des  Unwetters  seine  französische  vor- 
läge abgekürzt.  Äneas  erblickt  das  land  und  die  hohen  berge  Libyens, 
bald  erreichen  sie  die  küste ,  da  sind  von  ihren  zwanzig  schiffen  nur  noch 
sieben  beisanomien.  Wenig  gutes  gewährt  ihnen  der  hafen,  in  den  sie 
eingelaufen  sind.  Es  ist  deutlich  zu  erkennen ,  dass  sich  in  diesem 
Unwetter  zur  see  die  züge  vereinigt  finden,  die  wir  bei  Virgil  finden 
in  dem  seesturme,  der  die  Trojaner  nach  der  abfahrt  von  Greta  trift 
(m,  190  —  206),  und  aus  dem  Unwetter,  welches  sie  an  die  Libysche 
küste  treibt  (I,  102  —  123).  Äneas  schickt  hierauf  20  ritter,  welche 
yjYlionix^'^  anführt,  in  das  land  auf  kundschaft  aus  und  nach  „kauf  und 
spise."  Die  ritter  stossen  bald  auf  einen  weg,  der  sie  aus  dem  walde 
fuhrt,  und  da  sehen  sie  vor  sich  eine  feste,  schöne  und  grosse  stadt 
(horch) ,  die  Dido  erbaut  hatte ;  es  wird  nun  kurz  die  herkunft  der  Dido, 
die  veranlassung  ihrer  einwanderung  nach  Libyen  und  die  bekante 
geschichte  von  der  rindshaut  (cf.  I,  366  f.),  erzählt,  jetzt  dient  der  Dido 
ganz  Libyen ;  über  den  bau  der  stadt  verweist  Veldeke  auf  Virgilius  (cf.  I, 
418  —  29),  er  erzählt  nur  kurz,  dass  die  stadt  sieben  tore  und  hundert 
türme  hatte,  an  jedem  tore  sass  ein  mächtiger  graf  mit  300  rittern,  in 
der  Stadt  konte  man  alle  arten  der  guter  finden,  die  wasser  und  land 
hervorbrachte,  auf  der  einen  seite  vom  meere,  auf  der  andern  von  strö- 
men eingeschlossen,  trotzt  sie  jedem  angriff.  Der  palast  der  Dido  steht 
nahe  am  meere,  in  seiner  nähe  wider  das  münster  der  Juno,  ihr  nämlich 
dient  Dido  spät  und  früh ,  damit  sie  Carthago  zur  hauptstadt  aller  reiche 
mache  (cf.  Virg.  Aen.  I,  12  — 18).  Die  boten  gelangen  endlich  zur 
Dido:  Tlionii  fuhrt  das  wort  (wie  bei  Virgil  I,  520  ff.),  er  bittet  sie  um 
hilfe,  rat  und  frieden,  stelt  ihr  den  dienst  seines  hern  zu  geböte,  fleht 
sie  an,  dass  sie  die  Trojaner  im  hafen  besseres  wetter  erwarten  und 
ihre  schiffe  wider  in  stand  setzen  lasse,  und  unterrichtet  sie  überhaupt 
von  dem  misgeschick  der  flüchtigen  Trojaner  (cf.  1 ,  520  —  560).  Die 
königin,  wolbekant  mit  dem  Schicksal  Trojas  und  vertraut  mit  den  leiden 
des  heimatlosen  umherirrens,  will  gern  mit  Äneas  land  und  leute  teilen, 
wenn  er  bleibe;  wenn  nicht,  so  stelt  sie  ihm  wenigstens,  so  lange  er 
sich  aufhält,  alles,  was  sie  hat,  zur  Verfügung  (cf.  I,  570  —  78. 
619  —  630).    Unterdessen  sind  die  zwölf  verschlagenen  schiffe  eingelau- 


112  E.    WÖRNER 

fen,  Äneas  ist  ungeduldig  auf  die  rückkehr  der  boten  wartend  auf 
einen  hohen  berg  gestiegen,  um  nach  ihnen  auszuschauen,  da  sieht  er 
sie  kommen,  eüt  ihnen  entgegen,  und  nun  ist  in  lebendiger  weise  das 
hastige  fragen  des  Äneas  und  das  antworten  der  boten  gezeichnet  (genau 
nach  Benoit)  pag.  32,  21  —  33,  17.  Äneas  reitet  mit  500  (bei  Benoit 
140)  auserkorenen  rittern  in  herlichen  gewändem  auf  edlen  rossen  nach 
der  Stadt;  er  findet  dort  breite  Strassen  und  stattliche  paläste;  zu  beiden 
selten  schauen  magede  und  frowen  aufs  beste  geschmückt  seinem  einzuge 
zu,  leicht  erkennen  sie  den  Äneas  heraus,  denn  er  ist  ja  der  schönste 
von  allen.  Dido  empfängt  freundlich  ihn  und  seine  mannen.  Nachdem 
sie  ihm  den  kuss  des  wilkommens  gegeben,  schafft  sie  ihren  gasten  alle 
bequemlichkeit.  Erfreut  über  den  guten  empfang  schickt  Äneas  boten 
nach  dem  Ascanius  und  trägt  seinem  kämmerer  (kameräre)  d,ut,  reiche 
geschenke  herbeizubringen.  Als  nun  der  junge  Ascanius  zu  hofe  reitet, 
da  berührt  Venus  ihm  mit  ihrem  feuer  den  mund ,  so  dass  wer  ihn  zuerst 
küsst  von  liebe  entbrennen  muss.  Als  nun  Ascanius  an  den  hof  komt, 
umarmt  er  die  Dido  und  wird  von  dieser  geküsst.  So  erfasst  jene  die 
minne  zum  Äneas,  aber  sie  verbirgt  jetzt  noch  ihre  liebesqual  im  her- 
zen. So  hat  auch  hier  der  dichter  (Benoit)  die  erfindung  des  Virgil  ver- 
einfacht; es  folgt  hierauf ,  wie  bei  Virgil,  das  reiche  gastmahl,  an  dessen 
ende  Dido  den  Aneas  bittet,  ihr  zu  erzählen,  wie  Troja  erobert  wurde. 
Fast  mit  derselben  wendung  wde  bei  Virgil  begint  auch  bei  Veldeke 
Äneas  seine  erzählung.  Das  infandum  regina  jubes  renovare  doloretn 
entspricht  dem  sinne  nach  den  schlichten  werten  Veldekes:  ir  habet 
hegunnen  einer  rede  diu  mir  we  tut  Die  erzählung  des  Aneas  selbst 
ist  bei  Veldeke  ausserordentlich  verkürzt,  mit  etwa  400  kurzzeilen  wird 
das  ganze  zweite  buch  Virgils  abgefertigt,  etwas  ausfuhrlicher  ist  die 
erzählung  bis  zum  öffnen  der  tore  durch  die  im  bauche  des  hölzernen 
pferdes  versteckten  Griechen,  am  getreuesten  sind  die  reden  des  Sinon 
widergegeben,  wenn  auch  mit  manchen  entstellungen ;  z.  b.  dass  das  höl- 
zerne ross  so  gebaut  worden  sei,  dass  man  die  göttin  gewaffnet  darauf 
setzen  wolte,  was  nur  durch  den  tod  des  Werkmeisters  verhindert  wor- 
den, wovon  sich  bei  Virgil  keine  spur  findet,  ferner  dass  der  sogenante 
Sinon  Ulixes  selbst  gewesen  sei.  Eine  masse  der  schönsten  episoden 
des  buches,  wie  die  von  Laocoon  (fehlt  auch  bei  Benoit),  die  beschrei- 
bung  der  brennenden  stadt  und  des  kampfes  in  der  Strasse,  die  weiteren 
umstände  der  flucht  des  Äneas,  sind  unterdrückt;  Äneas  schliesst  kurz 
damit,  als  er  gesehen  habe,  dass  er  umgekommen  sein  würde,  hätte  er 
in  Troja  bleiben  wollen,  so  sei  er  mit  3000  mannen,  herlichen  scharen, 
ausgezogen ,  um  nach  Italien  zu  fahren ,  und  so  sei  er  unter  vieler  müh- 
sal  endlich  hieher  gekommen.     So  springt  der  dichter  mit  einigen  weni- 


"^IBGIL  UND   HEINBICH   V.    VELDEKE  113 

gen  Worten  über  das  ganze  dritte  bucii  Virgils  weg.  Welche  gesichts- 
punkte  zu  dieser  Verkürzung  des  stoflfes  geführt  haben  niögeu ,  wird  spä- 
ter zu  erörtern  sein.  Dass  aber  durch  die  vollständige  übergehung  die- 
ses buches,  auf  welches  in  den  folgenden  büchem  Virgils  vielfache  rück- 
deutungen  sich  finden,  manche  Unklarheit  auch  in  die  deutsche  Äneide 
gekommen  ist,  wird  sich  bald  zeigen. 

Um  so  ausführlicher  wird  nun  in  der  deutschen  Äneide  das 
thema  behandelt,  welches  das  ganze  vierte  buch  von  Virgil  aus- 
füllt, die  verhängnisvolle  liebe  der  Dido  zum  Äneas,  die  mit  dem 
tode  der  Dido  endigt  (p.  48 ,  5  —  80 ,  22).  Das  ist  der  rechte  tum- 
melplatz  für  den  minnedichter,  das  war  wol  auch  für  seine  hörer 
und  leser  eine  der  anziehendsten  partieen.  Hier  hat  zwar  der  dichter 
vielfach  das,  was  bei  Virgil  mit  wenigen  werten  angeführt  ist,  weit  aus- 
gesponnen, z.  b.  die  schlaflose  nacht  der  Dido  (bei  Virgil  IV,  5  nee 
placidam  membris  dat  cwra  quietem.  cf.  9  quae  me  suspensam  insomnia 
terrentf)  wird  bei  Veldeke  reich  ausgemalt;  nicht  ohne  tändelei  wird 
erzählt,  wie  Dido  den  namen  des  geliebten  der  Schwester  bekent  (cf 
Virg.  IV,  9  —  30).  Die  beschreibung  des  jagdaufzuges  der  Dido  (cf. 
Virg.  IV,  136  — 138),  nimt  bei  Veldeke  einige  70  kurzzeilen  in  anspruch 
(59,  19  —  61,  10),  endlich  wird  die  Vereinigung  der  Dido  mit  dem  Aneas 
(Virg.  IV,  165  — 168),  die  bei  Veldeke  unter  einem  schützenden  bäume 
des  waldes,  nicht  in  einer  waldgrotte  wie  bei  Virgil,  stattfindet,  mit 
übertriebener  ausführlichkeit  behandelt  (cf.  p.  62 ,  39  —  63 ,  28).  Pey 
bemerkt  zu  dieser  stelle:  oü  le  poete  franqais  abrege  Vepopee  latine,  le 
pdete  cUlemand  Vecourte  oü  le  trouvere  la  developpe,  le  minnesinger  la 
Paraphrase  et  ramplifie,  a.  a.  o.  s.  7.  Hier  gibt  also  Pey  eine  gewisse 
Selbständigkeit  Veldekes  zu.  Aber  auch  hier  sind  in  der  deutschen  Äneide 
vielfache  kürzungen  des  ganges  der  handlung  vorgenommen  worden. 
Bezeichnend  ist  vor  allem,  dass  Veldeke  das  vielbewunderte  bild  der 
Fama,  welche  die  künde  von  der  Verbindung  der  Dido  mit  dem  anköm- 
ling  über  den  erdkreis  verbreitet,  ein  bild,  das  Benoit  beibehalten  hat, 
gänzlich  unterdrückt.  Veldeke  weiss  auch  nichts  von  larbas,  dem  her- 
scher Mauritaniens^  dem  verschmähten  freier  der  Dido,  der  nun  zu  Jupi- 
ter um  räche  fleht  um  dieser  Zurücksetzung  willen;  nichts  weiss  er  von 
Jupiter,  der  durch  Mercurius  dem  seine  bestimmung  vergessenden  Äneas  die 
fahrt  nach  Italien  gebieten  lässt ,  er  berichtet  nur  mit  wenigen  werten ,  dass 
der  Dido  in  folge  dieses  Schrittes  viele  gram  geworden  wären,  und  zwar 
die  „heren  after  lande,"  die  ihre  minne. gesucht  hatten,  jetzt  aber  ihr 
an  ihre  ehre  sprachen ,  und  wie  dann  Äneas ,  als  er  ein  so  mächtiger 
herr  geworden  und  so  innig  geliebt  war,  von  den  göttem  einen  dringen- 
den befehl  erhalten  hätte,  das  land  zu  verlassen.    Sonst  findet  man  aber, 

ZBITSCUK.    F.   DBUT8CUS    PHII.0L0OUi.     BD.  UI.  8 


114  E.    WÖRNER 

besonders  in  den  reden  der  Dido,  die  grundgedanken  des  Virgil  wider, 
nnr  die  Anna  unterstützt  die  leidenschaft  ihrer  Schwester  nicht  mit  so 
staatsklugen  gründen  wie  bei  Virgil,  sie  sagt  ihr  vielmehr,  wie  sie  es 
anfangen  müsse,  den  Aneas  ihre  neigung  merken  zu  lassen,  ohne  es 
ihm  geradezu  zu  sagen  (cf.  pag.  57,  1  —  7).  Vornehmlich  zeigt  sich  die 
erwähnte  ähnlichkeit  des  gedankeuganges  in  den  reden  bei  der  schliess- 
lichen  auseinandersetzung  mit  der  Dido,  obwol  auch  hier  wider  in  der 
deutschen  Äneide  sich  eine  abkürzung  findet ,  indem  die  nochmalige  sen- 
düng  der  Schwester  Anna  zu  dem  unerbittlichen  Aneas  unterblieben  ist. 
Immer  kürzer  wird  der  deutsche  dichter,  je  weiter  es  zum  ende  des 
vierten  buches  komt,  er  lässt  alsbald  nach  dem  woi-twechsel  mit  der 
Dido  Aneas  davonfahren,  dann  die  verlassene  furstin  sogleich  zur  ausföh- 
rung  der  list  schreiten,  durch  welche  sie  ihrem  leben  ein  ende  machen 
will:  das  feuer  des  magischen  Opfers  wird  angezündet,  die  zurückgelas- 
senen angedenken  des  Äneas  herbeigebracht  und  dann  die  Anna  nach 
der  Zauberin  gesendet.  So  schafft  bei  Veldeke  die  Dido  alle  zeugen 
ihrer  tat  hinweg  und  nun  schreitet  sie  in  den  tod:  man  sieht  die  ganze 
Situation  ist  vereinfacht,  es  kent  die  deutsche  Äneide  nicht  die  Vorzei- 
chen, welche  den  nahen  tod  der  Dido  verkündigen  (IV,  450  —  465),  nicht 
das  nächtliche  grübeln  der  Dido,  durch  welches  sie  wider  auf  den  ent- 
schluss  zu  sterben  gebracht  wird ,  nichts  von  der  plötzlichen  abfahrt  des 
Äneas  mitten  in  der  nacht  zufolge  der  warnung  des  gottes;  wie  Virgil 
die  zwischen  rachegedanken  und  milderen  regungen  schwankende  Dido 
schildert,  als  sie  am  morgen  die  schiffe  der  Trojaner  auf  hohem  meere 
sieht,  dann  ihre  Verwünschungen  gegen  Aneas,  in  denen  sie  gleichsam 
den  tötlichen  hass  ihrer  nachkommen  gegen  das  römische  volk  und  das 
racheschwert  des  Hannibal  prophezeit,  alles  dieses  sucht  man  vergebens 
bei  Veldeke.  Rachsüchtig  und  unversöhnt  stirbt  Virgils  Dido,  weich- 
mütig  und  vergebend  die  deutsche. 

Das  fünfte  buch  Virgils  ist  wider  in  der  deutschen  Äneide  fast  ganz 
überspi-ungen ;  es  wird  mit  167  kurzzeilen  abgetan  (80,  23-84,  20). 
Gleich  anfangs  überrascht  die  kurze  äusserung  Veldekes,  dass  Äneas  über 
meer  gefahren  sei,  unzer  da  ze  lande  quam,  da  sin  voifer  begraben 
lach,  wobei  er  sich  nicht  einmal  die  mühe  nimt,  dieses  land  zu  nennen, 
obwol  im  vorhergellenden  noch  gar  nicht  erwähnt  ist,  wo  und  wann 
Anchises  gestorben.  Diese  angäbe  Mit  aber  bekantlich  an  das  ende  des 
dritten  buches  der  Äneide  und  mit  der  übergehung  dieses  buches  ist 
auch  sie  zugleich  unterdrückt  worden.  Der  dichter  erwähnt  zwar,  dass 
Äneas  gerade  an  dem  jalirestage  des  todes  seines  vaters  dorthin  gelangt 
sei,  aber  die  feierlichen  opfer  und  die  festspiele  Virgils,  die  den  grösteu 
teil   des  fünften  buches  ausmachen,   werden  mit  der  kurzen  andeutung 


VIBGIL  UND   HBINEICH  V.  VELDEKE  115 

abgetan :  da^  begienk  auch  Lineas  harde  herlichen  da.  (Benoit  hatte  die 
feierlichen  leichenspiele  in  die  ritterspiele  seiner  zeit  umgesetzi)  Ganz 
unterdrückt  ist  das  abermalige  feindselige  eingreifen  der  Juno,  welche 
durch  Iris  die  der  seefahrt  müden  trojanischen  irauen  zur  anzündung  der 
flotte  verleitet  und  die  rettung  der  scliiffe  durch  den  regenguss  Jupiters  auf 
das  flehen  des  Äneas.  Das  einzige ,  was  aus  diesem  buche  bei  Veldeke  mit 
einiger  ausführlichkeit  behandelt  wird ,  ist  die  nächtliche  erscheinung  des 
Anchises,  der  dem  Äneas  den  rat  erteilt,  die  greise  und  greisinnen  und 
die  den  kommenden  kämpfen  nicht  gewachsenen  im  lande  zurückzulas- 
sen und  ihn  dann  auffordert,  geleitet  von  der  Sibylle  in  der  unterweit 
aus  seinem  munde  seine  und  seines  geschlechtes  zukunft  zu  erfahren; 
bei  Virgil  entschwindet  der  schatten  des  Anchises  mit  herannahen  des 
morgens  (V,  738:  Jamquc  vale;  torquet  medios  nox  humida  cwrsus  et 
nie  8(wvus  equis  Oriens  adflavit  anhelis).  Der  verwante  deutsche  glaube 
spricht  sich  bei  Veldeke  in  den  werten  aus:  ichn  mach  nicht  langer 
hie  sin,  e^  nähet  der  hanencrät.  Kurz  wird  dann  der  gründung  einer 
Stadt  för  die  zurückzulassenden  erwähnt,  und  Äneas  hierauf  ohne  alle 
Umschweife  zur  Sibylle  gefuhrt  Sowol  die  episode  bei  Virgil,  in  der 
Venus  bei  Neptun  ihrem  söhne  günstige  fahrt  erwirkt  als  die  andere, 
in  der  der  tod  des  Palinurus  erzählt  wird,  sind  der  censur  erlegen. 

Dagegen  verweilt  der  dichter  mit  verliebe  bei  dem  sechsten  buche 
Virgils,  bei  der  fahrt  in  die  unterweit;  überhaupt  ein  beliebtes  thema  bei 
den  höfischen  dichtem  (84,  21  — 110,  30).  Freilich  schrumpft  die 
Sibylle,  die  gottbegeisterte  priesterin,  bei  Veldeke  zu  einer  alten  häss- 
lichen  hexe  zusammen,  die  indes  im  gründe  nicht  so  böse  ist,  wie  sie 
aussieht.  In  der  beschreibung  der  Sibylle  ist  Veldeke  seiner  eigenen 
einbildungskraft  gefolgt  (cf.  Pey  a.  a.  o.  s.  9).  Der  tempel  Apollos  zu 
Cumae  wird  zu  einem  hetehüs  und  von  der  Verzückung  der  Sibylle  ist  bei 
Veldeke  keine  rede;  wol  kent  auch  die  deutsche  Aneis  den  goldenen 
zweig  (rfa^  m),  welcher  bei  der  fahrt  in  den  Tartarus  notwendig  ist; 
wie  indes  die  episode  Virgils  vom  tode  des  Misenus  übergangen  ist,  so 
auch  der  zug,  dass  ein  taubenpar  den  Äneas  zu  dem  goldenen  zweige 
führt.  Veldeke  begnügt  sich  damit  zu  erzählen ,  die  götter  hätten  Äneas 
zu  dem  rise  geführt,  dafür  ist  aber  Veldeke  (mit  Benoit)  vorsichtig  genug 
dem  Äneas  noch  auf  den  weg  ein  kraut  gegen  den  gestank  der  höUe  und 
eine  salbe  gegen  das  höllische  feuer  mitzugeben!  Bei  dem  gange  durch 
die  unterweit  folgt  Veldeke  nach  Benoit  ziemlich  genau  den  hauptmo- 
menten  der  Virgilschen  erzählung,  die  eigentümliche  gestaltung  dersel- 
ben wird  an  einem  anderen  orte  zu  behandeln  sein.  Nicht  mehr  wun- 
dem wird  es  uns,  dass  in  der  rede,  in  welcher  Anchises  seinem  söhne 
das  ganze  künftige   Schicksal  seines  geschlechtes   zeigt,   die  menge  der 

8* 


116  E.   WÖRNEE 

anspielungen  auf  die  spätere  römische  geschichte  bis  auf  Augustus  herab 
in  der  mittelhochdeutschen  dichtung  übergangen  sind.  Wer  von  denen, 
die  Veldekes  gedichte  lesen  hörten,  würde  auch  diese  anspielungen  ver- 
standen haben!  Dafür  hilft  sich  hier  der  dichter  für  eine  Unterlassungs- 
sünde, die  er  früherhin  begangen  hat.  Während  nämlich  bei  Virgil 
im  dritten  buche  die  Celaeno  und  später  der  seher  Helenus  dem  Aneas 
verkündigt  haben,  dass  er  erst,  nachdem  er  seinen  eigenen  tisch  geges- 
sen habe ,  eine  stadt  in  Italien  würde  gründen  können ,  lässt  Veldeke  dies 
nachträglich  in  der  unterweit  den  Anchises  tun ,  nur  indem  er  die  tische 
in  schusseln  umwandelte:  pag.  110,  2  fg.  {dorch  not  solt  ir  e^^en  \  üwer 
schu^dn  üf  üwerm  tische). 

So  haben  wir  die  erste  hälfte  der  antiken  dichtung  betrachtet 
und  schon  jetzt  drängt  sich  die  beobachtung  auf,  dass  Virgils  ersten 
sechs  büchem  ungefähr  nur  das  erste  drittel  von  Veldekes  dichtung 
entspricht.  Während  bei  Virgil  das  Interesse  gleichraässig  zwischen  den 
Schicksalen  des  Aneas  seit  der  Zerstörung  Trojas  bis  zum  ende  seiner 
Irrfahrten  und  seiner  Schicksale  in  Latium  geteilt  ist,  föllt  bei  Veldeke 
das  hauptgewicht  auf  die  kämpfe  in  Latium,  das  übrige  wird  nur  als 
einleitung  betrachtet,  die  mit  ausnähme  des  liebesabenteuers  am  hofe 
der  Dido  so  kurz  wie  möglich  abgetan  wird. 

Genauer  folgt  Veldeke  den  sechs  letzten  büchern  der  Äneide;  von 
pag.  110,  31  — 150,  6  ist  der  Inhalt  des  siebenten  buches  behandelt. 
Äneas  wird  mit  übergehung  der  episoden  von  der  Cajeta,  der  amme  des 
beiden,  und  von  der  nächtlichen  fahrt  vorüber  an  der  küste  Circes, 
sogleich  zu  der  mündung  des  Tiber  geführt,  da  noch  Montalbäne  stM. 
Die  hungrigen  Trojaner  bedienen  sich  bei  der  mahlzeit  des  brotes  als 
Schüsseln  fflr  ihr  fleisch  und  die  fische ,  als  tische  dienen  ihnen  kniee  und 
beine,  sagt  Veldeke:  als  sie  nun  das  fleisch  verzehrt  haben,  essen  sie 
auch  das  brot  dazu  und  Ascanius  sagt  scherzhaft:  „das  will  ich  nicht 
vergessen ,  dass  wir  unsre  schusseln  essen."  Da  gedenkt  Äneas  der  werte 
seines  vaters  und  verkündet  nun  seinen  gefährten ,  dass  hier  der  ort  sei, 
wo  sie  sich  niederlassen  selten  (bei  Virgil  VIT,  122  steht  ein  Widerspruch 
gegen  das  frühere).  Die  ganze  Umänderung  des  mensas  consumere  in 
„die  schusseln"  essen  beruht  auf  der  Verschiedenheit  der  antiken  und 
der  deutschen  sitte  beim  essen;  nicht  mehr  auffallen  wird  es,  dass  hier 
wider  die  weitläufige  einführung  des  königs  Latinus  und  seiner  vielum- 
freiten  tochter  Lavinia,  sowie  das  orakel  des  Pannus  unterdrückt  ist 
(VII,  37  — 106).  Aneas  erfährt  dass  Latinus  könig  des  landes  sei  und 
sendet  zu  ihm  300  gute  ritter  (bei  Virgil  100  oratores)  nach  Laurentum 
mit  reichen  geschenken ,  indem  er  ihm  seine  dienste  entbieten  lässt.  Wie 
bei  Virgil  heisst  Latinus  den  Äneas  nicht  nur  in  seinem  lande  wilkom- 


VIBOIL   UND    HEINBICH   V.    VELDEKE  117 

men,  sondern  bietet  ihm  auch  eingedenk  des  götterspruches  seine  toch- 
ter  Lavinia  und  mit  ihr  nach  seinem  tode  das  ganze  reich  an,  hier  wie 
dort  wird  die  gesantschaft  mit  rossen  beschenkt.  Unterdessen  ist  Äneas 
auf  einen  hohen,  steilen  berg  am  meere  geritten,  den  er  sich  zum  bau 
seiner  bürg  ausersieht,  sehr  charakteristisch  gegen  das  Virgilische:  ipse 
humili  des^ignat  moenia  fossa  molitusque  locum  prinmsque  in  litore  sedes 
castrorum  in  moreni  pinnis  atqueaggere  cingit.  Als  die  boten  zurück- 
kamen, war  die  bürg  bereits  fertig.  Bei  Virgil  tritt  nun  von  neuem 
Juno  auf,  welche ,  da  sie  die  besitznahme  Latiums  nicht  verhindern  kann 
dieselbe  so  sehr  als  möglich  erschweren  will,  sie  reizt  daher  durch  die 
furie  Ällecto  die  gattin  des  Latinus  Amata  gegen  den  ankömling  auf, 
gewis  eine  der  prachtvolsten  Schilderungen  Virgils.  Als  die  königin  den 
sinn  ihres  gemahls  nicht  wenden  kann ,  treibt  sie  eine  bacchantische  wut 
in  die  wäldet,  und  gefolgt  von  einer  schar  gleich  wütender  frauen  ver- 
birgt sie  ihre  tochter  in  tiefe  Waldgebirge,  dann  reizt  Allecto  auch  den 
Turnus  zum  kämpf  gegen  den  fremdling  auf,  der  ihm  die  bereits  ver- 
sprochene braut  und  mit  ihr  das  reich  entreissen  will ;  endlich  verwickelt 
die  furie  den  jagenden  Ascanius  wegen  des  von  ihm  erlegten  hirsches 
des  Tyrrheus  in  einen  blutigen  streit  mit  den  bewohnern  des  landes,  bei 
dem  der  söhn  des  Tyrrheus  und  ein  angesehener  Latiner  fällt:  die  ver- 
anlassung zum  kämpfe  der  Latiner  gegen  die  fremdlinge.  Dieses  ganze 
eingreifen  der  göttin  ist  bei  Veldeke  natürlich  unterdrückt,  die  sache 
nimt  ihren  natürlichen  verlauf.  Die  königin,  deren  name  bei  Veldeke 
nie  genant  wird,  begünstigt  die  Vermählung  ihrer  tochter  mit  dem  ein- 
heimischen fürsten,  und  hat  den  könig  bereits  dazu  vermocht,  gegen  die 
ausdrückliche  Weisung  des  götterspruchs  dem  Turnus  die  tochter  zu  gelo- 
ben. Jetzt  setzt  sie  ihren  gemahl,  zornig  über  so  raschen  sinneswech- 
sel,  zur  rede,  und  als  sie  nichts  über  ihn  vermag,  berichtet  sie  dem  Tur- 
nus durch  einen  brief  die  gefahr,  und  fordert  ihn  zur  behauptung  seiner 
ansprüche  auf;  so  beschliesst  Turnus  den  krieg  mit  den  eindringlingen 
und  besendet  seine  verbündeten.  Unterdessen  baut  Äneas  seine  bürg 
aus,  die  veranlassung  zum  offenen  ausbruch  des  krieges  gibt  auch  hier 
die  erlegung  des  hirsches  und  der  sich  daran  knüpfende  kämpf  des  Asca- 
nius mit  Tyrrheus  und  seinen  söhnen,  der  mit  der  Zerstörung  der  bürg 
des  Tyrrheus  und  mit  dem  tode  eines  der  söhne  endigt.  Hierauf  plün- 
dern die  Trojaner  das  umliegende  land  und  versehen  reichlich  ihre  bürg 
Montalbane  mit  lebensmitteln,  der  belagerung  gewis.  Turnus  erscheint 
vor  dem  könig  Latinus  und  klagt  die  Trojaner  des  friedensbruches  an, 
als  der  könig  die  fremden  in  schütz  nehmen  und  die  sache  durch  eine 
ehrenhafte  sühne  ausgetragen  wissen  will,  geht  Turnus  zornig  zur  köni- 
gin und  wird  von  ihr  in  seinem  entschlusse  zum  kriege  bestärkt.    Nicht 


118  E.    WÖBNEB 

findet  sich  bei  Veldeke  die  angäbe,  dass  der  greise  Latinus  sich  jetzt, 
wo  alles  gegen  ihn  ist,  von  der  regierung  zurückzieht,  auch  die  uralte 
römische  sitte  des  öffnens  der  porta  belli  ist  übergangen.  Es  erscheinen 
nun  die  von  Turnus  herbeigerufenen  beere  der  italischen  forsten,  von 
denen  Veldeke  nur  die  vorzüglichsten  anführt;  bei  der  Camilla  und  der 
beschreibung  ihres  aufzuges,  besonders  auch  ihres  pferdes,  verweilt  er 
wider  mit  besonderer  Vorliebe,  auch  hier  im  anschluss  an  Benoit  (145, 
31  —  150,  6).  —  Pag.  150,  7  —  174,  36  entspricht  dem  Inhalte  des 
achten  buches  der  antiken  dichtung;  auch  hier  gibt  es  manche  abwei- 
chungen,  die  erkennen  lassen,  wie  durchgängig  die  verschlungene,  man- 
nigfach in  einander  eingreifende  handlung  bei  Virgil  in  der  mittelhoch- 
deutschen dichfiing  vereinfacht  ist,  was  bei  Virgil  gleichzeitig  und  neben- 
einander geschieht,  geschieht  hier  nacheinander;  der  lauf  der  erzählung 
entspricht  dem  laufe  der  zeit.  Gleich  am  anfang  haben  Benoit -Veldeke 
den  eigentümlichen  zug,  dass  Turnus  seine  fürstlichen  bundesgenossen 
versammelt,  ihnen  die  läge  der  sache  und  das  ihm  von  Latinus  zugefügte 
unrecht  darlegt,  und  sie  zur  hilfe  gegen  Aneas  auffordert,  worauf  Mezen- 
tius  sich  dafür  ausspricht,  vorerst  den  Äneas  zur  Verantwortung  vor  Tur- 
nus zu  bescheiden,  wogegen  Menapus  auf  sofortige  er  Öffnung  der  feind- 
seligkeiten  dringt;  letztere  meinung  trägt  den  sieg  davon,  und  nun  wer- 
den die  Verteidigungsanstalten  beschrieben ,  welche  Äneas  auf  seiner  bürg 
trifft.  Als  Venus  seine  gefahrvolle  läge  sieht,  söhnt  sie  sich  mit  ihrem 
gatten,  dem  smidegotte,  wider  aus,  dem  sie  seit  jenem  bekanten  aben- 
teuer  mit  Mars, gram  geworden  war,  wobei  Veldeke  (nach  Benoit)  nicht 
umhin  kann  seinen  landsleuten  das  bekante  geschichtchen  aufzutischen, 
von  dem  sich  bei  Virgil  nichts  findet.  Vulcan  schmiedet  hierauf  für 
Äneas  eine  prachtvolle  rüstung,  freilich  ganz  im  geschmack  und  nacli 
bedürfiiis  eines  mittelalterlichen  ritters;  jedes  einzelne  stück  wird  ein- 
gehend beschrieben,  während  bei  Virgil  nur  die  bildwerke  des  Schildes, 
scenen  aus  der  römischen  geschichte,  beschrieben  werden.  Durch  den 
boten,  der  ihm  die  waffen  bringt,  erhält  Äneas  zugleich  die  Weisung  der 
Venus,  nach  Pallante  zum  könig  Evander  zu  ziehen  und  mit  ihm  sich 
gegen  seine  feinde  zu  verbünden.  Bei  Virgil  empfängt  Äneas  diesen  rat 
durch  den  flussgott  des  Tiber.  Hierauf  stärkt  Äneas  den  mut  seiner 
leute  durch  eine  lange  rede ,  mahnt  sie  zur  tapfem  Verteidigung  der  bürg 
und  besteigt  mit  seinem  gefolge  das  schiff ,  das  ihn  nach  Pallante  bringt, 
dorthin  wo  jetzt  Rom  steht.  Äneas  trifft  den  könig  Evander  vor  der 
Stadt,  wie  er  eben  das  andenken  des  Hercules,  des  Kakustöters,  feier- 
lich begeht.  Die  latinische  starasage  von  Kakus,  von  Virgil  sehr  aus- 
führlich behandelt,  ist  natürlich  wider  bei  Veldeke  mit  wenigen  worten 
abgetan.    Eakus  ist  ihm  ein  monstrum^  man  weiss  nicht  ob  er  sich 


VmOIf.   UND   HSIN&ICH   V.   VELDEKE  119 

darunter  einen  lindwurm  oder  einen  riesen  gedacht  hat;  ebenso  ist  die 
rede  des  Evander,  in  welche  Virgil  die  ganze  Urgeschichte  des  landes 
von  der  regierung  des  Saturnus  an  eingeflochten  hat,  bei  Yeldeke  ganz 
übergangen.  Nur  das  was  zur  motivierung  des  freundlichen  empfanges 
beibehalten  werden  muste,  nämlich  dass  sich^  Evander  als  gastfreund 
des  Anchises  zu  erkennen  gibt,  ist  beibehalten  worden;  freilich  ist  bei 
Veldeke  Evander  selbst  in  Troja  gewesen,  während  umgekehrt  bei  Vir- 
gil Anchises  in  Arcadien  mit  Evander  zusammengetroffen  ist.  Bezeich- 
nend ist  es^  dass  die  fast  ärmlichen  und  beschränkten  Verhältnisse  des 
königs  Evander,  wie  sie  Virgil  darstellt,  um  den  gegensatz  zu  der  nach- 
maligen grosse  und  pracht  der  weltbeherschenden  stadt  hervorzuheben, 
bei  Veldeke  sich  nicht  finden.  Ihm  ist  Evander  ein  mächtiger  könig, 
der  die  schwertleite  seines  sohnes  Pallas  mit  einer  glänzenden  festlich- 
keit  begeht,  und  der  dem  Aneas  10,000  mannen  und  50  schiffe  mitgibt. 
So  hat  sich  das  mittelhochdeutsche  gedieht  den  bund  mit  den  Etruskern 
erspart,  zu  welchem  bei  Virgil  Evander  den  Aneas  veranlasst,  ebenso- 
wenig weiss  es  freilich  auch  von  der  Sendung  des  Venulus  zum  Diome- 
des  nach  Argyrippa,  von  der  Virgil  gleich  im  beginn  des  buches  erzählte. 
Mit  diesem  mächtigen  heere  tritt  nun  Än^as  die  rückfahrt  an. 

174,  37  — 198,  34  umfasst  den  Inhalt  des  neunten  buches,  dessen 
Inhalt  die  belagerung  der  bürg  oder  des  lagers  der  Trojaner  ist.  Bei 
Virgil  begint  das  buch  damit ,  dass  Juno  durch  die  Iris  dem  Turnus  die 
entfernung  des  Aneas  von  den  seinen  kund  tut  und  ihn  zum  beginn  des 
kampfes  in  diesem  günstigen  Zeitpunkte  auffordert.  Natürlich  ist  dieser 
eingang  wider  in  der  deutschen  Äneide  unterdrückt,  Turnus  erföhrt  dass 
Aneas  entronnen  sei,  und  entschliesst  sich  die  bürg  zu  belagern,  die  er 
schnell  zu  erobern  gedenkt.  Bald  merkt  er  aber,  dass  die  bürg  fest 
und  gut  verteidigt  ist,  er  muss  sich  nach  dem  ersten  angriff  mit  gros- 
sem Verluste  zurückziehen ,  etwas  anders  bei  Virgil.  Darauf  entdeckt  er 
die  schiffe  der  Trojaner  am  ufer  und  lässt  sie  verbrennen,  damit  die 
feinde  nicht  entkommen  können ;  nichts  ist  hingegen  von  dem  wunder  zu 
lesen ,  durch  welches  bei  Virgil  die  schiffe  von  Jupiter  auf  Cybeles  bit- 
ten in  meernjrmphen  verwandelt  werden;  bei  Virgil  begint  auch  der 
Sturm  aufs  lagcr  der  Trojaner  erst  am  folgenden  morgen,  die  Latiner 
hatten  erwartet,  dass  die  Trojaner  eine  offene  feldschlacht  eingehen  wür- 
den.  Hierauf  lagert  sich  das  feindliche  beer  vor  der  bürg  des  Aneas  und 
überlässt  sich,  berauscht  vom  weine,  von  spiel  und  sang  müde,  einer 
sorglosen  ruhe;  nichts  weiss  Veldeke  von  den  Wachtposten,  die  in  Vii- 
gils  Äneide  das  lager  umstelt  haben.  Es  folgt  nun  die  episode  von  dem 
nächtlichen  gang  des  Euryalus  und  Nisus,  in  welcher  Virgil  entschieden 
sentimentaler  ist  als  Veldeke.     Das  abenteuer  geht  hier  wie  dort  auf 


120  B.   WÖKNBR 

gleiche  weise  aus,  nur  dass  bei  Veldeke  Volscens  „der  here  Volzän  ze 
Laurente''  mit  dem  leben  davon  komt.  Am  andern  morgen  zieht  das 
beer  des  Turnus  zum  stürm  heran ;  bei  Virgil  werden  die  köpfe  des  Nisus 
und  Euryalus  vor  dem  beere  hergetragen,  während  sie  bei  Veldeke  an 
einem  galgen  aufgehängt  werden.  Von  den  klagen  der  mutter  des  Eurya- 
lus weiss  die  deutsche  Aneide  nichts.  Nun  folgt  die  beschreibung  des 
Sturmes  auf  das  lager,  die  in  den  hauptmomenten  genau  nach  Virgil 
gedichtet  ist;  erst  die  allgemeine  beschreibung  des  sturmes,  dann  der 
Sturz  des  von  Lycus  und  Helenor  verteidigten  turmes,  hierauf  die  erle- 
gung  des  prahlenden  Eomulug  durch  Ascanius,  endlich  die  grostaten  der 
beiden  riesen  Pandarus  und  Bytias  am  geöifheten  tore  der  veste,  beider 
tod  durch  Turnus  und  dessen  einschliessung  in  der  bürg,  aus  welcher  er 
sich  schliesslich  durch  einen  sprung  in  den  Tiber  rettet.  Veldeke  lässt 
ihn  dagegen  durch  das  burgtor  hinausschlüpfen ,  als  dieses  von  Pandarus 
wider  geöffnet  wird ,  um  die  vor  den  toren  kämpfenden  Trojaner  herein- 
zulassen. Es  kehrt  nun  Turnus  zu  den  seinen  zurück  und  aus  den  gros- 
sen Verlusten,  die  sein  beer  erlitten  hat,  lässt  sich  erkennen,  dass  das 
unrecht  auf  seiner  seite  ist. 

198,  35  —  214,  40  entspricht  dem  Inhalte  des  zehnten  buches; 
der  ganze  anfang  des  buches  bis  256  ist  in  der  mittelhochdeutschen 
dichtung  übergangen.  Natürlich  ist  es  wider  die  götterversamlung 
(X,  1  — 117),  die  gestrichen  wurde;  sie  erscheint  allerdings  auch  bei 
Virgil  für  den  fortschritt  der  handlung  ziemlich  überflüssig,  denn  ver- 
geblich versucht  Jupiter  die  Juno  und  Venus  zu  versöhnen  und  stelt 
schliesslich  doch  alles  dem  Schicksale  anheim.  Ebensowenig  geschieht 
bei  Veldeke  des  bündnissos  erwähnung,  welches  Äneas  mit  den  gegen 
Mezentius  empörten  Etruskern  schliesst,  und  somit  ist  auch  die  aufzäh- 
lung  der  oberitalischen  bundesgenossen  des  Äneas  (bei  Virgil  X,  163 
bis  214)  überflüssig  geworden.  Der  weite  um  weg  ist  in  der  deut- 
sehen  Aneide  dem  Aneas  erspart  worden,  er  erhält  sogleich  von  Evan- 
der  die  ansehnliche  hilfsmacht  von  10,000  mann,  mit  denen  er  auf 
50  schiffen  zu  den  seinen  zurückkehrt.  Ebensowenig  bedarf  es  jetzt  der 
nymphen,  in  welche  seine  schiffe  verwandelt  worden  sind,  um  ihm  die 
bedrängnisvolle  läge  der  seinigen  zu  melden  (X,  215  —  56),  selbst  die 
ausführliche  und  lebendige  beschreibung  von  der  landung  der  etruskischen 
flotte  (256 — 309)  ist  mit  wenigen  werten  abgetan.  Veldeke  hält  sich 
nirgends  lange  bei  diesen  einzelheiten  auf;  am  nächsten  morgen  begint 
bei  ihm  der  stürm  auf  die  bürg  von  neuem,  da  sehen  die  belagerten 
den  Aneas  mit  seiner  flotte  herbeikommen  und  beginnen  vor  freude  zu 
singen  und  zu  blasen.  Turnus  hätte  jenen  zwar  gern  „die  zufahrt  genom- 
men ,^^  aber  sie  sind  bald  aus  den  schiffen  auf  die  rosse  gekonunen,  und 


VIBOIL   UND  HBINBICH   V.    VELDEKE  121 

nun  begint  die  offene  feldschlacht  zwischen  beiden  beeren ;  auch  hier  hat 
Veldeke  alles  viel  kürzer  als  Virgil  erzählt.  Abweichend  von  Virgil 
begint  die  feldschlacht  damit ,  dass  Pallas  und  Turnus  zwischen  den  bei- 
den beeren  ihre  lanzen  brechen,  nun  erst  folgt  der  massenkampf;  Vel- 
deke hilft  sich  über  die  ausfuhrliche  beschreibung  desselben  hinweg  mit 
den  Worten:  „es  wäre  allzu  lang  zu  sagen,  wer  da  fiel  und  wer  da  stach, 
und  wer  da  seine  Speere  brach,  wer  da  starb  und  wer  da  schlug,  denn 
es  waren  deren  viele  und  genug,"  nur  lässt  Turnus  20mal  mehr  tote 
auf  dem  platze  als  Äneas.  Unterdessen  schickt  Ascanius  aus  der  bürg 
500  ritter  dem  Äneas  zu  hilfe,  die  dem  feinde  viel  schaden  tun;  bei 
Virgil  komt  Ascanius  selbst  mit  den  belagerten  Trojanern  aus  dem  lager, 
aber  zu  einem  andern  Zeitpunkte  des  kampfes,  erst  nach  dem  tode  des 
Pallas  (cf.  602  —  605);  so  dauert  das  blutige  kämpfen  bis  nachmittag. 
Da  gelingt  es  dem  Turnus,  einen  teil  der  Trojaner  in  die  flucht  zu 
schlagen  (bei  Virgil  sind  es  die  mit  Pallas  gekommenen  Arcader).  Der 
junge  Pallas  bringt  sie  durch  seine  werte  zum  stehen  und  geht  nun 
selbst  auf  Turnus  los ,  vor  dem  sie  fliehen.  Es  folgt  der  Zweikampf  zwi- 
schen Pallas  und  Turnus,  der  mit  des  ersteren  tode  endigt  Bei  Virgil 
nimt  Turnus  dem  erschlagenen  feinde  das  wehrgehenk  von  kostbarer 
arbeit,  bei  Veldeke  das  ringlein,  welches  Äneas  seinem  jungen  genossen 
geschenkt  hatte.  Bei  Virgil  folgt  nun  d^s  wüten  des  Äneas  in  den  rei- 
hen der  feinde;  Juno,  dadurch  um  das  leben  des  Turnus  besorgt,  lockt 
diesen  durch  ein  scheinbild  des  Äneas  auf  eins  der  schiffe,  dessen  anker- 
seile sie  alsbald  löst.  Turnus  treibt  in  das  offene  moer  hinaus.  Auch 
hier  ist  bei  Benoit  und  nach  ihm  bei  Veldeke  mit  offenbarer  absichtlich- 
keit das  eingreifen  der  göttin  unterdrückt  worden,  ein  schütze,  der  sich 
in  einem  der  schiffe  geborgen  glaubt,  verwundet  von  dort  aus  den  Tur- 
nus durch  einen  schuss ,  dieser  springt  in  das  schiff  und  tötet  den  schützen, 
dabei  aber  löst  sich  das  ankerseil  und  der  wind  treibt  das  schiff  ins 
offene  meer;  am  andern  morgen  f&hrt  der  umspringende  wind  das  schiff 
wider  ans  land :  vor  eine  horch  da  DampnAs  sin  vater  here  über  was  — 
pag.  210,  28  f.  (X,  688  et  patris  ardiquam  Dauni  defertur  ad  urbem). 
Nun  erst  wendet  sich  Veldeke  zur  beschreibung  der  beiden  taten,  die  der 
über  Pallas  tod  ergrimte  Äneas  volbringt,  und  Veldekes  werte :  her  machetc 
eine  strafe  enalmitten  dorch^  gedrank  —  entsprechen  ziemlich  genau 
den  werten  Virgils  v.  513  f.  latumque  per  agmen  ardens  liniitem  agit 
ferro.  Für  Turnus  tritt  nun  bei  Virgil  und  bei  Veldeke  Mezentius  ein, 
und  sein  und  seines  sohnes  tragisches  geschick  wird  in  der  deutschen 
dichtung  ziemlich  getreu  nacherzählt:  Mezentius  muss  von  Äneas  ver- 
wundet bald  das  Schlachtfeld  verlassen,  es  tritt  für  ihn  sein  söhn  Lau- 
sus  ein,   der  zuletzt   den  streichen  des  Äneas  erliegt.    Bei  der  künde 


122  E.   WÖRNEB 

davon  kehrt  der  alte  Mezentius,  der  seiner  wunden  gepflegt  hat,  in  den 
kämpf  zurück,  um  sich  an  Aneas  zu  rächen,  es  ereilt  ihn  aber  dasselbe 
geschick.  Auch  hier  sind  einzelne  züge  Virgils,  z.  b.  der,  dass  Mezen- 
tius sein  schlachtross  Rhoebe  anredet,  als  er  zum  letzten  kämpfe  gelit, 
in  der  höfischen  dichtung  nicht  zu  finden.  Veldeke  schliesst  den  kämpf 
mit  den  worten :  „  der  storm  wert  allen  dein  taeh  \  un^  da^  in  diu  'naht 
schiet,  aJsus  saget  uns  daz,  lietJ^ 

215,  1 — 246,  40  umfasst  den  inhalt  des  elften  buches,  wider 
mit  wesentlichen  abkürzungen,  aber  auch  erweiterungen.  Gleich  der 
anfang  des  buches,  wo  Aneas  aus  den  erbeuteten  waflFen  des  Mezentius 
dem  Mars  ein  tropaeum  errichtet,  ist  in  dem  höfischen  gedieht  unter- 
drückt, es  war  ja  dies  eine  dem  raittelalter  unverständliche  sitte.  Es 
wird  bei  Veldeke  gleich  die  gesantschaft  der  Latiner  (bei  Virgil  XI, 
100  — 138)  heraufgenommen,  welche  um  einen  Waffenstillstand  für  die 
Verbrennung  der  toten  bittet,  und  darauf  in  zwei  halbzeilen  die  Verbren- 
nung der  toten  erwähnt,  die  Virgil  ausführlich  schildert  (XI,  182  —  224); 
um  so  ausführlicher  erzählt  das  deutsche  gedieht  die  heimsejidung  der 
leiche  des  jungen  Pallas,  und  hier  ist  wieder  in  einem  zuge  erzählt,  was 
bei  Virgil  durch  eine  episode  unterbrochen  ist  (XI,  29 — 99.  138-180). 
Die  meisten  momente  der  erzählung  Virgils  finden  sich  bei  Veldeke  wider, 
der  grund ,  warum  andere  unterdrückt  sind,  lässt  sich  leicht  erkennen ;  z.  b. 
findet  sich  bei  Veldeke  nicht  die  schöne  vergleichung  des  toten  Pallas  mit 
einer  geknickten  blume  (XI ,  68  fg.) ,  die  doch  selbst  Benoit  de  Sainte 
More  beibehalten  hat,  einmal  weil  Veldeke  consequent  allen  bildern  «aus 
dem  wege  geht,  und  dann  weil  ihm  wahrscheinlich  die  Zusammenstel- 
lung eines  gefallenen  ritters  mit  einer  blume  unpassend  schien;  die  bei- 
gäbe der  kriegsgefangenen ,  die  als  totenopfer  fallen  sollen  (XI,  81.  82), 
war  für  jene  zeit  ungeniessbar ,  und  das  hinter  der  leiche  weinend  her- 
schreitende streitross  Äthra  war  wol  auch  fürs  mittelalter  unverständlich. 
Dagegen  ist  die  bahre,  bei  Virgil  ein  einfaches  geflecht  aus  baumzwei- 
gen (stramen  agreste  v.  67),  bei  Veldeke  (nach  Benoit)  mit  elfenbein, 
edelsteinen  und  kostbaren  gewändern  reich  geziert,  und  auch  bei  ihm 
werden  dem  leichenzuge  die  rosse,  Schilde  und  waffen  beigegeben,  die 
Pallas  erbeutet  hat.  Fast  noch  inniger  als  bei  Virgil  klingt  in  der  höfi- 
schen dichtung  die  klage  des  Äneas  um  den  gefallenen;  bei  Virgil  findet 
man  nicht  den  zug,  dass  Äneas  mit  gewalt  von  der  leiche  hinweggeria- 
sen  werden  muss:  sere  er  weinen  began,  unze  in  sine  wise  man  mit 
gwalde  darvon  brächen  (p.  219,  7);  wortreicher  als  der  antike  dichter, 
aber  auch  lebenswahrer  ist  der  deutsche  hier,  wo  er  die  ausbräche  des 
Schmerzes  erzählt,  bei  dem  waffengenossen,  bei  dem  vater  und  bei  der 
mutter;  von  drei  verschiedenen  gesichtspunkten  aus  leiht  unser  dichter 


VIBOIL  UND   HBINSICH   V.   VELDBKE  123 

dem  schmerze  worte ,  (man  muss  hier  beachten ,  dass  bei  Virgil  die  mut- 
ter  des  Pallas  schon  längst  verstorben  ist).  Über  Virgil  hinaus  wird 
nun  mit  umgehender  genauigkeit  und  mit  sichtlicher  Vorliebe  für  den 
gegenständ  die  bestattung  des  Pallas  in  der  heimat  erzählt,  das  grab- 
gewölbe,  die  grabschrifk,  die  unverlöschliche  lampe,  die  noch  braute, 
als  unter  kaiser  Friedrich  das  grab  in  Rom  aufgefunden  wurde ,  cf.  p.  226. 
(Ettmüller,  vorrede  zur  ausgäbe  p.  XVT.)  Benoit  hat  von  der  aufßndung 
des  grabes  nichts.  Die  deutsche  Äneide  geht  nun  sogleich  zu  der  ver- 
samlung  über ,  die  der  könig  Latinus  zu  sich  berufen  hat  in  der  absieht, 
mit  Äneas  frieden  zu  schliessen.  Kurz  wird  die  rückkehr  des  Turnus 
angedeutet,  die  rückkehr  der  zu  Diomedes  geschickten  gesanten  musto 
natürlich  auch  hier  unterbleiben ,  da  schon  früher  ihre  abseudung  über- 
gangen war.  Die  grimdgedanken  der  fiiedensrede ,  die  bei  Virgil  könig 
Latinus  hält,  lassen  sich  noch  bei  Veldeke  widerfinden;  er  erklärt  sich 
bereit,  dem  Aneas  das  land  zu  Tuscäne  zu  lehen  zu  geben  (cf.  XI, 
316  —  323),  oder  wenn  er  abziehen  will,  ihm  zum  neubau  seiner  flotte 
behilflich  zu  sein.  Die  Charakteristik,  die  Virgil  von  dem  beistimmen- 
den Drances  entwirft,  hat  sich  auch  bei  Veldeke  noch  erhalten  und  dem 
largus  opum  et  lingua  mdior  sed  frigida  hello  dextera  (XI,  338)  ent- 
spricht ziemlich  genau  das  Veldekische  her  was  wise  unde  riche,  .  .  . 
vertoi^n  unde  redehaht,  niwan  da^  her  ungerne  vaht.  Drances  ist  es, 
der  zur  entscheidung  des  ganzen  Streites  einen  Zweikampf  zwischen  Äneas 
und  Turnus  vorschlägt  und  so  den  gedanken  anregt,  der  die  neue  Wen- 
dung der  handlung  bedingt;  auch  die  spottende  gegenrede  des  Turnus 
hat  Veldeke  (nach  Benoit)  ziemlich  treu  widergegeben.  Das  boshafte 
wort:  üwer  ros  is  so  getan,  \  swenne  ir^  rüret  mit  den  sporen,  \  ez,  lou- 
fet  allen  den  bevoren,  \  die  ü  zu  sprengen  \  die  verre  und  ouch  die 
letige,  lässt  sich  wol  vergleichen  mit  Virgils:  An  tibi  Mavors  ventosa 
in  lingua  pedibusque  fuga^cibus  istis  semper  erit?  v.  389  flf.  (nur  ist 
im  deutschen  viel  mehr  humor).  Es  wird  nun  plötzlich  die  versam- 
lung  durch  die  nachricht  aufgelöst,  dass  das  beer  des  Äneas  gegen 
die  Stadt  anrücke.  Nach  Virgil  XI,  511  —  26  hat  Äneas  die  leichte 
reiterei  in  der  ebene  gegen  die  stadt  vorangeschickt,  er  selbst  sucht 
durch  das  gebirge  auf  um  wegen  dahin  zu  gelangen;  diese  Situation  ist 
bei  Veldeke  nicht  klar  dargelegt;  vielleicht  lag  dies  an  seinem  franzö- 
sischen vorbilde;  Turnus  durch  kundschafter  gewarnt  legt  sich  gegen 
Äneas  in  einen  hinterhalt,  während  Messapus  und  Camilla  gegen  die 
leichte  reiterei  der  Trojaner  kämpfen  müssen;  es  begint  nun  die  erzäh- 
lung  des  reitergefechtes ,  und  mit  ihm  tritt  Camilla  in  den  Vordergrund. 
Virgil  unterlässt  auch  hier  nicht  eine  göttin,  die  Diana,  unmittelbar  an 
dem  Schicksale  der  Camilla  zu  beteiligen;  auch  dies  ist  natürlich  wider 


124  E.    WÖRNER 

in  den  dichtungen  des  mittelalters  übergangen.  Die  Trojaner  werden 
zuerst  durch  den  heldenmut  der  Camilla  und  ihrer  Jungfrauen  aus  dem 
felde  geschlagen.  Die  lebendige  beschreibung  des  hin  und  her  wogen- 
den reitergefechtes  bei  Virgil  hat  die  deutsche  dichtung  nicht ,  eigentüm- 
lich ist  ihr  die  auffassung ,  nach  welcher  die  Trojaner  zuerst  die  Camilla 
und  ihre  Jungfrauen  für  göttinnen  oder  meerweiber  (merminne)  halten  und 
deshalb  scheu  vor  ihnen  fliehen,  bis  endlich  einer  von  ihnen,  Örilocus 
(bei  Virgil  Orsilochus,  derselbe,  welchen  dort  Camilla  im  laufe  einholt 
und  tötet,  694  —  720),  eine  der  kriegerinnen  erlegt  und  dadurch  seinen 
landsleuten  die  furcht  vor  den  vermeintlichen  göttinnen  nimt.  Nun  trei- 
ben die  Trojaner  die  Camilla  mit  ihrer  schar  zurück,  bis  sie  endlich 
wider  von  Messapus  vor  Laurentums  mauern  in  die  flucht  gejagt  wer- 
den. Da  reitet  der  ritter  Tarcün,  ein  harde  hobesch  Trojan  (bei  Virgil 
ist  Tarcho  der  anführer  des  etruskischen  heeres  XI,  727)  hervor  und 
verspottet  die  Camilla,  der  besser  ein  anderer  kämpf  anstünde,  nämlich 
da^  vekten  umb  die  minne,  in  dem  sie  wol  immer  siegen  würde.  Es 
ist  bemerkenswert,  wie  hier  die  ursprünglichen  werte  Tarchons  verkehrt 
sind.  Bei  Virgil  reitet  dieser  ins  treffen ,  stellt  die  Schlachtordnung  wider 
her,  und  schilt  seine  leute,  dass  sie  vor  einer  frau  die  flucht  ergriflFen; 
V.  734  ff.  femina  palantes  agit  atque  haec  agmina  veriit?  quo  ferrum 
quidve  haec  gerimus  tda  irrita  dextris?  At  non  in  Venerem  segnes 
nocturnaque  hella,  aut  ubi  curva  choros  indixit  tibia  Bacchi,  exspectare 
dapes  et  plenae  pocula  mensae  et  q.  s.  Bei  Veldeke  büsst  Tarcün  seine 
spottrede  mit  dem  leben,  bei  Virgil  ermutigt  er  durch  die  gefangennähme 
des  Venulus  seine  leute,  und  so  weicht  auch  in  der  erzählung  vom  tode 
der  Camilla  die  deutsche  Äneis  in  nebenzügen  von  Virgils  darstellung 
ab,  sie  stirbt  hinterlistig  erschossen  von  dem  schützen  Arras  (bei  Virgil 
Aruns),  der  ihr  schon  lange  nachgeschlichen  ist,  und  während  dieser 
Aruns  bei  Virgil  durch  den  rächenden  pfeil  der  nymphe  Opis  getroflFen 
wird,  die  von  der  Diana  aufgestellt  ist  denjenigen  zu  strafen,  der  den 
tod  der  Camilla  verschuldet,  erliegt  er  bei  Veldeke  dem  Schwertstreiche 
einer  der  Jungfrauen.  Die  flucht  der  Latiner  nach  dem  falle  der  Camilla 
und  das  blutbad  vor  den  toren  Laurentums  wird  bei  Veldeke  kurz  abge- 
tan mit  den  werten,  dass  jene  nun  das  feld  räumten  und  dass  Turnus 
auf  die  nachricht  vom  tode  der  Camilla  seinen  Unterhalt  verliess  und 
zur  Stadt  zurückkehrte.  Nach  abzug  des  Turnus  komt  bei  Virgil  Aneas 
mit  seinem  beere  an  und  findet  den  weg  nach  der  Stadt  oflen ;  man  sieht 
hier  wider  die  Unklarheit  der  Situation  in  der  deutschen  Äneide,  in 
der  es  heisst,  Äneas  habe  zwar  den  Turnus  abreiten  sehen,  aber  nicht 
gewagt  ihn  zu  bestehen,  da  er  nur  200  ritter  bei  sich  gehabt;  es  wird 
hier  überhaupt  nicht  klar,  wo  Äneas  die  ganze  zeit  über  geblieben  ist. 


VBBGIL    UND   HEINRICH  V.    VELDEKB  125 

Beide  beere  schlagen  hierauf  vor  Laurentum  ihr  lager  auf.    Aneas  in  der 
absieht,  nach  diesen  niederlagen  des  feindes  die  stadt  zu  belagern. 

p.  247,  1  —  332,  26  umfasst  den  inhalt  des  zwölften  buches.  Hier 
bewegen  sich  die  mittelalterlichen  dichter  am  freiesten.  Gleich  der  erste 
abschnitt  dieser  partie  (247,  1—256,  10)  ist  eine  freie  erfindung  des 
französischen  dichters,  welcher  Veldeke  folgt.  König  Latinus  bittet  den 
siegreichen  Äneas  um  einen  Waffenstillstand  von  40  tagen ,  der  ihm  auch 
gewährt  wird.  So  gewint  der  dichter  zeit  ausfuhrlich  zu  beschreiben, 
wie  die  leiche  der  Camilla  von  Turnus  unter  grossem  gepränge  heim- 
gesendet, und  sodann  wie  die  Camilla  bestattet  wird.  Die  genaue  beschrei- 
bung  ihres  grabmals  und  seiner  Schönheit,  ihrer  grabschrift,  der  unver- 
löschlichen  lampe  und  von  anderem  dergleichen  wird  hier ,  wie  früher  bei 
der  bestattung  des  Pallas,  widerholt.  Erst  nachdem  dies  alles  breit 
erzählt  ist,  f&hrt  der  dichter  mit  dem  weiter  fort,  was  bei  Virgil  den 
anfang  des  buches  ausmacht,  damit,  dass  sich  jetzt  endlich  Turnus  ent- 
schüesst,  dem  kriege  durch  einen  Zweikampf  ein  ende  zu  machen.  Tur- 
nus beharrt  bei  seinem  vorsatz,  trotz  der  abmahnenden  rede  des  königs 
(und  trotz  der  bitten  der  königin  nach  Viigil).  Der  abgelaufene  Waffen- 
stillstand wird  zur  Vorbereitung  far  den  Zweikampf  noch  um  vierzehn  tage 
verlängert  (so  bei  Veldeke,  bei  Benoit  um  acht  tage,  bei  Virgil  XII, 
75.  76  soll  er  gleich  am  nächsten  tage  stattfinden).  Hiermit  gewinnen 
wider  die  höfischen  dichter  zeit  die  episoden  einzuflechten ,  auf  die  es 
ihnen  besonders  ankam,  nämlich  die  Unterredung  der  königin  mit  ihrer 
tochter  Lavinia  von  der  minne.  Die  mutter  will  der  tochter  lehren,  dass 
sie  den  Turnus  lieben,  Aneas  hassen  muss,  die  tochter  will  überhaupt 
nichts  von  der  minne  wissen;  auch  in  diesem  berühmten  gespräch  zwi- 
schen mutter  und  tochter,  welches  Gervinus  für  reine  erfindung  des  deut- 
schen dichters  hielt,  ist  dieser  in  vielen  stücken  dem  französischen  ori- 
ginale gefolgt,  wenn  auch  nicht  in  allen.  Da  während  des  Waffenstill- 
standes beide  parteien  friedlich  mit  einander  verkehren ,  reitet  eines  tages 
(nach  jener  Unterredung  über  die  minne)  Äneas  mit  seinem  gefolge  vor 
die  mauern  der  stadt  und  hält  gerade  gegenüber  dem  palaste. des  königs. 
Da  sieht  Lavinia  den  schönen  ritter  und  wird  alsbald  von  liebe  .zu  ihm 
ergriffen,  der  dichter  sagt:  do  scJw^  si  frouwe  Venus  mit  einer  schar^ 
phen  sträle;  sie,  die  vorher  von  ihrer  mutter  gar  keine  belehi-ung  über 
die  minne  annehmen  wolte^  weiss  jetzt  auf  einmal,  wie  minne  tut  i^d 
was  minne  ist  Die  mutter  bemerkt  am  andern  morgen  die  Veränderung, 
die  im  wesen  der  Lavinia  vor  sich  gegangen  ist ,  und  nimt  sie  nuiv'  ins 
gebet;  nach  langem  zögern  gesteht  jene  endlich  der  königin,  di^  ihr 
nur  die  minne  zu  Turnus  erlaubt  hatte,  dass  sie  den  Trojane,,,  lieb 
habe,  sie  kann  das  aber  nicht  sagen,  sie  schreibt  es  (auch  der  z^ig  und 


126  E.    WÖRNER 

die  stelle  282,  16 — 22  ist  genau  nach  Benoit).  Nun  ist  die  königin 
zornig  und  sagt  dem  Aueas,  dem  treulosen  Trojaner,  alles  schlechte  nach, 
aber  Lavinia  bleibt  standhaft  in  ihrem  glauben  an  ihn;  das  mägdleiu 
weiss  sich  aber  keinen  andern  rat ,  als  durch  einen  brief  Äneas  ihrer  minne 
zu  versichern,  den  brief  bindet  sie  an  einen  pfeil  und  als  am  mittag 
Äneas  wider  zur  bürg  geritten  komt,  lässt  sie  durch  einen  schützen  den 
pfeil  zu  Äneas  hinunterschiessen.  Der  lässt  den  pfeil  aufheben  und  ent- 
deckt bald  an  ihm  den  minniglicheu  brief;  er  grüsst  hinauf  zur  Jungfrau, 
die  im  fenster  liegt,  sie  grüsst  hinunter  und  damit  ist  die  ,fruntscliaft' 
zwischen  den  beiden  eröffnet.  Äneas  klagt  die  nacht  über  seine  liebes- 
leiden gerade  so,  wie  in  der  vorangegangenen  nacht  die  Lavinia.  Am 
andern  tage  erwartet  Lavinia  ungeduldig  den  geliebten;  als  er  lange 
ausbleibt,  steigen  allerlei  zweifei  in  ihr  auf  und  kleinmut  bemächtigt 
sich  ihrer,  wofür  sie  sich  aber  um  desto  grössere  vorwürfe  macht,  als 
sie  Äneas  endlich  daherreiten  sieht.  Nun  begint  das  hinauf-  und  hin- 
untergrüssen  von  neuem.  So  wird  die  erwerbung  der  Lavinia  in  der 
höfischen  dichtung  fär  Äneas  eine  herzenssache ;  bei  Virgil  ist  Lavinia 
nur  eine  beigäbe,  an  die  sich  das  reiche  erbe  des  Latinus  knüpfte.  Der 
tag  des  Zweikampfes  komt  nun  heran.  König  Latinus  erscheint  gefolgt 
von  seinen  forsten  auf  dem  kampfplatze ,  er  selbst  führt  seine  götter  mit 
sich,  sagt  Veldeke,  auf  welche  jene  schwören  selten.  Die  feierlichen 
eide,  wie  sie  Virgil  ausfuhrt  (XII,  175  —  215),  sind  bei  Veldeke  kurz 
abgetan,  dafür  lässt  er  den  Aneas  eine  längere  rede  halten,  in  der  er 
mit  berufung  auf  seinen  ahnherrn  Dardanus,  der  könig  in  Italien  wai*, 
ein  altes  recht  auf  das  land  nachzuweisen  sucht  (cf.  309 ,  10  ff.) :  alsus 
hin  ich  in  ir  (der  gote)  geböte  kamen  an  min  rehte^  erbe^  und  sodann  im 
fall  seines  todes  für  Ascanius  seinen  söhn  freien  abzug  fordert.  Noch 
ehe  es  zum  Zweikampf  komt ,  erhebt  sich  ein  streit  zwischen  beiden  bee- 
ren. Bei  Virgil  hat  wider  Juno  die  Schwester  des  Turnus,  Juturna, 
aufgereizt,  dass  sie  den  beschworenen  vertrag  breche  und  ihren  bruder 
dem  gewissen  tode  entreisse  (134 — 160).  Juturna  stachelt  unter  der 
gestalt  desjÖJtmers  die  Eutuler  auf,  das  unbillige  bündnis  und  den  Zwei- 
kampf zu  hintertreiben.  Diese  werden  in  ihrer  Sinnesänderung  noch 
bestärkt  durch  ein  ihrer  sache  scheinbar  günstiges  anzeichen,  günstig 
au^h  von  ihrem  seher  Tolunmius  gedeutet,  der  selbst  der  erste  ist, 
wacher  die  lanze  gegen  die  Trojaner  schleudert  Bei  den  höfischen  dich- 
terta  ist  wider  die  Ursache  dieses  Vertragsbruches  einfach  auf  einen  edlen 
ritteü:  zurückgeführt.  Es  erhebt  sich  nun  ein  allgemeines  getümmel ,  könig 
Latinus  flieht  mit  seinen  göttem  davon,  Äneas  will  den  streit  scheiden, 
wirdvaher  durch  einen  pfeil  verwundet  und  muss  aus  dem  getümmel 
gefüh^  werden.     Bei   Virgil   versucht   vergeblich   der  arzt  lapis   seine 


VIRQIL   UND  HEINRICH   V.    VELDEKE  127 

kunst  an  der  wunde,  Venus  muss  herbeikommen  und  mit  dem  auf  dem 
kretäischen  Ida  gepflückten  (liciammimy  mit  anüyrosia  und  pnnacea  die 
wunde  heilen  (383  —  429) ,  in  dem  höfischen  gedieht  tut  dies  alles  der 
arzt  Lapis  mit  dem  „triakeV^  und  ^.dictam"  und  einer  kleinen  zangc, 
er  heilt  die  wunde  mit  „pigmenf"  und  mit  einem  mächtigen  pflaster  auf 
der  stelle  (314).  Unterdessen  hat  Turnus,  als  er  seinen  feind  verwun- 
det aus  dem  kämpfe  bringen  sieht ,  neue  hofifnung  geschöpft  und  ist  rasch 
den  seinen  zu  hilfe  gekommen ,  es  entbrent  wider  eine  heftige  schlacht, 
aus  welcher  Veldeke  besonders  den  kämpf  des  Trojaners  Neptanabus  (ein 
name,  der  sich  bei  Virgil  nicht  findet)*  mit  Turnus  hervorhebt;  endlich 
müssen  die  Trojaner  weichen,  bis  der  gesundete  Äneas  wider  zu  ihnen 
komt,  nun  wird  Turnus  samt  seinen  leuten  in  die  flucht  geschlagen, 
Äneas  rückt  gegen  die  stadt  selbst  heran  und  steckt  die  Vorstädte  in 
brand;  bei  Virgil  tritt  hier  die  episode  vom  Selbstmorde  der  königin  ein, 
in  der  deutschen  dichtung  wird  der  tod  der  königin  erst  an  späterer 
stelle  erzählt.  Turnus  erbietet  sich  jetzt,  da  er  die  stadt  in  solcher 
gefahr  sieht,  von  neuem,  den  Zweikampf  aufzunehmen,  schnell  werden 
die  Vorbereitungen  dazu  getroflfen,  die  beiden  ritter  rüsten  sich  zum  ent- 
scheidenden kämpfe.  Hier  bringt  der  höfische  dichter  wider  einen  eigen- 
tümlichen zug  herein :  Lavinia  schaut  oben  von  der  bürg  dem  kämpfe  zu, 
und  da  wünscht  sie,  um  dastehen  des  Äneas  besorgt,  dass  sie  ihm  eines 
von  ihren  kleinodien  gegeben  hätte ,  welches  ihn  im  kämpfe  schützen  und 
stark  machen  würde.  Die  hauptmomente  des  Zweikampfes,  wie  sie  Vir- 
gil darstellt,  lassen  sich  auch  noch  bei  Veldeke  erkennen.  Bei  Virgil 
das  werfen  der  Wurfspeere ,  bei  Veldeke  das  brechen  der  lanzen  zu  rosse, 
dann  der  schwerterkampf,  der  damit  endigt,  dass  dem  Turnus  die  klinge 
springt,  dann  die  flucht  des  waffenlosen,  der  zuletzt  einen  grossen  stein 
ergreift  und  damit  den  Äneas  trifft ,  dass  dieser  wankt  und  kaum  stehen 
kann ;  am  Schlüsse  greift  Turnus  nach  seinem  zerbrochenen  speerschafte, 
seiner  letzten  waffe.  Äneas  schlägt  ihm  den  -dickschenkel  durch,  (bei 
Virgil  durchbohrt  er  ihm  mit  dem  speer  die  hüfte  v.  92G).  Da  fleht 
der  bezwungene  feind  um  Schonung  seines  lebens,  und  Äneas  würde  es 
ihm  geschenkt  haben ,  hätte  er  nicht  an  seinem  finger  das  ringlein  erblickt, 
welches  er  zuvor  dem  Pallas  geraubt  hatte;  eingedenk  des  schwures 
den  tod  des  jungen  Pallas  zu  rächen,  versetzt  er  ihm  den  todesstreich. 
Hier  schliesst  die  Äneide  Viigils.  Veldeke  spricht  dem  gefallenen  noch 
den  preis  eines  wahren  ritters  zu.  Juturna  und  Juno  und  die  von  Jupi- 
ter gesante  Megaera  sind  auch  in  dem  letzten  kämpfe  in  der  höfischen 
dichtung  aus  dem  spiele  geblieben.  Was  nun  noch  folgt  ist  die  erfin- 
dung  des  französischen  dichters:  332,  27  bis  zum  schluss. 

1)  Der  uaiiie  NeptaDubus  staint  aus  der  Alexandersage;   dort  fahrt  ihn  der  zu 
Alexanders  vater  gemachte  letzte  einheimisehe  könig  von  Aegypten.  Z. 


128  E.   WÖBNER 

Nach  beendigtem  kämpfe  erinnert  Äneas  den  Latinus  an  sein  ver- 
sprechen ihm  die  Lavinia  zum  weibe  zu  geben  und  der  könig  komt  mit 
ihm  überein,  über  14  tage  die  hochzeit  zu  begehen.  Er  reitet  zurück 
in  seine  herberge,  ohne  die  Lavinia  gesehen  zu  haben,  zu  deren  gros- 
sem leidwesen;  denn  jene  erkent  darin,  mit  der  eigentümlichen  reizbar- 
keit  der  liebenden,  eine  arge  Zurücksetzung,  und  desto  mehr  bereut 
nachher  Äneas  seine  Unterlassungssünde,  doch  sind  die  vorwürfe,  die  er 
sich  macht,  bei  Veldeke  kürzer  als  bei  Benoit.  Milde  erweist  er  sich 
jetzt  gegen  die,  welche  seine  gnade  suchen,  überall  hin  tragen  die  boten 
die  einladung  zu  seinem  hochzeitsfeste.  Vor  der  hochzeit  besucht  er 
noch  einmal  in  festlichem  aufzuge  seine  braut,  ein  zug,  der  sich  bei 
Benoit  nicht  findet,  und  sendet  ihr  und  ihren  frauen  reiche  geschenke. 
Hier  erst  flicht  das  deutsche  gedieht  die  zornige  rede  der  alten  königin 
ein,  der  die  Verheiratung  ihrer  tochter  mit  dem  Äneas  ein  greuel  ist; 
nicht  wie  bei  Virgil  legt  sie  selbst  band  an  sich,  vielmehr  „mit  großen 
rouwen "  liegt  sie  an  ir  bete ,  bis  ihr  der  tod  ins  herz  kam.  Auch  davon 
findet  sich  bei  Benoit  nichts.  Nun  ziehen  forsten  und  ritter  in  grosser 
menge  zum  feste  herbei,  und  auch  die  spielleute  bleiben  nicht  aus;  es 
wird  ein  so  prächtiges  und  grossartiges  fest  gefeiert,  wie  es  nirgends 
gefeiert  worden  ist,  wenn  nicht  die  festlichen  tage  von  Mainz,  wo  kai- 
ser  Friedrich  seinen  söhnen  die  Schwerter  gab,  sich  ihm  gleichstellten. 
Hierauf  erzählt  der  dichter  das  eheliche  glück  des  Äneas ,  wie  er  seinem 
söhn  Ascanius  einen  teil  seines  reiches  mit  dem  neuerbauten  Albano 
gibt,  wie  ihm  die  Lavinia  den  Silvius  gebiert,  dessen  söhn  der  Silvius 
Aeneas  ist  und  dessen  nachkommen  in  weiterer  folge  Bomulus  und  Bemus, 
die  gründer  Boms.  Dann  erwähnt  er,  wie  aus  dem  geschlechte  des 
Ascanius  lulus  und  des  Bomulus  ein  mächtiger  fürst  geboren  wurde, 
Julius  Caesar ,  welcher  der  werlde  vil  betwank ,  bis  er  zuletzt  von  Sena- 
toren getötet  wurde,  und  dass  nach  ihm  gewaltig  im  römischen  reiche 
Augustus  herschte,  unter  dem  Christus  geboren  sei,  der  uns  alle  erlöst 
habe.     So  schliesst  das  gedieht  mit  einem  änien  in  nomine  domini. 

Das  resultat  dieser  vergleichenden  darstellung  lässt  sich  kurz  dahin 
zusammenfassen,  dass  die  vielfach  mit  episoden  durchwirkte  und  durch 
diese  retardierte  handlung  der  antiken  dichtung  bei  Veldeke  vereinfacht 
ist,  und  schlicht  und  recht,  ohne  viele  ab  weichungen  von  der  hauptstrassa 
der  erzählung,  immer  gerade  auf  das  ziel  lossteuert.  Schon  aus  der  obi- 
gen vergleichung  geht  hervor,  wie  abwehrend  sich  der  höfische  dichter 
zu  dem  ganzen  mythologischen  apparat  Virgils  verhält.  Es  ist  bei  ihm 
fast  regel  geworden,  die  episoden,  welche  die  unmittelbare  einwirkuug 
irgend  einer  gottheit  zum  gegenstände  haben,  ohne  weiteres  zu  unter- 
drücken ,  und  dass  er  dies  tat ,  erklärt  sich  aus  der  christlichen  anschau- 


VIRGIL   UND  HEINRICH   V.   VELDEKE  129 

ungsweise  seiner  zeit,  der  ein  so  unmittelbares  teilnehmen  der  götter  an 
den  menschlichen  und  irdischen  handeln  nur  befremdlich,  wenn  nicht 
anstössig  gewesen  wäre;  aber  noch  mehr,  auch  gegen  die  unerschöpfliche 
fülle  von  notizen  über  eigentümliche  sitten  und  brauche  des  classischen 
altertums ,  vor  allem  auch  gegen  die  antike  geographie ,  verhält  sich  unser 
dichter  gleichgiltig ,  und  wie  konte  es  anders  sein  in  einer  zeit,  der 
selbstverständlich  noch  aller  sinn  für  objective  auffassung  des  altertums 
abgehen  muste?  und  in  einem  gedichte,  das  fiir  die  höfischen  kreise 
jener  zeit  gedichtet  war? 

In  Virgils  Äneide  kämpfen  fortwährend  Venus  und  Juno  mit  ein- 
ander. Jede  spur  dieses  antagonismus  konte  Veldeke  nicht  unterdrücken, 
weil  darin  zu  tief  der  gang  der  handlung  begründet  ist.  Aber  doch 
erscheint  Juno  bei  ihm  nur  an  zwei  stellen  und  zwar  im  anfange  des 
gedichtes,  und  bezeichnend  genug  ist  es,  dass  sie  während  der  kämpfe 
in  Latium  niemals  erwähnt  wird,  im  strengsten  gegensatze  zu  Virgil,  der 
hier  erst  recht  ihre  tätigkeit  anheben  lässt.  Die  erste  jener  beiden  stel- 
len (spalte  21  fif.)  sagt  von  der  Juno,  sie  habe  „dorch  den  apphcl  van 
ifdde  \  den  Paris  froun  Venüse  gdb'^  den  Äneas  gehasst  und  ihn  sie- 
ben jähre  lang  von  dem  lande  zurückgehalten,  wo  er  gern  gewesen  wäre; 
einmal  habe  sie  ihm  gar  unsanft  ihre  macht  gezeigt,  und  seine  schifte 
drei  tage  und  nachte  mit  Unwetter  heimgesucht.  (Des  Aolus  wird,  hier- 
bei nicht  gedacht).  An  der  anderen  stelle  (sp.  27,  25)  heisst  es,  nahe 
dem  palaste  der  Dido  habe  ein  tempel  der  Juno  gestanden,  in  welchem 
die  göttin  früh  und  spät  verehrt  worden  sei,  damit  sie  Karthago  zur 
hauptstadt  aller  reiche  mache.  Aber  von  nun  an  verschwindet  die  göt- 
tin aus  der  erzählung.  Häufiger  tritt  in  der  höfischen  dichtung  die  göt- 
tin Venus  handelnd  auf.  Gleich  im  anfange  des  gedichtes  wird  sie  als 
die  mutter  des  Äneas  eingeführt:  y,  Venus  diu  gotinne,  diu  frowe  is  über 
die  minney  wäre  sin  müder  und  Cupidö  sin  hrüder''  Sie  ist  es,  welche 
den  mund  des  Ascanius  mit  ihrem  feuer  berührt,  so  dass  Dido,  die  ihn 
küsst,  von  heftiger  liebe  zu  Aneas  erfasst  wird;  sie  sendet  der  Dido  die 
mächtige  liebe :  „  die  starken  minne  sande  \  diu  gotinne  Venus  \  frouwen 
IHdön  ze  hüs'*  (38,  14  ft*.),  und  denselben  gedanken  variiert  der  dichter 
mit  Vorliebe ;  so  heisst  es  38 ,  38 :  „  ir  Venus  die  strcde  in  da^  herze 
geschö^y"  und  dazu  komt  nun  nochCupido,  der  früh  und  spät  sein  feuer 
an  die  wunde  hält  (p.  39).  In  ihrer  liebesqual  fleht  Dido  den  Cupido  und 
die  Venus  um  gnade  an,  und  als  sie  dann  vorgibt,  sich  durch  das 
magische  opfer  von  der  unseligen  liebe  zu  Äneas  frei  machen  zu  wollen, 
sagt  sie:  „icÄ  mü^  ein  opher  nmcJien  dem  gote  von  der  minne  und  Veneri 
der  gotinne''  (p.  75,  7);  ihnen  beiden  gibt  sie  auch  die  schuld,  dass  sie 
ihr  das  herz  so  ganz  genommen  hätten,  dass  ihr  jetzt  alle  ihre  sinne 

ZE1TSCHK.   P.    DEUTRCHE   PHIl.OL.    «D.  III.  9 


130  E.   WÖRNER 

nichts  nützteu.  Hierauf  tritt  Venus  aber  erst  wider  im  zweiten  teile 
des  gediclites  auf,  als  sie  ihren  söhn  von  den  feinden  bedroht  sieht ;  sie 
beredet  den  Vulcan  ihm  die  prachtvolle  rüstung  zu  fertigen ,  und  verweist 
ihren  söhn  durch  den  boten,  der  ihm  die  rüstung  bringt,  auf  das  bünd- 
nis  mit  dem  könig  Evander.  Hier  ist  sie  also  auch .  ausserhalb  ihres 
eigensten  gebietes ,  ausserhalb  der  minne  tätig.  Zuletzt  erobert  sie  noch 
das  herz  der  Lavinia  fiir  den  Aneas,  sie  verwundet  auch  diese  „mit 
ehicr  scharphen  sfräle,"  als  das  mägdlein  zum  ersten  male  den  schönen 
Trojaner  erblickt.  Wir  sehen  also,  der  dichter  lässt  sie  fast  nur  da 
auftreten,  wo  die  minne  ins  spiel  komt,  und  eben  wegen  des  ausgebil- 
deten minnecultus  war  Venus  unter  allen  antiken  gottheiten  im  mittel- 
alter  die  bekanteste ,  sie  ist  nur  das  antike  gegenstück  zu  der  deutschen 
frotiwe  Minne,  und  auch  frouwe  Minne  ist  bei  den  höfischen  dichtem 
durch  ihre  pfeile  den  herzen  der  armen  sterblichen  sehr  gefahrlich;  so 
sagt  ja  Walther  v.  d.  Vogelweide  40,  32:  frowe  Minne  ir  hat  mich 
(feschoz,s,efH ;  40,  36:  ich  toei^  wol  ir  Jmbet  strale  mef  muget  irs  in  ir 
herze  schieben.  Gewöhnlich  erscheint  bei  Veldeke  die  Venus  in  beglei- 
tung  des  Cupido  oder  sogar  des  Amor  und  Cupido.  Aneas  selbst,  als 
er  von  heisser  liebe  zu  Lavinia  erfasst  ist,  beklagt  sich  über  Amor  und 
Cupido :  „  die  mine  brüder  solden  sin  und  Venus  diu  müder  min " 
(293,  10).  Die  alte  königin  belehrt  ihre  tochter  Lavinia  folgendermasseu 
über  die  minne  (p.  264):  „  du  hast  dicke  wol  gesehen  |  wie  der  here  Amor 
stet  in  dem  imipld ,  da  man  in  get  |  engegen  der  ture  inne,  da^  bezeichent 
die  Minne /^  und  dann  beschreibt  sie  weiter,  dass  er  in  der  einen  band 
eine  büchse,  in  der  andern  zwei  gere  habe,  von  denen  der  eine  gol- 
den ist,  wen  er  mit  diesem  verwunde,  der  minne  alsobald,  der  andere 
sei  bleiern,  wen  er  mit  diesem  treffe,  der  sei  stets  der  minne  gram.  In 
der  büchse  aber  sei  die  salbe,  mit  der  die  minne  den  wider  heile,-  den 
sie  früher  verwundet  habe.  Ähnliche  auffassungen  von  der  minne  sind 
später  sogar  in  die  bildende  kunst  eingedrungen.  Piper  erwähnt  in  sei- 
ner Mythologie  und  Symbolik  der  christlichen  Kunst  1 ,  249  ein  elfenbeiu- 
schnitzwerk  aus  dem  13.  Jahrhundert,  auf  dem  die  frau  Minne  dargestellt 
ist  als  gekrönte  und  geflügelte  frau,  in  jeder  band  mit  einem  pfwl,  zu 
beiden  selten  zwei  geflügelte  figuren,  die  doch  wol  Cupido  und  Amor 
vorstellen  sollen. 

Wie  sehr  auch  sonst  der  höfische  dichter  vermeidet,  die  götter 
unmittelbar  an  der  handlung  teilnehmen  zu  lassen,  so  wenig  vermeidet 
er  es  gelegentlich  ilire  namen  zu  nennen.  In  der  rede  des  Sinon  ist  es 
beibehalten,  dass  fron  Pallas  heftig  auf  die  Griechen  zürnt,  weil  sie 
iiir  bild  zerbrochen  haben  (sp.  44),  und  jene  wollen  ihren  zorn  versöh- 
nen  dunih  das  mächtige  ross,   auf  welches  noch   das  bildnis  der  göttin 


•  VIRGIL   UND  HEINBICH   V.   VELDEKK  131 

in  voller  rüstung  gesetzt  werden  solte  (sp.  45).  Ja  bei  der  rüstung  des 
Äneas  befindet  sich  eine  fahne,  die  kunstvoll  von  der  göttin  Pallas 
gewirkt  ist  im  Wettstreit  mit  der  Arachne  (Aränje  bei  Veldeke),  welche 
von  der  göttin  besiegt  zur  spinne  wurde  (p.  162,  17  fgg.).  Als  Dido  und 
Äneas  hinaus  auf  die  jagd  reiten ,  wird  jene  vom  dichter  mit  der  Diana, 
der  gotinne  von  dem  wilde,  Aneas  aber  mit  PMbüs,  einem  gofe  vil 
here  verglichen  (pag.62,  6  fgg.  vgl.  Virg.  Aen.  IV,  143  fgg.).  Neptunus,  der 
könig  von  dem  meere,  sendet  seinem  söhne  Messapus  1000  ritter  (pag.  144, 
19  fgg.)  und  Volcän  ,yder  smidegot"  schmiedet  für  Äneas  (aber  ohne  cy do- 
pen) die  prachtvolle  rüstung  (p.  157  fgg.)-  ües  Mars  {des  iviges  got)  wird  bei 
der  erzählung  jenes  bekanten  abenteuers  mit  der  Venus  gedacht,  (welches 
sogar  in  der  Berliner  handschrift  bildlich  dargestellt  ist,  cf  Piper  I, 
247).  Selbst  jßoMs  „kunich  von  den  ivinden"  wird  nicht  vergessen,  ihm 
müssen  die  Griechen  opfern,  damit  er  ihnen  die  heimlahrt  gewähre;  ja 
ehe  er  in  die  unterweit  geht,  belehrt  die  Sibylle  den  Äneas  noch  darüber, 
dass  in  diesein  reiche  Pluto  hersche  und  diu  frouwe  Proserpine,  diu 
aide  winje  sine  (90,  26).  Selbst  nicht  an  heroen  fehlt  es  in  dem  höfi- 
schen gedieht:  Aventinus  hat  die  löwenhaut  seines  vaters  Hercules  zu 
seinem  Schilde  gemacht  (p.  143),  und  zu  ehren  des  Hercules,  des  Kakus- 
töters  feiert  könig  Evander  ein  prächtiges  fest.  Kakus,  der  nach  der 
mythe  ein  söhn  des  Vulcan  oder  ein  riese  ist,  wird  bei  Veldeke  zu 
einem  wunderbaren  ungeheuer  (kunder),  das  in  einer  höhle  wohnt,  also 
etwa  zu  einem  lindwurm  oder  drachen.  Den  meisten  beiden  des  alter- 
tums  begegnen  wir  in  der  höUenfahrt  des  Aneas.  Da  finden  sich  die 
beiden  des  thebanischen  krieges  und  die  Trojaner  und  Griechen ,  die  vor 
Troja  gefallen  sind  (cf.  100  fgg.);  der  dichter  kent  die  strafen,  welche  die 
Titanen  im  Tartarus  zu  leiden  haben,  er  erwähnt  die  quälen  des  Tanta- 
lus ,  auch  bei  ihm  fressen  Geier  dem  Tityos  das  herz  ab ,  das  immer  von 
neuem  nachwächst;  nur  hat  er  hier  die  alte  mythe  verkehrt,  denn  nicht 
Dianen  wollte  jener  zum  weihe  gewinnen,  wie  Veldeke  sagt,  sondern 
deren  mutter  Latona  (cf  Virg.  Aen.  VI,  595  —  000).  Eädaniantü,% 
der  Schalk  ist  der  höllenwirt  und  Minos  der  gesetzgeber  der  hölle 
(p.  105,  34);  selbst  die  Tisiphone  bleibt  nicht  unerwähnt  (p.  103,  37). 
Überhaupt  ist  der  gang  des  Äneas  durch  die  unterweit  die  einzige  epi- 
sode,  welche  Veldeke  beibehalten  hat,  es  war  dies  eben  ein  anziehender 
stoflf  für  die  kreise,  für  welche  er  dichtete,  und  in  der  Berliner  hand- 
schrift ist  Äneas  höUenfahrt  reichlich  illustriert  (cf.  Piper:  p.  246). 
Aber  gerade  an  der  behandlung  dieser  episode  zeigt  sich,  wie  das  antike 
sich  nach  der  mittelalterlichen  anschauung  des  dichters  fast  von  selbst 
umgestaltet.  Die  Cumäische  Sibylle ,  bei  Virgil  das  ebenbUd  der  Pythia, 
schrumpft  bei  Veldeke  zu  einer  hässlichen  alten   hexe   zusammen,   die 

9* 


132  E.    WÖRNER 

ihr  leben  freudelos  verbringt.  An  ihr  scheint  der  dichter  versucht  zu 
haben,  was  er  in  beschreibung  des  hässlichen  leisten  könte.  Grau,  stark, 
verwirrt  sind  ihre  hare  wie  eines  pferdes  mahne ,  aus  den  obren  hängt  ihr 
dick  wie  moos  das  haar ,  ihre  äugen  liegen  tief  unter  den  langen ,  grauen 
augenbrauen,  die  bis  zur  nase  hinab  reichen,  schwarz  und  kalt  ist  ihr 
mund,  spärlich  stehen  ihr  darin  die  langen,  gelben  zahne,  ihr  hals  ist 
schwarz  und  gekrümt ,  sie  sitzt  zusammengekauert  in  schlechtem  gewande, 
ihre  arme  und  bände  sind  stark  geädert  und  fahl,  und  doch  soll  bald 
ihre  hässlichkeit  noch  überboten  werden.  Die  miterwelt  kann  sich  Vel- 
deke  nicht  anders  als  unter  dem  bilde  der  höUe  denken  mit  ihrem  gestank 
und  rauch,  gegen  welche  die  Sibylle  dem  Äneas  ein  kraut  zu  essen  gibt, 
mit  dem  höllischen  feuer ,  gegen  welches  er  sich  mit  einer  salbe  bestrei- 
chen muss,  mit  der  schwarzen  finstemis,  in  welcher  ilim  sein  blankes 
schwort  leuchten  soll.  So  tief  wurzelte  im  dichter  die  anschauung  der 
christlichen  hölle.  Die  eigentliche  hölle,  bei  Virgil  der  Tartarus,  ist  für 
Veldeke  eine  stadt  mit  glühender  eiserner  mauer,  es  erschallen  daraus 
die  klagen  der  armen  seelen,  die  tag  und  nacht  im  feuer  brennen  und 
denen  Rädamantüs  ihre  Sünden  vorhält;  dieses  fegefeuer  ist  aber  ohne 
licht  und  brent  so  grimmig,  dass  das  irdische  feuer  nur  wasser  dagegen 
ist.  Die  Seelen  derer ,  die  durch  eigene  schuld  das  leben  verwirkt  haben, 
leiden  dort  unten,  ehe  sie  von  Charon  übergesetzt  werden,  in  finsterem 
walde  grosse  kälte  von  eis  und  schnee  und  werden  jämmerlich  zerfleischt 
von  wilden  Ungetümen  —  „die  trachen  und  die  lewen  \  und  die  lint- 
warme  \  die  suchten  sie  ze  storme,  \  und  die  lebarde  \  muten  si  vil  harde^^ 
(pag.  91).  Wie  die  unterweit  zur  hölle  geworden  ist,  so  wird  nun  auch 
Charon  zum  teufel:  „e^  was  ein  tüvd^  niht  ein  man''  (92,  26);  er  ist  die 
zweite  schreckensgestalt,  die  von  Veldeke  vorgeführt  \rird.  Charon  hat 
einen  langen  schaltbaum  von  glühendem  stahl  in  der  band,  mit  dem  er 
die  herandrängenden  seelen  schlägt  und  das  schiflF  steuert;  sein  köpf  ist 
wie  der  eines  leoparden,  seine  äugen  glühen  wie  feuer,  seine  augen- 
brauen sind  spitz  wie  dornen,  scharf  sind  seine  klauen  an  bänden  und 
füssen,  seine  zahne  über  und  über  rot,  lang  und  gross,  und  da  er  nun 
einmal  ein  teufel  ist,  so  darf  ihm  auch  der  schwänz  nicht  fehlen.  Der 
dichter  sagt:  „her  het  ein  zagel  als  ein  hunt"  (94,  G).  Ein  würdiges 
gegenstück  zu  dem  furchtbaren  waldmenschen,  den  Hartmann  im  Iweiu 
425—470  beschreibt.  Die  höfischen  dichter  gefielen  sich  auch  in  der  dar- 
stellung  des  hässlichen  und  schrecklichen.  Der  „ubile  schalk''  Cha- 
ron redet  bei  Veldeke  in  dem  groben  tone  eines  alten  fährknechtes, 
und  doch  liegt  darin  mehr  Charakteristik,  als  in  dem  hohlen  pathos  des 
Virgilischen  föhrmans.  —  cf.  „dune  wellest  dich  versinnen  und  varest 
schimr  hinnen,  dir  wirt  lihte  ein  stach,  da^  dir  der  rucke  brechen  madi*'* 


VIRGIL   UND  HEINBICH  V.   VELDEKE  133 

(sp.  95,  7  fgg.).  Bei  Virgil  VI,  392  —  397  wird  dea  Hercules  Cerberusraub 
und  des  Theseus  und  Pirithous  anschlag  auf  die  Proserpina  von  Charon 
erwähnt,  um  sein  mistrauen  gegen  Aneas  zu  rechtfertigen.  Auffallend 
ist  es ,  dass  bei  Veldeke  Charon  den  Cerberusräuber  Phocus  nent  (cf.  Ettm. 
p.  381))  und  dann  noch  abweichend  von  Vii-gil  der  höllenfahrt  des  Orpheus 
{der  gute  harphäre)  gedenkt.  Aber  noch  nicht  sind  alle  schrecken  der 
hölle  erschöpft.  Nachdem  Charon,  sobald  er  den  goldenen  zweig  erblickt 
hatte,  den  Äneas  samt  der  Sibylle  übergesetzt  hat,  und  beide  an  der 
Lethe  (bei  Veldeke  Obiivid!)  vorübergekommen  sind,  gelangen  sie  zum 
Cerberus  {der  helle  portenäre),  und  wider  verweilt  der  dichter  mit  ver- 
liebe bei  der  beschreibung  dieses  Ungetüms;  es  hat  drei  grosse  furcht- 
bare köpfe,  die  äugen  glühen  wie  feurige  kohlen,  feuer  fliegt  ihm  aus 
dem  maul,  und  aus  nase  und  obren  stinkender  rauch,  die  zahne  glühen 
ihm  wie  eisen  im  feuer,  heissen,  bitteren  schäum  wirft  er  aus  dem 
munde,  an  seinem  leibe  sträuben  sich  überall  nattern  und  schlangen, 
kurze  und  lange,  grosse  und  kleine;  als  er  den  fremden  kommen  sieht, 
springt  er  auf,  weit  sperrt  er  das  maul  auf,  er  sträubt  sich  vor  zorn, 
und  die  nattern  und  schlangen  an  ihm  zischen  und  heulen  und  machen 
einen  solchen  lärm ,  dass  die  hölle  erzittert ,  und  das  geschrei  ist  so  gross, 
als  ob  der  teufel  jagte.  (Ist  das  nicht  ein  anklang  an  die  uralte  sage 
von  der  wilden  jagd?)  Doch  auf  das  Zauberwort  der  Sibylle  legt  sich 
das  Ungetüm.  Das  elysium ,  Elysii  gevilde,  ist  mit  kurzen  werten  abge- 
tan; es  stimte  wol  auch  das  elysium  unter  der  erde  nicht  recht  zur 
christlichen  anschauung  vom  himmel.  Wir  sehen,  es  fehlt  nicht  an 
mythologischem  beiwerk  bei  Veldeke,  aber  überall  dringt  die  christ- 
liche anschauung  der  zeit  in  dasselbe  ein.  Die  christliche  anschau- 
ung des  dichters  macht  sich  oft  ganz  unwillkürlich  luft,  so  wenn 
er  von  dem  Selbstmord  der  Dido  sagt,  er  sei  geschehen  auf  die  einge- 
bung  des  bösen:  „der  viant  da  geriet  der  frowen,  da^  si  sich  erslüch^*^ 
(80,  28  fg.). 

Viel  häufiger  als  von  einzelnen  göttern  redet  Veldeke  von  den  göt- 
tern,  gleichsam  als  einem  geschlossenen  ganzen,  und  dieser  ausdruck 
komt  doch  schon  der  christlichen  auffassung  von  gott  etwas  näher;  „von 
den  goten"  vernimt  Aneas,  dass  er  nach  Italien  fahren  und  dort  ein 
neues  reich  'gründen  soll;  als  er  bei  der  Dido  weilt  entbieten  ihm  die 
„gote"  ein  starkes  märe  (nicht  wie  bei  Virgil  Jupiter  durch  Mercur), 
dass  er  das  land  verlassen  müsse;  die  gote  wollen  es,  dass  Äneas  in 
der  hölle  sein  Schicksal  aus  dem  munde  seines  vaters  erfahrt,  und  indem 
er  ihrer  Weisung  folgt ,  hat  er  ihrer  aller  huld  erworben ,  er  selbst  betont 
immer  seinen  feinden  gegenüber,  dass  er  in  der  gote  gebot  in  das  land 
gekommen  sei,    die  gote  haben  es  dem  Latinus  befohlen,  dass  er  die 


IM  E.    WÖENER 

Lavinia  dem  Äneas  zum  weibe  gebe:    die  gote  schlechtweg  nent  Äneas 
sine  mäge   (cf.  47,  32.    118,  19). 

Die  eigentümlichen  gottesdienstlichen  gebrauche  der  alten,  beson- 
ders die  Opfer,  die  Virgil  sehr  oft  eingehend  beschreibt,  werden  bei  Vel- 
deke  gewöhnlich  nur  kurz  erwähnt  mit  Worten  wie :  si  opherden  ir  goten, 
oder  zuweilen  vom  christlichen  Standpunkte  aus:  si  opherden  ir  abgo- 
ten  (cf.  112,  31);  so  opfert  Äneas  auch  seinen  göttern  am  tage  nach 
dem  siege  über  seine  feinde  (336,  16);  ehe  er  mit  der  Sibylle  in  die 
höUe  geht,  empfehlen  sie  sich  den  göttern;  die  mutter  des  jungen  hol- 
den Pallas  flucht  den  göttern,  dass  sie  ihren  lieben  söhn  nicht  besser 
in  der  Schlacht  geschützt  haben,  obgleich  sie  ihnen  doch  ihr  ganzes 
leben  gedient  und  opfer  gebracht  hat  (222,  4  fgg.).  Latinus  lässt  vor 
begin  des  Zweikampfes  Turnus  und  Äneas  auf  seine  götter  schwören, 
und  als  dann  der  tumult  entsteht,  flieht  er  mit  seinem  liebsten  gotte, 
der  dichter  sagt  fast  scherzend:  „der  andern  aller  her  verga^^*  (312,  34. 
cf.  Virg.  Aen.  XII,  285  fg.). 

Die  christliche  anschauungsweise  zeigt  sich  wider  in  der  bezeich- 
nung  des  antiken  tempels.    Das  wort  templum  komt  zwar  bei  Veldeke 
vor  (z.  b.  223,  23.  251,  31.   264,  20),  ja  einmal  sogar  Synagoge  (224,  1), 
aber  in  Carthago  steht  ein  münster  der  Juno  (27,  29),  die  Trojaner  stel- 
len das  hölzerne  pferd  vor  ihres  münsters  tor  auf  (40,  21),    die  Sibylle 
sitzt  in  einem  betehüs  (84,  39),   und  der  leichnam  der  Camilla  wird  in 
das  hetehüs  zu  Laurente  getragen  (246).     Der  „Mre  Chores ,  der  Troiärc 
prester  und  ir  ewe  mester,"  der  sich  ebenso  gut-  auf  die  bücher  als  aufs 
Schwert  versteht,  gleicht  aufs  haar  einem  reisigen  abt  oder  bischof  des 
mittelalters   (243,  18).   —    Das  verbrennen   der  leichnarae,    bei  Virgil 
immer  ausführlich    beschrieben,    wird  bei   Veldeke   mit  kurzen  worten 
abgetan,  z.  b.  ir  toten  sie  verbranden,  also  man  do  phlach  (216,  8).  — 
Wie  Virgil  der  Verbrennung  der  leiche  des  Misenus  im  sechsten  buche 
eine  episode  widmet,   so  verweilt  unser  dichter  mit  besonderer  verliebe 
bei  der  beschreibung  der  bestattung  der  Dido,  des  Pallas  und  der  Camilla. 
Hier  weicht   er  ganz   von  dem  antiken  dichter  ab,  und  hier  komt  der 
geschmack  seiner  zeit   mit  am  deutlichsten  zur  anschauung.    Die  asche 
der  Dido  sammeln  sie  in   ein  goldenes  röhr  und  dieses  legen  sie  wider 
in  einen  kostbaren  sarg,    das  war   ein   „p^ase^n  grüne  alse  ein  gras,'' 
kunstvoll   gearbeitet;    darauf  steht  mit   goldenen  buchstaben  die  grab- 
schrift  (p.  79,  35  fgg.)-    Noch  viel  ausführlicher  wird  des  Pallas  bestattung 
erzählt.     Seine  wunden  werden   mit  wein  und  mit  spezereien  {mit  pig- 
niente)   ausgewaschen.^    man  salbt  ihn  mit  baisam  und  „arömatä,"  nun 
wird  er  nach  königlicher  art  gekleidet,  die  kröne  aufs  haupt,   das  scep- 
ter  in  die  haud,   den  goldenen  reif  an  den  finger,  darnach  tragen  sie 


VIKGIL    UKJ)    llElKiUCH   V.   VKLDEKE  135 

ihn  in  das  grabgewölbe  des  tempcls,  welches  köiiig  Evander  für  sich 
hatte  bauen  lassen.  Das  war  rund  und  nicht  liocli,  kunstvoll  gebaut 
und  reich  verziert,  der  fiissboden  bestand  aus  reinem  kristalle,  aus  Jas- 
pis und  corallen,  die  säulen  waren  aus  marmor,  die  wände  von  elfen- 
bein,  mit  edolsteinen  verziert,  die  decke  des  gewölbes  war  golden,  in 
der  mitte  steht  der  sarg  auf  vier  pfeilern  von  porphyr ,  die  von  fern  her 
gekommen  waren.  Der  sarg  ist  ein  kunstvoll  gearbeiteter  ,yprashi'^ 
grüner  färbe.  Dabei  standen  zwei  kleine  krüge,  der  eine  von  gold  mit 
baisam  gefüllt,  der  andere  ein  edeler  stein,  ein  „sardine,'^  gefällt  mit 
jydlde''  und  „ zerhentine.''  Aus  beiden  gefössen  trugen  goldene  röhren  den 
wolgeruch  in  den  leichnam.  Auf  dem  sarge  liegt  ein  edler  aniatiste^  der 
die  grabschrift  trägt;  zuletzt  wird  eine  lampe  (lamjiadv)  über  den  sarg 
gehängt;  diese  lampe  ist  aus  einem  blutroten  .Jachanf'  gearbeitet,  das 
öl  ißt  baisam,  die  ketten,  woran  sie  hängt,  rotes  gold,  darin  liegt  eine 
.ytviken''  von  einem  hesteoncy  einem  edlen  stein,  der  im  teuer  brent 
und  nie  verlischt  (cf.  pag.  223  —  226).  Die  umfiinglichste  beschreibung 
ist  die  von  der  beisetzung  der  Camilla.  Ihre  bahre  wird  von  Turnus  und 
seinen  leuten,  die  kerzen  in  den  bänden  tragen,  wol  eine  halbe  meile 
weit  geleitet.  Camilla  hatte  sich  schon  bei  lebzeiten  von  dem  weisen 
Geomctras  ihr  grabgewölbe  bauen  lassen  und  zwar  hoch  oben  über  der 
erde.  Ein  runder  platz  ist  mit  marmor  ummauert,  der  fussboden  ist  von 
Jaspis  gebaut,  20  fiiss  weit  innen,  darinnen  stehen  vier  steine  einander 
gegenüber  und  tragen  zwei  Schwibbogen,  die  20  fuss  hoch  waren;  da, 
wo  sie  sich  oben  kreuzweise  trafen,  war  ein  „füchstein''  eingelegt  aus 
[)orpliyr ,  darauf  stand  wider  ein  40  fuss  hoher  mannol-pfeiler ,  oben  mit 
einem  sieben  fuss  im  durchmesser  fassenden  runden  simsstein  bedeckt; 
hierüber  erhob  sich  erst  das  eigentliche  grabgewölbe,  40  fuss  hoch  und 
20  fuss  weit;  der  fussboden  besteht  wider  aus  edelsteinen,  nach  vier 
Seiten  liin  hat  es  vier  fenster  y,voii  granäte  und  von  saphiere,  \  von 
snuiragden  und  ruhtnen,  \  vofi  crisolUen  tmd  von  Sardinen  y  |  tojya^ien 
und  berillen,''  Die  decke  des  gewölbes  ist  mit  gold  musivisch  verziert. 
Der  sarg  war  ein  teurer  ,yCalciddnje/'  ihn  bedeckte  ein  „sardonje'': 
daneben  stehen  abermals  zwei  gefasse  mit  baisam,  die  den  leichnam  nicht 
in  fäulnis  übergehen  lassen.  Auf  dem  sarge  ist  die  grabschrift  mit 
geschmolzenem  sardone  geschrieben.  Schliesslich  wird  eine  un  verlösch - 
liehe  lampe  an  goldener  kette  aufgehängt.  Die  kette  geht  einer  taulx» 
durch  den  Schnabel,  die  auf  einem  steine  sitzt,  kunstvoll  ausgehauen. 
An  der  wand  steht,  ebenfalls  in  stein  gearbeitet,  das  bild  eines  mannes 
mit  einem  gespanten  bogen,  der  bolzen  ist  angesetzt;  lässt  man  den 
bogen  abschiessen,  so  trift  der  bolzen  gerade  die  taube,  das  lieldva^ 
fallt  heruntei',   und  das  licht  erlischt.    Anders  kann  man  es  nicht  zum 


136  E.    WÖRNBR 

erlöschen  bringeo.  Überdies  ist  oben  an  dem  bau  werk  ein  Spiegel  ange- 
bracht, in  dem  man,  wenn  der  tag  licht  ist,  alles  sehen  kann  innerhalb 
einer  raeile  entfernung.  Bezeichnend  ist  es ,  dass  es  ausdrücklich  heisst, 
ein  Grieche  und  der  weise  Geonietras^  der  sich  auf  die  list  von  geome- 
trien  verstand,  seien  die  baumeister  gewesen.  Von  Byzanz  aus  kam 
die  anregung  zu  neuen  bauten  nach  dem  abendlande ;  die  freude  und  das 
interesse  an  edeln  steinen  zieht  sich  durch  die  ganze  germanische  Vor- 
zeit, man  denke  an  den  Nibelungenschatz.  Das  behagen,  mit  welchem 
der  dichter  die  grabgewölbe  beschreibt,  die  kunstvolle  arbeit  in  stein, 
beweisen,  wie  damals  schon  in  den  höheren  kreisen  der  geselschaffc  der 
sinn  für  baukunst  und  bildende  kunst  nicht  fehlte,  der  geeignete  bodjBn, 
von  dem  aus  sich  dann  in  den  folgenden  Jahrhunderten  die  deutsche  bau- 
kunst zu  so  hoher  blute  erhob. 

Wir  kommen  jetzt  nochmals  zu  der  früheren  beobachtung  zurück, 
dass  die  höfischen  dichter  sich  gewöhnlich  gleichgiltig  verhalten  gegen 
die  antiken  sitten  und  brauche,  die  Virgil  gelegentlich  in  die  erzählung 
einzuflechten  liebt.  So  findet  sich  z.  b.  nichts  bei  Veldeke  von  dem  öff- 
nen der  porta  belli  beim  ausbrach  des  krieges,  indessen  gibt  es  auch 
hier  einige  ausnahmen.  Bei  Virgil  erscheinen  fast  immer  die  gesanten 
mit  Ölzweigen,  dem  zeichen  des  friedens  geschmückt.  So  gehen  die 
hundert  oratores  des  Aneas  mit  Ölzweigen  {yelati  ramis  Palladis  VII,  154) 
zum  Latinus;  die  gesanten  dieses,  die  um  einen  Waffenstillstand  nach- 
suchen, tragen  dasselbe  abzeichen  (XI,  101  vdati  ramis  deae),  und 
als  Äneas  hilfe  suchend  zum  Evander  komt,  heisst  es  von  ihm  bei  Vir- 
gil VIII,  116:  padferaeqae  manu  ramum  praetendit  olivae.  An  dieser 
stelle  erwähnt  auch  Veldeke  nach  dem  vorgange  von  Benoit  diese  eigen- 
tümliche sitte  des  altertums  169,  21  —  32: 

dö  het  ouch  here  iJneas  \  getan  als  da  sife  was, 
und  die  mit  im  wären  homen,  \  die  heten  alle  genomen 
aller  ritter  gelich  \  einen  olees  zwich. 
da^  hezeichent  den  fride  \  und  was  in  den  ziten  side 
mtcn  über  manich  lant ,  \  swcr  da^  hefe  in  siner  hant, 
im  ne  schadete  nieman  niet,  \  des  phlach  die  heidensche  diet 
Dieses  ist  aber  auch  die  einzige  stelle,  in  welcher  die  sitte  des  alter- 
tums im  gegensatz   zur  sitte  jener  zeit  so  eingehend  bezeichnet  wird. 
Im  glauben  an  Zauberei  und  zauberer  haben  sich  die  zeiten  Virgils  und 
das  mittelalter  an  mehr  als  einem  punkte  berührt,   und  zweifellos  trägt 
die  Äneide  und  die  beschreibung  magischer  opfer  in  den  eclogen  die 
hauptschuld,  dass  Virgil  im  mittelalter  för  einen   erzzauberer  galt  und 
hoch  berühmt  war  (cf.  VirgUius  der  märe  p.  18,  11).     So  ist  es  nicht 
aufl^llig,  dass  bei  Veldeke  die  erzählung  Virgils  von  der  alten  zauber- 


VIRGIL  UND  HEINRICH  V.   VELDEKE  137 

kundigen  priesterin ,  welche  Dido  zu  sich  rufen  lässt ,  ziemlich  genau  bei- 
behalten ist  (cf.  rV,  483  —  91  mit  pag.  74,  4  —  19).  BeiVirgil  versteht 
sich  die  zauberin  darauf  durch  Zauberformeln  die  herzen  zu  trennen  und 
aneinander  zu  fesseln,  sie  kann  das  wasser  in  den  Aussen  zum  stehen 
bringen  und  den  lauf  der  gestirne  verändern,  sie  kann  die  geister  der 
verstorbenen  herbeirufen  und  dergleichen  mehr.  Nicht  viel  anders  bei 
Veldeke.  Das  weib  versteht  bei  ihm  viel  von  niinnen  und  viel  von 
erzenie,  sie  hat  auch  ihren  fleiss  auf  die  Philosophie  gerichtet,  sie  kent 
die  art  der  planeten  und  liest  in  den  sternen  was  jemandem  geschehen 
soll,  sie  verfinstert  den  mond,  wenn  sie  will,  und  nimt  der  sonne  ihren 
schein.  Liebestränke,  durch  welche  man  eine  andere  liebe  einzuflössen 
suchte ,  kante  das  altertum  eben  so  gut  wie  das  mittelalter.  Der  dichter 
Lucrez  soll  durch  einen  solchen  liebestrank  wahnsinnig  geworden  sein, 
und  die  unverlöschliche  liebe  Tristans  zur  Isolde  rührte  von  einem  sol- 
chen tränke  her.  Hierauf  beziehen  sich  wol  auch  die  werte  der  Dido 
(p.  77,  7):  mir  is  vreisUche  vergeben. 

Wir  kommen  jetzt  zu  einer  andern  seite  des  antiken  stotfes,  mit 
der  sich  die  höfischen  dichter  nicht  viel  zu  tun  machten ,  zur  geographie. 
Die  masse  geographischer  notizen,  die  Virgil  mit  so  vielem  geschick  in 
den  gang  der  erzählung  einzuflechten  weiss ,  ist  bei  den  mittelalterlichen 
dichtem  fast  vollständig  unterdrückt;  natürlich  die  notwendigsten  namen 
wieTroja,  Carthago,  Laurentum,  musten  auch  hier  genant  werden,  aber 
das  geographische  beiwerk,  welches  Virgil  z.  b.  bei  der  aufzählung  des 
bundesheeres  der  Latiner  und  der  bundesgenossen  der  Etrusker  ange- 
bracht hat,  findet  sich  in  den  höfischen  gedichten  nicht  wider.  Wer 
hätte  sich  aber  auch  in  den  höfischen  kreisen  auf  alte  geograpliie  ver- 
standen? Ebenso  wenig  dichter  als  hörer  waren  gelehrte  leute.  Dies 
scheint  auch  der  grund  gewesen  zu  sein,  warum  schon  Benoit  das  ganze 
dritte  buch  der  Äneide,  die  irrfahrten  des  Äneas  durchs  mittelmeer,  bei 
seite  gelassen  hat.  Wir  haben  noch  mehiere  deutliche  beispiele,  wie  es 
der  dichter  anfing,  um  an  obscuren  geographischen  namen  vorüber  zu 
kommen.  Da  wo  der  scheinabzug  des  griechischen  heeres  von  Troja 
erzählt  wird  heisst  es  (11,  37): 

tmde  für  bi  naht  da^  here  \  mit  den  schiffen  in  daz,  mere, 
hin  dan  in  ein  lant,  \  da  man  si  sint  inne  vant. 

So  ist  hier  die  nennung  der  insel  Tenedos  umgangen.  Ferner :  Als  Äneas 
von  Carthago  abgefahren  war,  fuhr  er  auf  dem  meere  von  heftigem 
winde  getrieben:  „tinzer  da  ze  lande  quam,  \  da  sin  vater  begraben  lach^*^ 
(80,  34).  Hier  ist  also  nicht  einmal  Sicilien  genant ,  obgleich  doch  drin- 
gende  veranlassung   dazu   war,    denn   vorher  ist  nirgends  gesagt,    wo 


138  £.    WÖBMEB 

Anchises  gestorben  sei.  Dasselbe  streben  zeigt  sich  nun  auch  bei  der 
aufzählung  der  bundesgenossen  des  Turnus.  Von  Mezentius,  der  bei  Vir- 
gil  Tyrrlienis  ab  oris  komt  (VII,  647)  heisst  es  bei  Veldeke  „iedocli  so 
was  verre  dannen  \  sin  laut  undc  sin  hüs^^  (14=3,  4).  Aventhius  wohnt 
nach  143,  40  bi  dem  tvestern  mere.  Caeculus,  Praenestinae  fundafor 
urhis  (VII,  678)  wird  allerdings  bei  Veldeke  (144,  3)  ein  herzöge  von 
Prenestine  genant,  und  ausserdem  fingiert  sich  unser  dichter  (144, 15)  einen 
niargräven  von  Pallante,  von  dem  Virgil  nichts  weiss.  Clausus  SaMno- 
rum  prisca  de  geilte  (VII,  706)  wird  bei  Veldeke  zu  Claudius,  herrn 
von  SaUäne  (145,  14)  und  Caniilla  Volsea  de  gcnte  (VII,  803)  zu  einer 
königin  von  Volcäne  (145,  39).  Aber  zu  ende  dieser  anführungen  föllt  Vel- 
deke nach  Vorgang  Benoits  plötzlich  aus  dem  tone,  oder  besser  erst  recht 
in  den  ton  seiner  zeit  hinein,  wenn  er  kurz  resümiert  (145,  15  fgg.): 

dar  nach  qiiämen  die  Barbaiine, 
die  Pulloise  und  die  Lathie, 
die  von  Näplisy  von  Salerne, 
von  Calabric,  von  Volterncy 
die  von  Genüe,  die  Pisäne, 
die  Ungere  und  die   Vetieziane, 

Dass  Städte  wie  Neapel,  Salerno,  Genua,  Pisa,  Venedig  in  den  höfischen 
kreisen,  die  doch  durch  die  römerzüge  in  nahe  berührung  mit  dem  ita- 
lienischen Volke  kommen  musten,  bekant  und  berühmt  waren,  liegt  auf 
der  band;  die  Pulloise  sind  die  Apulier,  unter  den  Barbarinen  sind  wol 
die  Sarazenen  zu  verstehen,  die  von  Nordafrika  (Berberei)  aus  nach  Sici- 
lien  und  dem  südlichen  Italien  vorgedrungen  waren.  Die  Ungarn  mögen 
damals  in  vielfacher  beziehung  zu  Italien  gestanden  haben,  zu  Ungarn 
gehörte  ja  ein  teil  der  illyrischen  küste  und  war  nicht  Triest  eine  zeit 
lang  der  eigentliche  hafenplatz  fürs  königreich  Ungarn?  Unter  denen  von 
Volterne  vermutet  EttmüUer  seien  die  adcolae  amnis  Volturni  (VII,  729) 
zu  verstehen.  So  kan  es  auch  nicht  wunder  nehmen,  dass  ein  könig 
von  Marokko  (vone  Mar  roh)  dem  Evander  ein  edles  ross  gesant  hat 
(200,  19  fgg.). 

Nur  einmal  weiss  Veldeke  merkwürdiger  weise  bessern  bescheid  in  der 
alten  geographie  als  sein  vorbild  Benoit:  dieser  lässt  nämlich  den  Evander 
könig  inArcadien  sein,  dagegen  hält  sich  Veldeke  genau  nach  Virgil,  bei 
dem  der  aus  Arcadien  eingewanderte  Evander  zu  Pallanteum,  da  wo  später 
Rom  erbaut  wurde,  residiert  (VIII,  54).  So  auch  bei  Veldeke  (167,  38): 
ze  Pallante  . . .  aldä  Börne  nü  stet.  Hat  sich  hier  Veldeke  vielleicht  direct 
aus  Virgil  selbst  unterrichtet?  etwa  durch  einen  gelehrten  schuolcere? 
oder  verstand  er  selbst  etwas  latein?  Wir  haben  schon  oben  (s.  133)  gesehen, 


VIBOIL  UND  HEINRICH   V.   VELDEKE  139 

dass  er  bei  dem  gange  durch  die  unterweit ,  die  Lethe  mit  Oblivio  über- 
setzt, während  bei  Benoit  der  Lethe  gar  keine  erwähnung  geschieht. 

An  einem  anderen  orte  ist ,  wenn  ich  nicht  ganz  irre ,  dem  Veldeke 
bis  jetzt  unrecht  getan  worden.  Anchises  verweist  seinen  söhn  an  die 
Sibylle  mit  den  werten  (82,  15):  „ee  Iconjen  isirhüs,'^  So  hätte  also 
Veldeke  Iconium  in  Kleinasien  mit  Cumae  in  Italien  verwechselt?  Ett- 
müUer  hat  es  so  in  den  text  aufgenommen,  indes  in  der  ältesten  hand- 
schrift  Veldekes,  in  der  Berliner,  steht:  zu  chomen,  nach  Ettmüllers 
angäbe  undeutlich  geschrieben,  und  daran  wird  wol  auch  nichts  oder 
wenig  zu  ändern  sein,  und  es  wird  ze  Chomen  oder  ^e  Cönwn,  d.  i.  zu 
Cumä,  in  den  text  zu  setzen  sein.  Der  Schreiber  der  Heidelberger  hand- 
schrift  aus  dem  14.  Jahrhunderte  wüste  wahrscheinlich  nichts  aus  dem 
ze  chomen  zu  machen,  und  änderte  zicmiien;  wie  leicht  ist  der  Übergang 
von  m  in  ni. 

Es  ergibt  sich  aus  dem  vorausgehenden,  wie  abwehrend  sich  der 
höfische  dichter  gegen  alles,  was  antike  götter-  und  heldensage,  beson- 
ders italische  stamsage,  sitten  -  und  landeskunde  betrifft,  verhalten  hat, 
und  wie  er  auch  dann ,  wenn  er  dergleichen  dinge  beibehielt,  unwillkür- 
lich die  anschauungen  seiner  zeit  auf  dieselben  übertrug.  Dieselbe  beob- 
achtung  wird  nur  noch  in  höherem  grade  bestätigt  werden,  wenn  wir 
zusehen,  wie  sich  die  beiden  und  menschen  des  antiken  gedieh ts  unter 
der  band  der  mittelalterlichen  dichter  veränderten. 

Die  antike  weit  hat  also  der  mittelalterlichen  weichen  müssen,  und 
so  finden  wir  sogleich,  was  in  dem  antiken  gedichte  fast  gar  nicht  her- 
vortritt, die  scharfe  Scheidung  der  stände  im  mittelalter.  Hierher  gehört 
schon  die  genaue  Scheidung  der  fürstlichen  würde.  Äneas  ist  in  Troja 
„herzog"  und  steht  unzweifelhaft  in  einem  abhängigkeitsverhältnis  zum 
könig  Priamus  (cf.  p.  18,  8.  19,  3  usw.),  ähnlich  wie  der  herzog  Tumus 
zum  könig  Latinus  steht  (116,  32.  122,  9).  Unter  den  bundesgenossen 
des  Turnus  gibt  es  einen  herzog  von  Prenestine,  einen  markgraven  von 
Pallante,  Camilla  die  königin  von  Volcäne;  auf  seite  des  Äneas  steht 
der  könig  Evander  von  Pallante.  Die  sieben  tore  Carthagos  werden  von 
sieben  mächtigen  grafen  bewacht,  die  der  königin  Dido  als  ihrer  lehns- 
herrin Untertan  sind.  Das  gefolge  dieser  fürstlichen  herren,  der  kern 
ihrer  beere,  sind  immer  die  ritter;  nicht  mit  einem  ärmlichen  häufen 
flüchtiger  Trojaner  zieht  der  herzog  Äneas  hinweg  von  Troja,  sondern 
mit  3000  rittern,  „mit  vil  herlichen  scharen''  (47,  38.  cf  21,  6).  Auch 
macht  er  nicht  zu  fuss  wie  bei  Virgil,  etwa  vom  treuen  Achates  beglei- 
tet, den  kundschaftergang  ins  Libysche  land,  nein  der  fiirstliche  herr 
sendet  20  ritter  nach  kauf  und  speise  aus,  und  als  er  dann  auf  Didos 
einladung  nach  Karthago  reitet,   wählt  er  aus  seinem  beere  ein  gefolge 


140  iE.   WÖRNER 

von  500  rittern  aus.  Selbst  die  gesantschaft  an  könig  Latinus  besteht 
nicht  aus  100  oratores  wie  bei  Virgil,  sondern  aus  300  rittern,  „gute 
mit  gerendem  mute''  (113,  25).  So  wird  auch  Tyrrheus,  der  bei  Virgil 
sein  holz  selbst  spaltet,  ein  y,edil  fnan/'  der  eine  feste  bürg  (ein  veste^ 
km)  bewohnt  und  als  solcher  wird  er  here  Tyrretis  genant.  Nisus  und 
Euryalus  sind  zwei  edele  ritter.  Wenn  der  fürstliche  herr  ausreitet,  ist 
er  von  rittern  umgeben.  Selbst  wenn  Äneas  vor  seines  liebchens  fenster 
reitet,  ist  er  von  seinen  mannen  gefolgt.  Es  wird  überhaupt  in  dem 
höfischen  gedichte  wenig  gegangen,  fast  immer  geritten.  Der  könig 
Priamus  reitet,  als  sich  die  Griechen  entfernt  haben,  mit  seinen  man- 
nen aus  der  bürg  (42,  9).  Natürlich  ist  es,  dass  in  einem  höfischen 
gedichte  die  übrigen  kreise  der  menschlichen  gesellschaft  nur  sehr  sel- 
ten und  höchst  beiläufig  genant  werden.  Aber  erwähnt  werden  sie 
wenigstens  bei  Veldeke.  Als  Äneas  sein  lager  vor  Laurente  aufgeschla- 
gen hat,  da  laufen  auf  die  mauer  die  ritäre  und  gebüre^  knehte  und 
koufman,  ritter  und  bauom,  handwerker  und  kaufleute  (248,  5),  man 
vergleiche  (320, 20  fgg.) :  „do  die  bor  gäre  da^  vorborge  sägen  brinnen,  \  da 
vorhten  si  in  dar  innen  \  in  der  mittern  müren,  \  koufman  und  gebü- 
ren,\  ritterunde  heren."  Dass  neben  handwerkem  und  kaufleuten  auch 
noch  bauern  als  einwohner  der  stadt  genant  werden,  wird  sich  daher 
erklären ,  dass  im  mittelalter ,  wie  jetzt  noch  in  kleinen  städten ,  ein  teil 
der  bürger  landwirtschaft  trieb.  Dass  gebur  bei  Veldeke  „bauern" 
bedeutet,  geht  aus  137,  38  hervor.  Über  alle  diese  stände  erhaben 
steht  der  kaiser;  es  ist  das  höchste  lob,  wenn  Veldeke  sagt,  das  gefolge 
des  Äneas  sei  so  schön  gewesen,  dass  es  dem  kaiser  angemessen  gewe- 
sen wäre,  „ob  si  vor  (=^mir)  den  keiser  solden  gän''  (34,  23)  und  wenn 
er  vom  Schwerte  des  Aneas  sagt:  „solde  man^  vor  den  keiser  tragen,  , 
den  hersten,  der  ie  kröne  trüch,  \  e^  wäre  lobelich  genüch"  (160,  36).  Und 
so  sind  auch  noch  die  rechtlichen  bezieh ungen  zu  erkennen,  welche  zwi- 
schen fürsten  und  vasallen  statt  haben;  das  ganze  lehnswesen  des  mit- 
telalters  spielt  mit  in  die  erzählung  hinein.  Sehr  charakteristisch  ist  in 
dieser  beziehung  (26 ,  22  fgg.)  die  stelle ,  die  wir  schon  oben  angefilhrt 
haben.  An  jedem  der  sieben  tore  Karthagos  sitzt  ein  greve  rlcher,  der 
im  notfall  die  stadt  mit  300  rittern  verteidigen  muss;  für  diesen  dienst 
empfängt  er  das  lehen  der  Dido,  „die  fromven  müsten  si  alle  flehen  , 
die  riehen  hüsgenöz^nJ'  Die  mächtigen  vasallen  standen  alle  im  Verhält- 
nis der  „flehenden,  bittenden"  zur  herrin  Dido,  von  ihr  geht  alle 
macht  aus.  Erst  von  diesem  gosichtspunkte  aus  gewint  die  Stellung  des 
Äneas  zu  seinen  leuten  das  richtige  licht.  Ehe  er  aus  Troja  flieht, 
befiehlt  er  nicht  seinen  leuten  ihm  zu  folgen,  sondern  er  fragt  sie  um 
ihi'en  rat  und  versichert  ihnen,  dass  er  zu  ihnen  stehen  wolle  in  allem, 


VIRGIL  UND   HEINRICH   V.  VELDEKE  141 

worin  sie  ihm  beizustehen  wagten,  „des  ir  mir  getorret  stän  U,  \  des 
helfe  ich  m,  ob  ich  mach*^  (19,  36);  sie  heissen  sine  mäge  und  sine  man, 
auch  sifie  holden,  seine  dienstleute,  aber  es  sind  freie  leute,  die  sich 
freiwillig  unter  ihn  gestellt  haben  zu  ehrenvollem  kriegs-  und  Waffen- 
dienst. Allen  wichtigen  schritten  geht  eine  beratung  mit  seinen  leuten 
voraus  (so  33,  25.  66,  28),  so  besonders,  ehe  er  zum Evander  fährt.  Hier 
mahnt  er  sie  zu  standhafter  gegenwehr  und  bezeichnend  sind  seine  worte 
(105,39):  „obgleich  ich  das  voraus  habe,  dass  ihr  mich  zum  herrn  gewählt 
habt,  so  bin  ich  doch  nur  6in  mann."  Die  dienstmannen  gehören  zum 
hause  des  lehnsherrn  und  sind  insofern  seine  hüsgcnö^e  (120,  24);  sie 
sind  entweder  frei  oder  leibeigen ,  und  so  unterscheidet  Herbort  (liet  von 
Troie  v.  4202)  „fursten,  frigen,  dinstman.  Dieselbe  Unterscheidung 
macht  Veldeke  wenn  er  sagt  von  Turnus:  „im  sal  ditze  dink  |  vil  td/lle 
yevallen  \  und  shien  fründen  edlen,  \  den  eigen  und  den  frien"'  (117,  G). 
Und  wie  stellt  sich  Aneas,  als  er  nach  Latium  komt  zum  könig  Lati- 
nus?  Er  entbietet  ihm  seinen  dienst,  und  verspricht,  ihm  dienstbereit  zu 
sein  zu  allen  geboten,  und  um  keinerlei  mühe  willen  von  dem  abzustehen, 
was  er  ihm  befehlen  würde,  kurz  er  gelobt  ihm  die  treue  eines  Vasal- 
len; und  dazu  passen  nicht  übel  die  geschenke,  die  er  dem  Latiuus 
überbringen  lässt,  scepter,  kröne  und  mantel  (freilich  übereinstimmend 
mit  Virgil  VII,  245.  cf.  114,  6  fgg.).  Noch  deutlicher  tritt  dieses  Ver- 
hältnis des  Vasallen  zum  lehnsherrn  hervor  an  Turnus  und  seinen  bundes- 
genossen.  Boten  bringen  briefe  zu  seinen  mugen  und  mannen  weithin 
über  das  land,  und  als  dann  diese  mit  ihren  beeren  erschienen  sind, 
versammelt  er  sie  eines  morgens  um  sich,  er  redet  sie  mine  lantheren 
an,  das  ist  der  bezeichnende  ausdruck  für  die  vornehmsten  vasallen  im 
lande,  dankt  ihnen  für  die  ehre,  die  sie  ihm  erwiesen,  und  dann  setzt 
er  ihnen  noch  einmal  die  läge  der  dinge  auseinander;  glaubten  sie,  dass 
seine  sache  ungerecht  sei,  dann  sollten  sie  ihm  nicht  dazu  helfen,  gern 
wolle  er  abstehen  davon ,  sei  aber  seine  sache  so  beschaffen ,  dass  sie  sein 
recht  anerkennen,  dann  sollten  sie  ihm  wie  freunde  beistehen  „als  üwer 
truwe  gut  st"  (p.  151  fgg.).  Wir  sehen  auch  hier  wider  das  auf  freier 
Unterordnung  und  auf  treue  beruhende  Verhältnis.  Andrerseits  steht 
wider  der  lehnsherr  für  seinen  vasallen  ein,  und  so  spricht  denn  der  könig 
Latinus  gegen  Turnus  (140,  24  fgg.):  „Der  here  Äneas  hat  unsere  hilfe 
und  genade  gesucht ,  ich  habe  ihn  in  meinen  frieden  genommen  samt 
seinem  volk  und  seinem  gut,  wer  ihm  etwas  böses  tut,  der  hat  wider 
mich  gehandelt  und  hat  mich  ganz  und  gar  aufgegeben."  Drances,  der 
feind  des  Turnus  auf  seite  der  Latiner  rühmt  sich,  dass  er  weder  erbe 
noch  leben  vom  herzog  Turnus  habe  und  ihn  darum  nicht  zu  flehen 
brauche.     Mehr   als   einmal  werden  versamlungen ,  zu  denen  der  lehns- 


142  E.   WÖRNER 

hen-  seine  vasallen  beruft,  beschrieben,  immer  wii'd  die  ansieht,  die  den 
meisten  beifall  findet,  zur  ausfuhrung  gebracht  (cf.  232,  20.  155,  8  fgg-X 
und  nicht  fehlt  es  in  ihnen  an  heftiger  rede  und  gegenrede.  Es  finden 
sich  aber  auch  noch  andere  anklänge  an  das  rechtsleben  des  deutschen 
nüttalalters,  die  wol  hier  gleich  ihren  geeignetsten  platz  finden. 

Sehen  wir  uns  zunächst  die  ansprüche  an,  welche  Turnus  gegen 
Äneas  geltend  macht.  Der  altersschwache  könig  Latinus  hatte  beson- 
ders auf  betreiben  seiner  gemahlin  dem  jungen  heldenhaften  herzog  Tur- 
nus bei  seinen  lebzeiten  „borge  unde  lant^^  übergeben  und  ihn  zum  mit- 
regenten  eingesetzt  (cf  127,  7  — 130,  7.  p.  151.  152),  ferner  ihm  auch 
seine  tochter  Lavinia  versprochen,  so  dass  er  nach  des  Latinus  tode  erbe 
des  ganzen  reiches  werden  muste.  Veldeke  stelt  dies  so  dar,  als  hätte 
der  könig  vor  seinen  versammelten  mannen  und  vasallen  dem  Turnus 
die  Lavinia  zugeschworen  und  ihm  die  Verwaltung  des  reichs  übergeben. 
Deshalb  musten  ihm  als  dem  mitregenten  auch  die  vasallen  des  königs 
den  eid  der  treue  schwören,  und  darauf  bezieht  sich,  was  Turnus  (127,  8) 
sagt:  „mir  hat  gesworen  der  kunich  unde  sine  ^nan"  und  (129,  6):  „ich  hän 
die  borge  und  da^  lant  \  alle  in  minem  eide"  (cf.  151,  25  fg.).  Ja  der 
sitte  gemäss  hat  ihm  der  könig  auch  geisein  gegeben:  „der  hat  mir  giseJ 
gegeben,  \  sine  man,  die  ich  kos"  (127,  17—18),  und  nun  der  könig  mein- 
eidig wird,  will  Turnus  die  Wahrheit  seiner  ansprüche  durch  die  geisein 
bestätigen  lassen.  Das  stellen  von  geisein  zu  grösserer  Sicherheit  ein- 
gegangener Verpflichtungen  wird  auch  sonst  noch  vom  dichter  erwähnt. 
So  nimt  Latinus,  als  sich  Turnus  und  Äneas  zum  Zweikampf  bereit 
erklären,  beiden  geisein  ab  (259,  40.  321,  20).  —  Mezentius  vertritt 
in  der  versamlung  der  bundesgenossen  des  Turnus  die  ansieht,  dem  frie- 
densstörer  Äneas  einen  termin  zu  setzen,  an  welchem  er  vor  Turnus 
und  seinen  mannen  zu  erscheinen  und  rede  zu  stehen  habe  um  alle  seine 
missetat  (p.  153).  Dagegen  aber  wendet  Messapus  das  schleppende  eines 
solchen  rechtsverfahrens  ein  (155,  4):  „wände  ez,  mrt  vile  lank,  \  e  dan 
manz,  mit  gedinge  \  ze  fromem  ende  bringe,"  Die  schliessliche  entscheidung 
des  ganzen  streites  durch  einen  Zweikampf  zwischen  Turnus  und  Äneas, 
welche  schon  durch  das  antike  Vorbild  gegeben  war,  ist  ein  zug,  wel- 
cher der  deutschen  rechtsanschauung  durchaus  nicht  fremd  ist.  Die  ent- 
scheidung eines  gerichtlichen  streites  durch  einen  Zweikampf  war  ja  im 
mittelalter  etwas  ganz  gewöhnliches,  und  beispiele  aus  der  ältesten  deut- 
schen geschichte,  dass  bereits  schlagfertig  gegen  einander  stehende  beere 
aus  ihrer  mitte  kämpfer  erlasen ,  die  für  das  ganze  fochten ,  führt  Grimm 
in  dep  Deutschen  rechtsaltertümern  p.  928  an. 

Wie  tief  die  einheimischen  rechtsgebräuche  in  fleisch  und  blut  der 
damaligen  menschen  übergegangen  waren,  zeigt  die  häufige  erwähnung 


VIROIL   UND   IIETNBICH   V.    VRLDEKE  143 

von  fristen  bei  Veldeke.  Nacli  dum  veisoliwiiiden  des  Turnus  schliessen 
die  Latiner  einen  Waffenstillstand  mit  Äneas  {frede  über  vierzehen  naht 
215,  35);  als  Aneas  sich  bereits  daran  macht  die  stadt  Lauren  tum  zu 
belagern,  bittet  ihn  der  könig  Latinus  um  einen  Waffenstillstand  von  sechs 
Wochen,  und  es  wird  der  frede  gesjyrochni  über  vierzich  tage  und  vierzich 
naht  (248,  35);  als  nach  ablauf  dieser  frist  Turims  den  Äneas  zum  Zwei- 
kampf herausfordert,  wird  der  Waffenstillstand  über  vwrzeJieti  naht  ver- 
längert. Die  frist  von  14  tagen  oder  besser  nachten  ist  die  gewöhnlichste 
der  deutschen  fristen,  die  oft  genug  in  der  lex  Salica  und  im  Sachsenspiegel 
vorkomt.  (Nach Grimm,  Rechtsaltertümer  s.821,  entsprechen  diese  vierzehn 
nachte  der  zeit  zwischen  vollmond  und  neumond.)  Die  vierzigtägige  frist 
ist  nach  Grimm  a.  a.  o.  s.  219  gleichfalls  eine  alte  fristbestimmung ,  die 
sich  schon  in  der  lex  Salica  und  Ripuaria  findet  (cf.  Iwein  4152.  5744). 
Selbst  da,  wo  Benoit  eine  zwölftägige  frist  ansetzt,  wie  sie  bei  Virgil 
XI,  133  (bis  senos  pepiijere  dies)  nach  römischem  brauche  gegeben  ist, 
wird  beim  deutschen  dichter  ganz  selbstverständlich  die  zwölftägige  zu 
einer  vierzehntägigen  frist.  Zu  weit  würde  es  führen,  hier  nocli  auf  die 
grosse  zahl  fester  formelartiger  Wendungen  einzugehen ,  die  Veldeke  ganz 
gewis  aus  dem  gerichtslebeu  seiner  zeit  geschöpft  hat. 

Durch  den  vorausgegangenen  excurs  sind  wir  etwas  von  unserem 
Vorsätze  abgelenkt  worden ,  den  Übergang  der  antiken  beiden  in  die  ritter 
des  mittelalters  nachzuweisen.     Nehmen  wir  ihn  jetzt  wider  auf. 

Den  ritter  erkent  man  sogleich  an  der  rüstung.  Das  ideal  einer 
solchen  ritterlichen  rüstung  ist  bei  Veldeke  (wie  bei  Benoit)  die  rustung 
des  Äneas,  die  der  smidegot  selbst  gearbeitet  hat.  Bei  Virgil  Vllf, 
GOH  -731  wird  nur  der  schild  genauer  beschrieben,  die  übrigen  teile  der 
rüstung  kurz  aufgezählt ,  ganz  anders  bei  Veldeke.  Hier  wird  (s.  1 59  fgg.) 
stück  für  stück  sorgfaltig  durchgenommen.  Zuerst  der  hnlspereh,  das  pan- 
zerhemd ,  in  welchem  man  vor  aller  art  wunden  sicher  war,  er  glänzt  von 
prächtiger  arbeit  und  doch  ist  er  so  leicht,  dass  mit  geringer  anstren- 
gung  ein  mann  ihn  tragen  und  sich  darin  wie  in  einem  leinenen  gewand 
bewegen  kann.  Bezeichnend  ist,  wie  viel  worte  der  dichter  über  die  geringe 
schwere  des  panzerhemdes  verliert,  er  preist  darin  zweifelsohne  einen 
fortschritt  in  der  herstellung  dieses  wichtigrsten  Stückes  der  ritterliclien 
rüstung.  Dazu  kommen  zwei  hosen  veste  von  deinen  ringen  y  aus  rin- 
gen bestand  übrigens  gewöhnlich  auch  der  halspercJi,  daher  bei  Herbort 
vom  anlegen  desselben  gesagt  wird:  „st  sctäfen  We  wappen  an''  (4202). 
Das  aus  ringen  bestehende  panzerhemd  und  die  panzerhosen  wurden 
buchstäblich  an-  und  ausgeschüttelt.  Bei  Veldeke  werden  immer  die 
eisenhosen  und  der  halsperch  „angelegt,"  bei  ihm  findet  sich  also  jener 
kunstausdruck  nicht.  Vom  heim  heisst  es  weiter,  er  sei  hrün^  Wer 


144  E.   WÖBNEB 

als  ein  glas^  glänzend  und  hell  wie  glas;  oben  als  belmschmuck  dient 
nicht  ein  löwe  oder  drache,  sondern  eine  blume  von  getriebenem  golde 
gearbeitet.  Darin  steht  ein  röter  hyacinth,  die  helmleiste  und  auch  das 
halsband  sind  golden,  mit  edelsteinen  besetzt,  golden  sind  die  ringe,  und 
die  schnüre,  mit  denen  er  festgebunden  wird,  sind  seiden.  Das  schwort 
ist  härter  und  schärfer  als  der  Eckesas,  Mmiink,  Nagdrink  und  Halte- 
cleir  und  Durendart.  Das  ist  der  erste  und  einzige  anklang  bei  Vel- 
deke  an  die  deutschen  und  karlingischen  heldensagen,  ein  ihm  eigen- 
tümlicher zug,  der  sich  bei  Benoit  nicht  findet.  Das  schwort  hat  gol- 
dene und  silberne  Verzierungen,  golden  und  mit  edelsteinen  besetzt  ist 
die  scheide,  knöpf  und  schwertgrüf  von  gold  und  von  gesrndze,  der 
schwertgurt  ist  eine  handbreite  borde ,  der  schild  auf  der  einen  seite  mit 
borde  und  teurem  phelle  ausgeschlagen,  dieses  ist  mit  goldenen  nägelu 
an  das  gesteile  befestigt,  das  brett  wol  gemiten,  gefücldiche  gebogen,  wol 
behütet  und  wol  bezogen,  das  riemzeug  ist  aus  dem  berühmten  corduani- 
schen  leder,  auf  dem  riemzeug  wider  eine  teure  borde  angenäht,  auf 
der  untern  seite  des  riemzeuges  samt,  damit  die  riemen  beim  tragen 
des  Schildes  dem  ritter  nicht  die  haut  aufreiben.  Die  buckel  inmitten 
des  Schildes  ist  weisses  silber  mit  edelsteinen  geziert;  der  dichter  unter- 
lässt  hier  nicht ,  sechs  arten  von  edelsteinen  aufzuzählen,  die  alle  kunst- 
voll eingefügt  waren.  Das  schildbild  ist  ein  roter  löwe.  Den  schluss 
der  rüstung  macht  die  vane,  das  meisterstück  der  Pallas.  Es  ist  nicht 
unwahrscheinlich,  dass  Veldeke  bei  dieser  ausführlichen  beschreibuug 
alles  das  mit  berücksichtigt  hat,  was  für  vervollkomnung  und  aus- 
schmückung  der  waffen  zu  seiner  zeit  geschehen  war.  Über  das  panzer- 
hemd  tragen  die  ritter  noch  den  waffenrock;  so  reitet  Turnus  in  der 
feldschlacht  mit  Äneas  in  einem  waffenrock  von  rotem  und  gelbem  samt 
einher,  und  dem  entsprechend  ist  auch  die  färbe  des  wappenbildes ,  das 
er  auf  seinem  schilde  führt:  „ein  zeichen  für  der  an  der  hand,  da^  was 
gele  unde  rot''  (200,  2).  Dagegen  ist  der  waffenrock  seines  feiudes  Pal- 
las phellin,  von  feiner  seide,  von  grünem  taffet  (cindai)  ist  das  wappen- 
bild  darauf  genäht,  dem  entsprechend  ist  die  färbe  seines  Schildes  grün. 
Auch  die  ritterliche  Camilla  trägt  panzer  und  eisenhosen,  ihr  heim  ist 
lauter  und  glänzend  wie  glas,  wol  mit  steinen  verziert,  was  aber  das 
merkwürdigste  ist,  ihr  schild  ist  elfenbeinern,  wol  besniten  und  wol 
gebogen  ungehütet  und  unbezogen,  die  buckel  golden  mit  edelsteinen 
besetzt.  Sie  trägt  mit  ihren  frauen  seidene  Schleier  nach  ihres  landes 
Sitte  um  die  helme  gebunden  (23G ,  27  fg.).  Ein  prachtexemplar  von 
einem  helme  ist  der  des  herrn  Chores  (243,  35);  oben  auf  steht  ein 
rubin,  die  helmleiste  mit  smaragden  und  amatisten  besetzt  und  vorn  am 
nasebaiü  steht  ein   gelber  adamatit.     Nach  Herborts  beschreibuug  hän- 


VIROIL   UND   HEINRICH  V.    VELDEKE  145 

gen  die  forsten  im  belagerten  Troja  an  ihren  herbergen  die  schilde  aus, 
stecken  ihre  baniere  auf,  ohne  zweifei,  damit  sich  ihr  volk  zu  ihnen 
sammele  (4629  fg.). 

Die  wesentlichste  zierde  des  ritters  ist  sein  ross.  Als  die  beiden 
vorzüglichsten  rafen  gelten  die  arabische  und  die  castilianische.  Kastd- 
län  und  ravit  kommen  unzählige  male  in  den  höfischen  gedichten  vor. 
Als  Äneas  mit  seinen  500  rittern  an  den  hof  der  Dido  reitet,  heisst  es 
von  ihm:  rnau  saget  uns,  da^  si  nämen  \  manich  gut  kastelän  \  snd 
linde  wol  getan  \  und  manieh  schöne  ravit  (34 ,  24).  B6im  letzten  ent- 
scheidenden Zweikampf  reitet  Äneas  einen  castilier ,  Turnus  ein  arabisches 
ross  (324,  25).  Die  Camilla  reitet  am  tage  ihres  letzten  kampfes  einen 
ravit,  der  mit  zindale  bedeckt  ist.  Der  eigentliche  ausdruck  für  diesen 
schmuck  des  rosses  ist  kovertiure^  er  findet  sich  merkwürdiger  weise 
noch  nicht  bei  Veldeke,  während  er  bei  Herbort  bereits  ganz  gewöhn- 
lich ist  (8708.  8720).  Wie  Pallas  ein  ross  reitet,  das  seinem  vater  vom 
könig  von  „Mar roh''  gesendet  worden  ist  (p.  200,  21),  so  erscheint 
Camilla  auf  einem  prachtpferde ,  das  ihr  „  über  se "  ein  „  more "  gesendet 
hat  (148,  20).  Das  linke  ohr  und  die  mahne  sind  ihm  weiss  wie 
Schnee,  das  rechte  ohr  und  der  hals  schwarz  wie  einem  raben,  dagegen 
der  köpf  rot,  ebenso  der  eine  vorderfuss  rot,  der  andere  falb,  die  selten 
glänzen  ihm  wie  einem  erzürnten  pfau,  diu  ein  gofe  was  aphelgräwe, 
rchte  als  ein  lebart.  Der  schwänz  ist  einfarbig,  schwarz  wie  pech.  Das 
pferd  geht  „ebene''  leise  und  doch  schnell  genug.  Am  sattel  sind  die 
Sattelbogen  aus  elfenbein  gearbeitet,  mit  edelsteinen  verziert,  die  decke 
ist  samten,  mit  goldenen  nageln  besetzt.  Der  bauchgurt  seiden,  die 
antphange,  an  die  man  ihn  schnalte,  eine  teuere  borde,  ebenso  ist  der 
brustriemen  des  pferdes  (vorbüge)  eine  auf  sammet  genähte,  zwei  finger 
breite  borde.  Aus  der  breite,  mit  welcher  Veldeke  hier  das  pferd  und 
seinen  putz  beschreibt,  kan  man  wol  zurückschliessen  auf  das  Interesse, 
welches  die  zuhörer  an  derartigen,  bis  ins  einzelnste  gehenden  beschrei- 
bungen  haben  musten.  —  Eine  sehr  anschauliche  Schilderung  von  der 
rüstung  des  ritters  zum  kämpfe  gibt  Herbort  8719  fgg.: 

ir  ros  sttmden  bereit, 

kovertilren  üf  geleite 

dar  über  phellil  und  dar  mit 

eindät  unde  samit. 

Wapenen  si  sich  begunden, 

so  sie  beste  künden: 

in  die  kolken  (stiefeln),  halsperge  ane, 

rot  und  un^  als  ein  swane 

gel  blä  zindM 

ZEIT8CUB.    F.   DBUT8CHB    PHILOLOGIE.     BD.  UI.  10 


146  E.   WÖBNEB 

über  die  sarewät, 

hdm  üfy  sper  an  die  hant, 

sporn  umbe  alzuhant, 

zur  sUen  schilt,  dar  under  swert, 

üf  die  ros,  üf  die  phert 

herren  unde  knechte,  usw. 

Die  pracht  der  rüstimgen  und  gewandungen  beschreibt  auch  Conrad  mit 
besonderer  verliebe,  z.  b.  als  das  beer  der  Trojaner  zum  kämpf  mit  den 
Griechen  ausrückt  (30774  fgg.)-  Man  kau  nicht  beide  noch  sand  sehen 
vor  der  menge  glänzender  kovertiiiren;  wie  wenn  der  ganze  plan  in  brand 
gesteckt  wäre,  so  flamt  das  gefilde  von  gold.  Eine  menge  von  wunder- 
vögeln und  Wundertieren  zieren  die  decken  der  rosse  und  die  prächtigen 
Wämser  (Jcursit)  der  ritter.  Edelsteine  leuchten  um  die  wette  über  tal 
und  borg,  es  gleisst  das  Stahlwerk  und  das  geschmeide.  —  Als  Aneas 
vor  der  Stadt  Laurentum  sein  lager  aufschlägt,  unterlässt  es  Veldeke 
nicht ,  das  kostbare  zeit  des  beiden  zu  beschreiben ;  an  einem  hohen  mast 
wird  es  aufgezogen,  das  zelttuch  ist  doppelfarbiger  sammet,  der  zeit- 
knöpf  golden  mit  einem  goldenen  adler  gekrönt  (sp.  247).  Überall 
herscht  dieselbe  freude  nicht  nur  an  kostbaren  waflFen  und  edlen  rossen, 
sondern  auch  an  schönen  kleidern.  Nirgends  wird  seide  und  sammet, 
nirgends  wird  edeles  gestein  gespart.  So  hebt  Heinrich  von  Veldeke  mit 
besonderem  nachdruck  die  schönen  gewänder  hervor,  mit  denen  sich  die 
Trojaner  auf  ihrer  fahrt  zur  Dido  schmücken  (34 ,  2  fgg.) :  ml  wol  si  sich 
gereiten  mit  herlichem  gewande,  \  des  si  von  ir  lande  \  genüch  dare  brah- 
ten.  Freilich  findet  sich  in  der  beschreibung  nirgends  viel  abwechselung, 
wie  von  den  edlen  rossen  immer  ravit  und  kastdän  widerkehrt,  so  von 
den  teuren  stoflFen  phellel  und  samit. 

Haben  wir  uns  bisher  die  rüstung  und  den  ganzen  staat  des  ritters 
betrachtet ,  so  wollen  wir  ihm  jetzt  weiter  folgen  in  die  schlacht. 

Den  kern  des  heeres  bilden  immer  die  ritter,  nur  ihre  anzahl  wird 
daher  bei  der  angäbe  der  heeresstärke  genant.  So  heisst  es  von  Aven- 
tinus  (143,  38):  tüsent  ritter  heter  brdht  \  sunder  schützen,  und  fü^hcre; 
(144,  16)  vom  markgrafen  von  Pallante: 

tüsetit  ritter  sunder  sarjaiüe 

und  hundert  sohutzen  brahter  dare. 

Bei  Veldeke  ist  das  zur  stehenden  formel  geworden;  Turnus  stelt  dem 
Aneas  entgegen:  zehen  tusent  ritter  ze  were  sunder  schützen  und  fü^- 
here. 

Das  fussher  bestand  wol  aus  den  „schildknechten,"  wie  sie  Vel- 
deke gewöhnlich  nent.    Turnus  lässt  bei  der  belagerung  von  Montalbäne 


VIRGIL   UND   HEINRICH  V.   VELDEKE  147 

die  schildknechte  den  stürm  auf  die  bürg  eröffnen  (177,  22)  und  dass 
die  schildkncchte  der  verachtetste  teil  des  heeres  waren,  geht  aus  den 
gleich  folgenden  werten  (177,  38)  hervor: 

Solde  nian  schiltknehte  klagen, 
so  nwM  da  michel  jänier  wesefi. 

In  höherem  ansehen  standen  die  schützen;  sie  musten  bei  der  belage- 
rung  durch  ihre  geschosse  die  Verteidiger  von  mauern  und  zinnen  ver- 
treiben, oben  wurde  einmal  ihre  zahl  besonders  angegeben.  Die  sarjante, 
die  auch  oben  erwähnt  wurden,  sind  die  knappen  der  ritter.  Pussheer 
und  schützen  treten  aber  ganz  zurück  in  offener  feldschlacht.  Diese  ist 
bei  Veldeke  wie  bei  Herbort  und  Conrad  ein  kämpf  zu  ross  von  rittern 
gegen  ritter  gekämpft.  Bevor  die  beere  gegen  einander  rücken,  werden 
die  „zeichen"  —  die  fahnen  —  angebunden  (175,  25.  199,  39.  cf.  Nibel. 
1535,  3:  er  haut  oiich  zeime  Schafte  ein  zeichen  da^  was  rot).  Wenn 
die  scharen  gegeneinander  reiten,  sprengen  aus  den  reihen  diQ  anfuhrer 
hervor  und  bestehen  einander  im  ritterlichen  einzelkampfe.  Hier  haben 
wir  einen  verwanten  zug  der  höfischen  dichtung  mit  dem  antiken  epos. 
Der  massenkampf  tritt  zurück ,  der  einzelne  berühmte  ritter  sucht  seinen 
wolbekanten  gegner  auf.  So  besteht  Turnus  den  Pallas,  Aneas  den 
Mezentius.  Bei  Virgil  fällt  der  junge  held  Pallas  von  Turnus  speer 
getroffen ,  im  höfischen  gedichte  fällt  er  nach  kunstgerechtem  ritterlichem 
Zweikampfe  (cf.  sp.  205).  Sie  rennen  zu  rosse  gegeneinander,  beide 
decken  sich  mit  den  Schilden  ritterlich,  beide  werfen  sich  vom  rosse, 
nun  greifen  sie  zu  den  schwertera,  die  Schilde  sind  bald  zerhauen,  da 
schlägt  Pallas  dem  Turnus  mit  einem  mächtigen  hiebe  den  heim  durch 
und  die  ringe  der  kopfhaube  unter  dem  helme,  so  dass  jener  in  die  kniee 
sinkt,  unfähig  zum  schlagen  auszuholen;  da  ersieht  er  die  gelegenheit 
und  stösst  dem  aufrecht  vor  ihm  stehenden  Pallas  das  schwort  unter  den 
panzer  in  den  leib.  —  Die  kraft  war  auf  beiden  selten  gleich,  die  list 
trägt  hier  den  sieg  davon. 

Äneas  setzt  im  Zweikampf  den  Lausus,  den  söhn  des  Mezentius, 
eine  speerlänge  hinters  ross  auf  den  sand,  er  selbst  schiesst  natürlich 
bei  dem  mächtigen  anlauf  weit  über  den  gefallenen  gegner  hinaus,  aber 
beim  umkehren  haut  ihm  Lausus  das  ross  hinter  dem  Sattelbogen  aus- 
einander. Nun  komt  es  auch  hier  ^  zum  schwertkampf:  si  gehen  und 
neinen  die  siege  f reisliche,  hierbei  beweist  Äneas  seine  grössere  kunst 
im  vehten  tmde  schirmen  (mit  dem  Schilde  parieren) ,  und  dadurch  über- 
windet er  seinen  gegner.  —  An  der  Camilla  wird  gerühmt  (243,  5  fgg.) : 

wie  s^i  slüch  und  tvie  si  stach 
und  wie  si  ir  spere  hra^h 

10* 


148  B.    WÖRNEB 

tmd  wie  si  justierde 
und  wie  si  pungierde. 

In  dem  Zweikampf  zwischen  Äneas  und  Turnus  gibt  sich  letzterer  erst 
dann  als  besiegt,  nachdem  ihm  der  dickschenkel  durchhauen  ist,  von 
einer  derartigen  Verwundung  ist  bei  Virgil  nichts  zu  lesen;  bei  Veldeke 
hat  früher  Turnus  dem  riesen  Bitias  den  Schenkel  durchgehauen  und  ihn 
auf  diese  weise  kampfunfähig  gemacht  (197,  29);  ich  erinnere  mich  aus 
der  Gunlaugs  saga  Ormstunga,  dass  dort  auch  Gunlaugr  auf  eben  diese 
weise  seinen  gegner  Hrafn  besiegt.  Im  ganzen  fasst  sich  Veldeke  ver- 
glichen mit  Herbort  und  Conrad  bei  beschreibung  der  schlachten  kurz: 

e^  wäre  ze  sagene  alze  lanJc,  \  wer  da  viel  und  wer  da  stach 
und  wer  da  sin  spere  brach,  \  wer  da  starb  und  wer  da  slüch 
want  der  was  vil  unde  gnüch.  (201 ,  32  fgg.) 

Fast  mehr  fleiss  als  auf  die  beschreibung  der  feldschlachten  hat  Veldeke 
auf  die  Zeichnung  der  belagerung  verwendet.  Das  alte  römische  lager, 
welches  sich  bei  Virgil  mit  seiner  linken  seite  an  den  Tiber  anlehnt,  ist 
bei  Veldeke  zu  einer  bürg  geworden ,  die  auf  dem  steilen  berge  Montal- 
bane  (der  dichter  denkt  sich  ihn  an  der  mündung  des  Tiber  gelegen) 
erbaut  ist.  Sp.  118  fgg.  wird  die  läge  des  berges  genau  beschrieben,  es 
ist  ein  hoher ,  steiler  felsen  am  meere ,  rings  von  gutem  lande  umgeben ; 
ein  von  natur  fester  ort,  oben  entspringt  ein  quell,  dessen  wasser 
stark  hinabströmt  ins  meer.  Nur  an  einer  seite  ist  der  aufgang  mög- 
lich über  einen  schmalen  rücken  des  berges  (einhalb  dar  zu  gienk  \  ein 
hals,  der  ne  was  niht  breit).  Diesen  ort  also  ersieht  sich  Äneas  für 
seine  bürg  aus,  und  wenn  man  die  läge  der  noch  erhaltenen  alten  bür- 
gen vergleicht ,  so  stimt  sie  ja  in  den  meisten  föllen  mit  unserer  beschrei- 
bung überein.  Gewöhnlich  liegen  sie  auf  dem  gipfel  eines  nach  drei  Sei- 
ten hin  steil  abfallenden  bergkegels.  —  Der  schmale  hals  wird  nun 
durchbrochen  und  durch  zwei  graben  unzugänglich  gemacht.  Der  nie- 
dere gi'aben  ist  weit  und  tief,  er  ist  erfüllt  vom  wasser  des  bergquells, 
davor  ist  noch  ein  kleinerer  graben  (p.  177,  2  fgg.).  Der  berg  wird  durch 
bercfride,  warttürme,  und  mit  crkären  befestigt;  über  den  graben  führt 
die  «Zugbrücke ,  diese  wird  durch  einen  bcrcfrid  beherscht  (156,  9  fgg. 
191,  6).  Aneas  trift  nun  gegen  das  anrückende  belagerungsheer  seine 
verteidiguugsanstalten.  Es  werden  genau  bestimt  die,  welche  auf  den 
türmen  und  die  auf  den  zinnen  der  burgniauer  platz  haben,  wer  des 
nachts  die  wache  haben  und  wer  schlafen  solle.  Die  waflFen  werden  fer- 
tig gemacht,  die  besten  schützen  werden  auf  dem  burgtore  postiert,  die 
schwachen  stellen  der  bm-g  mit  der  stärksten  besatzung  versehen.  Als 
nun  das  beer  des  Turnus  zum  stürm  heranrückt,  wird  die  brücke  auf- 


VIBOIL  UND   HEINRICH  V.  VELDEKE  149 

gezogen,  die  zinnen  und  türme  besetzt,  die  dächer  abgebrochen,  die 
fahne  aufgesteckt  (175,  31).  Den  ersten  stürm  auf  die  feste  fuhren  die 
schildknechte  aus,  sie  kommen  aber  nicht  über  den  graben,  und  müssen 
mit  grossen  Verlusten  zurückgehen.  Die  Trojaner  empfangen  von  den 
zinnen  und  erkern  aus  die  stürmenden  mit  hageln  von  pfeilen  und  stei- 
nen. Am  nächsten  tage  sucht  Tunius  den  graben  zu  lullen.  Es  werden 
grosse  wagen  mit  reisig  herbeigefahren,  aber  ehe  sie  die  trachten  in 
den  graben  werfen  und  zurecht  legen  können,  sind  schon  die  belagerten 
mit  „smalz,  swehel  tind  hech'*  bei  der  band  und  stecken  das  holz  in 
brand.  Als  der  graben  nicht  mit  holz  gefallt  werden  kann,  wird  erde 
herbeigeschafft,  mangen  werden  errichtet  mit  seilen  bespant  und  bemant. 
Es  sind  die  kriegsmaschinen  zum  schleudern  grosser  steine.  Man  stelt 
ferner  die  ebenhöhen  auf,  von  denen  aus  man  die  belagerten  auf  der 
mauer  erreichen  konte,  treibt  sie  gegen  die  mauer  heran  und  besetzt  sie 
mit  schützen.  Jetzt  begint  der  allgemeine  stürm,  die  Trojaner  müssen 
vor  der  menge  der  pfeile  und  gere  und  brandspiesse  (materetle)  die 
zinnen  verlassen,  nur  die  mit  panzer  gerüsteten  können  sich  noch  oben 
halten.  Askanius  fuhrt  sie  zurück,  die  stürmenden  sind  bereits  bis  zu 
den  zinnen  emporgestiegen,  oben  empfängt  man  sie  mit  schweren  stei- 
nen und  bleikolben;  die  läz,steine  werden  herabgerolt  und  reissen  im 
falle  die  stürmenden  mit  sich  in  den  graben  hinab.  Diesen  ist  es  unter- 
dessen gelungen,  den  bercfridj  der  die  brücke  beherscht,  in  brand  zu 
stecken ,  dieser  stürzt  zusammen  und  so  gewinnen  jene  die  brücke.  Kurz 
die  beschreibung  der  belageiaing  von  Montalbane  gehört  zu  den  leben- 
digsten partieen  des  ganzen  gedieh tes.  Auch  bei  den  städten  des  lan- 
des  ist  für  unsern  dichter  immer  die  feste  läge  von  der  höchsten  Wich- 
tigkeit; Veldeke  hat  nichts,  was  Virgil  vom  baue  Carthagos  und  seineu 
palfisten  erzählt,  aber  wie  fest  die  läge  der  horch  Carthago  sei,  beschreibt 
er  ausführlich  (p.  27,  11  fgg.).  Auf  der  einen  seite  bespült  das  meer,  auf 
der  andern  seite  breite  ströme  ihre  mauern;  da  enmittcn  stunt  diu 
horch  so  rast,  \  da^  si  niene  vorhte  ein  hast  \  aUe^  irdische  here. 

Verlassen  wir  nun  den  krieg  und  begleiten  den  ritter  zu  den  hoch- 
geziteyu  So  war  ja  sein  leben :  bald  draussen  in  kämpf  und  abenteuern, 
bald  am  glänzenden  hofe  bei  frohen  festen. 

All  dieser  reiche  staat,  die  golddurchwirkten  gewänder,  die  pracht- 
vollen rüstungen,  die  teuren  coverturen,  die  rosse,  das  alles  muste  gese- 
hen werden,  muste  angestaunt  und  bewundert  werden.  Darum  immer 
die  pomphaften  aufzüge,  wenn  irgend  ein  fürstlicher  herr  in  eine  bürg 
oder  in  eine  stadt  einreitet.  Der  herzog  Äneas  hält  mit  500  rittern  sei- 
nen einzug  in  Carthago,  und  in  den  breiten  Strassen  mit  den  schönen 
häuseru   und   marmornen   palästen  sieht  er  zu  beiden  selten  der  Strasse 


150  E.   WÖBNEB 

(wol  in  den  fenstern  liegen)  die  frauen  und  Jungfrauen  „gezieret  mid 
gebunden'^  in  schönen  kleidern  und  zierlichem  harputz,  die  ihre  freude 
am  schauen  haben  (35,  2).  Die  ritterliche  königin  Camilla  von  Vol- 
zäne  reitet  durch  Laurentum.  Da  eilen  ritter  und  edelfrauen  herbei ,  die 
sie  gern  sehen  wollen ,  si  quämen  zu  den  strafen ,  si  stunden  unde  sä^en, 
ze  den  venstcrn  si  lägen  (p.  149).  Als  Aneas  seine  braut  in  Laurentum 
besucht,  reitet  er  mit  so  grosser  pracht  einher,  dass  die  blümen  und  da^ 
gras  ihre  färbe  verlieren,  mit  herliehem  gedrange,  mit  2Mfen  und  mit 
gesange,  mit  trumben  und  mit  seitspile  (337,  37).  Das  sind  die  beglei- 
ter  aller  MchgezUen  ^  das  festliche  gedränge,  gesang  und  musik.  Die 
häuser  der  stadt  Laurentum  sind  mit  pheUe  und  kostbaren  teppichen 
behangen.  —  Bezeichnend  ist  es,  dass  Veldeke  die  festspiele,  die  Aneas 
zu  ehren  seines  vaters  veranstaltet,  nur  mit  einigen  werten  erwähnt, 
andere  festlichkeiten  aber  in  menge  beschreibt,  von  denen  bei  Virgil 
sich  keine  spur  findet.  Während  Äneas  beim  könig  Evander  weilt,  wird 
an  des  königs  hofe  die  schwertleite  des  jungen  Pallas  gefeiert  (cf.  p.  171, 
16  —  21.  173,  39  —  174,  27).  Der  könig  gibt  seinem  söhne  das  schwert, 
welches  dieser  schon  lange  begehrt  hat,  und  macht  ihn  dadurch  zum 
ritter.  Zugleich  damit  ist  aber  auch  des  jungen  fürsten  krönung  ver- 
bunden {unde  wil  in  cronen  171,  21),  die  feierliche  anerkennung  des 
sohnes  als  nachfolger  des  vaters."  Es  finden  sich  bei  Veldeke  in  der 
kurzen  beschreibung  der  festlichkeiten  sehr  viele  von  den  zügen,  die  wir 
auch  aus  der  schwertleite  Siegfrieds  im  Nibelungenliede  kennen  (cf. 
str.  28  —  44).  Wie  hier  der  junge  Pallas  gekrönt  wird,  so  verteilt  dort 
Siegfried  als  junger  könig  noch  einmal  die  lehen,  (wiewol  er  nicht  die 
kröne  tragen  will ,  so  lange  Sigmunt  und  Sigelint  leben).  Hier  wie  dort 
sendet  der  könig  botschaft  über  das  land,  und  lässt  verkündigen,  wer  von 
den  edelbürtigen  Jünglingen  ritter  werden  wolle,  solle  an  den  hof  kom- 
men und  mit  dem  jungen  könig  zugleich  schwert,  ross  und  gewand 
empfangen.  Die  schwertleite  eines  jungen  fürsten  empfieng  also  erst 
dadurch  ihren  rechten  glänz,  dass  von  nah  und  fern  die  söhne  der  edel- 
bürtigen dabei  erschienen ,  und  zugleich  mit  ihm ,  gleichsam  sein  junger 
hofstat ,  das  schwert  empfiengen.  Der  könig  gibt  Urnen  dafür  ross ,  schätz 
und  gewand ,  das  schwert  empfiengen  sie  wol  von  eitern  und  verwanten. 
Das  andere  grosse  fest,  welches  Veldeke  beschreibt,  ist  die  hoch- 
zeit  des  Äneas  mit  der  Lavinia.  Auch  hierbei  eilen  boten  mit  briefen 
nach  allen  reichen,  die  man  zu  pferde  oder  zu  schifle  erreichen  konte. 
Der  könig  Evander  ladet  seine  freunde  und  mannen  ein;  bezeichnend  ist 
die  stelle:  swer  gut  umb  ere  tvolde,  da^  her  fröliclie  qudme  und  es  so 
vile  näme,  da^  e^  im  iemer  mohte  fromen  und  allen  sinen  nachkamen 
(336,  4  fgg.).    Die  eingeladenen  erweisen  durch  ihr  erscheinen  dem  Äneas 


VntGIL    UND  HBUmiCH  V.  VELDEKE  151 

ehre ,  und  für  diese  ihre  ehrenerweisimg  lohnt  ihnen  der  wirt  mit  reichen 
geschenken.  Das  gut  um  die  ehre!  Darin  besteht  die«  vielgerühmte 
fürstliche  müde.  —  Die  gaste  lassen  nicht  auf  sich  warten.  Von  allen 
selten ,  in  schiffen  und  auf  den  Strassen ,  ziehen  die  ritter  zahllos  herbei, 
diu  werUlichen  Hute  (die  spielleute ,  die  gerende  dief) ,  bleiben  nicht  aus. 
An  der  hochzeitstafel  herscht  „Meine  stille, ^^  der  schall  ist  so  gross, 
da^  e^  die  bösen  hedrö^.  Das  ist  das  charakteristische  aller  mittelalter- 
lichen festlichkeiten :  laut  schallende  festesfreude  und  gedränge  des  Vol- 
kes. Da  war  spiel  und  gesang ,  ritterliches  turnier  {huhurt)  und  gedrang, 
pfeifen  und  springen,  geigen  und  singen,  orgeln  und  saitenspiel.  Und 
nun  wird  die  füi'stliche  milde  des  Aneas  geschildert.  Da  er  der  hehrste 
der  anwesenden  fürsten  ist,  so  begint  er  das  geben.  Wen  er  beschenkt, 
der  hatte  bis  an  seines  lebens  ende  genug  und  noch  seine  kinder  genos- 
sen  dessen.  Aber  Aneas  konte  auch  geben,  es  fehlte  ihm  beim  gut 
nicht  der  willige  müt.  Nach  ihm  geben  die  übrigen  fürsten  vollauf. 
Teures  seidengewand,  gold  und  aller  art  kostbarkeiten ,  silber-  und  gold- 
gefösse,  maultiere  und  edle  rosse,  seide  und  sammet  ungeschnitteu ,  rote 
goldspangen,  zobel  und  hermelin  wird  unter  die  spielleute  verteilt,  so 
dass  sie  froh  von  dannen  scheiden  und  das  lob  des  königs  singen,  jeder 
in  seiner  zunge.  Dabei  gedenkt  Veldeke  der  festlichen  tage  von  Mainz, 
als  kaiser  Friedrich  seinen  söhnen  das  schwort  gab,  ein  fest,  von  dem 
man  erzählen  wird  bis  an  den  jüngsten  tag.  Es  waren  fui*  die  spielleute 
unter  den  Hohenstaufen  andere  zeiten  gekommen,  als  die  von  denen  der 
annalist  zum  jähre  1043  bei  gelegenheit  des  hochzeitsfestes  Heinrich  des 
Dritten  erzählt:  Infinitam  histrionum  et  joculatormn  multitudinem  ad 
laudis  Sitae  cumulum  (!)  vacuam  et  inanem  sine  cibo  et  muneribus  moe- 
rentem  ahire  permisit. 

Aus  den  bisherigen  zügen  lässt  sich  schliessen,  ein  wie  reges, 
glänzendes  leben  an  den  fürstenhöfen  schon  zu  Veldekes  zeit  geherscht 
haben  muss.  Das  ist  aber  nur  die  aussenseite  dieses  lebens.  Sehen  wir 
bei  Veldeke  nach  dem  masse,  nach  dem  der  wahre  wert  des  ritters 
gemessen  wurde.  Nirgends  finden  sich  dergleichen  gedanken  deutlicher 
ausgesprochen,  als  in  den  klagen  um  gefallene  holden.  So  die  worte 
des  Aneas  in  seiner  klage  um  Pallas  (218,  20): 

schone^  bilde,  reiner  degen! 

wa^  ich  in  korzen  stunden 

tugende  an  dir  hän  vunden! 

manheit  unde  sinne, 

trouwe  unde  minne, 

künheit  unde  mannes  rät 

und  loillich  herze  zu  der  tat, 


152  E.    WÖBNER 

gtUe  list  und  gro^  Jcraft! 

du  wäre  stdte  und  ernisthaft, 

milde  und  reinmütey 

du  hetest  site  gute 

und  aller  tagende  genüch. 
Dem  Turnus  widmet  der  dichter  einen  langen  nachruf  zum  preise  seiner 
ritterlichen  tugenden  (332,  6  fgg.): 

her  was  des  libes  ein  degen,  \  hüne  unde  mahtichy  \  wise  Wide  hedah- 
tich,  I  getrouwe  unde  wärhafi,  \  müde  unde  erhaft,  \  ein  addar  sines  gutes,  \ 
ein  lewe  sines  mütes ,  \  ein  ekkesfein  der  eren ,  \  ein  Spiegel  der  lieren,  \  her 
hete  wol  getanen  Hb,  \  vil  lieb  tmren  im  diu  unb,  \  si  wären  ouch  itne 
holt:  I  da^  was  siner  tugende  scholt. 

Als  drittes  beispiel  möge  hier  das  lob  der  tugenden  Jasons  bei 
Herbort  v.  Fritzlar  stehen  (134  —  163): 

Er  was  vrum  von  sinnen,  er  was  ze  gote  reine,  dem  folke  gar 
gemeine,  den  armen  ze  gebene,  sinen  geliehen  ebene,  sinen  Untertanen 
otmutig,  sinen  übertragenden  hochmütig,  kindisch  den  kinden,  grimme 
den  sunnden,  äne  wort  frume  zu  der  tat,  unde  mit  den  Worten  rät, 
herte  zu  u/ngerete,  zu  dem  gelubede  stete,  zu  rehter  gäbe  milde,  gefuge 
zu  dem  Schilde,  sinen  finden  offenbar,  sinen  fründen  äne  vär,  g^-u^am 
in  der  strafe,  und  von  gutem  getane,  einfeltic  an  der  gebere,  manic- 
faltic  an  der  lere,  kunstic  an  dem  sinne,  redelich  an  dem  getvimie, 
gebouge  zu  der  wisheit,  starg  zu  der  erbeit,  in  vertrüc  dehein  shi 
Schönheit,  im  was  sin  leit  niht  zu  leit,  noch  sin  liep  zu  liep  niht,  da^ 
doch  vil  selten  geschiht ,  mit  zuhten  zu  juste  und  zu  spil. 

Aus  diesen  beispielen  leuchtet  schnell  ein,  worin  eigentlich  die 
cardinaltugenden  eines  ritters  bestanden.  Eine  derselben,  oder  wol  bes- 
ser die  erste  von  allen,  war  die  treue.  Sie  fehlt  in  keiner  der  drei 
lobreden.  Auf  die  treue  gründet  sich  ja  das  Verhältnis  des  lehns- 
mannes  zum  lehnsherrn,  sie  war  das  sittliche  band,  welches  den  stat 
zusammenhielt.  Wenn  Äneas  an  Pallas  trouwe  und  minne  gefunden  hat, 
so  heisst  das  wol  soviel,  als  er  hat  in  ihm  einen  treuen  freund  gefun- 
den, ebenso  heisst  Pallas  auch  stäte  und  ernisthaft,  fest  im  denken  und 
handeln;  Turnus  trägt  das  lob  eines  getrouwen  und  wärhuften ,  und  das- 
selbe meint  Herbort  mit  den  werten:  ze  gdubede  stete,  sinen  frümien 
äne  vär.  Äneas  hat  eigentlich  mit  der  flucht  aus  Troja  die  treue  gegen 
seine  mägen  und  freunde  gebrochen;  als  er  sie  daher  in  der  unterweit 
widersieht,  da  schämt  er  sich  und  es  dünkt  ihm  unere,  dass  er  sich  von 
ihnen  getrent  hat. 

Dazu  kommen  die  männlichen  tugenden  der  tatkraft,  kühnheit,  aber 
auch  der  besonnenheit :  künheit  unde  mannes  rät  und  willicJi  herze  zu  der 


VIBGIL   UND  HEINRICH  V.    VELDEKB  153 

tai,  wie  es  von  Pallas,  hune  undc  mahticli ,  tvise  unde  hedahticli,  wie  es 
von  Turnus,  äiie  wort  frum  zu  der  tat,  unde  mit  den  Worten  rät,  wie 
es  vom  lason  heisst  Es  ist  das  ärgste,  was  man  dem  herrn  Drances 
nachsagt,  dass  er  zwar  gut  im  rat  sei,  dass  er  aber  ungern  vaht  und 
gerne  gcinach  hatte  (230,  16),  oder  wie  es  233,  4  heisst,  dass  ihm  sein 
leben  zu  lieb  sei. 

Aus  allen  diesen  tugenden  entspringt  die  ehre  des  ritters,  das 
ansehen  und  die  hochschätzung  desselben  bei  den  leuten.  Die  ehre  geht 
über  das  leben,  spricht  auch  Veldeke  oftmals  mit  deutlichen  werten  aus; 
um  ehre  zu  gewinnen  stürzt  sich  der  ritter  in  gefahr.  181,  15  wird 
Nisus  ein  edler  ritter  genant,  der  gern  um  der  ehre  willen  ungemach 
erdulden  wolte ;  Pallas  stirbt  zwar  gleich  bei  seinem  ersten  waflFeugange, 
aber  er  fällt  im  kämpfe  mit  einem  hochberühmten  gegner  (Turnus) ,  und 
nachdem  er  schon  vorher  wunder  der  tapferkeit  getan.  Wäre  er  mit 
schänden  gefallen ,  so  wäre  er  vergessen  worden ,  so  aber  starb  er  geehrt 
und  untadelig  (p.  207).  —  Mehr  als  einmal  wird  dem  Äneas  vorgewor- 
fen, dass  er  lieber  heimat  und  verwante  verlassen  habe,  anstatt  mit 
ihnen  ehrenvoll  zu  sterben.  Oifenbar  ist  die  ironie  in  Veldekes  werten 
gleich  anfangs  (p.  20,  1):  „Es  habe  den  ausziehenden  Trojanern  besser 
gedünkt  ihr  land  zu  räumen,  als  dort  rühm  zu  erwerben,  um  den  sie 
hätten  sterben  müssen.'*  Turnus  spricht  gewis  nur  das  allgemeine 
urteil  über  des  Äneas  verhalten  aus,  wenn  er  sagt  (128,  12 — 15): 

hefer  sin  eigen  laut  gewert, 

danner  mit  sehanden  tvart  vertriben, 

war  er  mit  cren  da  bdihen,  (geblieben,  gefallen) 

so  het  er  manliche  getan. 

Acht  ritterlich  denkt  Turnus,  dass  sein  leben  nichts  mehr  wert  sei, 
wenn  er  sich  vom  Trojaner  land  und  weih  nehmen  liesse:  „er  selbst 
verdiene  dann ,  dass  man  ihm  schild  und  schwort ,  die  abzeichen  des  rit- 
ters, und  all  seine  ehre  nehme  und  er  aus  der  guten  gesellschaft  verbaut 
werde"  (128,  19).  Er  sagt  daher  von  sich:  ich  hän  den  tcillen  und 
den  müt^  da^  ich  mm  ere  und  mm  gut  gerne  behaJde,  Und  so  trift 
auf  ihn  auch  der  schöne  lobspruch :  ein  addar  sines  gutes ,  ein  ekkestein 
der  eren. 

Den  tugenden  des  ritters  setzt  die  huld  der  frauen  die  kröne  auf. 
So  rühmt  Veldeke  von  Turnus:  her  hcte  wol  getanen  Üb,  vil  lieh  wären 
im  diu  wtby  si  wären  onch  ime  holt,  da^  was  siner  tilgende  scholt. 

Merkwürdig  ist,  wie  Veldeke  das  Verhältnis  des  Nisus  und  Eurya- 
lus,  und  Herbort  von  Fritzlar  das  zwischen  Achilles  und  Patroclus  dar- 


154  E.   WÖBNEB 

gestelt  haben.  Veldeke  erzählt  von  Nisus  und  Euryalus,  es  sei  an  den 
beiden  tapferen  rittern  wol  offenbar  geworden,  dass  sie  freunde  waren, 
denn  nichts  hätte  sie  während  ihres  lebens  geschieden  als  der  name: 
„wan  si  dulde  beide,  da§  si  ein  Üb  wären  (180,  40).  Nisus  selber  sagt 
(181,  20):  ivir  sin  ein  Üb  und  ein  geist;  und  in  gleicher  weise  klagt 
Achilles  bei  Herbort  (6081)  über  den  tod  des  Patroklus:  ich  was  du, 
du  wer  ich,  beide  dich  und  mich  hete  eine  trüwe,  du  bist  immer  min 
rüwe,  din  not  min  not,  ich  bin  mit  dir  halb  tot,  din  geist  ist  halp  mit 
mir.  Die  höfischen  dichter  sahen  also  darin  eine  Schwertbrüderschaft 
bis  zum  tode;  die  antike  auffassung,  wie  sie  bei  Virgil  noch  ist  (IX,  179: 
Euryalus  quo  pulchrior  alter  non  fuit  Aeneadum,  Trqjana  nequ^  i^vduit 
arma ;  ora  puer  prima  signans  intonsa  juventa)  ist  glücklicher  weise 
den  mittelalterlichen  dichtem  unverständlich  gewesen. 

Der  weite  abstand  der  antiken  und  modernen  auffassung  zeigt  sich 
nirgends  deutlicher,  als  in  der  darstellung  der  Stellung  des  weibes  in 
der  gesellschaft.  Wie  die  beiden  der  antiken  epen  zu  ächten  deutschen 
rittern  wurden,  so  sind  die  frauengestalten  jener  zeit  in  edelfrauen  des 
•mitt'elalters  übergegangen.  Die  edelfrau  zeigt  sich  schon  in  der  äussern 
erscheinung.  Es  wird  uns  nach  dem  vorhergehenden  nicht  auffallen, 
dass  auch  hier  der  dichter  stets  mit  verliebe  die  kleider  der  fürstlichen 
frauen  beschreibt.  So  wird  beim  jagdaufzuge  der  Dido  nicht  das  zier- 
liche, schön  genähte,  mit  goldstickerei  geschmückte  hemd  vergessen, 
nicht  der  weisse  hermelinpelz  mit  roten  kehlstücken,  mit  weiten  ärmeln 
und  dem  Überzug  von  grünem  sammet,  der  mit  perlen  und  goldnen  bor- 
den  reich  besetzt  ist,  und  hier  verschmäht  es  auch  der  dichter  nicht 
französische  modeworte  einzuflechten  wie  gezimierct,  geriddieret.  Der 
gürtel  der  frau  ist  aus  silber  und  gold  gewirkt,  darüber  sitzt  der  grün- 
samtene mantel  mit  hermelinbesatz  und  futter  aus  zobel;  das  har  ist 
ihr  mit  einer  teuern  borde  aufgebunden,  der  samthut  wider  mit.borden 
verziert  (p.  59  fgg.,  cf.  sp.  145).  Hierin  bleibt  Herbort  hinter  Veldeke 
nicht  zurück  (cf.  585),  er  putzt  die  Medea  stattlich  für  den  empfang 
lasons  heraus.  Nachdem  sie  ihr  har  gekämt  und  geflochten ,  die  scheitel 
berichtet  hat,  setzt  sie  einen  kopfputz  auf  aus  rotem  golde,  aus  dem  ein 
karfunkel  blitzt,  sie  legt  das  zierlich  gefältelte  und  gekräuselte  Oberhemd 
an,  das  blendendweisse  mit  den  enganliegenden  ärmeln,  darüber  wirft 
sie  ein  seidenes  golddurchwebtes  gewand.  Und  was  gehört  nicht  noch 
alles  zui-  toilette  der  edelfrau?  Veldeke  gibt  (p.  322)  ein  artiges  Ver- 
zeichnis dieser  kleinode;  das  harband,  der  Schleier,  der  weitherabhän- 
gende ärmel  {mouwe),  spangen  und  gürtel.  In  diesem  geschmack  sind 
nun  auch  die  geschenke,  welche  den  frauen  gesendet  werden.  Aneas 
sendet  der  Dido  einen  hermelinmantel  mit  braunem  zobel  besetzt,    der 


VIBGIL  UND  HBXHBICH  V.  YELDEKE  155 

lang  bis  zu  den  füssen  herabreicht,  rotsamten  ist  der  Überzug,  dazu 
zwei  armspangen,  einen  fingerreif  und  eine  goldene  spange  für  den 
mantel  (nuske),  dazu  noch  ein  kleid  aus  dalmatischer  seide  (Virg.  I, 
648  pallam  signis  auroque  rigentem  et  circnmtextum  croceo  velatnen 
acantho). 

Die  statte  der  frau  ist  das  haus,  genauer  die  kemenäte,  der  ort 
ihres  wirkens.  Wie  fest  hierin  der  dichter  an  der  anschauung  seiner 
zeit  hält,  kan  man  aus  folgenden  kleinen  zügen  sehen:  Bei  Virgil  lässt 
Dido  den  Scheiterhaufen  in  dem  Innern  hofraum  ihres  palastes  errichten 
(IV,  494  [cf.  504]:  pijram  tecto  inferiore  suh  auras  erige).  Bei  den 
höfischen  dichtem  wird  das  feuer  in  der  kemenäte  selbst  angezündet, 
dort  nimt  sich  Dido  das  leben,  und  ihre  Schwester  Anna  findet  die  keme- 
näte verschlossen  und  klopft  vergebens  um  einlass.  Bei  Herbort  von 
Fritzlar  wird  auch  das  gadem  erwähnt,  das  obere  Stockwerk  des  hau- 
ses  und  der  sah  Der  knappe  des  Achilles  findet  die  Polyxena  am 
swibbogen  des  sales  stehen  (Herbort  11410).  Auch  bei  Veldeke  wird 
neben  der  kemenäte  des  sales  erwähnung  getan  (39,  24).  Die  kemenäte 
war  ein  heizbares  gemach ,  oft  wird  wol  ein  einstöckiges  haus  so  genant. 
Dieser  sinn  muss  liegen  in  den  werten:  die  boten  des  Äneas  treffen  die 
Dido  in  einer  kemenäfen  nähen  hi  ir  palas  (28,  28).  Die  kemenäten 
im  palaste  des  königs  Latinus  sind  mit  seidenen  Stoffen  ausgeschlagen, 
der  fussboden  mit  teppichen  bedeckt,  die  polster  glänzen  von  seide,  sam- 
met  und  „dimite/'  Hierher  gehört  auch  die  eingehende  beschreibung  des 
bettes  und  der  kemenäte,  welche  Dido  zur  ruhestätte  des  Aneas  bestimt 
hat  (sp.  48,  31  fgg.)  Besonders  wird  hervorgehoben  die  angenehme  wärme 
des  gemaches,  das  feuer  „ohne  rauch,"  das  tageshelle  licht,  welches  die 
kerzen  im  zimmer  verbreiten.  Das  bett,  von  jeher  der  stolz  der  deut- 
schen hausfrau,  ist  ein  wahres  prachtstück.  Über  dem  bett  liegt  ein 
deckelaehen  (eine  zudecke)  von  purpur  mit  marderfeil  wattiert,  über  das 
weiche  und  weite  upterbett  ist  das  zierliche  „weisse"  bettuch  gebreitet; 
doppelt  ist  der  Überzug  des  Unterbettes,  das  von  federn  strotzt,  der 
äussere  samten,  der  innere  {diu  underzieclie)  von  leder,  so  dass  das 
bett  weich  und  doch  fest  ist.  Das  Unterbett  liegt  wider  auf  einer 
matratze  von  zindäle^  diese  erst  auf  dem  stroh;  das  kopfkissen  ist  sam- 
ten wie  der  Überzug  des  Unterbettes,  und  der  bolster  (wol  das  keilkissen, 
um  die  erhöhung  für  den  köpf  herzustellen)  ist  phelldin.  Ich  glaube  an 
solchen  stellen  hat  (trotz  Gervinus  p.  295,  der  die  beschreibung  des  bet- 
tes eine  Spielerei  nent)  die  deutsche  burgfrau  recht  andächtig  und  gespant 
zugehört.  Die  mauern  der  paläste  sind  so  dick,  dass  die  frauen  buch- 
stäblich in  den  fenstern  sitzen  oder  stehen  müssen ,  wenn  sie  hinaussehen 
wollen.    Die  fi-auen  sind  im  mittelalter  gebildeter  als  die  männer.    Sie 


156  E.    WÖRNER 

können  gewöhnlich  schreiben  und  lesen.  Veldeke  unterlässt  nicht  zu 
erwähnen ,  dass  die  erzürnte  gemahlin  des  Latinus  mit  eigener  band  dem 
Turnus  einen  brief  schreibt:  „einen  brief  si  seihe  tihte,  den  si  mit  sclw- 
7ien  worden  vant,  und  sereib  in  mit  ir  selber  hant  (p.  125),  von  Turnus 
dagegen  heisst  es:  er  hie^  brieve  scriben.  Lavinia  s^chreibt  auf  perga- 
ment  in  schönem  latein  ihren  liebesbrief  an  Aneas  (sp.  286).  —  Aber 
noch  mehr,  die  frauen  waren  die  eigentlichen  pflegerinnen  der  höfischen 
Sitte.  Auch  aus  den  nur  gelegentlichen  andeutungen  Veldekes  kan  man 
erraten,  dass  sich  das  ganze  gesellschaftliche  leben  jener  tage  in 
bestimten ,  von  der  sitte  vorgeschriebenen  formen  bewegte ,  auf  die  streng 
geachtet  wurde.  Der  ist  ein  hovescher  man,  der  sich  leicht  und  sicher 
in  allen  diesen  formen  zu  bewegen  weiss.  Den  anstand  in  irgend  einer 
weise  zu  vernachlässigen,  ist  unhöfisch:  e^  is  ein  unhoveseh  site,  daz, 
man  der  zulde  niene  gert  (sp.  145,  6).  Die  boten  des  Aneas  werden 
von  der  Dido  gütliche  empfangen:  und  si  geneideten  der  frouwen  der 
minnen  und  der  trouwen  (sp.  28).  Dies  die  stehende  formel  für  den  höf- 
lichen empfang  und  den  höflichen  dank.  Als  Turnus  die  königin  in  ihrer 
Jcemenäte  aufsucht,  empfangt  sie  ihn  minnecliche,  mit  der  den  frauen 
eigentümlichen  liebenswürdigkeit,  und  er  dankt  ihr  höflich  (d.  i.  mit  höf- 
licher verneigung):  vil  ge^ogenUclie  genädete  her  ir  darwider.  Der  sich 
entfernende  nimt  urlotdj,  er  bittet  sich  die  erlaubnis  aus,  gehen  zu  dür- 
fen (cf.  p.  141.  142).  Aneas  nimt  bei  seiner  fahrt  zum  Evander  sogar 
Urlaub  bei  seinem  söhne:  urlotd)  her  do  nam  ze  Ascänjo,  sime  sun,  als 
er  von  rehte  solde  tun  (167,  6  fgg.).  —  Die  zürnende  königin  lässt  sich 
unsanft  neben  ihrem  gemahl  Latinus  nieder,  ohne  sich  vorher  vor  ihm 
zu  verneigen.  Es  heisst  daher  von  ihr:  ir  ziüite  sie  vergaß,  unsanfte 
sie  nider  sa^,  daz,  sie  dem  Jcunege  niJd  cnneich  (121,  1).  Dem  eben- 
bürtigen gaste  geht  die  wirtin  entgegen  und  reicht  ihm  den  kuss  des 
wilkommens,  so  die  Dido  dem  Aneas  (35,  32);  aber  als  Aneae  seine 
braut  Lavinia  besucht,  wartet  er,  bis  ihm  der  könig  heisst  seine  tochter 
zu  küssen  {e^  hete  gerne  Uneas  an  des  kuneges  bete  getan  338,  36).  Der 
Dido,  die  für  den  ritt  zur  jagd  ihren  zeiter  besteigt,  ist  Äneas  der  sitte 
gemäss  behilflich  (61,  10):  er  diende  ir  da  si  üf  saz,  er  führte  ihr  ross 
am  Zügel.  Und  wie  höflich  verkehren  bei  Herbort  Ulixes  und  Diomedes 
mit  Dolon.  Dieser  hat  jene  aus  Troja  geleitet,  er  will  sich  verabschie- 
den und  spricht:  Gebietet  mir!  got  segen  üch!  got  lone  dir!  (8091  fg.). 
Beim  schmause,  den  Dido  den  Trojanern  gibt,  heisst  es:  man  trug  die 
speisen  „gefüchUche''  vor,  man  gab  ihnen  gezogcnliche  (31),  30).  —  Aber 
die  gesellschaft  gab  auch  etwas  aufgewallte  Unterhaltung;  nicht  umsonst 
ist  es  erwähnt,  dass  die  600  ritter,  mit  denen  Aneas  an  den  hof  der 
Dido  reitet,    wol  sprechen  und  gebären  konten  (p.  34),   und   ebendahin 


VIROIL  UND   HEINRICH   V.   VELDEKE  157 

gehört,  wenn  es  von  den  kammerfrauen  der  Lavinia  heisst:  sie  waren 
ivol  gesogen  imde  geret,  tvol  geJdeit  und  wol  geleret  ze  tverJcen  und  ze 
worden  (p.  341).  • 

Tacitus  hebt  hervor ,  in  wie  hoher  achtuug  das  weibliche  geschlecht 
bei  den  alten  Deutschen  gestanden  habe;  das  mittelalter  ist  von  dem 
minne-  und  frauendienst  geradezu  beherscht.  Es  ist  sicherlich  ein  cha- 
rakteristischer zug,  wie  das  deutsche  minne  sich  von  igio^  und  anior  in 
der  grundbedeutung  unterscheidet;  in  dem  griechischen  und  lateinischen 
Worte  waltet  der  begriff  des  sinnlichen  triebes  vor,  im  worte  minne 
liegt  mehr  das  sinnen  und  denken  an  den  geliebten,  das  den  geliebten 
gegenständ  im  gedanken  tragen.  —  Darin  zeigt  sich  deutlicher  als 
irgendwo  anders  das  vorwiegen  des  gemüts  im  deutschen  volkscharakter. 
An  tiefer  auffassung  des  Seelenlebens  stehen  die  Nibelungen  über  der 
Ilias,  und  aus  welchem  anderen  streben  sind  diese  langen  monologe 
bei  den  höfischen  dichtem  hervorgegangen,  als  aus  dem,  den  inneren 
Vorgängen  im  gemüte  des  menschen  nahe  zu  kommen  und  ihnen  einen 
ausdruck  zu  geben?  Nirgends  ist  der  abstand  der  höfischen  von  der 
antiken  Aneis  weiter,  als  in  dem  auftreten  der  Lavinia;  bei  Virgil  ist 
die  Lavinia  eine  stumme  person ,  in  dem  höfischen  gedichte  tritt  sie  mit- 
tätig auf  und  ergreift  partei.  Mit  dieser  neuerung  ist  in  dem  höfischen 
gedieht  erst  die  minne  in  ihr  volles  recht  eingesetzt.  Während  bei 
Virgil  sich  Lavinia  ohne  eigenen  willen  (echt  römisch)  in  den  willen  ihrer 
mutter  fugt,  entscheidet  sich  in  der  höfischen  dichtung  die  Jungfrau  gegen 
den  willen  der  mutter,  bloss  ihrer  neigung  folgend;  während  bei  Virgil 
von  liebe  des  Äneas  zu  der  ihm  durch  götterspruch  beschiedenen  braut 
keine  rede  ist ,  wird  in  der  höfischen  dichtung  der  besitz  der  Lavinia  für 
Äneas  eine  herzenssache.  Obgleich  die  Dido  der  höfischen  gedichte  ziem- 
lich genau  der  Vii-gilischen  nachgezeichnet  ist,  bekomt  ihr  Charakter  doch 
durch  ihr  schliessliches  auftreten  eine  von  der  Virgüischen  ganz  ver- 
schiedene farbung.  Bei  Virgil  stirbt  die  königin  unversöhnt,  hass  im 
herzen  und  Verwünschungen  auf  den  lippen  gegen  den  treulosen  Trojaner 
(IV,  615  — G29).  Ganz  anders  die  Dido  bei  Veldeke.  Sie  ist  in  ihren 
letzten  augenblicken  mild,  weich,  wehmütig  gestimt;  verlassen  von  Äneas 
klagt  sie  zu  ihrer  schwester  Anna:  „mir  is  so  im  umbe  den  leiden 
lieben  man,  da^  iehs  gesagen  niene  kanJ^  Nicht  ihm  gibt  sie  die  schuld 
an  ihrem  Unglück,  vielmehr  sagt  sie:  „mich  hat  min  selber  wille  crsla- 
gen''  (74,  36);  sie  verzeiht  dem  treulosen:  „ivande  ir  sit  es  äne  scholt,  ir 
wäret  mir  genüch  Jiolt/'  aber  sie  hat  ihn  „z'unmä^en''  geliebt,  ihre  mass- 
lose liebe  hat  sie  in  schade  und  schände  gebracht.  Sie  stirbt  endlich 
nicht  mit  dem  moriemur  intdti,  sie  stirbt  vergebend:    „die  scholde  ml 


158  B.   WÖRNER 

ich  ü  vergeben,  ichn  mach  ü  nicht  wesen  gram*'  (p.  78).    Freilich  Gervi- 
nus  nent  die  Veldekesche  Dido  einen  gehaltlosen  schatten! 

Ich  glaube,  aus  diesen  betrachtungen  geht  hervor,  dass  BenoitundVel- 
deke  in  den  rahmen,  welchen  ihnen  das  antike  epos  bot,  ein  reiches  stück 
von  dem  handeln ,  denken  und  empfinden  ihrer  zeit  hineingedichtet  haben. 
Wird  man  dichtem,  wie  Heinrich  von  Veldeke,  gerecht  werden  wollen, 
SG  wird  man  nicht  ihre  dichtungen  von  einem  absolut  künstlerischen 
Standpunkt  aus  mit  denen  des  altertums  vergleichen  dürfen ,  wie  es  Ger- 
vinus  tut,  sondern  man  wird  untersuchen  müssen,  in  wie  weit  sie  trotz 
des  antiken  Stoffes ,  den  sie  behandelten ,  ihrer  zeit  genug  getan  haben. 
Die  vorstehende  Untersuchung  ergibt,  dass  Benoit  und  Veldeke  mit  mass 
und  takt  den  antiken  stoff  nach  der  anschauungsweise  ihrer  zeit  umge- 
dichtet haben;  dass  unser  deutscher  dichter  den  rechten  ton  traf,  dürfen 
wir  aus  der  übereinstimmenden  anerkennung  schliessen ,  welche  ihm  seine 
Zeitgenossen  zollen.  Die  art,  wie  Gervinus  diese  anerkennung  zu  deu- 
ten unternimt  (p.  297  fgg.),  ist  zu  gekünstelt,  als  dass  sie  den  unbefan- 
genen überzeugen  könte.  Überhaupt  hat  Gervinus  den  wert  der  Eneit 
auf  kosten  des  Alexanderliedes  ungebürlich  heruntergedrückt.  Die  gestalt 
Alexanders  ist  für  jeden  dichter  ein  anderer  Vorwurf  als  die  des  Äneas, 
und  eine  ganze  anzahl  ausstellungen  des  litteraturhistorikers  treffen  Vir- 
gil  viel  härter  als  den  deutschen  nachdichter.  Ausrufe  wie  der  auf 
s.  294:  „Bedauern  müssen  wir  gleichwol,  dass  Virgil  von  Franzosen  und 
Deutschen  entweder  nicht  gekant  oder  entstelt  wurde"  —  entbehren 
streng  genommen  jeglichen  sinnes.  Setzt  denn  Gervinus  alles  ernstes 
bei  den  menschen  des  zwölften  Jahrhunderts  das  objective  Verständnis  des 
altertums,  seiner  zustände  und  seiner  kunstwerke  voraus,  wie  die  neu- 
zeit  sich  dieses  nach  vorangegangener  Jahrhunderte  langer  arbeit  in 
dem  kleineu  kreise  der  „classisch  gebildeten"  mühsam  angeeignet  hat? 
Sehr  lehrreich  ist  es  Bernhardys  urteil  über  Virgil  mit  Gervinus  urteil 
über  Veldeke  zu  vergleichen.  Bernhardy  nent  (Gesch.  der  R.-Litt. 
3.  bearb.  s.  449)  Virgils  Äneide  „das  erste  romantische  heldengedicht, 
welches  den  Übergang  machte  zu  den  modernen  gleich  zwitterhaften 
epen."  Er  sagt  am  selben  orte:  Virgil  hat  „ verschliffene  figuren  auf 
gleicher  linie  mit  seiner  gegenwart  gebildet ,  die  wunder  des  mythus  und 
der  götterweit  in  die  prosa  seiner  tage  gezogen,  überhaupt  die  verschie- 
denen Zeiten  und  culturstufen  vermischt  Seinen  Charakteren  ist  hier- 
durch lebensluft  und  freie  bewegung  entzogen ,  vor  andern  aber  erscheint 
sein  held  marklos  und  unsicher,  mehr  in  werten  als  in  taten  gross." 
Wenn  aber  Virgil  selbst  „  römische  färben  auf  sitte  und  gesinnungen  der 
handelnden  personen  unwillkürlich  übertragen   hat,"    was    können   wir 


VIBGIL  UND   HBINBICH  V.  VELDEKE  159 

unserm  dichter  für  einen  Vorwurf  daraus  machen,  dass  er  statt  Virgil- 
scher  helden  wirkliche  menschen  seiner  zeit  dargestellt  hat  und  nicht 
unwillkürlich,  sondern  ganz  absichtlich  bilder  aus  seiner  zeit  in  den  anti- 
ken rahmen  hinein  malte.  Die  höfischen  kreise  waren  hungrig  nach 
neuen  stofifen  der  geselligen  Unterhaltung.  Man  nahm  sie,  wo  man  sie 
fand,  also  auch  aus  dem  altertum.  Wenn  nun  (nach  Bernhardy)  Vir- 
gils  Äneide  an  innerer  aimut  des  Stoffes  leidet,  d.  h.  wenn  die  handlung 
darin  spärlich  und  wenig  spannend  ist,  so  wird  es  nicht  wunder  nehmen, 
dass  unsere  Eneit  an  denselben  schwächen  krankt.  Virgils  kunst  liegt 
in  seiner  spräche,  in  seiner  einzel-  und  kleinmalerei ,  in  seiner  epischen 
technik.  Die  glanzpunkte ,  „  die  grossen  momente  *'  seines  epos  findet  man 
in  den  episoden.  Nimt  man  diese  äussere  kunstvolle  hülle  weg ,  so  bleibt 
nichts  als  eine  ärmliche,  wenig  besagende  handlung.  Mit  diesem  dürren 
kern  der  erzählung  musten  unsere  mittelalterlichen  dichter  wirtschaften; 
wenn  man  dies  erwägt,  so  haben  sie  ihre  aufgäbe  nicht  schlecht  gelöst. 
Das  römische  volk  konte  auf  seinen  gi'iechischen  ahnherrn  nicht  stolz 
sein,  das  bleibt  eine  schwächliche  figur,  aus  der  auch  die  sublime  Vir- 
gilische  technik  nichts  machen  konte.  Dass  aber  das  Schicksal  des  hel- 
den viele  Vergleichungspunkte  darbot  mit  den  Schicksalen  manches  fah- 
renden ritters  jener  zeit ,  dafür  gibt  uns  die  geschichte  belege.  Darin 
mochte  auch  für  die  höfischen  kreise  das  anziehende  der  erzählung  lie- 
gen, sonst  wäre  es  doch  kaum  erklärlich,  wie  ein  antiker  stoflF  so  viel- 
fach gelesen  worden  ist,  wie  nach  dem  urteil  der  Zeitgenossen  Veldekes 
Eneit  gelesen  und  abgeschrieben  wurde.  Den  punkt,  in  welchem  die 
mittelalterlichen  dichter  über  Virgil  hinausgehen  musten,  wenn  sie  ihrer 
zeit  genug  tun  weiten ,  das  selbsttätige  auftreten  der  Lavinia ,  haben  sie 
richtig  herausgefunden  und  darauf  auch  die  meiste  kunst  eigener  erfin- 
dung  und  ausschmückung  vei*wendet.  Ich  hebe  hier  noch  einige  ver- 
fehlte urteile  bei  Gervinus  heraus.  Seite  295  heisst  es:  „In  diesem  Vel- 
deke  ist  es  zuerst  sichtbar,  wie  sich  ein  erregtes  innere,  das  eine  nah- 
rung  für  die  seele  sucht,  gegen  jede  (!)  Weitläufigkeit  und  kleinlichkeit 
sträubt ,  und  er  lehnt  daher  detaillierte  beschreibungen  von  Städtebau  und 
dergleichen,  die  nichts  für  gefühl  und  empfindung  bieten,  ab,  die  noch 
in  seiner  wälschen  quelle  sich  vorfanden."  —  Der  erste  teil  ist  insofern 
unrichtig,  weil  sich  bei  Veldeke  sehr  viele  Schilderungen  finden,  die 
nach  unserm  geschmack  weitläufig  und  nach  Gervinus  eignem  urteile 
kleinlich  sind.  Ich  erinnere  an  die  häufigen  beschreibungen  von  klei- 
dem,  waflfen,  pferden,  an  das  bett  der  Dido  und  an  das  pferdeohr,  an 
die  grabmale  (cf.  Gervinus  s.  297).  Der  dichter  suchte  sich  für  seine 
Schilderungen  eben  die  stoffe  heraus ,  welche  das  interesse  seiner  zuhörer 
für  sich  hatten.    Zweitens  ist  aber  der  angeführte  beleg,   die  unterlas- 


160  E.    WÖBNEB,    VIBGIL  INI)    HEINBICH   V.   VELDEKE 

sene  beschreibung  des  Städtebaues,  nicht  zutreffend.  Denn  Gervinus  macht 
damit  eine  ausnähme  zur  regel.  Bei  Virgil  selbst  findet  sich  (I,  425  — 
440)  nicht  eben  viel  über  den  bau  Carthagos,  sieben  hexameter  füllt 
dort  das  bild  von  der  emsigen  tätigkeit  der  bienen  aus.  Hier  weicht 
auch  Veldeke  nicht  sowol  von  Virgil  ab,  obschon  er  sich  den  anschein 
gibt,  als  vielmehr  von  Benoit,  welcher  in  250  halbzeilen  seinen  lands- 
leuten  die  wunder  der  afrikanischen  stadt  beschrieb  (cf.  Pey.  a.  a.  o.). 
Wir  haben  hier  also  eine  stelle,  wo  der  deutsche  dichter  seine  franzö- 
sische vorläge  abkürzte  (sp.  26,  20  —  27,  24)  und  aus  der  französischen 
quelle  nur  die  angaben  über  besatzung,  läge  und  festigkeit  der  stadt 
heraushob.  Ebenso  schief  scheint  mir  die  bestechende  an tithese  bei  Ger- 
vinus ausgefallen  zu  sein:  „Im  Virgil  dünkt  man  sich  in  einer  alten, 
aus  dem  schutt  aufgegrabenen  stadt  zu  wandeln ,  die  aus  jedem  steine 
stumm  zu  uns  spricht  und  grosse  ruinen  erhalten  hat.  Hier  geht  man 
träge  und  getäuscht  zwischen  wüsten  trümmerhaufen,  unter  denen  uns 
ein  gutmeinender,  eingelernter  (?),  abergläubischer,  auf  seinen  unsinn 
stolzer  Cicerone  mit  endlosem  geschwätz  und  fabeln  fast  zur  Verzweif- 
lung bringt."  —  Ich  möchte  dem  gegenüberstellen:  Der  eindruck,  wel- 
chen Virgils  Äneide  nach  rascher  lesung  im  geiste  des  lesers  zurück- 
läsöt,  gleicht  etwa  dem  eindruck,  den  ein  kunstvoll  gefügter  mosaikfuss- 
boden  auf  den  beschauer  macht.  Die  einzelnen  steinchen  sind  von  einem 
feinfilhligen ,  kunstsinnigen  samler  und  forscher,  der  eiü  herz  für  die 
grosse  seines  volkes  hatte,  aus  einem  weitschichtigen  material  des  ver- 
schiedensten alters  und  Ursprungs  zu  einem  grossen  bilde  mit  national - 
römischer  tendenz  zusammengestellt  worden.  Dem  bilde  fehlt  es  an 
Schwung,  trotz  aller  feinheit  der  Zeichnung  im  einzelnen  macht  sich 
zu  sehr  eine  überlegte  künstelei  bemerklich  und  das  heterogene  material 
will  oft  nicht  recht  zusammenpassen.  Bei  Veldekes  Eneit  komt  mir  der 
eindruck  in  den  sinn,  welchen  bilder  der  altdeutschen  schule  --  etwa  die 
kreuzigung  darstellend  —  auf  den  beschauer  hervorbringen.  Da  hat  man 
nicht  römische  krieger,  sondern  deutsche  landsknechte ,  nicht  römische 
ritter ,  sondern  deutsche  kriegsobersten ,  männer  und  frauen  sind  in  tracht, 
geberde  und  gesichtsausdruck  durchaus  deutsch.  Und  doch  welche  Innig- 
keit schaut  aus  den  gesichtern  der  frauen,  welche  oigenart  aus  den 
köpfen  der  männer.  Die. dichter  wie  die  maier  dachten  nicht  daran  aus 
den  grenzen  ihrer  zeit  herauszutreten,  sie  dachten  und  malten  für  ihre 
Zeitgenossen. 

ST.   AFRA  BEI  MEISSEN.  E.  WÖRNER. 


161 


BERICHT    ÜBER    NEUERE    DEUTSCHE    MUNDARTLICHE 

LITTERATUR 

I. 

Die  Alemannische  Sprache  rechts  des  Rheins  seit  dem  XIII.  Jahr- 
hundert von  Dr.  Anton  Birlingrer.  Erster  Theil.  Grenzen,  Jahrzeitnamen, 
Grammatik.    Berlin  1868. 

Bairische  Grammatik  von  Dr.  Karl  Welnhold.    Berlin  1867. 

Bayerisches  Wörterbuch  vonJ.  Andreas  Schmeller.  Zweite  mit  des  Ver- 
fassers Nachtragen  vermehrte  Ausgabe  im  Auftrage  der  historischen  Commis- 
sion  bei  der  königlichen  Academie  der  Wissenschaften  bearbeitet  von  G.  Karl 
Frommann.    Erste  bis  dritte  Lieferung  (A  bis  Foissen).    München  1869. 

Ein  Ausflug  nach  Gottschee.  Beitrag  zur  Erforschung  der  Gottscheewer 
Mundart  von  K.  J.  Schröer.  Wien  1869.  (Besonderer  abdruck  aus  dem  octo- 
berhefte  des  Jahrganges  1868  der  Sitzungsberichte  der  philosophisch  -  histori- 
schen klasse  der  kaiserlichen  academie  der  Wissenschaften). 

Idiotikon  von  Kurhessen.  Zusammengestellt  von  Dr.  A,  F.  C.  Tllmar, 
Ritter  des  kurfürstlichen  Wilhelm sordens ,  ordentl.  Professor  der  Theologie  zu 
Marburg,  Oonsistorialrath.    Marburg  und  Leipzig  18G8. 

Beobachtungen  auf  dem  gebiete  der  vocalschwächung  im  Mittel- 
binnendeutschen, bes.  im  Hessischen  und  Thüringischen.  Von 
Ernst  Wülcker.    H.  L.  Brönners  druckerei  in  Frankfurt  a.  M.  1868. 

Die  Ruhlaer  Mundart  dargestellt  von  Karl  Regel.    Weimar  1868. 

Des  Matthias  v.Beheim  Evangelienbuch  in  mitteldeutscher  Sprache, 
1343,  herausgegeben  von  Reinhold  Beehstein.    Leipzig  1867. 

Über  die  Sprache  Luthers.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  Neuhochdeut- 
schen von  Dr.  E.  Opitz.    Halle  1869. 

Unsere  zusammenfassende  übersieht  hervorragender  erscheinungen 
auf  dem  gebiete  der  deutschen  mundartlichen  forschung  mag  in  diesem 
ersten  versuche  sich  bis  zu  einem  gewissen  maasse  von  den  zeitlichen  und 
örtlichen  grenzen  dispensieren,  die  wir  später,  falls  unser  unternehmen 
einigerraassen  anklang  findet,  einzuhalten  gedenken.  Denn  obgleich  die 
litterarische  tatigkeit  auf  diesem  felde  verglichen  mit  der  auf  vielen 
anderen  verwanten  feldern  inmierhin  nur  eine  beschränkte  zu  nennen  ist, 
so  ist  sie  doch  so  ausgedehnt,  dass  sich  kaum  das,  was  ein  einziges 
jähr  zu  markte  bringt,  in  den  bescheiden  zugemessenen  rahmen  einer 
solchen  übersichtlichen  betrachtung  fassen  lässt,  wie  wir  sie  hier  beab- 
sichtigen ,  während  wir  diesmal  auf  die  erträgnisse  mehrerer  jähre  zurück- 
greifen wollen.  Auch  wird  es  sich  empfehlen,  auf  einmal  nicht  das 
ganze  räumlich  und  sachlich  so  ungeheuere  gebiet  aller  deutschen  mund- 
arten  heranzuziehen,  sondern  nur  immer  eine  oder  einige  ihrer  grösseren 
natürlichen  gruppen ,  z.  b.  die  beiden  oberdeutschen ,  die  mitteldeutschen, 
die  nordwestlichen  niederdeutschen  usw.  zu  berücksichtigen  und  die  anderen 

ZBITSCHB.   F.  DEUTSCHS   PHILOL.    BD.  III.  H 


162  EÜCKEET 

für  ein  anderes  mal  aufzusparen.  Auch  davon  haben  wir  diesmal  inso- 
fern abzusehen  für  practisch  gehalten,  als  wir  wenigstens  ausser  den 
beiden  oberdeutschen  auch  noch  einiges  aus  dem  weiten  bereiche  des 
mitteldeutschen  heranzuziehen  gesonnen  sind.  Da  wir  ausdrücklich  vor- 
angestellt haben,  dass  es  sich  hier  nur  um  eine  auswahl  einschlagender 
litteraturproducte  handelt,  so  kau  natürlich  irgend  welche  Vollständigkeit 
oder  gar  eine  im  bibliogi*aphischen  sinne  erschöpfende  erörterung  des 
materials  hier  nicht  gefordert  werden.  Besässen  wir  noch  eine  special- 
zeitschrift  für  den  gegenständ,  so  würde  ihr  diese  aufgäbe  zufallen,  wie 
sie  jahrelang  von  Frommanns  „  Deutschen  Mundarten "  unter  der  rubrik 
„fortsetzung  und  ergänzungen  zu  Paul  Trömels  litteratur  der  deutschen 
mundarten "  mit  gewissenhaftem  fleisse  gelöst  worden  ist.  Seitdem  Pfeif- 
fers Germania  alljährlich  von  Bartschens  band  eine  bibliographische 
Übersicht  der  gesamten  litteratur  der  deutschen  altertumskunde  bringt, 
kann  man  dort  sich  rates  erholen ,  obgleich  die  nur  einmal  jährlich  erfol- 
gende aufstellung  dieses  Verzeichnisses  es  nicht  gestattet  die  neuigkeiten 
so  rasch  zu  registrieren,  als  es  für  viele  wünschenswert  wäre. 

Wir  beginnen  unsern  gang,  wie  billig,  mit  dem  südwestlichsten 
deutschen  Sprachgebiete ,  das ,  so  weit  wir  es  geschichtlich  rückwärts  ver- 
folgen können,  noch  bis  heute  die  stärkste  Individualisierung  seiner  mund- 
artlichen eigentümlichkeiten ,  die  reichste  und  vielseitigste  gestaltungs- 
kraft  in  diesen  naiven  sprachprocessen  betätigt  hat. 

Birlingers  buch,  erster  teil,  —  das  erscheinen  eines  zweiten,  wofür 
dem  Verfasser,  wie  wir  persönlich  wissen ,  reiches  material  zu  geböte  steht, 
ist  zwar  in  aussieht  gestellt ,  aber  als  dies  geschrieben  wurde  noch  nicht 
erfolgt  —  führt  uns  in  eine  der  drei  grossen  dialectgruppen ,  die  sich  inner- 
halb der  gesamtheit  des  Alemannisch  -  Schwäbischen ,  oder  wie  man  es  sonst 
bezeichnen  will,  von  selbst  als  ihre  nächsten  Unterabteilungen  zu  erkennen 
geben.  Wir  haben  als  gesamtnamen  den  am  meisten  in  der  Wissenschaft 
neuerdings  gebräuchlichen  Alemannisch  -  Schwäbisch  angewant,  woför 
andere ,  z.  b.  Weinhold ,  bloss  Alemannisch ,  wider  andere ,  besonders  ältere 
schriftsteiler  Schwäbisch  setzen.  Im  gründe  komt  auf  alle  solche  kunstaus- 
drücke wenig  an,  wenn  man  nur  weiss,  was  damit  gemeint  ist.  Dieser 
aber,  so  oder  so,  hat  den  übelstand,  dass  er  eine  nur  je  für  einen  oder 
zwei  teile  passende  bezeichnung  zu  der  des  ganzen  stempelt.  Vielleicht 
wäre  die  einfach  topische  benennung  Südwestdeutsch  die  geeignetste ,  dem 
würde,  zunächst  sich  Südostdeutsch  für  Bairisch  oder  Bairisch- österrei- 
chisch anreihen,  denn  auch  hier  ist  beinahe  derselbe  einwand  wie  dort 
gegen  die  herkömliche  ethnographische  benennung  zu  erheben.  Südwest- 
deutsch könte  höchstens  deshalb  angefochten  werden,  weil  es  in  der  tat 


ÜBEB  DBÜT8CHB  MTTNDABTL.   LITTBBATX7B  163 

noch  eine  andere  selbständige  süd westdeutsche  sprachgruppe  gibt,  die 
reste  des  Burgundischen.  Aber  diese  sind  so  schwach  vertreten,  von  so 
geringer  örtlicher  ausdehnung,  und  auch  in  sich  durch  ihre  fortwäh- 
rende berührung  und  anlehnung  an  den  grösseren  nachbardialect ,  eben 
den  sogenanten  alemannischen,  verhältnismässig  von  so  untergeordneter 
eigenart,  dass  da,  wo  es  sich  darum  handelt,  die  grossen  deutschen 
Sprachmassen  durch  entsprechende  topische  bezeichnungen  anschaulich 
hervortreten  zu  lassen,  sie  nicht  berücksichtigt  zu  werden  brauchen. 

Es  ist  nun  nicht  eine  ganze  grössere  Unterabteilung  des  Sudwestdeut- 
schen, die  Birlingers  buch  umfasst,  sondern  nur  ihre  nördliche  gliedening: 
„die  alemannische  spräche  rechts  des  Rheines"  besagt  der  titel, 
und  man  wird  dabei  gut  tun,  sich  zu  erinnern,  dass  der  Rhein  in  seinem  Ober- 
lauf durch  deutsches  Sprachgebiet  erst  nördlich,  dann  auch  eine  lange  strecke 
geradeaus  von  osten  nach  westen  fliesst,  ehe  er  wider  seine  nordrich- 
tung,  die  der  phantasie  die  vorhersehend  giltige  ist,  einschlägt.  Dieser 
halbkreis,  den  der  ström  umspant,  bildet  den  grösseren  teil  des  bodens, 
auf  dem  der  alemannische  dialect  rechts  des  Rheins  zu  hause  ist.  Der 
Rhein  in  seiner  ersten  nördlichen,  dann  in  seiner  westlichen  richtung 
trent  dieses  gebiet,  wie  im  ganzen  politisch,  so  auch  sprachlich  sehr 
bestimt  von  dem  südwestlich  und  südlich  daranstossenden.  Letzteres  gehört 
zwar  unzweifelhaft  noch  unter  die  allgemeine  kategorie  des  Alemanni- 
schen, also  mit  dem  nördlich  daranstossenden  unter  die  eine  von  den 
drei  grossen  hauptabteilungen  des  Südwestdeutschen ,  aber  es  bildet  inner- 
halb derselben  doch  eine, scharf  umrissene  sprachliche  Individualität,  die 
natürlich,  wenn  man  näher  an  sie  herantritt,  in  eine  weitere  menge 
untergeordneter  sich  zerlegen  lässt.  Für  diese  südliclie  gruppe  gebricht 
es  nicht  an  einem  volkonmien  passenden  namen,  der  auch  als  algemein 
angenommen  gelten  darf.  Wir  nennen  sie  lieber  Schweizerdeutsch  als 
Hochalemannisch,  wie  manche,  z.  b.  auch  Weinhold,  es  tun.  Ihnen 
heisst  dann  die  nördliche  gruppe  Niederalemannisch,  obgleich  ihr  Ver- 
breitungsgebiet topisch  zum  teil  bedeutend  höher  gestellt  ist ,  als  das  der 
ersten.  Wir  befürchten  nicht,  dass  jene  schon  erwähnten  trümmer  des 
Burgundischen,  die  zumeist  innerhalb  der  politischen  grenzen  der  heu- 
tigen Schweiz  sich  erhalten  haben  —  nur  die  sogenanten  deutschen 
colonien  südlich  vom  Monte  Rosa  fallen  ausserhalb  derselben  —  dieser 
bezeichnung  im  wege  stünden.  Das  Schweizerdeutsch  ist  also  von 
vornherein  in  einer  darstellung  des  Alemannischen  rechts  vom  Rheine 
ausgeschlossen,  obgleich  es  auch  Alemannisch  im  engeren  sinne  heissen 
darf.  Dass  an  einigen  stellen  ein  zweifei  möglich  ist,  ob  ein  localdialect 
der  nördlichen  oder  südlichen  alemannischen  gruppe  zuzuweisen  sei,  ist 
selbstverständlich.   Es  kann  aber  ebensowol  an  der  noch  unvollständigen 

11* 


164  KÜCKBBT 

wissenschaftlichen  erkentnis  des  materials  wie  an  dem  objectiven  tat- 
bestande  selbst  gelegen  sein,  wenn  ein  solcher  zweifei  sich  erhebt.  So 
fragt  es  sich  für  uns  immer  noch,  wohin  wir  die  mmidarten  im  canton 
Schafifhausen  zu  stellen  haben.  Geographisch  gehören  sie  entschieden  zu 
der  nördlichen  gruppe  und  dass  sie  jetzt  gemeinhin  zum  Schweizerdeutsch 
gerechnet  werden,  wäre  linguistisch  ohne  belang,  wenn  nicht  in  der  tat 
so  manches  in  ihnen  mehr  nach  der  südlichen  als  nach  der  nördlichen 
Seite  hinwiese.  So  vor  allem  ihr  lexicalisches  material,  das  mit  dem 
der  anstossenden  linksrheinischen  gebiete  genauer  stimt,  als  mit  dem 
der  anderen  rechtsrheinischen.  In  lauten  und  formen  aber  berühren  sie 
sich  wider  näher  mit  diesen ,  vielleicht  die  städtische  mundart  von  Schaff- 
hausen  selbst  ausgenommen.  Aber  stadtmundarten  bilden  überall,  wie 
jeder  weiss,  der  sich  mit  dem  gegenstände  beschäftigt  hat,  eine  art  von 
Sprachinseln.  So  weit  die  geschichtlichen  documente  aufschluss  geben, 
würde  bis  etwa  zum  16.  oder  17.  Jahrhundert  die  Verbindung  mit  dem 
norden  noch  deutlicher  heraustreten  als  heute ,  und  demgemäss  kann  man 
wol  annehmen,  dass  neuere  culturhistorische  einflüsse  auch  hier  wie  so 
oft  den  ursprünglichen  typus  der  mundart  stark  veränderten.  Seit  die- 
ser zeit  mag  die  einwanderung  und  Verbreitung  lexicalischer  eigentüm- 
lichkeiten  von  dem  linken  rheinufer  nicht  begonnen,  aber  doch  in  greif- 
barerer gestalt  sich  vollzogen  haben.  So  würde  ein  alle  momente, 
geschichte  und  gegenwart,  berücksichtigendes  urteil  hier  einen  wirklichen 
mischdialect  anerkennen,  der  vielleicht  zukünftig  sich  ganz  der  südlichen 
gruppe  anschliessen  dürfte.  Unser  Verfasser  der  „Alemannischen  Sprache 
rechts  des  Rheins"  bringt  zwar  selbst  unter  verschiedenen  rubriken  seines 
buches  tatsachen,  die  für  unsere  auffassung  sprechen,  zieht  aber  auch 
hier  seine  südliche  grenzlinie  durch  den  lauf  des  Rheins.  An  einer 
anderen  stelle  aber  sieht  er  sich  doch  genötigt,  die  stromgrenze  aufzu- 
geben, nämlich  in  der  äussersten  südwestecke  des  gebietes.  Der  Breis- 
gau wird  mit  recht  von  ihm  —  allerdings  ist  es  auch  schon  von  anderen 
vor  ihm  geschehen  —  zu  der  westlichen  hauptgruppe,  die  man  gewöhn- 
lich die  elsässische  nent,  gerechnet,  also  von  der  alemannischen  ganz 
geschieden.  Die  schwierigste  aufgäbe  aber  ist  die  genaue  bezeichnong 
der  nördlichen  und  nordöstlichen  grenzlinie  gegen  die  schwäbischen 
mundarten  im  engeren  sinne.  Ob  eine  solche  gefunden  werden  könne,  ist 
zwar  öfters  bezweifelt  worden,  doch  herscht  neuerdings  bei  den  eigent- 
lichen Sprachforschern,  die  sich  mit  dem  gegenstände  beschäftigt  haben, 
über  das  ob  kein,  streit  mehr,  nur  über  das  wie?  So  z.  b.  weicht  die  von 
Weinhold  (Alemannnische  grammatik  p.  8)  aufgestellte  grenze  sehr  stark  von 
der  Birlingers  ab.  So  viel  wir  aus  dem  gedruckten  material  urteilen, 
das   wir   allerdings   nicht   durch   neuerlichst  aufgefrischte   unmittelbare 


ÜBBB  DEUTSCHS  MUNDABTL.   LITTBBATUB  165 

eindrücke ,  sondern  nur  durch  schon  in  der  erinnerung  etwas  verblasste  zu 
ergänzen  und  zu  beleben  vermögen,  berichtigt  Birlingers  darstellung  die 
Weinholds  namentlich  an  einer  wesentlichen  stelle.  Weinhold  lässt  seine 
nordgrenze  mit  dem  nordufer  des  Bodensees  zusammenfallen,  Birlinger 
dagegen  zieht  den  alten  Linz  -  und  Argengau  noch  zum  alemannischen  und 
mit  rechi  Denn  in  beiden  —  jetzt  die  südspitze  des  neueren  Würtemberg  — 
ist  alles,  spräche,  sitte,  tracht  alemannisch,  oder  zunächst  anders  als  bei  den 
nördlichen  und  östlichen  schwäbischen  nachbarn,  und  gerade  hier  wird  auch 
im  Yolksmunde  der  unterschied  gegen  die  Schwaben  und  das  Schwäbische 
eben  so  scharf  betont  wie  in  dem  Schweizerdeutschen.  Es  bedarf  wol 
keiner  bemerkung,  dass  dieselben  leute,  die  recht  gut  wissen,  dass  sie 
keine  Schwaben  sind,  wie  ihre  nachbarn  in  halbstündiger  entfernung, 
doch  mit  dem  namen  Alemannisch  ganz  unbekant  sind.  Er  gilt  über- 
haupt nur  in  der  litteratur  und  nirgends  im  volke.  Während  man  m 
Schwaben  selbst  von  Schwaben  und  Schwäbisch  mehr  als  genug  reden 
hört,  während  auch  die  westliche  hauptgruppe,  das  Elsässische,  noch  als 
volkstümliche  bezeichnung  sich  erhalten  hat  —  gebricht  es  auch  im 
Volke  und  nicht  bloss  in  der  Wissenschaft  an  einem  wirklich  lebendigen 
namen  für  das  nördliche  Alemannische.  Ohne  zweifei  ist  dies  nicht  so 
sehr  aus  der  topographischen  wie  aus  der  politischen  und  teilweise  aus 
der  confessionellen  Zerklüftung  dieses  gebietes  zu  erklären,  wogegen  der 
grössere  teil  der  eigentlichen  Schwaben,  die  deutschen  Eidgenossen,  und 
die  Elsässer  inmier  in  einem  staatsverbande  zusammengefasst  waren. 
Die  confessionelle  Zerklüftung  erstreckt  sich  allerdings  auch  über  die 
anderen  grupp^,  doch  wird  sie  entweder  durch  das  politische  moment^ 
wie  in  der  Schweiz,  oder  durch  das  topische,  wie  in  Schwaben  und  dem 
Elsass,  zu  gunsten  des  einheitlichen  wider  ausgeglichen. 

Wie  Birlinger  bei  dieser  heikein  grenzbestimmung  den  grossen  Vorzug 
geniesst,  dass  er  als  ein  landeseingeborener  und  zugleich  als  ein  rüsti- 
ger perieget  sich  überall  auf  das  Zeugnis  seines  auges  und  seines  obres 
berufen  kann ,  so  ist  darin  überhaupt  der  eigentümliche  wert  seines  buches 
ZU  suchen.  Nicht  als  wenn  es  ganz  aus  solchem  selbst  erwandertem  mate- 
riale  zusammengesetzt  wäre.  Jeder,  der  seine  früheren  arbeiten  kent,  die 
mehr  oder  minder  doch  alle  derselben  Sphäre  wie  dies  buch  angehören, 
weiss,  dass  er  sich  redlich  bemüht,  litterarische  Zeugnisse  aller  art, 
namentlich  auch  die  eigentlich  geschichtlichen  documente,  zu  seinen 
zwecken  zu  verwerten.  Auch  hier  hat  er  das  mit  eifer  getan,  und  viel- 
leicht ihnen  mitunter  eine  zu  weit  gehende  berechtigung  zugestanden; 
so  namentlich,  wenn  er  die  alten  kirchlichen  grenzen  überall  auch  als 
Sprachgrenzen  nachzuweisen  bemüht  ist  Im  grossen  und  ganzen  fällt 
ja,  das  liigt  auf  derhand,  die  nord-  und  nordostgrenze  seines „ Aleman- 


166  BÜCKEBT 

nischen  rechts  vom  Rhein "  zusammen  mit  der  entsprechenden  der  Con- 
stanzer  diöcese  und  der  von  Chur ,  aber  im  einzelnen  ist  nicht  abzusehen, 
wie  bei  der  feststellung  der  letzteren  irgend  eine  andere  practische  rück- 
sicht  vor  der  doctrinären  und  so  ganz  modernen  der  einhaltung  der 
Sprachgrenzen  habe  zurücktreten  sollen.  Demzufolge  würde  sich  viel- 
leicht auch  diese  letztere  im  einzelnen  doch  noch  etwas  anders,  als  Birlinger 
will ,  gestalten ,  was  freilich  nur  die  sorgfaltigsten  localforschungen  ermit- 
teln können,  wozu  in  der  studierstube  nicht  der  richtige  ort  ist.  Wir 
wären  selbst  nicht  zum  zweifei  angeregt  worden ,  wenn  nicht  dies  behaup- 
tete so  ganz  reinliche  zusammenfallen  beider  grenzzüge  uns  stutzig 
gemacht  hätte.  Im  letzten  gründe  liegt  dieser  ganzen  auffassung  doch 
noch  immer  die  einstige  Langsche  theorie  von  dem  zusammenfedlen  der 
gau-  und  archidiaconatsprengel  und  dem  entsprechend  auch  der  diöce- 
san-  und  metropolitangrenzen  mit  denen  der  grösseren  politischen  und 
ethnographischen  einheiten  zu  gründe.  Sie  ist  aber  nunmehr  als  beseitigt 
anzusehen ,  wenigstens  so  weit  sie  eine  stricte  regel  aufstellen  wollte.  Sind 
ja  doch  nicht  einmal  die  alten  gaugrenzen  selbst,  von  denen  man  es  am 
ersten  voraussetzen  könte,  mit  irgend  welcher  anderer  berücksichtigung 
des  ethnographischen  momentes  —  was  für  uns  wenigstens  im  princip 
oder  in  seiner  urgestalt  mit  dem  linguistischen  zusammenfällt  —  gezo- 
gen, ausser  mit  einer  ganz  allgemeinen,  dass  z.  b.  wo  möglich  keine 
fränkischen  Volksbestandteile  mit  einem  sächsischen  gau  verbunden  wur- 
den ,  keine  bairischen  mit  einem  alemannischen ,  obgleich  selbst  hier ,  wie 
der  Albegau  und  Ammergau  zeigen ,  ausnahmen  zu  finden  sind.  Selbsi>- 
verständlich  läugnen  wir  also  nicht,  dass  in  sehr  vielen  fällen  die  gau- 
grenzen  wirklich  mit  sprach-  oder  dialectgrenzen  zusammenfallen ,  nament- 
lich wenn  dieselben  auch  geographisch  als  solche  auftreten,  aber  es 
entspricht  sehr  wenig  dem  rein  practischen  sinne  unserer  vorzeit,  in 
diesen  dingen  überall  etwas  schematisches  oder  systematisches  sehen  zu 
wollen. 

Schon  aus  der  richtung,  in  der  wir  bisher  Birlingers  buch  verfolgt  haben, 
lässt  sich  abnehmen,  dass  es  keine  blosse  grammatische  oder  lingui- 
stische arbeit  im  engeren  sinne  genant  werden  kann,  obgleich  es  ein 
linguistisches  thema  zum  titel  gewählt  hat.  Es  sind  linguistisch -cultur- 
geschichtliche  Studien  aus  dem  bereiche  und  zur  beleuchtung  der  heimat- 
lichen mundart  des  Verfassers.  In  dieser  art  unterscheidet  es  sich  sehr  präg- 
nant von  seinem  Vorgänger  und  vorbilde ,  Weinholds  Alemannischer  gram- 
matik.  Birlinger  selbst  nimt  für  sich  nur  das  verdienst  in  anspruch.  Wein- 
hold zu  ergänzen  und  fortzusetzen.  Er  sagt:  „Was  den  terminus  a  quo 
anlaugt,  so  glaube  ich  dem  herausgeber  der  Alemannischen  granunatik  da 
begegnen  zu  sollen ,  wo  seine  hauptkraft  abzunehmen  scheint.  iMit  vereh- 


ÜBEB  BDÜTSCHE  MUVDABTL.  UTfBRATUB  167 

rung  muss  man  an  dem  herlichen  material  und  dessen  wissenschafblicher 
behandlung  emporblicken,  das  uns  seine  Alemannische  grammatik  vom 
8. — 13.  Jahrhundert  bringt,  und  ich  schätze  mich  glücklich,  wenn  ich  mit 
meiner  arbeit  irgendwie  Weinholds  buch  ergänzen  könte."  Überblicken  wir 
aber  nur  das  inhaltsverzeichnis  Birlingers,  so  ergibt  sich,  dass  „ ergänzen ^^ 
hier  in  etwas  weitem  sinne  zu  nehmen  ist  Es  ist  eben  ein  ganz  anderes 
System,  ein  weiterer  horizont,  der  diesem  buche,  im  gegensatze  zu  der  stren- 
gen und  knappen  beschränkung  Weinholds  auf  das  bloss  linguistische,  neben 
den  vielen  wertvollen  linguistischen  beitragen  und  „ergänzungen^'  im 
gewöhnlichen  sinne ,  teils  auch  erheblichen  berichtigungen  seiner  Vorgän- 
ger ,  eine  eigentümlich  lebendige  färbung  gibt.  Um  dies  auf  kürzestem 
wege  deutlich  zu  machen ,  setzen  wir  das  inhaltsverzeichnis  her  mit  eini- 
gen beiläufigen  bemerkungen:  L  „Grenzen.  Politische,  kirchliche  alte 
grenzen  sind  Sprachgrenzen.  Es  gibt  zwei  Sprachgrenzen  nördlich.  S.  W. 
der  Rhein  angesetzt.^^  Über  den  einen  punkt  haben  wir  bisher  schon 
manches  teils  bestätigend  teils  zweifelnd  gesagt.  Über  den  anderen  sei 
bemerkt,  dass Birlinger  unter  den  zwei  Sprachgrenzen  die  des  gesamtdia- 
lectes ,  des  südwestdeutschen ,  wie  wir  ihn  nennen  möchten ,  versteht.  Er 
sucht  nachzuweisen ,  und  der  nachweis  ist ,  da  ausreichende  geschichtliche 
Zeugnisse  vom  4.  Jahrhundert  ab  zu  geböte  stehen,  nicht  schwer,  dass  die 
ursprüngliche  nordgrenze  des  Sprachgebietes  mit  der  ältesten  nordgrenze 
der  Alemannen  auf  dem  rechten  Rheinufer ,  also  von  dem  römischen  limes 
bis  ungefähr  an  die  mündung  des  Mains  zusammenfiel:  auf  dem  linken 
Rheinufer,  wo  die  Verhältnisse  bekantlich  viel  weniger  klar  vorliegen, 
gelingt  es  auch  ihm  nicht  etwas  sicheres  aufzustellen.  Diese  sprach - 
und  volksgrenze  ist  seit  496,  seit  der  ersten  niederwerftmg  der  Aleman- 
nen durch  Chlodwig,  verschoben.  Das  linksrheinische  gebiet  gehört  von 
nun  an  politisch  unmittelbar  zu  dem  fränkischen  reiche ,  ebenso  auf  dem 
rechten  Rheinufer  das  land  bis  südlich  zur  mündung  der  Murg  und  dann 
über  das  gebirge  hinüber  bis  zum  oberlaufe  des  Neckar,  und  die  frän- 
kische grenze  erreichte  oberhalb .  Ulm  die  Donau.  In  diesem  landstriche 
tritt  nun  neben  der  fränkischen  occupation,  die  unzweifelhaft  auch  die 
sprachlichen  Verhältnisse  modificierte,  ein  eigenartiger,  wenn  auch  ver- 
wanter  ethnographischer  bestandteil  auf,  die  seit  dem  4.  Jahrhundert 
als  nachbam  und  genossen  der  Alemannen  oft  genanten  Juthungen.  Für 
den  künftigen  monographen  der  eigentlich  schwäbischen  mundart  mii  es 
darauf  ankommen  zu  zeigen,  wie  weit  dies  äusserst  rätselhafte  —  denn 
was  von  und  seit  Zeuss  darüber  vermutet  wurde,  ist  keine  lösung,  nur 
eine  verschlingung  des  „  haftes "  —  juthungische  dement  auf  die  bildung 
des  specifisch  Schwäbischen  eingewirkt  hat,  das  nach  unserer  ansieht 
keineswegs  allein  auf  jenes  zurückzuführen  ist.    Birlinger  hat  sich  mit 


168  BÜCKEBT 

recht  auf  diese  so  schwierige  und  jenseit  der  grenzen  seiner  aufgäbe  lie- 
gende Untersuchung  nicht  weiter  eingelassen.  Darauf  folgt  als  ü.  „Jahr- 
zeitnamen. Unterschied  der  Alemannen,  Schwaben  und  Baiern  in  benen- 
nung  der  monate,  Wochentage."  Eine  menge  urkundliches,  und  nicht 
wenig  der  lebendigen  spräche  entnommenes  material,  sehr  brauchbare 
ergänzungen  der  einschlägigen  Zusammenstellungen  in  der  „  geschichte  der 
deutscheu  spräche"  und  in  Weinholds  abhandlung  über  „die  deutsche  jahres- 
einteilung,"  während  die  1869  verfasste  abhandlung  desselben  über  „die  deut- 
schen monatnamen ,"  obgleich  dem  datum  nach  jünger  als  Birlingers  buch, 
dies  noch  nicht  benutzt  zu  haben  scheint.  So  sind  beide  als  unabhän- 
gig von  einander  hie  und  da  durch  einander  zu  ergänzen,  gelegentlich  auch 
zu  berichtigen.  Namentlich  zeigt  sich,  dass  manches,  was  Birlinger  für 
specüisch  alemannisch  zu  halten  geneigt  ist,  bei  ausgedehnter  Übersicht 
über  das  material  einen  viel  weiteren  Verbreitungsbezirk  hat.  Erst  mit 
III.  treten  wir  in  den  eigentlich  linguistischen  bestandteil.  Er  enthält 
„Die  vocale";  IV.  „Die  consonanten";  V.  „Substantiv.  Bildung,  geschlecht, 
declination " ;  VI.  „Adjectiv,  adverb";  VII.  „  Interjunctionen ,  conjunc- 
tionen";  VIII.  „Interjectionen,  lockrufe,  schmerzensrufe  usw.,"  wobei 
der  samler  so  recht  gelegenheit  hat  sein  talent  für  die  erfassung  des 
volkstümlichen  zu  entfalten.  Denn  gerade  in  diesem  bereiche  leisten  alle 
mundarten  wahrhaft  überschwängliches ,  die  alemannische  übertrifft  sie 
aber  doch  alle.  IX.  „Präpositionen";  X.  „Zahlwörter";  XL  „Prono- 
mina"; XII.  „Zeitwort.  Hilfszeitwörter,  die  hauptunterscheidung  der 
Alemannen  und  ihrer  Nachbarn,"  d.  h.  die  sogenanten  präteritopräsentia 
sollen,  mögen,  können,  wollen  und  die  beiden  gewöhnlich  so  genanten 
hilfszeitwörter  sein  und  haben  zeigen  im  Alemannischen  rechts  des  Eheins 
^'ine  anzahl  eigentümlicher  formen,  die  bei  den  andern  grossen  gruppen 
des  Süd  westdeutschen  nicht  vorkommen.  So  die  nasalierten  formen  von 
sollen:  sond^  sünd,  oder  die  assimilierten  sott  usw.,  die  freilich  aber  auch 
im  Schweizerdeutsch  sich  finden,  dem  entsprechend  mund,  münd  von 
müssen,  und  meid,  nwt  von  mögen  usw.;  nichts  neues,  denn  alle  diese 
formen  sind  auch  schon  bei  Weinhold  verzeichnet.  Aber  ihre  locale 
abgrenzung  ist  immerhin  nicht  ohne  bedeutung  für  die  linguistik.  Im 
ganzen  ist  übrigens  diese  rubrik  des  verbums  etwas  dürftig  ausgestattet. 
Namentlich  hätten  sich  unter  den  mundartlichen  Verwechselungen  der 
verschiedenen  starken  conjugationen  doch  wol  noch  zahlreichere  belege, 
als  die  wenigen  p.  193  aufspüren  lassen. 

Endlich  XII.  „Über  einige  stellen  bei  Ammian:  über  die  alten  gau- 
namen;  zur  heldensage;  wie  dachten  die  Elsässer  von  der  schwäbisch - 
alemannischen  grenze  ?  Mones  versuch  einer  kleinen  oberrheinischen  laut- 
lefire"  führt  wider,   wie  man  sieht,  zum  grösseren  teil  in  den  kultur- 


ÜBEB  DEUTSCHE  MÜNDARTL.   LITTEBATÜB  169 

geschichtlichen  bereich  zurück,  von  dem  der  Verfasser  ausgeht.  Unter 
dem  interessanten  vielerlei  dieser  rubrik  heben  wir  die  hübsche  Unter- 
suchung über  die  specifisch  alemannische  bezeichnung  hära,  jetzt  haaty 
hervor.  Die  vier  urkundlich  vorkommenden  haaren ,  die  Adalhartespära, 
Albwinespära,  Foicholtespära  und  die  bedeutendste  von  allen,  die^erÄ- 
toldespära  oder  Birhtilonispära  sind  hier  zum  ersten  male  genauer 
bestirnt.  Namentlich  für  die  Berhtoldesbära  dürften  wol  alle  älteren 
urkundlichen  erwähnungen  hier  zusammengetragen  sein.  —  Die  sprach- 
liche erklärung  p.  205 ,  wo  es  auf  die  wurzel  hat,  gotisch  bairan  zurück- 
gefahrt  wird,  ist  jedenfalls  richtiger  als  alle  früheren  deutungen  von 
Grimm,  Graflf,  Pörstemann  usw.,  von  den  keltischen  phantasieön  Mones 
und  anderer  ganz  abgesehen.  Das  entscheidende  ist ,  dass  das  ältere  pära 
ein  langes  a  haben  muss,  was  Förstemann,  Graff  und  Grimm  nicht 
beachteten.  Allerdings  gibt  es  dafür  kein  handschriftliches  zeugnis ,  aber 
ein  viel  besseres  aus  der  lebendigen  spräche ,  worauf  Birlinger  als  auf  die 
sicherste  stütze  seiner  etymologie  hätte  verweisen  können.  Wäre  ä  anzu- 
nehmen, so  müste  es  im  heutigen  dialect  harr  lauten^  während  es  här 
gesprochen  wird ,  was  denn  auch  die  officielle  Schreibung  haar  widergibt. 
Ob  nun  aber  gerade  ein  waldentblösstes  getreideland  —  das  ist  ganz 
gewis  die  heutige  haar  —  damit  gemeint  sei,  steht  dahin.  Vermutun- 
gen sind  in  solchen  dingen  so  wolfeil  wie  brombeeren,  also  wollen  wir 
nicht  mit  neuen  zu  markte  fahren.  —  In  dem  bereiche  der  heldensage 
legt  der  Verfasser  mit  recht  grosses  gewicht  auf  die  localisierung  der 
Dietrichsage,  die  gerade  so  weit  nach  norden  reicht,  wie  die  dialect- 
grenze  gegen  das  eigentlich  Schwäbische.  Die  von  den  schwäbischen 
dichtem  viel  gefeierte  Wurmlinger  capelle  ist  der  nördlichste  punkt,  wo 
sie  sich  localisiert  hat;  im  eigentlich  schwäbischen  gebiete  hat  sich  bis 
jetzt  noch  keine  sichere  spur  davon  gezeigt.  Dass  der  einfluss  der  Fran- 
ken allein  dabei  nicht  hemmend  wirkte ,  wie  Birlinger  anzunehmen  geneigt 
ist^  geht  aus  der  zweiten  heimat  der  Dietrichsage  am  fränkischen  Nieder- 
rhein mit  Sicherheit  hervor.  Es  scheint,  als  wenn  die  Juthungen  als 
eines  der  grundbestandteile  des  Schwabentumes  sich  aus  uns  einstweilen 
undurchsichtigen  gründen  spröde  dagegen  verhielten. 

Die  älteren  volkstümlichen  Zeugnisse  für  die  elsässische  dialect- 
grenze  aus  Geiler,  Pauli  und  anderen  zeigen,  dass  man  auch  damals  wol 
im  allgemeinen  den  unterschied  der  heimischen  mundart  gegen  nahe  ver- 
wante  stark  empfand,  wofür  aus  noch  viel  früherer  zeit  die  bekante  stelle 
des  Renner,  die  auch  heute  noch  zutreffende  characteristik  aller  deut- 
schen hauptmundarten ,  so  zu  sägen  der  officielle  beleg  ist.  Aber  im 
einzelnen  hat  man  sich  natürlich  nicht  sehr  um  die  genauigkeit  der 
grenzbestimmung  gekümmert.     Man    hielt   sich   dabei  mehr   an  grosse 


170  BÜCKERT 

merkzeicheD  der  natur,  die  sich  der  yolksphantasie  leicht  einprägten, 
als  dass  man  nach  heutiger  art  davon  zunächst  abstrahiert  und  sich  auf 
die  Sache  selbst  d.  h.  die  localsprache  minutiös  eingelassen  hätte.  So 
ist  es  ganz  anschaulich ,  wie  die  Strassburger ,  und  solche  Zeugnisse  stellt 
Birlinger  hauptsächlich  zusanmien,  das  Schwäbische,  d.h.  den  dialect,  der 
unter  den  verwanten  ihnen  doch  der  mindest  nahestehende  war,  da 
angehen  lassen,  wo  die  blauen  kuppen  und  rücken  des  Schwarzwaldes 
ihren  östlichen  gesichtskreis  begrenzen.  Ganz  mit  recht,  insofern  dahin- 
ter, wie  die  exacte  forschung  nachweist^  das  eigentlich  schwäbische  gebiet 
begint,  aber  bis  auf  die  höhen  selbst  reicht  es  nicht  Hier  war  damals 
so  gut  wie  heute  die  heimat  eben  des  Alemannischen,  dem  Birlingers 
buch  gilt.  Aber  da  dieses  von  dem  Strassburger  stadtdialect  in  vielen 
dingen  beeinflusst  ist,  wie  sich  denn  bekantlich  der  sprengel  des  alten 
bistums  Strassburg  weit  über  das  rechte  Bheinufer  bis  hinauf  ins  gebirge 
erstreckt,  so  wird  diese  mundart  kurzweg  noch  der  heimischen  zuge- 
rechnet. 

Weshalb  Mones  sehr  kurz  gefasster  versuch  einer  kleinen  oberrheini- 
schen lautlehre  aus  dem  zweiten  bände  seiner  Urgeschichte  Badens  hier  wider 
abgedruckt  ist,  vermag  man  nicht  recht  einzusehen.  Es  scheint  fast, 
nach  den  ausrufungszeichen ,  die  dazwischen  gesetzt  sind,  um  die  mehr 
oder  minder  dilettantische  art  dieses  Versuches  hervorzuheben.  Aber  des- 
sen bedarf  es  doch  nicht  bei  dem  heutigen  stände  der  linguistik,  dem 
Mone  bei  allen  seinen  sonstigen  Verdiensten  niemals  gerecht  zu  werden 
versucht  hat.  Niemand  wird  von  ihm  eine  belehrung  über  solche  dinge 
verlangen ,  so  dankbar  man  ihm  auch  für  das  schätzbare  urkundliche  und 
litterarische  material  aller  art  sein  mag,  das  er  hervorgezogen  hat.  Es 
wäre  auf  diesem  gebiete  eben  so  wenig  angebracht,  sich  ihm  als  führer 
anzuvertrauen,  wie  etwa  auf  dem  der  keltischen  Sprachforschung  oder 
der  vergleichenden  mythologie,  die  er  ja  beide  auch  zu  seiner  zeit  nicht 
ohne  momentane  Wirkung  auf  die  noch  wenig  geschulte  forschung  ange- 
baut hat. 

Der  nachbardialect  des  Alemannischen,  der  Südostdeutsche  oder  6 ai- 
rische führt  uns  zu  einer  grösseren  zahl  von  bedeutenden  wissenschaft- 
lichen leistungen  jüngster  zeit,  falls  wir  diesen  ausdruck  auch  f&r  ein 
schon  1867  erschienenes  buch  gebrauchen  dürfen.  Weinholds  bairische 
grammatik,  „in  der  auffassung  und  behandlung  des  grammatischen  Stof- 
fes von  der  alemannischen  nicht  unterschieden ,"  wie  der  Verfasser  selbst 
sagt,  bezeichnet  doch  unläugbar  noch  einen  weiteren  fortschritt  zu  dem 
idealen  ziele  einer  dialectgrammatik ,  so  verdienstlich  auch  inmierhin  die 
alemannische  Vorgängerin  sein  mag.    Zweierlei  ist  dem  Verfasser,  wie 


ÜBBB  DEUTSCHS  MÜNDABTL.  UTTEBATÜB  171 

er  selbst  im  vorwort  andeutet,  zu  statten  gekommen,  was  er  dort  ent- 
behren muste:  das  eine,  die  mustergiltigen  vorarbeiten  Schmellers  sowol 
in  seiner  granunatik  wie  auch  in  dem  wörterbuche.  Daher  ist  auch  dieses 
buch  mit  recht  seinem  andenken  gewidmet,  denn  woher  sollte  unserer 
deutschen  dialectforschung  ein  besserer  schutzgeist  kommen  ?  Das  andere 
ebenso  wesentliche  ist,  dass  Weinhold  eine  lange  reihe  von  jähren  innerhalb 
der  Sprachgrenzen  des  bairischen  dialectes  gelebt  hat.  Nicht  bloss  die 
spräche  von  heute  und  gestern,  sondern  auch  das  eigentlich  historische 
material  erhält  dadurch  eine  ganz  andere  belebung,  als  wenn  der  for- 
scher genötigt  ist,  sich  überwiegend  auf  schriftliche  Zeugnisse  oder  auf 
den  zufälligen  eindruck  eines  durchfluges  zu  verlassen. 

Es  liegt  am  nächsten  und  ist  demgemäss  auch  von  Weinhold  häufig 
geschehen,  nach  der  verwanten  südwestdeutschen  mundart  hinüber  zu 
blicken  und  durch  vergleichung  mit  ihr  das  characteristische  des  Südost- 
deutschen herauszustellen.  Ihre  innere  Zusammengehörigkeit  in  wesent- 
lichen dingen  springt  in  die  äugen  und  darf  als  allgemein  anerkant  gel- 
ten ,  aber  das  individualisierende ,  das  daneben  auch  sein  grosses  recht  hat, 
ist  nicht  so  leicht  in  eine  kurze  formel  zusammenzufassen.  Weinhold  ver- 
sucht es  nicht,  er  hat  sich  in  einer  gewissen  bescheidenen  reserve  gehal- 
ten; er  referiert,  aber  urteilt  nicht  selbst  ab.  Ein  anderer  forscher,  ein 
stanmiesgenosse,  Schröer  in  Wien,  dagegen  äussert  sich  gelegentlich  dar- 
über ganz  unbefangen  (Qottschee  p.  26):  „Der  gesamteindruck,  den  das 
wesen  der  Gottscheewer  macht,  ist  so  verschieden  von  dem,  den  wir 
von  dem  bairisch  -  österreichischen  stamme  empfangen,  dass  man  bei 
ihnen  sich  etwa  unter  Franken  zu  befinden  glaubt.  Wer  aus  dem  Frän- 
kischen je  ins  Bairische  gereist  ist,  kent  wol  den  unterschied  im  ton 
der  spräche,  in  gebärde  und  benehmen.  Das  derbe,  rücksichtslose, 
ungeschlachte,  ja  selbst  rohe,  das  uns  bei  dem  Baier  aufßlllt,  die  zu 
ausgelassener,  jauchzender,  jodelnder  lust  geneigte  sinlichkeit  und  leben- 
digkeit ,  bilden  einen  auffallenden  gegensatz  zu  dem  freundlichen ,  geschlif- 
fenen Franken.  Der  gegensatz  ist  namentlich  bei  dem  weiblichen 
geschlechte  auffällig.  Das  fränkische  mädchen  erscheint  in  Baiem ,  selbst 
wenn  sie  ihre  mundart  spricht,  gebildet,  fein.  Das  umgekehrte  wird 
wol  nicht  gefunden  werden.  Die  bärische  diern  kann  durch  munterkeit, 
wenn  sie  schön  ist,  einen  angenehmen  eindruck  machen,  aber  immer 
mehr  den  des  drollig  naiven,  als  den  feiner  sitte."  Man  sieht,  der  im 
eminenten  sinne  sachkundige  und  urteilsföliige  beobachter  blickt  hier  nur 
im  vorbeigehen  auch  auf  die  Volkssprache  und  schildert  nichts  weiter 
als  den  allgemeinsten  eindruck,  den  man  von  ihr,  allerdings  im  ver- 
gleich mit  einer  mitteldeutschen  mundart  und  nicht  mit  der  anderen 
oberdeutschen,  erhält,  denn  dieser  gegenüber  würde  sich  der  bleibend 


172       w  BÜCKEBT 

richtige  kern  der  beobachtung  etwas  anders  verarbeiten  lassen  müssen. 
Aber  die  wenigen  werte  treffen  den  nagel  auf  den  köpf.  In  milderer 
fassung,  wie  es  der  fortgeschrittenen  inneren  bildung  der  gegenwart  wol 
ansteht,  besagen  sie  das  nämliche,  was  man  im  mittelalter  oder  im  16. 
und  17.  Jahrhundert  derber  und  rücksichtsloser  bezeichnete.  Wemhold, 
uns  will  bedünken  mit  einem  leisen  anflug  von  Ironie,  hält  es  für  geraten, 
die  unangenehmen  eindrücke  jenes  harten  alten  Vorurteiles  durch  einen 
Zusatz  zu  mildem :  „Dagegen  heben  die  eingeborenen  dichter  unserer  tage, 
welche  sich  der  mundart  bedienen,  mit  grosser  begeisterung  den  wol- 
klang, die  Weichheit  und  treuherzigkeit  hervor." 

So  wertvoll  nun  für  die  erkentnis  der  Volksseele  solche  allgemeine 
urteile  sind,  so  wird  die  linguistische  Wissenschaft  doch  nur  erst  dann 
nutzen  davon  ziehen  können,  wenn  sie  es  vermag,  sie  mit  ganz  bestim- 
ten  tatsachen  aus  ihrem  bereiche  in  Verbindung  zu  setzen  und  dadurch 
zu  begründen.  Und  dies  ist  sehr  schwer,  ja,  wenn  man  einigermassen 
strenge  anforderungen  an  die  exacte  durchführung  der  leitenden  Prinzi- 
pien erhebt,  einstweilen  noch  unmöglich.  Denn  gewöhnlich  geschieht 
es ,  dass  die  methodisch  schritt  für  schritt  mühselig  sich  durcharbeitende 
forschung,  wie  man  zu  sagen  pflegt,  den  wald  vor  lauter  bäumen  nicht 
sehen  kann.  Die  in  freier  höhe  schwebende  intuition  sieht  nun  wol  den 
wald,  aber  nicht  die  bäume,  und  das  wahre  kunststück  bestünde  doch 
eben  darin,  sich  so  zu  stellen,  dass  man  ebensowol  den  wald  wie  die 
bäume  sähe.  Die  summe  einzelner  lauteigentümlichkeiten,  flexionen, 
Wörter  usw.  ist  noch  nicht  das  gesamtbild  der  mundart,  am  wenigsten 
ein  beseeltes,  und  wolte  man  für  ein  solches  nur  die  züge  verwenden, 
die  etwas  hervorragend  originelles  oder  individuelles  enthalten,  so  ist 
man  einesteils  fortwährend  der  gefahr  subjectiver  täuschung  in  unbe- 
rechenbarer weise  ausgesetzt,  andernteils  auch  ungerecht  gegen  den  stoff 
selbst.  Denn  für  die  mundart  selbst  ist  das ,  was  ihr  mit  anderen  gemein- 
sam ist,  ebenso  wertvoll,  und  ein  ebenso  natumotwendiger  bestandteil, 
wie  das,  was  sie  allein  besitzt. 

Aus  diesem  gesichtspunkte  möchte  darum  auch  eine  mehr  compa- 
rative  behandlung  und  zwar  eine  solche,  die  sich  mit  methodischer 
beschränkung  an  das  einzelne  hält,  einstweilen  noch  die  äusserste  grenze 
bezeichnen,  bis  zu  welcher  die  exacte  forschung  gelangen  kann.  Was 
darüber  hinaus  liegt,  mag  wol  anregende  perspectiven  öffnen,  das  den- 
ken und  die  phantasie  vielseitig  anregen,  aber  die  linguistik  selbst  wird 
dadurch  nicht  gefördert. 

Es  kann  eben  darum  nicht  als  ein  tadel  gelten,  wenn  Weinholds 
bairische  grammatik  als  ein  trocken  gelehrtes  buch  bezeichnet  wird.  Es 
soll  nichts  weiter  sein ,  und  die  trockenheit  empfindet  doch  nur  der ,  der 


ÜBER  BBUT8CHB  MUMDABTL.  LITTEBATÜB  173 

nicht  befähigt  ist,  die  lebendige  fülle  des  inhalts  aus  seiner  schlichten 
einkleidnng  sich  zu  eigen  zu  machen.  Das  buch  erfordert  und  verdient 
ein  genaues  Studium,  paragraph  far  paragraph;  und  wenn  man  bei  der 
&st  unübersehbaren  mannigfaltigkeit  seines  Inhaltes  der  gewissenhaften 
gelehrsamkeit  des  Verfassers  fortwährend  sich  zu  danke  verpflichtet  fühlt, 
weil  in  der  tat  nirgends  anders  so  viel  geschichtliches  und  lebendiges 
Sprachmaterial  auf  einem  punkte  zusammengetragen  ist,  so  versteht  es 
sich  von  selbst,  dass  eine  solche  anerkennung  ein  kritisches  verhalten 
nicht  ausschliesst ,  sondern  erst  recht  bedingt.  Hier  an  dieser  stelle,  wo 
wir  die  selbstauferlegte  beschränkung  einer  allgemeinen  Übersicht  fest- 
halten müssen,  kann  nur  einiges  berührt  werden,  was  sich  etwas  anders 
ansehen,  vielleicht  ungezwungener  erklären  lässt.  So  etwa  aus  dem 
bereiche  des  famosen  ö  dieses  dialectes,  dem  vdr,  wie  bekant,  unser 
neuhochdeutsches  „ergötzen,  löflfel,  löschen,  zwölf  usw."  verdanken,  ohne 
sehr  dankbar  dafür  zu  sein,  weil  es  in  der  tat  ein  unfeiner  laut  ist. 
§  25  führt  als  beispiele  des  unechten  umlautes  des  o  —  im  streng  sprach- 
geschichtlichen sinne  ist  bekantlich  der  umlaut  des  o  überhaupt  nicht 
in  der  weise  „echt,"  wie  der  des  a  oder  a,  des  o,  ou  oder  u,  ü,  uo 
zu  nennen  —  aus  älteren  Sprachdenkmälern  formen  wie  foer,  vor,  tor, 
dbrffe,  orss  usw.  an.  Aber  wahrscheinlich  ist  hier  kein  ö  in  heutiger 
weise,  sondern  etwas  anderes  gemeint,  ein  o  mit  nachschlagendem  kurzen 
vocal,  wie  die  mundart  es  noch  heute  besonders  vor  oder  vielmehr  statt 
des  silbenschliessenden  r,  gleichviel  ob  allein  oder  mit  anderen  consonanten 
verbunden  hören  lässt.  Hochdeutsches  vor  könte,  wenn  man  es  etwas 
derb  bezeichnet  schreiben  wollte,  hier  oft  mit  voa  oder  voe^  dorf  mit 
doaf  (oder  duaf),  doef,  doif,  gegeben  werden  usw.  Die  eben  erwähnten 
bäurischen  ö  erscheinen  jetzt  immer  an  der  stelle  eines  e  oder  e,  und  nur 
beschränkte  localdialecte ,  wie  einige  Tiroler,  brauchen  sie  auch  an  der 
stelle  eines  o  aus  u,  oder  wie  einige  nordgauische  an  der  stelle  des  i. 
Gerade  da  aber,  woher  die  von  Weinhold  citierten  beispiele  entnommen  sind, 
gilt  diese  weiteste  ausdehnung  des  bairischen  lieblingslautes  heute  wenig- 
stens nicht.  Dieselbe  erklärung  möchte  auch  für  manche  der  älteren 
belege  des  „unechten"  ü  (§  32),  ae  (§  42)  und  oe  (§  57)  gelten  dürfen, 
namentlich  für  die  beiden  letzten  fälle,  wo  die  heutige  spräche  nichts 
von  einer  solchen  abweichung  des  lautes  weiss.  Für  das  unechte  ü  sind 
die  zahlreichen,  von  den  Alpen  bis  zur  Pegnitz  verbreiteten  ü,  d.  h. 
gesprochen  wie  dumpfes  i  vor  n,  in  anschlag  zu  bringen.  Sie  beweisen 
eine  tiefwurzelnde  neigung  der  mundart  für  diesen  zwischenlaut.  Die 
Schreibung  allein  kann  in  dieser  heikein  materie  nichts  beweisen.  Denn 
es  wird  sich  auch  für  die  mittelalterlichen  deutschen  handschriften  Baierns 
und  Österreichs  bei  systematischer  Untersuchung:  nach  dieser  seite  hin 


174  RÜCKERT 

herausstellen,  was  sich  für  anderwärts  geschriebene  herausgestellt  hat: 
die  apices,  so  wollen  wir  einmal  alle  diese  den.vocalen  übergeschriebe- 
nen zeichen  zusammenfassend  nennen,  weil  es  an  einem  andern  kunst- 
ausdruck  gebricht ,  sind  von  den  Schreibern  zu  den  mannigfaltigsten 
functionen  verwant  worden.  Bald  sollen  sie  einen  im  phonetischen  sinne 
unechten  diphthongen  ausdrücken,  wie  ie,  ue  und  dergleichen,  bald 
auch  einen  zwischenlaut  des  hauptschriftzeichens,  also  6  oder  o,  wobei 
es  wenigstens  in  dem  letzteren  falle  wider  zweifelhaft  bleibt,  ob  damit 
ein  nach  dem  e  oder  nach  irgend  einem  andern  vocal  hin  schwankender 
laut  gemeint  ist,  denn  das  o  kann  ja  nach  allen  andern  einfachen  voca- 
len  und  manchen  zusammengesetzten  sich  in  der  lebendigen  ausspräche 
neigen.  Die  einem  e  genäherte  schriftgestalt  des  hier  absichtlich  gewähl- 
ten beispieles  ist  an  sich  ganz  irrelevant  für  seine  wertbestimmung:  es 
lässt  sich  diplomatisch  dartun,  dass  sie  mit  dem  e  gar  nicht  zusanmien- 
hängt,  sondern  nur  eine  eigentümliche  modiiication  desselben  Zeichens 
ist,  das  gelegentlich  auch  dem  i  oder  in  anderer  gestaltung  dem  o  oder 
u  ähnelt,  häufig  auch  zu  einem  doppelstrich  oder  doppelpunkt  zusam- 
menschrumpft, wo  es  dann  wider  keineswegs  bloss  für  den  umlaut  nach 
unserem  heutigen  und  bekantlich  so  jungen  schreibebrauch  verwant  wird. 
Die  Schwierigkeit,  diese  zeichen  auf  ihren  wahren  lautwert  zu  reducie- 
ren,  steigert  sich  noch  durch  einen  anderen,  lange  zeit  daneben  üblichen 
gebrauch  mancher  Schreiber,  aber  so  weit  wenigstens  unsere  autoptische 
kentnis  reicht,  nicht  derselben,  welche  die  eigentlichen  diakritischen  zei- 
chen verwenden  (natürlich  mit  ausnähme  derer  für  i  und  m,  um  sie  als 
vocale  im  gegensatz  zu  ihrer  consonantischen  geltung  zu  markieren  oder 
auch,  wenngleich  selten,  umgekehrt).  Besonders  in  der  sogenanten  alt- 
hochdeutschen Periode  liebte  man  es,  wahrscheinlich  aus  blossen  rück- 
sichten  der  raumerspamis,  denn  je  splendider  die  handschriften  aus- 
gestattet sind,  desto  seltener  sieht  man  es,  die  so  häufigen  doppelvocale, 
echte  und  unechte  diphthongen  auf  und  über  der  linie  zu  schreiben. 
Ganz  bekant  ist  u,  oder  o,  oder  o  far  uo,  ou^  aber  auch  alle  möglichen 
anderen  Verbindungen  werden  so  ausgedrückt.  Hier  liegt  nun  nament-  * 
lieh  bei  etwas  lässigen  oder  undeutlich  gewordenen  schriftzügen  die  Ver- 
wechselung mit  den  andern  an  sich  oft  schon  sehr  ähnlichen,  ja  wenig- 
stens in  einem  falle,  bei  dem  diakritischen  zeichen,  das  wir  oben  zuerst 
anführten,  6  oder  u,  formel  ganz  identischen  so  nahe,  dass  man  sich  nicht 
wundern  darf,  wenn  ältere  und  neuere  herausgeber  in  die  gröste  Ver- 
legenheit geraten ,  und  wirklich  oft  entschiedene  fehler  begehen ,  wie  wir 
dies  anderwärts  sattsam  nachgewiesen  zu  haben  glauben. 

Doch  wollen  wir  bei  diesen  kleinigkeiten  nicht  länger  verweilen. 
Sie  ändern  an  dem  werte  der  arbeit  Weinholds  nichts.    Sie  bleibt  die  wür- 


ÜBBB  DBUTSCHB  KUHBABTL.  LITTEBATÜB  175 

dige  fortsetzung,  berichtigung  und  ergänzung  dessen,  was  einst  Schmel- 
1er  in  seiner  grammatik  der  bairischen  mundarten  begonnen  hatte. 

Der  grosse  südostdeutsche  dialect  ist  somit  unter  alleh  seinen  genossen 
als  gesamtheit  jedenfalls  von  der  Wissenschaft  neuerdings  am  meisten  gepflegt, 
denn  zu  der  grammatik  Weinholds  tritt  nun  auch  der  beginn  des  vrfder- 
erstandenen  Wörterbuchs  Schmellers.  Ganz  naturgemäss  und  gerecht 
hat  sich  also  da,  wo  die  deutsche  dialectforschung  begründet,  und  zwar 
sofort  mustergiltig  und  bleibend  begründet  wurde,  auch  bis  heute  die  erfolg- 
reichste tätigkeit  im  weiterbau  angesetzt  Zwar  haben  wir,  wie  man 
sich  erinnert,  auf  die  neubearbeitung  des  Wörterbuches  lange  warten  müs- 
sen, und  durch  allerlei  Zwischenfalle  konte  sich  der  ursprünglich  beab- 
sichtigte termin  bis  auf  mehr  als  ein  halbes  menschenalter  nach  dem 
tode  Schmellers  verschieben.  Jetzt  aber,  wo  im  laufe  eines  jahres  drei  liefe- 
rungen der  neuen  ausgäbe  uns  zugekommen  sind ,  darf  man  alle  zweifei 
aufgeben.  Darauf  lässt  sich  auch  eine  genügende  Vorstellung  von  dem 
eigentümlichen  werte  derselben  gründen.  Eine  einzige  scheinbar  bloss 
statistiche  angäbe  genügt  eigentlich  schon  daffir ;  die  bis  jetzt  erschiene- 
nen drei  lieferungen  sind  zusammen  768  spalten  stark.  Sie  entsprechen 
571  Seiten  des  alten  druckes  und  dazu  hat  jede  neue  spalte,  kraft  des 
äusserst  stattlichen  formates  und  der  kleineren,  aber  sehr  guten  typen, 
fast  doppelt  so  viel  zeilen  als  die  ältere  seite.  Es  ist  also  das  material 
mindestens  auf  das  doppelte  des  bisherigen  gewachsen.  Gröstenteils 
besteht  es  aus  Schmellers  eigenen  notizen,  die  er  bis  zu  ende  seines 
lebens  fQr  diese  seine  lieblingsarbeit  zusanmientrug.  Eben  deshalb  dachte 
man  auch  früher  daran,  diese  notizen  allein  zum  drucke  zu  befördern. 
Namentlich  wollte  dies  J.  Grimm,  wahrscheinlich  aus  pietät  gegen  das 
original,  dessen  begeisterter  kenner  und  lobredner  er  ja  stets  gewesen 
ist  Noch  hat  die  ältere  generation  der  germanisten  nicht  vergessen, 
wie  er  einst  auf  der  denkwürdigen  versamlung  zu  Prankfurt  1846  den 
später  gekommenen  Schmeller  einführte:  „hier  stelle  ich  ihnen  meinen 
freund  Schmeller  aus  München  vor,  den  mann,  der  alles  weiss."  Und 
wenn  irgend  ein  buch  Schmellers  zeugnis  davon  ablegt,  dass  er  der  mann 
war,  der  alles  wüste,  so  ist  es  sein  bairisches  Wörterbuch.  So  konte 
ebenfalls  J.  Grimm  noch  1859,  als  die  frage  über  die  Verarbeitung  des 
Schmellerschen  nachlasses  namentlich  in  bezug  auf  das  lexicon  in  der 
ersten  plenarversamlung  der  historischen  commission  zu  München  discutiert 
wurde,  die  mit  recht  denkwürdig  genante  äusserung  darüber  tun:  „Schmel- 
lei*s  bairisches  Wörterbuch  ist  das  beste ,  das  von  irgend  einem  deutschen 
dialecte  besteht,  ein  meisterwerk,  ausgezeichnet  durch  philologischen 
Scharfsinn  wie  durch  reiche,  nach  allen  selten  hin  strömende  sacherläu- 
temng;  ein  muster  für  alle  solche  arbeiten,  von  dem  unwandelbaren  trieb 


176  BÜCKSBT 

seines  emsigen,  liebenden  geistes  durchdiningen  und  belebt."  Aber  eine 
solche  getreue  herausgäbe  der  notizen  Schmellers  wäre  sehr  unhandlich 
geworden,  und  durch  die  munificenz  des  verstorbenen  königs  Max  II.  ist 
es  möglich  geworden,  den  preis  des  neuen  vollständigen  werkes  so  nie- 
drig zu  stellen,  dass  es  vollendet  kaum  teurer  kommen  wird,  als  nach 
dem  gewöhnlichen  immer  noch  relativ  hohen  preisansatze  unserer  germa- 
nistischen bücher  jene  zusätze,  falls  sie  ohne  solche  extraunterstützung 
gedruckt  worden  wären.  Das  alte  werk  wird  jeder,  wenn  er  es  nun- 
mehr auch  zurückstellt  aus  der  reihe  der  zum  handgebrauch  nötigsten 
bücher,   doch  mit  rührung  und  dank  betrachten  und  gerne  aufbewahren. 

Die  neue  aufläge  ist  selbstverständlich  so  behandelt,  wie  man  mit 
jeder  solchen  nach  dem  tode  des  Verfassers  erscheinenden  verfahren  sollte. 
Frommann  hat  mit  der  grösten  selbstverläugnung  die  alte  anordnung 
der  einzelnen  artikel  festgehalten  und  nur  die  zahlreichen  neuen,  die  von 
Schmeller  selbst  herrühren,  an  der  nach  dem  alten  alphabetischen  Schema 
angezeigten  stelle  eingeschoben.  Er  selbst  hat  nur  in  den  seltensten  fäl- 
len eigene  zusätze  und  berichtigungen  beigetragen,  zu  denen  niemand 
beföhigter  ist  als  er.  Leicht  hätte  sich  ja  dadurch  der  ganze  typus  des 
Werkes  verändert.  Aber  es  ist  auch  im  einzelnen  die  frühere  einrich- 
tung,  weil  sie  von  Schmeller  selbst  herrührt,  überall  beibehalten,  auch 
da ,  wo  eine  abweichung  sich  von  manchem  gesichtspunkte  aus  empfiehlt; 
auch  in  der  neuen  ausgäbe  findet  man  nicht  bloss  Schmellers  eigentümliche 
anordnung  der  buchstabenreihen ,  sondern  auch  die  von  ihm  festgehaltene 
trennung  mancher  im  lautwerte  gleicher,  in  der  Orthographie  aber  häu- 
fig schwankender ,  so  des  B  und  P,  des  D  und  T,  des  F  und  F.  Eben 
deshalb  hat  der  neue  herausgeber  auch  die  alte  bezeichnung  „Bairisches 
Wörterbuch"  beibehalten,  obgleich  sie,  wie  bekant,  nicht  recht  zutrifft, 
wenigstens  der  heute  durchgedrungenen  terminologie  unserer  linguistik  nicht 
entspricht.  Schmeller  hatte,  als  er  seine  grammatik  und  sein  Wörter- 
buch gestaltete ,  zuerst  die  äusseren  grenzen  und  die  inneren  unterschiede 
der  einzelnen  süddeutschen  dialecte  herausgefühlt  und  in  der  hauptsache 
so  trefi'end  dargestellt,  dass  die  späteren  eben  nur  noch  daran  nachzu- 
bessern haben,  aber  er  wollte  einerseits  das  ganze  ihm  zugängliche  dia- 
betische material ,  so  weit  er  es  aus  den  in  diesem  sinne  rein  durch  den 
Zufall  bestimten  grenzen  Baiems  kante,  verarbeiten,  andrerseits  war 
er  durch  herkunft  und  beruf  doch  vorzugsweise  auf  das  bairische  element 
im  eigentlichen  sinne  verwiesen.  So  würden  die  titel  der  beiden  bücher, 
speciel  des  Wörterbuches,  richtiger  lauten:  „Bairisches  Wörterbuch  mit 
berücksichtigung  der  oberschwäbischen  und  fränkischen  mundarten  im 
bereiche  der  heutigen  bairischen  landesgrenzen."  Da  sicli  aber  voraus- 
setzen lässt,  dass  jeder  mit  der  anläge  des  werkes  bekant  ist,   so  wird 


ÜBSB  DBÜT8CHB  MUNDABTL.  LITTBRATUB  177 

diese  ungenaue  titelbezeicbnung  auch  in  der  neuen  aufläge  ebensowenig 
stören,  wie  sie  es  in  dem  alten  originalwerk  getan  hat.  An  eine  aus- 
scheidung  nach  den  localen  hauptgruppen  wird  überdies  niemand  gedacht 
haben. 

Es   gibt  bekantlich   auch    von    dem   Standpunkte  der   belehrenden 
unterhaltungslectüre ,   wie  sie  jetzt  so  sehr  gepflegt  wird,    kaum  irgend 
ein  sachverwantes  buch  in  deutscher  spräche ,  was  so  viel  „  interessantes " 
enthielte,  wie  Schmellers  bairisches  lexicon^    Schade  nur,   dass  es  der 
grosse  und  stets  im  wachsen  begrifl'ene  teil  der  lesenden  weit,  für  wel- 
che die  zahlreichen   culturgeschichtlichen ,   sprachgeschichtlichen,  sitten- 
geschichtlichen essays  unserer  feuilletons  und  periodischen  Schriften,  und 
ein  grosser  teil  unserer  populärwissenschaftlichen   Vorlesungen,    wie   es 
scheint,    nie  genug  geistigen  nahrungsstofl"  herbeischaffen   können,    noch 
so  wenig  kennt   Mancher  würde  sich  wundern ,  statt  der  trockenen  anti- 
quarischen gelehrsamkeit,  die  er  darin  allein  vermutet,  überall  auf  die  fri- 
schesten quellen  reichster  lebens-  und  gestaltungsströme  zu  stossen,  und 
noch  mehr ,  wie  gar  oft  ein  schalkhafter  humor   in  kurzer  epigramma- 
tischer Wendung,   oder  nur  in   einem  drastischen  wort,  blitzartig  durch 
einen  solchen  ehrbaren,  nach  dem  aiphabet  in  reih  und  glied  gestellten 
artikel  zuckt.    Es  macht  auf  den,   der  seit  langem  in  dem  buche  zu 
hause  ist ,  einen  überaus  woltuenden  eindruck ,  dass  auch  die  späteren  und 
spätesten  zusätze  von  Schmellers  band  das  volle  gepräge  einer  liebens- 
würdigen, von  grund  aus  heiteren  und  freien  seele  tragen.     Der  humor 
ist  ihr  bis  zuletzt  nicht  ausgegangen,  aber  immer  humor  geblieben,  und 
nicht  mit  dem  essigbeisatze  des  alters  versauert.    So   z.  b.  fällt  unser 
blick,  indem  wir  beide  redactionen,   die  ältere  und  die  neuere  mit  ein- 
ander vergleichen,   auf  den  artikel  „rf/e  poUtten^''''   was  in  der  zweiten, 
ob  mit  recht?    auf  das   romanisch -italienische  boUetta,    spanisch  boleta, 
französisch  buUetm  zurückgeführt  wird ,  womit  die  bedeutung  wenigstens 
in  der  deutschen  mundaii  stimt  —  eine  andere  ableitung  von  dem  rom.- 
ital.  Polizza,    span.  poliza,    franz.  police    (vom   lat.  poUex   nach  Diez 
E.  W.  l^  328)   ist  zwar  auch  angeführt,    aber  als  minder  wahrschein- 
lich bezeichnet.     Bei  erwäh"nung  des  unserem  deutschen  mundartlichen 
politten  gleich  gebrauchten  franz.  buUetin  setzt  die  zweite  ausgäbe  hin- 
zu: „Seit  juli  1842  nennt  herr  von  Eoth  (der  damalige  präsident  der 
bairischen  akademie  der  Wissenschaften)  auch  die  akademischen  berichte 
in  den  Gelehrten  Anzeigen  btUletins.    Sie  mahnen  in  schuldiger  weise  an 
die  berüchtigten  bulletins  de  la  grande  arniee,''    Als  einen  kleinen  lexi- 
calischen  zusatz  unsrerseits,  da  wir  einmal  auf  dies  wort  geraten   sind, 
fügen    wir   noch    bei,    dass   die  mundart  heute   noch   das   schriftdeut- 
sche palette,   farbenpalette ,   das  bekantlich    aus   dem  romanischen  und 

ZEirSCHS.    F.   DEUTSCHB    PHILOLOGIE.     BD.  UI.  12 


178  RÜCKBRT 

schliesslich  aus  dem  altlateinischen  pala  in  der  bedeutung  ring-  oder 
scheibenf5nniges  Werkzeug  stamt,  genau  eben  so  poliUen  spricht, 
wie  sie  es  schon  vor  zwei  Jahrhunderten  so  gesprochen  hat.  Es  fin- 
det sich  in  dieser  gestalt  öfters  bei  Ayrer,  der  ja  überhaupt  so  ,viel 
bairisch-nordgauische  eigentümlichkeiten  in  lauten  und  wortbestand  hat. 
Aus  demselben  Ayrer  ist  zu  entnehmen,  dass  die  durch  Luther  welt- 
berühmt gewordene  form  partecken  (Umstellung  von  practica)  auch  unse- 
rer mundart  gemäss  ist.  Schmeller  führt  zwar  partiten,  partiken,  par- 
titereyen  in  der  Überschrift  des  artikels  an,  belegt  aber  aus  bairischen 
denkmälern  nur  die  t  -  formen ,  denn  Michel  Beheim ,  trotz  seines  buches 
von  den  Wienern,  wird  er  jedenfalls  nicht  zu  den  Baiern  gerechnet  haben. 
Auf^diese  *:t  wird  man,  ganz  gegen  die  absieht,  durch  die  unerschöpf- 
liche fülle  der  anregung  und  belehrung,  die  jeder  einzelne  artikel  neu 
zu  der  alten  hinzubringt,  veranlasst,  selbst  immer  die  noch  übrigen 
fragezeichen  gleichsam  zur  lösung  vor  das  angesicht  des  buches  zu  stel- 
len, dessen  belebender  meister  uns  freilich  keine  auskunffc  mehr  geben 
kann,  wie7er  es  einst  getan  haben  würde.  Aber  weil  sich  schon  aller- 
lei derartige  Schnitzel  eingedrängt  haben ,  mögen  noch  einige  platz  finden. 
Bei  dem  artikel  „  dechanf'  sehen  wir  uns  in  der  neuen  aufläge  nach  der 
erklärung  eines  uns  schon  lange  dunkeln  wertes  in  H.  Wittenweilers 
Bing  11*  um.  Dort  ist  von  einem  tacken  oder  tächenschreiber  die  rede. 
Was  ist  das?  Mit  tacken  und  was  davon  sonst  gebildet  wird,  alles  in 
verschiedenen  modificationen  des  begiifies  und  der  laute  vom  lateinischen 
decem  stammend,  hängt  es  ofTenbar  zusammen.  Aber  von  einem  beson- 
deren büreau  der  dechantei  wissen  wir  wenigstens  aus  jenem,  gott  sei 
dank  noch  nicht  so  völlig  „tintenklecksenden  säculum"  nichts.  Der 
Zusammenhang  gebietet  an  eine  nicht  besonders  hochgestellte,  nicht 
besonders  geehrte  und  beliebte  persönlichkeit  oder  beruf  zu  denken,  das 
passte  freilich  für  einen  Schreiber  eines  geistlichen  herrn  oder  einer  geist- 
lichen behörde  besonders  auf  dem  platten  lande,  wo  ja  die  Schaubühne 
der  begebenheit  ist.  Wie  die  bischöflichen  und  capitular  -  officialen  sprich- 
wörtlich zum  ausbund  alles  bösen  und  albernen  in  dem  volkswitze  der 
zeit  geworden  sind,  ist  bekant;  von  den  dechanten  selbst  erinnern  wir 
uns  keiner  solchen  Verwendung^  also  auch  nicht  von  ihren  Schreibern. 
Am  nächsten  läge,  es  mit  dorfschreiber  zu  geben  und  an  die  alten,  frei- 
lich nirgends  noch  ganz  sicher  nachgewiesenen  politischen  decanien,  als 
Unterabteilungen  der  centenen  zu  denken.  Auf  einen  zehentschreiber, 
der  natürlich  passendsten  Zielscheibe  bäuerlichen  spottes  und  hasses,  raten 
wir  nicht,  weil  für  lateinisch  decima  in  bairischen  denkmälern  des  mit- 
telalters  und  der  neuem  zeit  immer  nur  die  echt  deutsche,  aus  /:ehen 
abgeleitete  form  zeketU,  eeckent  gebraucht  wird.     Das  mittelhochdeutsche 


Obbb  dbütschb  mthsastl.  litteratub  179 

Wörterbuch  hat  dieses  tetchenschreiber  nicht  berücksichtigt.  Dazu  nur 
noch  die  beiläufige  bemerkung:  wir  f&hren  den  Bing  unbedenklich  als 
eine  bairische  sprachquelle  an  (natürlich  so  weit  ein  erzeugnis  des  vier- 
zehnten Jahrhunderts,  das  bei  aller  wirklichen  localen  vergröberung  der 
spräche  doch  noch  immer  correct  sein  will,  eine  solche  sein  kann), 
obgleich  Weinhold  in  der  bairischen  grammatik,  es  ist  uns  im  augen- 
blick  unbekant  ob  zuerst  oder  nur  andern  folgend,  ihn  als  schwäbisch, 
die  handschrift  aber  von  einem  Baiern  herrührend  bezeichnet  (Weinhold 
p.  XIV.  artikel  Bing).  Uns  gilt  der  dichter,  wie  wir  dies  schon  früher 
aussprachen,  noch  immer  als  ein  unmittelbarer  landsmann  und  nachbar, 
freilich  nicht  als  ein  Zeitgenosse ,  wenn  auch  in  manchen  dingen  —  hör- 
ribile  didu  hören  wir  manche  exclamieren  —  als  ein  geistesgenosse 
Wolframs.  Gewisse  weichere  und  geschmeidigere  eigentümlichkeiten  sei- 
ner spräche,  verglichen  mit  der  der  Süddonau -mundarten,  erklären  sich 
daraus,  und  sie  können  zur  not  als  schwäbisch  misverstanden  werden. 
Aus  dem  realen  Inhalte  des  wunderlichen  und  uns  trotz  Uhland  und 
andern  noch  durch  und  durch  rätselhaften  gemachtes  etwas  über  seine 
litterarische  heimat  oder  die  seines  Verfassers  bestimmen  zu  wollen^ 
scheint  uns  verfehlt.  —  Aus  demselben  Bing  4:V  föUt  uns  auch  die 
figürliche  redensart  bei:  ein  tcbhen  rüren  {rürens  uns  ein  tahen),  in 
der  sehr  drastischen  und  auch  uns  leicht  begreiflichen  bedeutung,  wo 
take,  d.  h.  gotisch  paho,  althochdeutsch  dähä,  so  viel  wie  unser  schmutz, 
kot  u.  dgl.  ausdrückt.  Aber  belegt  ist  sie  für  die  ältere  zeit  nir- 
gends, weder  bei  Benecke -Müller,  noch  auch  neuerdings  in  Lexers 
Wörterbuch.  Auch  Schmeller  weiss  weder  in  der  älteren  noch  neuen 
aufläge  etwas  davon.  Und  doch  wird  diese  Verwendung  von  tahe,  die 
nirgends  anders  begegnet,  ein  echt  mundartlicher  zug  sein.  —  Da  wir 
in  das  nasse  dement  geraten  sind,  so  erwähnen  wir  auch  noch  das  bei 
Ayrer  (3241,  25)  erscheinende  verbum  teucheln,  das  Schmeller  in  beiden 
ausgaben  wol  kent  und  mit  teuciiel,  röhre  usw.  verbindet.  Aber  die  von 
ihm  allein  angeführte  bedeutung  „propfen^'  passt  nicht  für  unsere  stelle, 
wo  es  ein  humoristischer  ausdruck  für  trinken,  mit  sehr  durchsichtiger 
bildlicher  färbung  ist.  Es  heisst  dort  von  einem  dem  beliebten  abend- 
trunk  ergebenen:  unser  herre  abefUs  teuehelt  gern.  —  Zum  Schlüsse 
noch  gleichfalls  eine  ungelöste  frage  aus  Ayrer,  wo  übrigens  trotz  der 
grossen  Sorgfalt^  mit  der  die  ausgäbe  gemacht  ist,  und  wofür  gewis  jeder 
sich  zu  gröstem  danke  verpflichtet  fühlt,  noch  rätsei  genug  gefunden 
werden  können,  oder  wir  haben  wenigstens  genug  solche  gefunden. 
3259,  31  heisst  es:  das  kühfenster  hob  ich  recht  troffen.  Schme^er  führt 
in  beiden  auflagen  nur  einen  einzigen  beleg  für  diesen  gewis  einst  sehr 
volkstümlichen  tropus  an.    Jetzt  ist  er  wahrscheinlich  verklungen ,  wenig- 

12* 


180  BÜOKEBT 

stens  erinnern  wir  uns  nicht  ihn  irgend  wo  gehört  —  das  will  freilich 
nicht  viel  besagen  —  aber  auch  ihn  irgendwo  erwähnt  oder  gebraucht 
gefunden  zu  haben.  Schmeller  erklärt  ihn  für  einen  ironischen  gegen- 
satz  des  kammerfensters  der  ländlichen  schönen,  fehlschiessen ,  irren,  den 
zweck  verfehlen.  Aber  bei  Ayrer  kann  es  das  nicht  heissen,  d.  h.  es 
kann  nicht  fehlschiessen,  den  zweck  verfehlen  bedeuten,  sondern  das 
umgekehrte.  Der  liebhaber  hat  ihn  nur  zu  gut  erreicht.  Kuhfenster  ist 
also  hier,  wenn  auch  unter  dem  einfluss  der  gewöhnlichen  redensart, 
doch  in  etwas  anderem  sinne  gebraucht,  als  eine  herabsetzende  bezeich- 
nung  von  kammerfenster,  nicht  als  ausschliessender  gegensatz. 

Damit  nehmen  wir  einstweilen  von  dem  buche  abschied,  von  dem 
es  uns  heute,  wie  jedesmal,  wo  wir  es  in  die  band  nehmen,  fast  unmög- 
lich wird  loszukommen.  Wir  bitten  nochmals  um  nachsieht  für  unsere 
sporadischen  bemerkungen,  die  vielleicht  ganz  hätten  beseitigt  oder  zu 
einer  systematischen  begleitung  des  Originals,  schritt  für  schritt  uns 
anschliessend,  erweitert  werden  sollen.  Stoff  dazu  wäre  in  unendlicher 
fülle  vorhanden,  denn  welcher  satz,  den  Schmeller  geschrieben,  gäbe 
nicht,  wie  die  reichste  belehrung,  so  auch  die  gründlichste  anregung 
selbst  zu  spüren,  zu  sichten  und  mitzuteilen,  so  gut  als  man  es  ver- 
mag. Aber  auf  solche  weise  würde  aus  den  noten  ein  ganzes  neues 
buch  sehr  leicht  erwachsen,  und  der  gewinn  davon,  abgesehen  dass  an 
dieser  stelle  schon  das  äusserste  des  einem  einzelnen  unter  den  uns 
beschäftigenden  büchem  zukommenden  raumes  überschritten  ist,  würde 
doch  immer  nur  ein  sehr  problematischer  sein.  Jedenfalls  sind  auch  andere 
kräfte  eher  dazu  berufen,  und  vor  allem  der  herausgeber  wie  kein  ande- 
rer. Seine  weise  Selbstbeschränkung  hätte  auch  uns  zum  guten  beispiel 
dienen  können. 

Wo  eine  solche  grammatik  und  ein  solches  Wörterbuch  einen  unver- 
gleichlich soliden  unterbau  geben,  wird  es  nicht  schwer  halten  die  ein- 
zelnen teile,  sei  es  nach  örtlichen  oder  sachlichen  grenzen  bestirnt,  der 
gegenwärtigen  Wissenschaft  entsprechend  weiter  fort-  und  auszuführen. 
Vieles,  und  wider  mehr  als  in  jedem  anderen  deutschen  dialektgebiete,  ist 
ja  schon  auch  dafür  geleistet;  wir  erinnern  an  Lexers  kärntisches, 
Schopfs  tirolisches  Idiotikon,  an  Frommanns  neuausgabe  der  gedichte 
Grübeis,  die  sich  durch  Specialwörterbuch  und  grammatikalische  bemer- 
kungen zu  einer  beinahe  abschliessenden  monographie  der  Nürnbergisch - 
bairischen  localmundart  gestaltet  hat;  aber  wir  denken  hier  nicht  an  die 
verschiedenen  die  volksmundarten  betreffenden  abhandlungen  der  bekanten 
Bavar^^a.  Dies  mit  königlicher  munificenz  begründete  und  ausgestattete 
unternehmen  der  beiden  letzten  decennien  hätte,  scheint  uns,  auch  im 
„kreise  der  bairischen  gelehrten/'  auf  den  es  sich  ausschliesslich  stützte, 


ÜBEB  DEUTSCHS  MVlfDABTL.  LITTERATUB  181 

doch  wol  noch  andere  hände  finden  können,  um  Schmellers  tätigkeit  auf 
seinem  eigenen  classischen  heimatsboden  fortzusetzen,  zu  ergänzen  und 
der  gebildeten  weit  zugänglich  zu  machen,  als  die,  welche  die  redaction 
oder  der  redacteur  damit  beauftragt  hat.  Denn  Sebastian  Mutzls  dar- 
stellung  der  bairischen  mundart  in  Ober-  und  Niederbaiern  (Bavaria  I, 
339.  München  1860)  und  Eduard  Fentschs  oberpfälzische  mundart 
(ebdas.  II,  193.  München  1863),  zeichnen  sich  beide  durch  auffallende  kürze 
oder  knappheit  aus ,  was  um  so  mehr  befremdet ,  da  andere  rubriken  dieses 
der  gesamten  landes  -  und  Volkskunde  geweihten  werkes ,  z.  b.  die  geolo- 
gische, einen  wahrhaft  überschwänglichen ,  das  nicht  steine  klopfende 
Publikum  möchte  vielleicht  behaupten  niederdrückenden  umfang  erhalten 
haben.  Doch  kürze  ist  allein  noch  kein  fehler,  wol  aber  ungenügendes 
material;  wenigstens  so  weit  es  als  ein  neues  sich  darstellt,  und  unge- 
nügende wissenschaftliche  Specialvorbildung.  Als  samler  wird  in  dem 
bereiche  der  deutschen  linguistik  auch  der  recht  nützliches  leisten  kön- 
nen, der,  ausser  der  allgemeinen  bildung  nach  heutigem  gemeinbegriffe, 
ein  scharfes,  treues  ohr,  einen  rührigen  fuss  und  eine  fleissige  band 
besitzt ,  aber  zum  darsteller  gehört  mehr.  Wir  verlangen  von  ihm ,  dass 
er  nicht  bloss  «auf  Schmellers  grammatik  und  lexicon ,  allenfalls  auch  auf 
die  deutsche  grammatik  von  Jacob  Grimm  und  ähnUche  hauptwerke  sich 
berufe,  resp.  sie  gelegentlich  eitlere,  sondern  dass  er  durch  selbstän- 
dige Studien  über  sie  im  rechten  sinne  des  wertes  hinausgekonmien  sei. 
Dies  hinauskommen  involviert,  dass  genante  werke,  oder  ihr  ganzer 
gehalt^  in  dem  betreffenden  Individuum  drin,  oder,  wie  die  pedanten  dies 
auszudrücken  lieben,  in  mccum  et  sanguinem  vertiert  seien ,  und  gerade 
das  ist  es ,  was  wir  recht  stark  bei  jenen  der  zeit  nach  neuesten ,  dem 
geiste  nach  aber  veraltet  geborenen  monographieen  über  zwei  so  wichtige 
und  interessante  untenHundarten  der  grossen  südostdeutschen  vermissen. 

Um  so  freudiger  begrüssen  wir  eine  andere  der  neuesten  hier  ein- 
schlagenden monographischen  arbeiten ,  Schröers  schon  gelegentlich  be- 
rührte Studien  über  Gottschee  und  den  Gottscheewer  dialect:  keine 
abschliessende  arbeit ,  wie  schon  der  titel  sattsam  bezeugt ,  aber  ausserge- 
wöhnlich  anziehend  und  inhaltreich,  d.  h.,  um  uns  selbst  zu  corrigieren,  bei 
einem  anderen  autor  aussergewöhnlich,  aber  nicht  bei  dem  hochverdien- 
ten und  far  dieses  feld  der  geistvollen,  allseitigen  und  lebendigen  erfor- 
schung  der  Volkssprache,  oder  des  volkstümlich -culturgeschichtlichen 
elementes  in  linguistischer  fassung  y  gleichsam  geborenen  Verfassers.  Seine 
Verdienste  um  die  deutsche  mundartliche  forschung  in  jener  weitesten 
ausdehnung,  wo  ihre  notwendige  Zugehörigkeit  zu  der  cultur  und  gei- 
stesgeschichte  des  deutschen  volkes  auch  von  dem  forscher  selbst  lebhaft 


182  RÜCKEBT 

empfunden  und  betätigt  wird,  sind  aus  seinen  arbeiten  über  die  deut- 
schen mundarten  in  Ungarn,  namentlich  über  die  in  und  an  den  Ear- 
pathen,  allgemein  gewürdigt  Ebenso  vom  wissenschaftlichen  wie  vom 
nationalen  Standpunkte  aus  verdienen  sie  als  mustergiltig  für  alle  ähn- 
lichen unternehmen  hingestellt  zu  werden,  und  zu  solchen  sollte  es 
wahrlich  an  ort  und  stelle,  in  dem  weiten  bereiche  von  Deutsch  -  Öster- 
reich, an  frischen  und  selbstlosen  kräften  nicht  fehlen  dürfen.  Wenn  es 
doch  daran  fehlt,  so  ist  dies  gerade  kein  ehrendes  zeugnis  für  die  Inten- 
sität des  deutschen  bewustseins  daselbst,  die  man  doch  gelegentlich  mit 
so  grosser  emphase  geltend  macht.  Für  die  Wissenschaft  wäre  hier  min- 
destens ebenso  gut  wie  in  der  eigentlichen  geschichtsforschung  der  wahre 
ort,  wo  es  sich  offenbaren  könte.  Da  die  Wiener  academie,  was  hier, 
wenn  es  auch  als  allgemein  bekant  vorausgesetzt  werden  kann ,  doch  mit 
besonderer  anerkennung  ausdrücklich  erwähnt  sein  soll,  jeder  derartigen 
forschung  —  natürlich  unter  der  bedingung,  dass  sie  den  durchschnitt- 
lichen wissenschaftlichen  anforderungen  genügt  — -  bereitwillig  gelegen- 
heit  und  mittel  zu  bieten  pflegt,  um  sorglos  und  sogar  in  würdigem 
kleide  in  die  weit  hinauszutreten,  so  ist  damit  ein  hindemis  gehoben, 
das  anderwärts  viel  lähmender  wirkt ,  als  der  unbeteiligte , .  oder  der  nicht 
selbst  fatale  erfahrungen  in  dieser  art  gemacht  hat,  vermutet. 

Wenn  wir  bei  dem  uns  hier  verstatteten  räume  nur  in  aller  kürze  den 
wesentlichen  kern  der  abhandlung  Schröers  zu  bezeichnen  versuchen,  so  wird 
dieser  selbst,  nach  dem  schon  oben  erwähnten,  nicht  bloss  ein  sprach- 
licher im  engsten  wortsinniB  sein.  Das  ethnographisch -culturgeschicht- 
liche  moment  als  innere  begründung  von  jenem  gehört  eben  doch  auch 
dahin ,  wo  es  sich  um  erkentnis  einer  deutschen  mundart  handelt  Darum 
erwähnen  wir,  dass  der  Verfasser  neben  anderen  interessanten  geschicht- 
lichen erörterungen  über  die  deutsche  colonisation  im  Südosten  auch 
zuerst  ein,  wie  uns  scheint,  helles  licht  in  die  dunkeln  anfange  der 
deutschen  Sprachinsel  Gottschee  gebracht  hat.  Weder  reste  der  Van- 
dalen  oder  Goten,  oder  die  wol  kaum  als  Deutsche  zu  rechnenden 
Goduscani  sind  hier  zu  suchen,  sondern  einfach  deutsche  colonisten  des 
mittelalters  aus  der  nächsten  deutschen  nachbarschaft,  „die  sich  in  dem 
teile  von  Krain ,  der  wegen  unwegsamkeit ,  noch  lange  nachdem  das  übrige 
land  urbar  gemacht  war,  eine  unbetretene  wildnis  blieb,  niederliessen. 
Während  man  im  übrigen  Krain  überall  römische  und  barbarische  alter- 
tümer  findet,  ist  in  Gottschee  noch  nichts  aufgefunden  worden,  das 
andeutete ,  dass  vor  dem  vierzehnten  Jahrhunderte  ein  menschliches  wesen 
dieses  gebiet  betreten.  Deutsche  musten  kommen  um  hier  einzudringen 
in  die  wildnis;  Slovenen  hätten  es  nie  unternommen,  ganz  wie  im  unga- 
rischen bergland,  wo  zur  selben  zeit  als  in  Gottschee,  in  gebirgigen, 


ÜBEB  DEUTSCHE  MUNOABTL.   LITTEKATUR  183 

steinigen  Waldungen,  die  die  umwohnenden  Slovaken  nicht  zu  benutzen 
wüsten,  von  den  deutschen  bergstädten  aus  jene  deutschen  niederlas- 
sungen  geschehen  sind ,  die  man  die  Häudorfer  nent."  Der  Ursprung  von 
Gottschee  verliert  damit  seinen  ganzen  romantischen  nimbus,  aber  die 
ehrbare  tatkraft  der  deutschen  culturpioniere  des  mittelalters  ist  für 
unser  nationales  bewustsein  unendlich  mehr  wert  als  jener.  Ob  nun 
aber  die  älteste  urkundliche  erwähnung  Gottschees,  in  einem  hier  zum 
ersten  male  vollständig  veröffentlichten  unschätzbaren  Privilegium  des 
Patriarchen  Ludwig  von  Aquileja  vom  jähre  1363  in  die  allerälteste  ansied- 
lungsperiode  zurückreicht,  mag  immer  bezweifelt  werden.  Es  handelt 
sich  darin  um  die  errichtung  geordneter  pfarrsprengel  an  der  stelle  der 
notdürftigen  kirchlichen  hilfsmittel  Qiner  gegend  in  der  y^midtae  hominum 
haUtationes  fadae  sint,''  doch  wahrscheinlich  schon  seit  längerer  zeit. 
Wenigstens  pflegte  bei  derartigen  mehr  zufällig  entstandenen  ansiedelun- 
gen  —  eine  eigentliche  loc(dio,  wie  in  andern  deutschen  colonieen  wird  hier 
nicht  erwähnt  —  ein  geordnetes  pfarrsystem  mit  seinen  relativ  grossen 
anforderungen  an  den  gemeindeseckel  immer  das  letzte  zu  sein,  wozu 
man  gelangte,  nachdem  erst  alle  anderen  Verhältnisse  sich  consolidiert 
hatten. 

Auch  heute  trägt  Gottschee  noch  denselben  Charakter ,  wie  damals ; 
es  ist  eine  culturinsel  in  der  mitte  eines  noch  immer  im  wesen  dem 
barbarentum  zugehörigen  Volkes ,  das  jetzt  durch  fremde  agitatoren,  ein- 
heimische schwindelköpfe  und  declamatoren  aufgehetzt,  unter  der  mit- 
schuld  einer  gegen  das  Deutschtum  stets  feindseligen,  wenn  auch  gele- 
gentlich sich  deutsch  nennenden  regierung  die  wenigen  deutschen  cul- 
tureindrücke ,  die  es  in  den  vorigen  Jahrhunderten  empfangen  hat,  syste- 
matisch zu  vernichten  bestrebt  ist.  Das  könten  wir  der  edeln  nation 
der  Slovenen  samt  ihren  andern  eben  so  edeln  Schwesternationen  selbst 
unter  sich  abzumachen  überlassen^  wenn  nicht  die  Integrität . des  deut- 
schen Gottschee  durch  die  arrogante  und  aggressive  haltung  der  Partei- 
führer oder  treiber  sehr  gefährdet  wäre.  Und  auch  in  diesem  sinne  hat 
sichSchröer  ein  hohes  verdienst  erworben,  indem  er  die  äugen  der  deut- 
schen gebildeten  weit  auf  diesen  punkt  hingelenkt  hat,  wo  die  nationale 
ehre,  man  darf  wol  sagen,  verp&ndet  ist. 

Der  eigentlich  sprachliche  bestand  der  schrift  bringt  zunächst  einen 
kurzen  überblick  über  die  wichtigsten  granunatischen  eigentümlichkeiten 
der  mundart,  wodurch,  wie  schon  genügend  bemerkt,  ihr  bairisch- öster- 
reichischer typus  ausser  allen  zweifei  gestellt  wird.  Nur  zeichnet  sie 
sich  namentlich  vor  den  westlichen  und  nördlichen  idiomen  desselben 
bereichs,  also  namentlich  vor  dem  eigentlich  bairischen  und  tirolischen  oder 
auch  vor  dem  niederösterreichischen  und  steirischen  dialecte  durch  eine 


184  RÜCKBRT 

viel  grössere  geschliffenheit  und  Weichheit  aus,  wie  das  ihre  schon  oben 
citierte  allgemeine  Charakteristik  scharf  ausspricht .  Dass  hiebei  nicht  slo- 
venische  einflüsse  massgebend  gewesen  sind,  wie  Weinhold  annimt,  darin 
wird  man  Schröer  vollkommen  beistinmien,  denn  gerade  die  charakteri- 
stischen lautverhältnisse  des  Slovenischen  finden  sich  nicht  im  Gottschee- 
wischen  und  umgekehrt,  aber  ob  ein  zusatz  von  fränkischem  und  aleman- 
nischem blute  zu  dem  bairischen  es  getan   hat,  wie  Schröer  will,  ist 
doch  zweifelhaft,  so  lange  kein  urkundlicher  beweis  hinzutritt.    Ein  aus 
Memmingen   stammender    pleban   in   Gottschee^     anfang  des   fünfzehn- 
ten Jahrhunderts ,  dürfte  nicht  als  solcher  angeführt  werden.   Uns  scheint 
eine  gewisse  nächste  innere  berührung  mit  dem  relativ  auch  so  viel  wei- 
cheren und  geschmeidigeren  Kärntnei^dialecte,  trotzdem  dass  dieser  ent- 
schieden bairisch  -  österreichisch  ist  und  bleibt,  festzustehen,  wie  ja  dort 
auch  die  nächste  deutsche  nachbarschaft  war  und  ist.    Den  hauptteil  des 
heftes  füllt  ein  Wörterbuch ,  freilich  einstweilen  nur  noch  ein  bruchstück, 
dessen  fortsetzung  hoffentlich  uns  bald  zugehen  wird.     Ausser  dem  bloss 
sprachlichen  enthält  es  eine  menge  von  realien ,    darunter  auch  unschätz- 
bare proben  von  volksballaden.     Dass  sich   dabei  auch  eine,  jedenfalls 
auf  alter  grundlage  beruhende  fassung  des  bekantlich  noch  nicht  wider 
aufgespürten  Volksliedes  gefunden  hat,  welches  Bürger  seiner  Lenore  zu 
gründe  legte ,  ist  schon  anderwärts  gebührend  betont  worden.   Dazu  gehö- 
ren auch  die  drei  bailaden  von  der  schönen  Meererin,  die  Schröer  German. 
14,333  mitgeteilt  hat.    Dass  sie  auf  die  Gudrunsage  zurückgehen^  kann 
nur  der  läugnen,  der  aus  eigensinn,  oder,  hört  man  es  lieber,  aus  conse- 
quenz  seines  litterarischen  Schematismus,  die  möglichkeit  einer  einstigen  all- 
gemeinen Verbreitung  der  Gudrunsage  —  ob  des  älteren  zu  gründe  liegenden 
mythus  ist  etwas  anderes  —  durch  ganz  Deutschland  läugnen  zu  niüssen 
glaubt.   Dass  wir  hier  diese  weite  perspective,  die  sich  damit  in  die  deut- 
sche litteratur  und  poesie  eröffnet,  nicht  verfolgen,  wird  uns  hoffentlich 
niemand  verübeln.    Nur  noch  die  bemerkung:  denkt  man  sich  die  deut- 
sche ansiedelung  in  Gottscbee,    die   nach   Schröers   ermittelungen  doch 
mindestens  hundert  jähre  jünger  ist  als  die  Gudrun  in  der  uns  bekanten 
gestalt,  von  norden,  von  Kärnten  her,  geschehen,  so  ist  auch  die  sage, 
der  Stoff  dieser  balladen ,  von  dort  her  eingewandert.     Die  beziehung  auf 
die  wahrscheinlich  örtliche  heimat  unseres  Gudrungedichtes  liegt  auf  der 
band ,  obwol  bis  jetzt  sich  weder  in  Kärnten  noch  in  Steiermark  eine 
darauf  hinweisende  spur   aufgeftmden   hat.     Aber  eine  ethnographische 
insel  bewahrt  auch  viel  eher  ihren,  uralten  besitz  als  ein  von  der  völker- 
heerstrasse  dm*chzogener  continent. 

Von  dem  südöstlichen  Sprachgebiete  ist  der  Übergang  zu  dem  mit- 
teldeutschen äusserlich  und  innerlich  an  mehr  als  einer  stelle  ein  sehr 


ÜBEB  DBUTSCHB  MUITDABTL.  LITTERATÜR  185 

allmählicher,  kaum  merklicher.  So  ist  er  es  heute  und  so  war  er  es 
schon  in  der  ältesten  zeit.  Es  wäre  uns  sehr  erwünscht,  hätten  wir 
diesmal  schon  eine  zusanmienfassende  grammatische  darstellung  dieses 
Mitteldeutschen  vor  uns  liegen,  wie  sie  die  besprochene  bairische  und 
die  als  bekant  vorausgesetzte  alemannische  grammatik  für  die  betref- 
fenden gebiete  gibt.  Weinholds  in  nächste  aussieht  gestellte  fränkische 
granunatik  wird  diese  aufgäbe  in  der  hauptsache  lösen.  Denn  es  ist 
uns,  auch  ohne  dass  wir  in  ihren  entwurf  gesehen  haben,  unzweifelhaft;, 
dass  sie  die  auf  der  band  liegende,  aber  seltsamerweise,  wol  weil  sie  als 
selbstverständlich  vorausgesetzt  wird ,  nicht  scharf  formulierte  sprach- 
geschichtliche tatsache  an  die  spitze  ihrer  einzelerörterungen  stellen  wird, 
dass  die  begriffe  von  Mitteldeutsch  und  Fränkisch  in  wissenschaftlichem 
sinne  beinahe  sich  decken.  Und  deshalb  scheint  uns  hier  die  ethno- 
graphische bezeichnung,  nach  dem  Frankennamen ,  auch  linguistisch  besser 
gerechtfertigt,  wie  die  Alemannisch  für  den  südwestlichen  oder  selbst 
Bairisch  für  den  südöstlichen  dialect,  obgleich  für  diese  geltend  gemacht 
werden  kann,  dass  wirklich  die  masse  der  ihr  überhaupt  angehö- 
rigen  ursprünglich  aus  bairischem  blute  im  eigentlichen  wortsinn  her- 
vorgegangen ist  und  dann  teilweise  als  vorgeschobene  colonisten  sich 
später  auch  zu  einer  relativen  sprachlichen  eigenart  weiter  gebildet  hat, 
was  doch  kein  nüchterner  geschichts-  und  Sprachforscher  von  den  Juthun- 
gen-Sveben  im  Verhältnis  zu  den  Alemannen  behaupten  wird.  Frän- 
kisch aber  wird  das  „Mitteldeutsche"  heute  noch  ebenso  richtig  heissen 
dürfen,  wie  es  Otfirid  so  nannte,  der  zwar  von  der  äussersten  südwest- 
ecke her  stamte,  bei  dem  unläugbar  auch  —  gerade  wie  es  an  demsel- 
ben orte  heute  noch  zu  hören  ist  —  ein  gewisser  anklang  an  den  nach- 
bardialect,  den  alemannischen,  nicht  zu  verkennen  ist,  der  aber  trotzdem 
in  allen  hauptsachen  ein  ächter  Franke  bleibt.  Denn  warum  sollte 
man  linguistisch  den  fränkischen  namen  etwa  bloss  auf  die  heute  oder 
seit  einigen  hundert  jähren  so  genannte  äusserste  südostecke  des  ganzen 
beschränken ,  da  ja  doch  noch  heute  in  dem  ganzen  gebiete ,  das  einst 
als  land  oder  volk  der  Franken  im  prägnanten  sinne  bezeichnet  wurde, 
die  gemeinschaft;  in  der  spräche ,  die  Zugehörigkeit  zu  einem  sprachlichen 
grundstocke  sich  nicht  verkennen  lässt?  Das  einzige,  was  man  gegrün- 
det dagegen  einwenden  könnte ,  wäre  der  gewaltige  umfang  dieses  Sprach- 
gebietes, der  es  fast  unmöglich  machte,  es  in  der  gewöhnlichen  weise 
übersichtlich  als  einheit  darzustellen.  Aber  wenn  es  zwar  noch  nicht 
versucht,  jedoch  die  forderung  schon  öfter  aufgestellt  worden  ist,  dass 
endlich  jemand  das  gesamte  Mitteldeutsch  einheitlich  bebandele,  also 
eine  mitteldeutsche  grammatik  usw.  mache,  so  muss  das  auch  für  das 
damit  identische  Fränkische  angehen.    Freilich  ist  es  eine  gewaltige  auf- 


186  BÜCKBRT 

gäbe ,  eine  sprachmasBe  darzustellen ,  deren  äusserste  örtliche  ausläufer  im 
Westen  bis  beinahe  vor  die  tore  von  Calais,  deren  äusserste  östliche  bis 
an  den  Rotenturmpass  an  der  türkischen  grenze  reichen,  und  insofern 
würde  sich  vielleicht  vorläufig  eine  teilung  der  arbeit  noch  empfehlen. 
Doch  wenn  jemand  so  kühn  ist  vor  dem  ganzen  nicht  zurückzuschrecken, 
desto  besser! 

Weinhold  hat  nun  zwar  in  dem  allgemeinen  prospect ,  den  er  seiner 
alemannischen  grammatik  vorausschickt ,  neben  einer  alemannischen ,  bai- 
rischen,  fränkischen  auch  eine  thüringische  grammatik,  als  eine  diesen 
genannten  und  den  anderen ,  sächsischen  und  friesischen,  gleichgeordnete 
verheissen,  ohne  zweifei  aber  wird  damit  nicht  gemeint  sein,  dass  dieser 
thüringische  dialect  begrifflich  ein  ebenso  selbständiges  deutsches  sprach- 
glied  vorstellen  soll ,  wie  einer  der  fünf  andern.  So  weit  wir  seine  denk- 
mäler  rückwärts  verfolgen  können,  und  das  ist  ziemlich  weit,  da  das 
älteste  die  Merseburger  Sprüche  sind ,  verhält  er  sich  gerade  so  wie  heute 
zu  tage.  Es  ist  unmöglich,  damals  wie  heute,  seine  engste  berührung 
mit  den  hessischen  mundarten  im  westen,  und  dem  im  beschränktesten 
heutigen  sinne  fränkischen,  oder,  wenn  man  das  lieber  hört,  ostfränkischen 
im  Süden  zu  verkennen.  Eine  selbständige  neben-  oder  Unterabteilung  der 
grossen  fränkischen  oder  allgemein  mitteldeutschen  gruppe  mag  er  sonach 
wol  heissen,  aber  nicht  mehr.  Wird  er  grammatisch  vollständig  behan- 
delt, wie  ihm  dies  zu  teil  werden  soll,  so  ist  dadurch  die  arbeit  für 
das  Fränkische  geteilt,  wenn  auch  nicht  nach  gleichem  Verhältnis;  denn 
es  bleiben  noch  weitaus  zahlreichere  und  wichtigere  gebilde,  die  unter 
diese  rubrik  fallen,  von  denen  mehrere  eine  viel  grössere  relative  Origi- 
nalität oder  eigenart  als  das  thüringische  zeigen.  Woher  aber  diese 
engste  Zugehörigkeit  des  Thüringischen  zu  dem  Fränkischen ,  diese  Unter- 
ordnung oder  einordnung  in  sein  gesamtgefage  stamme,  ist  uns,  wie  wol 
jedem,  der  über  den  gegenständ  nachgedacht  hat,  noch  ein  rätsei. 
Niemals  wird  ein  eigentlich  geschichtliches  document,  das  die  bezeich- 
nung  fränkisch  im  ethnographischen  oder  „stamhaften**  sinne  und  nicht 
in  dem  publicistischen  der  frühesten  Jahrhunderte  des  deutschen  reiches 
braucht ,  die  Thüiinger  Franken  nennen ,  so  wenig  wie  Sachsen  oder  Bai- 
ern, und  die  blosse  uralte  gi-enznachbarschaft  der  Chatten  und  Hermun- 
duren reicht  doch  auch  nicht  zu,  um  nur  daraus  die  nächste  Sprach- 
gemeinschaft zu  erklären. 

Was  sich  für  eine  selbständige  heraushebung  des  Thüringischen 
ausser  dem  rein  practischen  gründe,  der  uns  sehr  einleuchtet,  anführen 
liesse,  wäre  etwa  noch  folgendes.  Blicken  wir  auf  die  geschichte  unse- 
rer germanistischen  Wissenschaft  zurück,  so  ist  der  wissenschaftliche 
begriff  des  Mitteldeutschen   nicht    bloss  sehr  spät,    wie  bekant,    erst 


ÜBBB  BEUTSCHE  MÜHDABTL.  LITTBBATUB  187 

gefunden,  sondern  auch  sehr  langsam  abgeklärt  worden.  Franz  Pfeiffer, 
der  doch  immer  als  sein  eigentlicher  vater  wird  gelten  müssen,  war 
durch  die  ihm  am  ersten  nahegetretenen  Sprachdenkmäler  mit  entschie- 
dener Sicherheit  auf  Hessen,  mit  geringerer,  durch  die  Marienlegenden,  auf 
eine  mehr  östliche  gegend  hingewiesen  worden.  So  erschien  ihm,  ohne 
dass  er  es  scharf  zu  umgrenzen  versucht  hätte,  die  Selbständigkeit  die** 
ser  mundarten  gegenüber  den  oberdeutschen  und  den  niederdeutschen 
als  sicher,  und  es  ist  sein  verdienst,  diese  ansieht  in  immer  klarerer 
durcharbeitung  mittelst  einer  reihe  allgemein  bekanter  plaidoyers  sieg- 
reich durchgefochten  zu  haben.  Dass  dies  Mitteldeutsche  wie  nach  osten 
in  die  weiteste  ferne  —  Jeroschin  allein  genügte  schon  dafar,  dies  zu 
beweisen  —  so  auch  nach  westen  bis  an  und  über  den  Rhein  als  ein 
wesentlich  einheitliches  sich  erstrecke,  war  ihm  ausgemacht,  aber  das 
eigentliche  centrum  dieses  gebietes  sah  er  immer  noch  da,  wo  er  zuerst 
darauf  aufmerksam  geworden  war,  in  den  „binnendeutschen^*  land<^ 
Schäften,  vne  sie  neuerlichst  recht  hübsch  genannt  worden  sind,  in  Hessen 
und  Thüringen.  An  eine  ethnographische  begründung  seiner  linguisti- 
schen ergebnisse  hat  er  nicht  gedacht,  sonst  wäre  ihm  die  unverkenn- 
bare tatsache,  dass  der  grössere  teil  auch  des  Verbreitungsgebietes,  was 
er  —  noch  viel  zu  beschränkt  —  für  das  Mitteldeutsche  abgrenzte,  mit 
dem  fränkischen  Stammesbegriffe  zusammenfällt,  nicht  entgangen.  Wer 
es  also  vorzieht  den  spuren  zu  folgen,  die  der  erste  begründer  der  wis- 
senschaftlichen erkentnis  des  Mitteldeutschen  hinterlassen  hat,  der  mag 
sich  auch  der  begrenzung,  die  er  selbst  seinen  schritten  gegeben  hat, 
fugen.  Pfeiffers  „Mitteldeutsch"  bezeichnet  eigentlich  nur  den  inneren, 
binnondeutschen  und  nordöstlichen  abschnitt  des  ganzen  gebietes,  und 
innerhalb  desselben  ist  dem  Thüringischen  insofern  ein  gewisser  vorrang 
einzuräumen,  als  es  sich  einerseits  doch  schärfer  von  dem  Hessischen 
abscheidet,  wie  dieses  von  den  mehr  nach  westen  und  Süden,  nach  dem 
Khein  und  Main  zu,  sich  ausbreitenden  mundarten,  andrerseits  in  der 
nordöstlichen  gruppe  die  einzige  ist,  welche  nicht  auf  zeitweilig  frem- 
dem Sprachboden,  nicht  in  einer  deutschen  colonie,  sondern  meist  auf 
von  jeher  deutsch  gebliebenem  boden  entstanden  ist.  Ausserdem  wissen 
wir  aus  der  colonisationsgeschichte  des  Ostens  unseres  heutigen  Deutsch- 
lands, dass  ein  grosser  teil  des  deutschen  blutes,  aus  dem  seine  jetzige 
bevölkerung  erwachsen  ist,  aus  Thüringen  stamt,  so  dass  diese  land- 
schaft  in  gewissem  sinne  die  ehrenvolle  Stellung  eines  mutterlandes  vie- 
ler anderen  besitzt  So  könnte  eine  granmiatik  des  thüringischen  dia- 
lectes  zugleich  die  der  anderen  östlichen  und  nordöstlichen  mitteldeut- 
schen mundarten  älterer  und  neuerer  zeit  umfassen  von  der  Saale  an  bis 
zur  Narwa.  Denn  so  weit  diese  eben  beiührten  äussersten  nordwestlichen 


188  BÜCKBBT 

Vorposten  des  deutschen  wesens  überhaupt  eine  mundart  besitzen  — 
eine  volksmundart  im  eigentlichen  wortsinne  ist  sie  begreiflich  nicht  — 
wird  man  sie  zu  dieser  gruppe  zu  zählen  haben,  und  nicht  etwa,  wie  die 
anderen  längs  der  Ostseeküsten,  zu  der  niederdeutsch  -  sächsischen. 
Aber  es  wird  nicht  wol  angehen,  die  südöstlichen  ausläufer  des  Mittel- 
deutschen so  zu  sagen  unterzustecken  unter  das  Thüringische.  Wie  nach 
dem  fernen  nordosten,  so  hat  sich  bekanntlich  ein  deutscher  sprach - 
und  volksast  nach  dem  fernen  Südosten  hinaus  vorgestreckt.  Zwar  ist 
er  nicht  mehr  so  kräftig  wie  sein  nördlicher  bruder,  an  manchen  stel- 
len sogar  beinahe  abgestorben,  aber  der  Wissenschaft  ist  er  in  seiner 
ganzen  ausdehnung  bis  heute  noch  recht  wol  erkennbar.  Er  setzt  wol 
örtlich  am  thüringischen  kerne  an,  wie  der  andere,  aber  noch  fester  an 
dem  äussersten  ende  des  fränkischen  sprach-  und  Volkselementes  im 
engsten  sinne ,  an  Ostfranken ,  geht  von  da  durch  das  nördliche  Böhmen, 
wo  er  sich  mit  einem  vom  bairischen  Nordgau  herüberreichenden  sprach- 
zweige mannigfach  verschränkt,  längs  des  böhmischen  südrandes  des  gros- 
sen Sudetengebirges ,  dann  auf  und  über  diesen  hinüber^  verschränkt  sich 
dort  wider  mit  einem  seitenzweige  des  nordöstlichen  astes ,  und  bildet  so 
die  deutschen  mundarten  von  Schlesien ,  wendet  sich  dann  immer  entschie- 
dener südöstlich ,  immer  noch  in  berührung  mit  den  vom  Süden  her  rei- 
chenden Verzweigungen  des  bairisch  -  österreichischen  Stammes,  hält  sich 
dann  im  grossen  und  ganzen  genau  an  den  zug  der  Earpathen,  von 
denen  er  nur  hie  und  da  auch  in  das  südlich  darunter  liegende  stu- 
fenland  von  Ungarn  ausgreift,  und  breitet  sich  zuletzt  in  dem  sogenann- 
ten siebenbürgischen  Sachsenland  in  mehrere  zweige  aus ,  die  noch  heute, 
aber  leider  wol  nicht  mehr  für  lange,  kräftiger  sind,  als  die  teile  zwi- 
schen ihnen  und  der  mährischen  grenze.  Dass  die  Siebenbürger  Sach- 
sen ,  gleichviel  was  auch  ihre  Urheimat  sein  mag ,  in  der  gegenwart  nicht 
der  bairisch  -  österreichischen  hauptmundart  zugehören,  ergibt  sich  aus 
ihrer,  in  Deutschland  durch  ihre  neuere  dialectlitteratur  sattsam  bekan- 
ten  spräche.  Dass  sie  aber,  so  weit  sich  dieselbe  urkundlich  hinauf  ver- 
folgen lässt,  auch  schon  „mitteldeutsch"  gesprochen  haben,  beweisen 
ihre  ältesten  Sprachdenkmäler ,  die  man  am  besten  und  meist  auch  zuerst 
gesammelt  findet  in  Friedrich  Müllers  „ Deutschen  Sprachdenkmälern 
aus  Siebenbürgen.  Aus  schriftlichen  Quellen  des  XII.  bis  XVI.  Jahrhunderts. 
Hermannstadt  1864.^'  Nur  bemerken  wir  für  diejenigen,  denen  das  hoch- 
wichtige und  verdienstliche  buch  zufällig  unbekant  sein  sollte ,  dass  man 
sich  durch  die  chronologische  bezeichnung  nicht  zu  der  irrtümlichen  Ver- 
mutung verführen  lassen  darf,  als  gäbe  es  dort  wirkliche  deutsche  Sprach- 
denkmäler, was  man  gewöhnlich  darunter  zu  verstehen  pflegt,  noch 
aus  dem  zwölften  Jahrhunderte.     Bis  tief  ins  vierzehnte  sind  nur  einige 


Obbb  dbutschb  mündabtl.  littbbatub  189 

deutsche  namen  erhalten ,  und  erst  von  da  an  Urkunden ,  und  später  auch 
andere  deutsche  aufzeichnungen.  Aber  auch  jene  dürftigen  reste  reichen 
hin  um  der  mundart  schon  damals  ihre  richtige  stelle  anzuweisen.  Dass 
sich  damals  wie  später  durch  ihre  fortwährende  beziehung  zu  den  land- 
schaften  mit  bairisch  -  österreichischer  bevölkerung  auch  manches  von 
diesem  dialecte  eingeführt  hat,  begreift  sich  leicht,  ändert  aber  die 
Substanz  der  heimischen  spräche  nicht.  Für  die  Zwischenglieder  bis  zur 
mährischen  grenze  haben  die  schon  erwähnten  trefflichen  monographieen 
Schröers  volles  licht  sowol  für  die  sehr  trübe  gegenwart,  wie  fQr 
die  glänzende  Vergangenheit  gebracht  Auch  hier,  wie  überall ,  wo  das 
haus  Österreich  seine  dem  Deutschtum  tödliche  herschaft  hin  verbreitet 
hat,  ist  die  deutsche  spräche  mit  der  gesamten  deutschen  cultur  in 
entschiedenen  rückgang  gekommen ,  und  zwar  genau  von  dem  augenblicke 
an,  wo  die  habsburgische  herschaft  begann,  also  in  dem  Ungarischen  berg- 
lande noch  vor  dem  ende  des  ersten  dritteils  des  sechszehnten  Jahrhunderts. 
Für  den  westlichsten  abschnitt  dieses  sprachzweiges ,  für  die  mitteldeut- 
schen mundarten  Böhmens  haben  bekantlich  Petters^  dieser  wesentlich 
für  den  norden  und  nordosten  des  landes,  und  Gradl  für  den  nordwe- 
sten  tüchtiges  geleistet,  so  dass  über  ihre  Stellung  kein  zweifei  mehr 
möglich  ist.  Dass  daneben  im  westen  und  Süden  von  Deutsch  -  Böhmen 
auch  der  echt  bairische  stam  vom  Nordgau  und  von  der  mittleren  Donau 
aus  sich  verbreitet  hat,  weiss  man. 

Unser  diesmaliger  ausflug  auf  das  mitteldeutsche  Sprachgebiet  gilt, 
wie  die  titel  der  zunächst  berücksichtigten  Schriften  zeigen,  eigentlich 
nur  jenem  kleineren  ausschnitte ,  den  wir  oben  mit  einem  neueingeführten 
terminus  als  Binnendeutsch  bezeichneten.  Hessen  und  Thüringen 
sind  in  der  hier  besprochenen  litteratur  vertreten,  die  anderen  weit- 
gedehnten gebiete  nicht.  Wir  beginnen  mit  Hessen.  —  Vilmars  Idio- 
tikon von  Kurhessen  —  man  möchte  fragen ,  warum  dieses  capriciös  aus- 
ländernde  und  noch  dazu  altmodische  wort  Idiotikon?  —  ist  bekantlich  die 
arbeit  gewesen,  die  er  etwa  ein  jähr  vor  seinem  tode  noch  glücklich  zu 
ende  gebracht  hat,  nachdem  er  vierzig  jähre  auf  die  stoffsamlung  dazu 
verwant  hatte.  Nicht  bloss  nach  dem  werte  De  nwrtuis  nil  nisi  bene, 
sondern  wegen  unläugbarer  Verdienste  hat  das  buch  überall  eine  überaus 
dankbare  aufnähme  gefunden.  Dass  sich  auch  allerlei  alberne,  kindische 
und  verbissene  motive  aus  einem  ganz  anderen  bereiche  als  dem  der 
linguistik,  bei  manchen  von  denen,  die  am  lautesten  in  die  posaune 
des  lobes  stiessen,  mit  eingemischt  haben  —  wer  weiss  das  nicht,  aber 
wer  hat  nicht  mitleidig  die  achseln  darüber  gezuckt?  Dem  buche  selbst 
kann  daraus  kein  makel  erwachsen,  so  wenig  wie  wir  es  seinem  Verfas- 
ser hinterher  noch  anrechnen  woHen,   dass  er  sein  Idiotikon  von  Kur- 


190  BÜCKERT 

hessen  an  mehr  als  einer  stelle  dazu  benutzt  hat,  um  mit  seinem  bekan- 
ten  Parteifanatismus  bei  idioten  in  beziehung  auf  Kurhessen  und  seine 
zustände  far  den  edeln,  mishandelten  kurfarsten  und  gegen  die  frechen 
räuber  und  vergewaltiger  bald  donnernde  philippiken,  bald  sentimentale 
jeremiaden,  beide  in  dem  bekanten  stile  der  „bundestreuen"  von  1866, 
loszulassen.  Verderblich  ist  das  dem  buche  nicht  geworden:  merzt  man 
jene  tiraden  aus,  so  erhält  es  erst  seine  wissenschaftliche  Integrität,  und 
an  umfang  beträgt  dieser  überschuss  nicht  gerade  viel.  Nur  insofern 
könnte  man  behaupten,  dass  der  reactionär  Vilmar  dem  germanisten  Vil- 
mar  auch  hier  —  wie  anderwärts  bekantlich  oft  und  verhängnisvoll 
genug  —  im  lichte  gestanden,  als  der  letztere  dem  ersteren  zu  liebe 
dies  Idiotikon  von  Kurhessen  nicht  nach  den  grundsätzen  der  linguistik, 
sondern  nach  dem  zuge  der  ehemaligen  kurfürstlichen  grenzpfähle  abge- 
grenzt hat.  Was  einst  Schmeller  in  seinem  bairischen  wörterbuche  ohne 
Vorwurf  tun  durfte,  eine  in  jeder  und  besonders  in  linguistischer  hin- 
sieht bloss  zufällige  linie,  wie  die  einer  Staatsgrenze  als  eine  linguisti- 
sche zu  verwenden,  das  ist  dreissig  jähre  später  als  ein  grober  fehler 
zu  rügen.  Es  gibt  keinen  kurhessischen  dialect,  also  auch  kein  idioti- 
kon  von  Kurhessen.  Vilmar  selbst  wüste  das  natürlich  am  allerbesten^ 
wie  er  auch  in  der  vorrede  die  einzelnen  dialectischen  gruppen  ganz 
richtig  unterscheidet  und  begrenzt.  Nun  erhält  dadurch  sein  buch, 
möchte  es  scheinen,  einen  desto  reichlicheren  inhalt,  also  wäre  sein  Ver- 
fasser deshalb  eher  zu  loben  als  zu  tadeln,  aber  es  verschwindet  durch 
diese  nichtachtung  der  natürlichen  begrenzung  das  eigentlich  characteri- 
stische  der  einzelnen  mundarten,  die  hier  zusammengepfercht  sind,  so 
sehr,  dass  man  nur  durch  einen  systematischen  scheidungsprocess  es 
mühsam  herausdestillieren  kann.  Denn  Vilmar  geht  so  weit,  auch  die 
echt  niederdeutschen  mundarten  im  nördlichen  „Kurhessen"  hereinzu- 
zwängen, ebenso  wie  die  mainfränkischen  im  Hanauischen;  auch  das 
Thüringisch -hennebergische  aus  öchmalkalden  muss  sich  in  diese  ihm 
aufgezwungene  uniform  fugen. 

Was  sonst  fUle  des  materiales ,  richtige  beurteilung  und  erklärung 
desselben  —  eingeschlossen  die  strenggelehrte  begrändüng  —  betriflft,  so 
haben  wir  hier  ein  würdiges  gegenstück  zu  Schmeller  vor  uns.  Wie  er 
geht  auch  Vilmar  mit  einer  gewissen  verliebe  den  Sachen  (volkssitte, 
rechtsaltertümer  u.  dgl.)  nach,  freilich  ohne  die  innere  heiterkeit 
und  den  echt  volkstümlichen  humor,  die  dem  Bairischen  Wörterbuche 
seinen  unvergleichlichen  reiz  geben.  Vilmar  ist  begieiflich  überall  ein 
verbitterter  Im^dator  temporis  acti  Nachträge  und  zusätze  werden  sich 
überall  noch  ergeben ,  wie  denn  auch  bereits  ein  solcher  von  F  e  d.  B  e  c  h 
(in  einer  gelegenheitsschrift ,  im  osterprogramm  des  gymnasiums  zu  Zeitz 


ÜBBB  DEUTSCHS  MUNDARTL.  LITTEBATÜB  191 

1868)  uns  bekant  worden  ist.  Hier  wollen  wir  uns  nur  auf  einige  bei- 
läufige bemerkungen  beschränken,  eine  sehr  schmale  auswahl  aus  der 
grossen  zahl  derer,  welche  wir,  wie  andere  benützer  des  buches,  seiner 
belehrenden  anregung  verdanken.  Das  merkwürdige  anddagen  (p.  10)  hat 
in  dem  hessischen  bezirke  seine  eigentliche  heimat,  wie  Vilmar  mit 
recht  bemerkt,  doch  lässt  es  sich  ausser  in  Hessen  und  Thüringen  auch 
weiter  nach  Osten  bis  nach  Schlesien  und  höchst  wahrscheinlich  auch 
noch  anderswo  nachweisen.  Über  seine  bedeutung,  die  übrigens  schon 
in  den  Rechtsaltertümern  festgestellt  und  in  dem  Deutschen  wörterbuche 
überreich  belegt  war,  herscht  kein  zweifei.  Seine  herkunft  wagt  auch 
Vilmar  nicht  zu  ergründen.  Er  hat  dabei  den  interessanten  erklärungs- 
versuch  Michelsens  übersehen,  der  es  in  seiner  auch  sonst  sehr 
gehaltreichen  schritt  „Über  die  festuca  notata  und  die  germanische  tradi- 
tionssymbolik.  Jena  1866*'  mit  dem  mittellateinischen  wantus,  romani- 
siert  geschrieben  guantus,  d.  h.  dem  urdeutschen  wantus,  was  sigh  aus 
altnordisch  vöUr  mit  Sicherheit  erschliessen  lässt,  zusammenbringt.  Dass 
der  guantus f  handschuh,  ein  haupttraditionssyiübol  war,  und  dass,  wo  von 
wandilanc,  anddanc  die  rede  ist,  ursprünglich  dies  Symbol  beteiligt 
war,  ist  unbestritten.  Nur  der  zweite  teil  des  compositums  macht 
Schwierigkeit.  Aber  die  nebeneinandergehenden  formen  lagen  und  lan- 
gen zeigen,  dass  die  herkunft  dem  Sprachgefühle  verdunkelt  war.  Um 
so  wahrscheinlicher  ist,  dass  wir  es  hier  mit  einem  fremdworte  zu 
tun  haben,  wie  Michelsen  vermutet,  dem  alt-  und  neufranzösischen 
lange,  binde.  Sonderbar  bleibt  immer  der  abfall  des  anlautenden  w  im 
ersten  teil,  das  doch  den  romanischen  sprachen  als  gu  oder  g,  wie  im 
alt-  und  neufranzösischen  geblieben  ist.  Sonst  sind  bekantlich  derart 
geformte  urdeutsche,  aber  aus  dem  romanischen  wider  zurückgetragene 
Wörter  ihrem  romanischen  g  treu  geblieben,  wie  garde,  gamison  usw. 
beweisen.  Für  das  vermisste  w  oder  g  stellt  sich  gelegentlich  ein  h 
ein,  was  oflFenbar  der  lebendigen  umdeutschung  seinen  Ursprung  ver- 
dankt, die  es  zu  hant  (manus)  brachte,  wie  der  zweite  teil  lagen  neben 
langen  entweder  an  läge  v.  ligen  oder  langen  angeschlossen  worden  sehi 
wird.  Dass  Erasmus  Alberus,  aus  der  Wetterau  gebürtig,  ein  Substan- 
tiv andder  (s.  Deutsches  wörterb.  1,  301)  und  ein  verbum  andeln 
gebraucht,  beweist  nichts  gegen  die  richtigkeit  der  deutung  Michelsens, 
sondern  nur  dass  die  herkunft  des  wertes  zu  seiner  zeit  vergessen  war. 
S.  19  ist  das  schmalkaldische ,  also  eigentlich  nicht  in  den  hessischen  wert- 
schätz gehörige  adv.  au  fung,  fungst,  fonk  als  unerklärbar  nach  seinem 
Ursprung  angeführt.  Und  doch  liegt  er  auf  der  band,  wenn  man  nur 
beachtet,  dass  diese  mundart,  wie  so  viele  thüringische  und  fränkische, 
ng  häufig  für  nd  setzt,  fung  also  =  fund,  fungst  =  fundst  gilt,    fund, 


192  RÜCKSBT 

oder  anschaulicher  fundst  ist  das  hochdeutsche  vollmds.  Auch  andere 
mitteldeutsche  dialecte  verwenden  ihr  funds,  fonds  ganz  so  wie  der 
schmalkaldische  sein  fängst  Hier  zu  lande  kann  man  es  jeden  augen- 
blick  hören.  Au  ist  natürlich  auch,  wie  in  ausenier,  ausegrad,  die  Vil- 
mar  auf  derselben  seite,  gleichfalls  ohne  erklärüng,  anführt,  auch  so 
nußix  ebenso  lieb,  also  ganz  so  wie  das  oft  besprochene  ostfränkische 
ebensomähr,  woraus  endlich  ein  ebensgeschniä  oder  dergl.  werden 
konte:  ausegrad,  eine  entschieden  jüngere  bildung,  die  sich  von  selbst 
erklärt;  jünger  deshalb,  weil  die  bedeutung  des  gerad,  das  das  dunkel 
gewordene  mcere  ersetzen  sollte,  sich  in  dieser  art  erst  seit  dem  17.  Jahr- 
hunderte entwickelt  haben  wird.  —  Dass  bal  in  dem  niederhessischen 
Ortsnamen  Balhorn  auf  das  bekante  gotische  usw.  balva-  zurückgeht ,  ist 
sicher,  aber  ob  dies  ursprünglich  die  bedeutung  von  totenbrandstätte 
gehabt  hat,  mehr  als  zweifelhaft.  Vilmar  dachte  dabei  vielleicht  an 
das  altnordische  bäl,  ags.  bael,  rogus,  das,  abgesehen  von  dem  a, 
bisher  auf  Continental  deutschem  boden  nicht  aufgetaucht  ist  —  Das 
niederhessische  de  oder  enclitisch  de,  im  gebrauche  gleich  dem  hoch- 
deutschen ihr,  wird  als  plural  des  pronomens  zweiter  person  erklärt, 
während  es  J.  Grimm ,  wie  Vilmar  selbst  anführt ,  richtiger  für  den  dual 
erklärt  hatte.  Denn  das  altnordische  per  neben  er  —  (e  wird  wol  in  bei- 
den formen  ursprünglich  lang  sein  und  sich  nur  gerade  so  wie  im  neu- 
hochdeutschen althochdeutsches  wir  und  ir  almählich  gekürzt  haben)  — 
beweist  doch  für  das  hessische  nichts,  das  jedenfalls  hier  kein  r  far  ein 
ursprüngliches  s  im  auslaute  gehabt  haben  wird,  weil  das  specifisch 
nordisch  ist  Ein  s  aber  wirft  der  dialect  nicht  ab ,  wol  aber  ein  r  gele- 
gentlich. Dass  eine  wirkliche  pluralbedeutung  darin  ist,  bezweifelt  nie- 
mand, so  wenig  wie  in  dem  bairisch- österreichischen  ess,  öss,  dess,  döss, 
oder  in  den  genetiven ,  dativen ,  accusativen  enker,  enk,  die  deshalb  doch 
stets  historisch  für  dualformcn  angesehen  worden  sind.  Das  vulgäre 
durch  ganz  Deutschland  verbreitete  wort  extern  —  es  lebt  nicht  etwa  bloss 
in  Hessen,  Wester  wald,  und  im  Hennebergischen ,  wie  man  durch  p.  96  zu 
glauben  verleitet  werden  könnte  —  hat  das  Deutsche  Wörterbuch  an 
zwei  stellen  besprochen  und  das  einemal  mit  extra,  also  gleichsam  extra 
ärgern,  in  Verbindung  gebracht  Doch  wird  man,  wie  es  auch  schon 
von  anderen  geschehen  ist,  eine  anlehnung  an  das  thema  gotisch  agis, 
zunächst  an  das  althochdeutsche  egisöt,  wahrscheinlicherfinden,  weil  aus 
e^tra,  nach  der  analogie  aller  ähnlichen  bildungen,  wol  kein  extern,  son- 
dern ein  extrieren  oder  exterieren  hätte  werden  müssen.  Aber  noch  näher  in 
der  bedeutung  liegt  das  wurzelhaft  mit  dem  anderen  identische,  im  begriffe 
aber  selbständig  entwickelte  althochdeutsche  agi,  egi,  eifer,  mühsames 
tun.  Dass  unser  wort  so  spät  auftaucht,  beweist  nichts  gegen  sein  und- 


ÜBBB  DBÜT8CHE  IfUNDABTL.   LlTTEBATUB  193 

tes  leben.  Im  einzelnen  wäre  es  dann  eine  auch  sonst  sehr  interessante 
bildung  mit  demselben  motive  -str,  althochdeutsch  -star,  was  wir  in 
/as^ar  usw.  kennen.  Nach  der  analogie  von  got.  ga-navistron  wäre  also 
ein  agistron  anzusetzen.  Bei  eoctern  wird  man  durch  den  gegen- 
satz  an  das  schwierige  feiig  s.  100  erinnert,  schwierig  nicht  seiner 
bedeutung  nach,  über  die  kein  zweifei  bestehen  kann,  aber  woher  stamt 
es?  Am  verbreitetsten  ist  es  bekantlich  im  angelsächsischen,  aber 
auch  friesisch  und  niederdeutsch,  wie  es  scheint  durch  alle  sprachperio- 
den;  mit  dem  hochdeutschen  feil  hat  es  nichts  zu  tun,  obgleich  das  angel- 
sächsische f(de  einem  feili  entsprechen  könte.  Greins  Vermutungen 
(Ags.  Sprachschatz  1,  276),  wo  aber  die  zwei  sicher  im  angelsächsischen 
vorhandenen  gleichlautenden  nur  durch  die  quantität  verschiedenen  Wör- 
ter zusammengeworfen  werden,  die  einmal  nach  diesem  feili  oder  alt- 
nordisch falr^  und  dann  wider  nach  dem  heutigen  englischen  fdlow  hin- 
gehen, werden  niemand  befriedigen.  Das  mittel  -  und  neuenglische /ieJat?, 
fdlow  ist  doch  nichts  weiter  als  das  direct  aus  dem  altnordischen  ein- 
geführte felag,  ßlagi,  socius.  —  Schon  früher  ist  von  uns  darauf  hin- 
gewiesen worden,  dass  das  wort  sich  in  oberdeutschen  Sprachdenkmälern 
sehr  selten,  aber  denn  doch  gelegentlich  findet.  Ja  dort  ist  auch  das 
primitiv  davon  anzutreffen.  Nicl.  v.  Wyle  Transl.  p.  54,  23;  363,  26 
braucht  fdle  des  gdikkes  für  gunst  des  geschickes.  Entschieden  ober- 
deutsche beispiele  liefert  übrigens  schon  Ziemann  aus  Oberlin  und  andern. 
Vilmar  hat  auf  jede  etymologie  verzichtet,  hätte  aber  doch  auf  Deut- 
sches Wörterbuch  3,  1430  verweisen  können,  wo  unter  feUig  sich  viel 
zusanimengetragen  findet. 

Hessen  und  Thüringen  zugleich,  das  „mittelbinnendeutsche" 
gebiet  —  wäre  nicht  Binnendeutsch  schon  bezeichnend  genug?  —  berücksich- 
tigt die  Inauguraldissertation  von  Ernst  Wülcker  aus  Frankfurt  a.  M., 
der  somit  seiner  herkunft  nach  gleichfalls  dem  mitteldeutschen  idiom 
angehört,  wenn  wir  seinen  begriff,  me  es  oben  geschehen  ist,  systema- 
tisch fixieren  und  im  wesentlichen  mit  dem  des  fränkischen  stamelemen- 
tes  nach  seiner  geschichtlichen  fassung  zusammenbringen.  Der  eigent- 
liche kern  der  64  selten  starken  abhandlung  ist  durch  den  titel  genügend 
bezeichnet:  vocalschwächung,  d.  h.  das  herabsinken  der  reinen  a- 
1-  und  w- laute,  die  ersetzung  gewisser  diphthonge  durch  einfache  län- 
gen, insbesondere  des  m,  ia,  io,  ie;  tm,  tio,  tie  durch  i  resp.  ü,  und 
verwante  ersch einungen.  Zum  teil  fällt  der  begriff  der  vocalschwächung, 
vrie  er  hier  gefasst  ist,  mit  dem  des  beilautes  zusammen,  wie  ihn  einst 
Weinhold  zunächst  fiör  den  alemannischen  vocalismus  durchzuführen  ver- 
sucht hat.     Man  weiss,   dass  er  auf  grossen  Widerspruch  gestossen  ist 

ZBITSOHB.   F.  DBUT8CHB  PHILOL.    BD.  III.  13 


Id4  BÜCKBBT 

und  den  von  ihm  aufgestellten  neuen  terminus  selbst  wider  aufgegeben 
hat;  aber  die  sache  bleibt  deshalb  doch  richtig.  Seine  Zusammenstel- 
lung beweist,  dass  selbst  in  jenem  oberdeutschen  dialecte,  dem  man  nicht 
ohne  Ursache  das  stärkste  gefahl  für  die  reinen  vocalischen  klänge  zu- 
schreibt, seit  uralten  zeiten  eine  menge  von  alterationen  desselben  sich 
eingeschlichen  haben.  Der  „beilaut"  berücksichtigte  vornämlich  nur  das 
verhalten  des  a  und  sein  „  unmotiviertes ,"  d.  h.  weder  als  brechung  noch 
als  Umlaut  in  Giimms  sinne  zu  erklärendes  abweichen  nach  dem  e  und 
0,  aber  was  für  das  a  gilt,  könnte  auch  für  die  andern  beiden  reinen 
kürzen,  überhaupt  für  alle  reineren  und  volleren  vocalischen  klänge  — 
ganz  abgesehen  von  ihrer  geschichtlichen  Würdigung  nur  von  der  empi- 
risch-phonetischen Seite  her  betrachtet  —  geltend  gemacht  werden.  Dass 
das  mitteldeutsche  in  solchen  vocalveränderungen  ziemlich  weit  von  der 
richtschnur  der  lautgeschichte  und  der  früheren  und  zum  teil  auch  der 
jetzigen  Schriftsprache  abweicht,  ist  bekant:  es  nähert  sich  darin,  wie 
in  so  vielen  anderen  eigentümlichkeiten  mehr  dem  niederdeutschen, 
obwol,  wie  schon  die  fälle  des  sogenannten  beilautes  bezeugen,  auch  die 
streng  oberdeutschen  mundarten  nebenbei  gleicjies  hervorgebracht  haben. 
Was  die  letzte  erklärung  dieser  vocalschwächungen  anbetrifft,  so  wird  man 
im  allgemeinen  die  ansieht  des  Verfassers  wol  gelten  lassen  dürfen.  Er 
sieht  darin  ein  zeugnis  für  die  neigung  der  spräche,  es  sich  bequem  zu 
machen,  im  gegensatze  zu  der  grösseren  anstrengung,  welche  das  ober- 
deutsche oder  die  Schriftsprache  den  sprachwerkzeugen  zumutet.  Genauer 
bestirnt  könnte  man  es  so  ausdrücken:  die  Oberdeutschen  sprechen  mit 
weitergeöffnetem  munde,  und  demgemäss  auch  sind  alle  die  verschiede- 
nen Organe ,  welche  bei  der  bildung  der  einzelnen  laute  tätig  sind ,  ener- 
gischer in  action,  respective  energischer  entwickelt,  als  bei  den  Nieder- 
deutschen. Die  Mitteldeutschen  halten,  wie  der  name  besagt,  im  gan- 
zen die  mitte  zwischen  beiden. 

Im  einzelnen  beschränkt  sich  der  Verfasser  bei  seinen  lautbetrach- 
tungen  auf  die  hervorragenderen  mitteldeutschen  Sprachdenkmäler,  die 
im  laufe  der  letzten  Jahrzehnte  gleichsam  erst  neu  wider  entdeckt  wer- 
den musten.  Sein  material  kann  und  soll  kein  vollständiges  sein ,  obwol 
es  an  einigen  stellen  auch  schon  durch  die  benützung  sehr  zugänglicher 
vorarbeiten  sich  hätte  etwas  abrunden  lassen.  So  z.  b.,  um  die  Schwä- 
chung des  a  in  e  zu  belegen,  bedurfte  es,  wenn  der  Verfasser  streng 
innerhalb  seiner  geographischen  grenzen  bleiben  wollte,  etwa  nur  eines 
hinweises  auf  Pfeiffers  excurs  zu  Hermann  von  Fritzlar  p.  570.  Für  die  in 
Thüringen  massenhaft  auftretenden  Schwächungen  des  a  zu  e  würde,  ausser 
den  belegen  in  den  einzelnen  Schriftstellern,  eine  Verweisung  auf  Bech- 
steins  Ebemand  oder  seinen  Martin  von  Beheim  wol  am  platze  gewesen 


ÜBER  DEUTSCHS  küttDktBTh.  LITTEBATUB  195 

sein.  Referent  hat  in  dem  sprachlichen  anhange  zu  seinem  Leben  des  hei- 
ligen Ludwig  p.  159  schon  früher  eine  gedrängte  Übersicht  über  die  ent- 
wickelung  und  Verbreitung  dieses  e  in  den  thüringischen  Sprachdenkmä- 
lern des  mittelalters  gegeben.  Doch  zweifeln  wir  nicht,  dass  der 
Verfasser,  wenn  er  seinem  schönen  vorsatze  treu  bleiben  und  sich  in 
der  weiteren  grammatischen  erforschung  seines  heimischen  idiomes  ver- 
tiefen wird,  uns  noch  gründlichere  und  urafassetidere  belehrtmg  auch 
über  diese  interessante  materie  bringen  kann.  Der  umfang  der  schrift 
ist  an  sich  nicht  zu  eng,  aber,  \He  es  bei  einer  erstlingsarbeit  zu  gehen 
pflegt,  die  allgemeineren  und  allgemeinsten  linguistischen  gesichtspunkte 
und  Probleme,  von  denen  freilich  alles  tun  und  forschen  im  einzelnen 
reguliert  wird,  üben  noch  eine  so  starke  präponderanz  in  deni  geiste  des 
Verfassers,  dass  er  sich  immer  zuerst  ausführlich  mit  ihnen  auseinander- 
setzen zu  müssen  glaubt,  wodurch  dann  zeit  und  räum  för  die  eigent- 
liche aufgäbe  beschränkt  wird.  Hier,  wo  wir  nicht  in  denselben  fehlJör 
fallen,  sondern  uns  möglichst  strict  an  unser  thema  halten  wollen,  ist 
nicht  der  ort  far  eine  kritik  dieser  linguistischen  theorieen.  Wir  bemerken 
nur,  dass  sie  so  ziemlich  dem  „neuesten"  Standpunkt  im  gegensatz  ztt 
dem  J.  Grimms  angehören,  so  in  der  ansieht  über  die  entstiehung  der 
längen,  der  e  und  ö,  übt  einzelnen  aber  von  einem  guten  sinne  för  sprach- 
liche dinge  überhaupt  erfreuliches  und  hoflhungtirfreckendes  Zeugnis  able- 
gen. Nur  ein  einzigem  pnnkt  möge  dabei  aufs  küi^zeste  berührt  Werdeh, 
er  betrifft  das  eigentlich  bis  zum  überdruss  schon  bes|)rochene  gotische 
ai  und  au  vor  h  und  r.  Der  Verfasser  sieht  darin  örft  der  mehrzahl  der 
aUerneuesten  linguisten  einfache  e-  Und  o- laute,  während  er  dem  gotischen 
ai  und  au ,  wo  es  nicht  vor  ä  und  r,  oder  wie  es  Qrimm'  bezeichnete ,  als 
di,  du  steht,  seine  diphthongische  natur  nicht  streitig  machen  will.  So 
oft  wir  diese  ansieht  voilragen  hören ,  dünkt  es  uns  höchst  verwunderlich, 
wie  man  dabei  einen  entscheidenden  umstand  so  völlig  übersehen  kann: 
ein  systematisch  auf  einmal  aufgestelltes  alphabetisches  system,  wie  es 
das  gotische ,  gleichviel  ob  ülfila  als  sein  Urheber  gelten  soll  oder  nicht, 
doch  ohne  frage  ist  —  wie  verträgt  sich  das  mit  einer  doppelten  laut- 
lichen geltung  eines  und  desselben  Zeichens?  Wer  uns  diesen  wider- 
sprach löst,  dem  wollen  wir  glauben,  dass  ai  e  und  di  ai  geklungen  hat, 
einstweilen  aber  bleibt  unserer  logik  nur  die  doppelte  annähme,  entwe- 
der sind  alle  ai,  au  als  e  und  o  gesprochen  worden,  oder  alle  als  diph- 
thongen.  Uns  selbst  ist  es  keinen  augenblick  zweifelhaft,  dass  das  letz- 
tere der  fall  war,  besonders  da  die  diphthongische  ausspräche  noch  nichts 
über  die  quantität  bestirnt,  die  in  dem  gotischen  aiphabet  bekantlich 
unbezeichnet  ist ,  wie  die  langen  a  in  fremden  namen  beweisen ,  und 
nach  unseter  meinung  auch  in  fahan,  hähäfi,  fhdho,  die  unb^stimfeii  u 

13* 


196  BÜCKEET 

und  höchst  wahrscheinlich  auch  viele  i ,  e  und  o,  von  denen  wir  die  ersteren 
für  die  länge,  die  letzteren  beiden  für  die  kürze  beanspruchen.^  Dass 
aber  aü^  und  eben  deshalb  höchst  wahrscheinlich  auch  ai  kurz  war, 
beweist  bekantlich  die  form  gabaurjaba. 

Über  die  Werra  herüber,  die  wie  einst  so  auch  noch  heute  Hes- 
sen und  Thüiingen  scheidet,  betreten  wir  das  thüringische  gebiet  und 
zwar  dicht  an  diese  grenze  selbst  fahrt  uns  K  Regeis  sorgfältige,  in 
jeder  art  musterhafte  monographie.  Die  Ruhl  und  die  Ruhler  leutchen 
sind  neuerdings  zu  einer  wolverdienten  celebrität  in  ganz  Deutschland 
gelangt,  und  demgemäss  mag  auch  dies  streng  yrissenschaftlich  gehaltene 
stattliche  buch  vielleicht  ausserhalb  des  engsten  kreises  der  fiächgenos- 
sen  die  neu-  oder  wissbegierde  des  grösseren  gebildeten  pubUkums  anzie- 
hen. Auch  ist  es  so  durchsichtig  und  flüssig  geschrieben,  dass  es  sich 
zu  solcher  Verwendung  vor  den  meisten  anderen  seiner  genossen  recht  wol 
eignet.  Die  Ruhler  mundart  ist  von  jeher  schon  in  der  naiven  volks- 
auffassung  als  etwas  ganz  individuelles  erkant  worden,  wie  die  leibliche 
und  geistige  art  der  leute,  die  sie  sprechen.  Daher  denn  die  wunder- 
lichen sagenhaft  aufgestutzten  Vorstellungen,  die  von  ihrer  herkunft  in 
Umlauf  sind.  Historisch  lässt  sich  nun  auch  gar  nichts  ermitteln,  was 
zu  der  annähme  einer  blutmischung  mit  fremden,  oder  gar  zu  der  noch 
seltsameren  einer  fremden  colonie  in  Thüringen  fahren  könte.  Nur  so 
viel  steht  fest,  dass  die  mundart  ganz  entschieden  zu  einem  complexe 
gehört,  der  in  dem  Inselsberge  seinen  geographischen  mittelpunkt  hat 
In  der  hauptsache  ]ßllt  er  zusanmien  mit  den  grenzen  des  altthüringi- 
schen Westergaues,  der  aber,  so  viel  wir  glauben,  nicht  über  den  Renn- 
steig nach  norden  zu  reichte,  also  die  Ruhl  selbst  nicht  mit  umfasste; 
wider  ein  beweis,  dass  die  gaugrenzen  keineswegs  an  sich  identisch 
oder  auch  nur  in  beziehung  sind  zu  den  ethnographischen  grenzen,  wie 
wir  das  schon  oben  ausführten.  Daraus  erklärt  sich  die  innige  berüh- 
rung  der  mundart  mit  den  hennebergischen ,  also  mit  wesentlich  frän- 
kischen, im  gegensatz  zu  dem  nichtiränkischen ,  aber  mitteldeutschen 
typus  des  thüiingischen.  Gebrochene  vocale  und  diphthonge,  von  denen 
sie  wimmelt,  tun  dies  unwiderleglich  dar.  Einiges  ist  dann  noch  auf  die 
einflüsse  des  bodens  und  der  läge  zu  rechnen:  eine  mundart  im  hoch- 
gebirge  und  engen  waldtälern  gestaltet  sich  anders  als  in  einem  brei- 
ten wiesentale  und  auf  flachen  hügelzügen.     Unmöglich  wäre  es  aber 

1)  Gegenwärtige  abhandlung  hatte  die  redaction  bereits  zngesant  erhalten  noch 
bevor  Ad.  Holtzmanns  altdeutsche  grammatik  erschien ,  in  welcher  ahnliche  auslohten 
über  die  doppelte  quautitat  des  gotischen  a  ausgesprochen  sind.  Red. 


ÜBBB  DEUTSCHS  MUNDABTL.  LITTBRATUB  197 

freilich  doch  nicht,  dass  sich  auch  wirklich  fremde  elemente  beigemischt 
hätten.  Der  Verfasser  sucht  zu  begründen,  dass  eine  starke  einwände- 
rung  von  Böhmen  her  stattgefunden,  und  dass  auf  diese  art  in  die  laut- 
gebung  und  auch  in  das  Wörterbuch  einiges  slavische  sich  eingedrängt 
habe.  Doch  liesse  sich  das  auch  anders  ansehen;  die  für  slavisch  gehal- 
tenen lauteigentömlichkeiten  können  durch  jene  localeinflüsse  erklärt  wer- 
den, und  einzelnes  aus  den  verschiedensten  slavischen  idiomen  ist  auf 
eine  meist  nicht  mehr  nachweisbare  art  in  sehr  viele  deutsche  mundarten 
gekommen,  ohne  dass  man  dabei  an  slavische  einwanderung  denken  dürfte. 

Zu  der  entgegengesetzten  ostgrenze  Thüringens  fuhrt  uns  Sech- 
st eins  Matthias  von  Beheim.  Es  ist  wol  nicht  mehr  nötig  daran  zu  erin- 
nern, dass  der  name  Matthias  von  Beheim  nur  den  besitzer  oder  veranlasser 
dieser  evangelienübersetzung,  nicht  den  Verfasser  bezeichnet,  der  einst- 
weilen noch  unbekant  ist  Aber  es  liegt  nahe  in  ihm  einen  landsmann 
des  Matthias  zu  sehen,  auch  widerspricht  einer  solchen  annähme  nichts 
in  der  spräche  oder  in  dem  sonstigen  inhalte  des  werkes.  Wie  hoch- 
wichtig es  für  die  innere  deutsche  culturgeschichte  ist,  dies  ist  hier 
nicht  der  ort  auszufahren,  auch  haben  schon  theologen  und  Sprachfor- 
scher darauf  hingewiesen.  Nur  eines  sei  erlaubt  anzudeuten:  das  werk 
gehört  entschieden  jener  reformatorisch -asketischen  richtung  an,  die  bis 
jetzt  noch  unter  den  wenig  treffenden  namen  der  deutschen  mystik  unter- 
gesteckt zu  werden  pflegt.  Es  ist  aus  demselben  geiste  geboren,  der  in 
den  populären  tractaten  der  Gottesfreunde  und  verwanter  männer  des 
Südens  so  allgemein  bekant  und  anerkant  ist  Aber  dass  dieselbe  bewe- 
gung  der  geister  sich  auch  von  dem  Süden  und  westen  Deutschlands 
bis  an  die  äussersten  grenzen  gegen  den  osten  fortgesetzt  hat,  ist  bis 
jetzt  weniger  beachtet,  und  jedes  Zeugnis  dafür  ist  besonders  wertvoll. 
Übrigens  lässt  sich  dartun,  dass  dieselbe  bewegung  noch  viel  weiter  bis 
an  die  damalige  grenze  deutscher  zunge  fortgeschritten  war  und  z.  b. 
in  der  Lausitz  und  in  Schlesien  eine  ganz  respectable  litterarische  tätig- 
keit  erzeugte.  Keiner  dieser  geistlichen  tractate,  so  weit  wir  sie  ken- 
nen ,  lässt  sich  freilich  mit  den  hervorragenden  leistungen  der  Basler  und 
Strassburger ,  oder  auch  der  Mittel-  und  Niederrheinländer  vergleichen, 
aber  sie  sind  in  ihrer  art  doch  immerhin  gut  genug,  sowol  was  die  form 
als  was  den  inhalt  betrifft.  Schon  vor  einer  reihe  von  jähren  dachten 
wir  daran  einige  der  interessantesten  zu  publicieren,  da  sich  dafür  keine 
passende  gelegenheit  finden  wollte,  so  sind  sie  bis  jetzt  nur  als  quellen- 
material  für  die  geschichte  der  mundart  jener  gegenden  benutzt  worden. 

Dass  sich  das  mUtelste  dutsch  dieser  Übertragung  nicht  sehr  indi- 
viduel  von  anderen  gemein -mitteldeutschen  werken  der  zeit  heraushebt, 
lässt  sich  von    vornherein  begreifen   und   kann  von  jedem  leicht  mit 


198  BÜCX91JIT 

einem  blicke  ersehen  wefden,  wenn  er  die  grammatische  Zusammenstel- 
lung ,  die  der  herausgeber  in  der  einleitung  gegeben ,  zu  rate  zieht.  Alle 
solche  werke,  die  doch  immer  für  ihre  zeit  gebildete,  ja  gelehrte  Ver- 
fasser und  einßn  relativ  gebildeten  leserkreis  voraussetzen,  schreiben 
ein  ziemlich  gleichförmiges  deutsch,  das  im  wesentlichen  noch  an  die 
gebildete  Schriftsprache  des  drei^hnten  Jahrhunderts  oder  an  das  eigent* 
Uphe  Mittelhochdeutsch^  nur  mit  abstreifung  seiner  feineren  vocalbezeich* 
iiUBg ,  mit  nichtachtung  seiner  feinen  gehörunterschiede  far  die  härte  und 
weiche  der  consouanten  u.  dergl.  sich  anlehnt.  Im  bewustsein  der 
Schreiber  solcher  und  ähnlicher  werke  bezeichnet  daher  das  mittelste 
dutsch  nichts  weiter  als  die  allenthalben  giltige  gebildete  Schriftsprache 
in  der  besonderen  fassung,  wie  sie  in  dem  innem  Deutschland  gewöhnlich 
war.  Ebenso  gut  hatten  auch  die  schlöffen  des  niedersächsischen  Mag- 
deburg ihre  möglichst  rein  allgemein  deutsch  geschriebenen  Weistümer, 
die  sie  nach  Mitteldeutschland  hin  verteilten,  als  mittelstes  dtUsch  bezeich- 
nen können^  ohne  etwas  anderes  damit  besagen  zu  wollen,  als  dass  sie 
oder  ihr  stadtsc}ireiber  sich  so  gebildet  als  ihm  möglich  war  ausdrückte. 
Die  existenz  einer  ihnen  selbst  bewust^n  freien  mitteldeutschen  Schrift- 
sprache darauf  zu  gründen,  wozu  Franz  Pfeiffer  nicht  übel  lust  hatte 
un|l  andere  mit  ihm  aus  Verehrung  für  ihn,  ist  einfach  geschichts-  und 
sacl^i widrig.  Es  gibt  in  den  damaligen  grenzen  des  deutschen  Volkes 
neben  der  gemeindeutschen  Schriftsprache  nur  noch  eine  mittelniederlän- 
dische in  zahlreichen  denkmälem  vertretene  und  eine  mittelniederdeut- 
sche. Die  gemeindeutsche  Schriftsprache  förbt  sich  mit  dem  hervor- 
brechen des  realistisch -volkstümlichen  dementes  mehr  und  mehr  im  laufe 
des  14.  und  in  der  ersten  hälfte  des  15.  Jahrhunderts  örtlich,  nach  den 
localmundarten ,  doch  ohne  sich  dessen  bewust  zu  werden  und  etwa  eine 
separatösterreichische  oder  separatschwäbische  spräche  begründen  zu  wol- 
len. Nur  die  immer  schärfer  einschneidende  Sonderstellung  der  eidge- 
nossen  bringt  es  mit  sich,  dass  im  15.  Jahrhundert  wii'klich  eine  art 
schweizerdeutscher  litteratursprache  mit  vollem  bewustsein  ihrer  selbst 
sich  auftun ,  aber ,  wie  bekant ,  nicht  lange  blühen  konte.  Dass  die  ver- 
schiedenen Schriftwerke  nach  der  zeit,  nach  der  grösseren  oder  gerin- 
geren bildung  der  einzelnen  orte  —  die  gebildetsten  sind  damals  die  süd- 
und  mitteldeutschen  reichsstädte  —  und  nach  der  Stellung  der  Verfassung 
in  sehr  verschiedenen  mischungsverhältnissen  von  dem  localdialecte  inficiert 
sein  können,  versteht  sich  von  selbst;  die  rohesten  sind  die  privaturkun- 
den  der  ritterschaft,  und  etwas  minder  roh  die  der  dörfer  und  kleineren 
Städte.  Aber  auch  diese  haben  nie  die  absieht ,  ihren  localdialect  wider- 
zugeben, so  wenig  wie  heute  ein  unwissender  dorfschulze  sie  hat,  wenn 
er  ein  lächerliches  deutsch  zusammenstoppelt. 


ÜBEB  DBUTSCHI  MUNDABTL.   LITTBBATDR  199 

Diese  betrachtung  f&hrt  uns  ganz  naturgemäss  hinüber  zu  der  zu- 
letzt aufgezählten  studie  von  E.  Opitz  über  Luthers  spräche.  Denn 
das  „gemeine  deutsch/^  das  „deutsch  der  kaiserlichen  und  kurfürstlichen 
kanzleien/^  dessen  er  sich  immer  erfolgreicher  zu  bemächtigen  strebte, 
bis  er  es  als  wirklicher  herscher  nach  seinem  eigenen  genius  handhabte 
und  weiterbildete,  ist  doch  eigentlich  jenes  mittelste  deutsch,  und  die 
dialectischen  oder  localen  eigentümlichkeiten ,  die  er  hinzugetragen  hat, 
teilweise  um  sie  später  selbst  wider  aufzugeben,  teilweise  um  sie  der 
Orthographie  und  ausspräche  des  neuhochdeutschen  dauernd  einzuverlei- 
ben, sind  auch  nur  mitteldeutsche,  dasselbe  wie  jenes  andere  element, 
nur  einen  oder  mehrere  töne  volksmässiger  und  insofern  roher  gefärbt. 
Opitzs  anspruchsloses  schriftchen  ist  in  dieser  hinsieht  durch  gegenüber- 
stellung  von  lutherischem  deutsch  aus  seinen  verschiedenen  perioden 
recht  lehrreich.  Ohne  grosse  mühe,  auf  einen  blick,  sieht  man,  wie  die- 
ser autor  auch  um  die  äussere  form  seiner  schrifben  sich  fortwährend 
mit  Überlegung  gemüht  hat.  Die  Verbesserungen  waren  nicht  bloss  ver- 
meintliche, nach  subjectiven  gesichtspunkten  giltige,  sondern  wirkliche, 
insofern  sie  immer  mehr  jenes  allgemein  deutsche  moment  des  „gemeinen 
deutsch  ^^  zur  geltung  zu  bringen  suchten ,  was  zuletzt  auf  mittelhochdeut- 
scher historischer  basis  ruht  und  sich  damals  noch  am  meisten  lebendig  in 
dem  südlichen  abschnitt  des  mitteldeutschen,  also  in  den  rhein-  und 
mainfränkischen  mundarten  vertreten  fand.  Denn  Schwaben  und  Baiern, 
obgleich  dem  gemeindeutsch  soviel  näher  als  die  eigentlichen  Nieder- 
deutschen, versuchten  doch,  me  bekant,  sich  noch  auf  lange  hinaus  von 
diesem  wahren  neuhochdeutsch  frei  zu  halten,  zum  teil  wol,  aber  doch 
nicht  ausschliesslich,  weil  es  zur  ofBciellen  spräche  der  ketzerei  ausgear- 
tet war.  —  Ausserdem  wäre  dem  lehrreichen  schriftchen  vielleicht  nur 
zu  wünschen,  dass  seine  grammatische  oder  sprachgeschichtliche  grund- 
lage ,  so  weit  es  auf  eine  solche  sich  stützt ,  etwas  sicherer  wäre.  Sein 
Verfasser  ist  zu  sehr  von  autoritäten  abhängig  und  zu  wenig  mit  selb- 
ständiger forschung  gerüstet.  So  z.  b.  wenn  er  (s.  9)  sagt:  „das  feh- 
len des  Umlautes,  der  sich  bekantlich  im  mitteldeutschen  nur  auf  das  a 
erstreckt  ,^^  so  würde  ihm  eindringendere  beschäftigung  mit  dem  mittel- 
deutschen, oder  da  dies  ein  unendlich  ausgedehntes  gebiet  ist,  mit  dem 
heimatsdialect  Luthers ,  wofür  der  des  Mansfeldischen  Unterlandes  —  nicht 
etwa  der  seines  väterlichen  stamortes  Möhra  —  zu  rechnen  ist,  leicht 
gezeigt  haben ,  dass  alle  und  jede  umlaute ,  die  das  mittelhochdeutsche 
oder  das  neuhochdeutsche  besitzt,  auch  damals  schon  vorbanden  waren, 
im  mitteldeutschen  oder  in  dieser  mundart ,  nur  freilich  zum  teil  in  ande- 
rer ausdehnung  und  bedingung  als  dort  oder  jetzt.  Dass  Schreiber  und 
später  auch  manche  drucker  gelegentlich  den  umlaut  noch  nicht  bezeich- 


200  KÖHLEB,  Zu  V^IELAND 

nen,  darf  damit  nicht  verwechselt  werden,  wie  es  der  herr  Verfas- 
ser tut  laut  seiner  eigenen  werte  (s.  9):  „wenn  er  (der  umlaut)  sich  in 
der  Leipziger  ausgäbe  findet,  so  ist  dies  sicher  eigene  zutat  des  setzers." 
Oder  wenn  er,  um  das  e  in  erbeit  zu  erklären,  an  demselben  orte  sagt, 
„noch  jetzt  soll  die  form  erben  für  arbeiten  aus  dem  munde  thüringischer 
landleute  vernommen  werden."  Der  Verfasser  lebt  in  Naumburg ;  er  hätte 
dort,  wie  überall  in  Thüringen,  gelegenheit  gehabt,  diese  form  als  die 
einzige  —  freilich  nicht  erben,  was  beerben  ist,  sondern  erbeten  zu 
hören.  Dicht  daneben  wird  das  citat  eines  o  für  a  aus  demselben  busspsalm 
der  Leipziger  ausgäbe  ^^gegoffet*'*'  in  gehoffet  zu  verbessern  sein  (Ps.  143,  8), 
entsprechend  dem  lateinischen  in  te  speravi,  denn  ein  goffen  für  gaffen 
ist  nicht  wol  denkbar.  Die  mitteldeutschen  mundarten  insgesamt  haben 
umgekehrt  eher  die  neigung  ein  gemeindeutsches  o  vor  f  oder ,  wie  es 
in  geschärften  silben  geschrieben  wird,  ff  in  a  übergehen  zu  lassen. 

BRESLAU,  JUNI  1870.  H.  RÜCKERT. 


EIN  DRUCKFEHLER  IN  WIELANDS  WERKEN. 

Eine  stelle  im  sechsten  buche  von  Wielands  Gandalin  oder  Liebe 
um  Liebe  lautet  in  den  drei  ersten  ausgaben  dieses  gedichtes  (Teutscher 
Merkur  1776.  III,  102;  Wielands  neueste  Gedichte,  H.  Theil.  Weimar 
1777.  s.92;  Wielands  Auserlesene  Gedichte,  Band  IL  Leipzig  1784.  s.262): 

Wozu  dich  selbst  so  quälen?  (flüstert 

Der  Engel  ihm  zu)  Du  bist  aus  Thon 

Gebildet  wie  jeder  Erdensohn, 

Bist  mit  den  Thieren  des  Feldes  verschwistert. 

Und  unterworfen  dem  Getäusch 

Der  Leidenschaften  wie  alles  Fleisch. 

Statt  des  tadellos  gebildeten,  auch  von  Klopstock,  Georg  Jacobi 
und  Voss  gebrauchten  ^  und  an  unserer  stelle  ganz  treffenden  wertes 
getäusch  haben  alle  Göschenschen  gesamtausgaben  der  werke  Wielands 
(bd.  21  der  ausgäbe  von  1796,  s.  75  der  quart-,  s.  79  der  grossoctav-, 
s.  100  der  kleinoctav  -  ausgäbe ;  bd.  21,  s.  115  der  ausgäbe  von  1825; 
bd.  10,  s.  233  der  ausgaben  von  1839  und  1854)  und  die  neueste  in 
Hempels  vorlag  erschienene  ausgäbe  von  Wielands  werken  (bd.  4,  s.  200) 
das  unsinnige  geräusch. 

WEIMAR,   APRIL   1870.  REINHOLD  KÖHLER. 

1)  S.  W.  Hoffmanns  Wörterbuch  der  deutschen  spräche  11,  594  und  D.  San- 
ders Wörterbuch  11,  1294. 


201 


ADOLF  HOLTZMANN. 

Adolf  Kabl  Wilhelm  Holtzmann  war  geboren  am  2.  mai  1810  zu  Karlsruhe, 
als  der  dritte  von  f^nf  geschwistem,  von  welchen  noch  zwei  brüder,  der  eine  in 
Baden,  der  andere  in  Würtemberg,  sich  in  kirche  nnd  schale  eine  hervorragende 
Stellung  and  hohe  Verdienste  erworben  liaben.  Der  vater,  Joh.  Mich.  Holtzmann, 
aas  Speicr  gebürtig,  war  professor  am  lyceam  za  Karlsrahe.  Er  starb  schon  1820 
and  es  war  nar  mit  Schwierigkeit,  dass  seine  söhne  sich  ihre  laafbahn  ebneten. 
Adolf  Holtzmann  hat  seine  stadienjahre  anstatt  der  ersehnten  Sprachwissenschaft  der 
theologie  znwenden  müssen,  and  noch  im  mannesalter  nahm  ihm  ein  andersgeartetes 
amt  zam  grossen  teile  die  kraft  and  zeit  weg,  die  er  seinen  forschangen  hätte  wid- 
men mögen.  Daza  kam  der  amstand,  dass  die  sprachwissenschaftlichen  Stadien  in 
jener  zeit  erst  noch  im  werden  begriffen  waren,  dass  die  beteiligang  an  ihnen  nar 
mit  mühe  and  aafwand  za  erlangen  war.  Aaf  diese  hemmnisse  hat  Holtzmann  in 
der  vorrede  seines  letzten  baches  mit  vollem  rechte  hingewiesen. 

Vom  lyceam  za  Karlsrahe  im  herbst  1828  entlassen  bezog  er  zanachst  die 
aniversitat  Halle ,  am  theologie  za  stadieren;  wante  sich  jedoch  schon  za  ostem  1829 
nach  Berlin ,  wo  er  bis  ostem  1831  blieb.  Nach  Berlin  zog  ihn  hauptsächlich  Schleier- 
macher, dessen  Übersetzung  der  platonischen  dialoge  ein  vom  vater  ererbtes  stadiam 
Holtzmanns  and  seiner  brüder  bildete.  Sprachwissenschaftliche  Vorlesungen  hörte  er 
während  dieser  zeit  nicht,  obschon  er  sich  damals  schon  mit  der  litteratur  dieses 
faches  bekant  gemacht  hat.  Im  juni  1831  bestand  er  das  theologische  examen  in 
Karlsruhe  und  trat  sodann  als  vicar  in  Kandem  ein.  Allein  sein  entschluss  stand 
bereits  fest  zur  Sprachforschung  überzugehen.  Er  richtete  an  die  regio  rang  ein  gesuch 
um  Unterstützung  zu  diesen  Studien,  deren  hohe  bedeutung  er  mit  dem  hinweise  auf 
die  werke  Jacob  Grimms,  Bopps,  Wilhelm  von  Humboldts  und  auf  die  in  Preussen 
anerkante  Wichtigkeit  der  Sprachwissenschaft  für  die  höhere  Schulbildung  begründete. 
Erst  im  sommer  1832  ward  ihm  die  Staatsunterstützung  zu  teil,  die  es  ihm  möglich 
machte  zunächst  in  München  zu  studieren.  Hier  hörte  er  bei  Othmar  Franck  Sans- 
krit ,  bei  Neumann  über  Armenisch  und  Chinesisch ;  besonders  aber  arbeitete  er  unter 
Schmellers  leitung  auf  der  bibliothek.  Nach  einem  jähre  kehrte  er  nach  Karlsruhe 
zurück  und  legte  zunächst  im  winter  1833  auf  34  einem  kleinen  kreise ,  an  welchem 
sich  namentlich  die  lycealprofessoren  beteiligten,  die  ergebnisse  seiner  studien  in 
einigen  Vorlesungen  vor.  Im  märz  1834  begab  er  sich  zu  weiterer  ausbildung  nach 
Paris.  Hier  schloss  sich  Holtzmann  hauptsächlich  an  Eugene  Bumouf  an,  dessen 
Vorlesungen  im  College  de  France  er  besuchte.  Auch  mit  Silvestre  de  Sacy  ward  er 
bekant.  Für  sich  arbeitete  er  auf  der  damals  königlichen  bibliothek  sowie  in  den 
samlungen  der  Asiatischen  gesellschaft ,  zu  denen  Bumouf  ihm  den  zutritt  verschafft 
hatte.  Im  winter  nach  Karlsruhe  zurückgekehrt,  erwarb  er  sich  die  mittel  zu  einem 
zweiten  aufenthalt  in  Paris,  indem  er  vom  sommer  1835  bis  ebendahin  1836  als 
hofmeister  in  einem  legitimistischen  grafenhause  in  der  nähe  von  Grenoble  tatig  war. 
Im  august  1836  vollendete  er  zu  Karlsruhe  die  ausgäbe  der  fränkischen  Übersetzung 
des  Isidor  de  nativitate  domini ,  die  er  1834  auf  der  Pariser  bibliothek  abgeschrieben 
hatte.  Musterhaft  ist  die  Sorgfalt  und  klarheit  sowol  in  der  widergabe  des  textes, 
wie  in  der  darlegung  der  Sprachregel  und  des  Sprachschatzes.  Eine  reihe  von  scharf- 
sinnigen bemerkungen,  auch  über  gotische  grammatik,  sind  eingefügt.  Der  zweite 
aufenthalt  in  Paris  vom  herbst  1836  bis  1837  scheint  namentlich  den  orientalischen 
sprachen  bestimt  gewesen  zu  sein.    Daran  wünschte  Holtzmann  eine  reise  nach  Eng- 


302  MABTIN 

land  zu  schliessen,  auf  welcher  namentlich  die  hinterlassenschaft  des  F.  Junius  in 
der  Bodlejanischen  bibliothek  zu  Oxford  ausgebeutet  werden  sollte.  Zu  dieser  reise, 
die  bis  in  die  letzten  jähre  ein  lebhafter  wünsch  des  verstorbenen  blieb,  kam  es 
jedoch  nicht.  Grossherzog  Leopold  berief  ihn  im  november  1837  als  erzieher  seiner 
beiden  jüngeren  söhne,  der  prinzen  Carl  und  Wilhelm. 

Diese  stelle  bekleidete  Holtzmann  eine  geraume  zeit  lang.  Die  freie  zeit,  die 
ihm  dabei  blieb,  benutzte  er  zur  Verwertung  seiner  Pariser  Studien,  namentlich  auf 
dem  gebiete  der  orientalischen  sprachen.  Die  ergebnisse  sind  teils  ausgaben,  so  die 
des  Indravidschaja ,  einer  episode  des  Mahabharata  (Karlsruhe  1841);  teils  Übertra- 
gungen ,  in  welchen  der  kühne  versuch  gemacht  ist ,  aus  der  übei:}ieferten  gestalt  der 
indischen  epen  die  ursprünglichen  eraahlungen  widerherzustellen.  —  Dieser  art  sind 
die  bruchstücke  aus  Walmikis' Bamajana  (Karlsruhe  1841,  in  zweiter  vermehrter  auf- 
läge 1843),  und  die  aus  dem  Mahabharata  geschöpften  Indischen  sagen,  in  drei  tei- 
len (Karlsruhe  1845—47  und  in  zweiter  verbesserter  aufläge  Stuttgart  1855);  — 
teils  endlich  einzelne  abhandlungen ,  welche  wol  als  Holtzmanns  bedeutendste  leistun- 
gen  in  diesem  Zeiträume  bezeichnet  werden  dürfen.  In  kurzer,  knapper  form  teilen 
sie  Untersuchungen  mit,  deren  ergebnisse  gröstenteils  ein  bleibender  gewinn  für  die 
Sprachwissenschaft  und  die  orientalische  litteraturgeschichte  sind.  In  der  abhandlung 
„Über  den  griechischen  Ursprung  des  indischen  tierkreises '*  (Karlsruhe  1841)  ward 
eine  ganze  litteraturepoche,  welche  die  speciel  indischen  philologen  Schlegel  und 
Lassen  um  ein  Jahrtausend  zu  früh  angesetzt  hatten,  mit  überzeugenden  gründen 
richtig  bestirnt.  Die  schrift  über  den  umlaut  (Karlsruhe  1843)  trat  einer  irrigen  auf- 
fassung  J.  Grimms  entgegen;  die  über  den  ablaut  (Karlsruhe  1844)  bestirnte  nicht 
nur  zuerst  den  undeutlich  überlieferten  accent  des  Sanskrit ,  sondern  wies  auch  dessen 
Wichtigkeit  für  die  indische  und  deutsche  Sprachbildung  nach.  Die  durch  Bumouf  und 
Lassen  zuerst  sprachwissenschaftlich  begonnene  entzifierung  der  keilschrift  erhielt  eine 
wesentliishe  förderung  durch  Holtzmanns  „Beitrage  zur  erklärung  der  persischen  keil- 
inschriften  *'  (I.  heft,  Karlsruhe  1846),  woran  sich  mehrere  aufsätze  in  der  Zeitschrift 
der  deutschen  morgenländischen  gesellschaft ,  im*  Y . ,  VI.  und  VIU.  bände  (Leipzig 
1851  —  54)  anschlössen.  Einzelnes  aus  den  zuletzt  erwähnten  Untersuchungen  hatte 
er  auf  der  philologenversamlung  zu  Berlin  1850  vorgetragen.  Ausserdem  besprach 
Holtzmann  die  gleichzeitige  fachUtteratnr  in  den  Heidelberger  Jahrbüchern  in  recen- 
sionen,  die  zum  teil  den  erwähnten  abhandlungen  zu  gründe  liegen. 

Trotz  dieser  zahlreichen  und  wertvollen  arbeiten  beklagte  Holtzmann,  die  sei- 
nen forschungen  bestimte  zeit  durch  sein  amt  geschmälert  zu  sehen.  Freilich  bot 
diea  in  anderer  hinsieht  vieles  zum  ersatz.  An  äusseren  ehren  fehlte  es  nicht;  den 
titel  als  Professor  hatte  Holtzmann  beim  antritt  seiner  erziehertätigkeit  erhalten, 
1843  ward  er  zum  hofrat  emant.  Auch  die  orden  vom  Zähringer  löwen  und  der 
preuBsische  adlerorden  dritter  klasse  wurden  ihm  verliehen.  Doch  bewahrte  Holtz- 
mann inmitten  des  hofes  die  volle  Unabhängigkeit  seines  Charakters.  Seine  gerade 
natur ,  sein  gelehrtenruf  verschafften  ihm  eine  bei  aller  Zurückhaltung  geachtete  Stel- 
lung, an  welcher  auch  die  stürme  des  Jahres  1848  nichts  änderten. 

Im  jähre  1849  verlor  die  Universität  Heidelberg  durch  den  wegzug  K.  A.  Hahns 
nach  Frag  den  bisherigen  Vertreter  der  deutschen  philolog^e.  Da  eine  ordentliche 
Professur  für  dieses  faeh  erst  geschaffen  werden  muste,  so  verzögerte  siok  Holts- 
manns  berufung  in  die  ihm  zugedachte  stelle  bis  zum  frühjahr  1858.  GkichMitig 
wurde  er  von  der  philosophischen  facultät  zum  ehrendoctor  emant.  Im  winter  darauf 
begann  er  seine  Vorlesungen,  deren  gegenstände  nach  dem  ausweise  der  lectioniiTer- 
zeichnisse  die  folgenden  waren.    Begelmäsug  jedes  semester  las  er  über  SMiskrit- 


ADOLF  WW^fMAmX  809 

grammatik  mit  Übungen,  woran  sich  im  winter  1857  auf  58  ein  zweiter  cursu«,  die 
erklärung  der  Sakuntala  seit  sommer  1856  zweimal,  die  des  Wolkenboten  1856/57 
anschloss.  Vergleichende  grammatik  der  indogermanischen  sprachen  behandelte  er 
seit  1853  dreimal,  deutsche  grammatik  seit  1854  viermal;  veranstaltete  Übungen  im 
Gotischen  1862.63,  im  Althochdeutschen  1867/68,  im  Mittelhochdeutschen  1866; 
erklärte  ausgewählte  stücke  aus  Wackemagels  Altdeutschem  lesebuch  seit  1853  vier- 
mal; las  über  Altnordisch  (ältere  Edda)  seit  1856/57  viermal,  über  Angelsachsisch 
(Beowulf)  seit  1856  viermal.  Das  Nibelungenlied  erklärte  er  seit  1857  z^nmal,  nach* 
dem  er  schon  1853  darüber  gesprochen  hatte;  die  gedichte  Walthers  1862.  Beson- 
ders oft  behandelte  er  die  geschichte  der  deutsehen  litteratur ,  teils  ohne  grenzbestimh 
mung  seit  1865/66  fünfmid,  oder  von  anfang  bis  ins  19.  jalyrhundert  seit  1853/54 
zweimal,  oder  bis  auf  Schillers  tod  seit  1862/63  fünfmal,  oder  endlich  bis  zum 
18.  Jahrhundert  seit  1858/59  dreimal;  —  teils  geteilt,  biis  zu  ende  des  15.  Jahrhun- 
derts oder  bis  zur  reformation  seit  1852/53  fünfmal,  und  von  Luther  bis  auf  Göthe 
seit  1855/56  zweimal,  von  Opitz  bis  Göthe  1860/61.  Über  deutsche  mythologie  trug 
er  seit  1854  siebenmal  vor  und  interpretierte  dio  Germania  des  Tadtus  seit  1856/57 
neunmal.  In  den  letzten  Semestern  hinderte  ihn  sein  leidender  zustand  am  abhalte« 
der  Vorlesungen. 

Die  Schriften  Holtzmanns,  welche  nach  seinei  Übersiedelung  nach  Heidelberg 
erschienen ,  beziehen  sich  mehr  auf  die  deutsche  litteratur  als  auf  die  früher  von  ihm 
hauptsächlich  behandelte  Sprachwissenschaft  und  orientaüsche  litteratur.  Bei  dep 
antritt  seines  academischen  amtes  veröfifentlichte  er  eine  abhandlung  ,,Über  das  ver«* 
hältnis  der  Malberger  glosse  zum  texte  der  lex  Salica,"  in  welcher  er  die  glossen 
für  reste  eines  ursprünglich  fränkischen  teztes  erklärte,  dessen  Sprachnormen  weit 
altertümlicher  seien  als  die  sonst  erhaltenen  s]prachdenkmäler.  In  noch  höherem 
grade  waren  zwei  darauf  folgende  Schriften  gegen  die  bis  dahin  gütigen  annahmen 
gerichtet  Einmal  die  „  Untersi^chungen  üb^  das  Nibelungenlied,*'  zu  Stuttgart  1854 
erschienen ,  obwol  die  vorrede  und  die  Widmung  an  F.  H.  von  der  Hagem  bereits  vom 
September  1853  datiert  sind.  Die  hauptfiächlicbsteB.  schlussfolgerungen  dieser  uat^- 
suchungen  sind:  der  älteste  text  des  gedichts  von  den  Nibelungen  ist  in  der  band«* 
Schrift  C  enthalten;  das  gedieht  i^  nur  eine  Überarbeitung  des  von  einem  schreibes 
Eonrad  am  ende  des  10.  Jahrhunderts  verfassten  ursprünglichen  werkes;  die  sage  ist 
dieselbe  wie  die  indische  von  Kama,  die  im  Mahabharata,  wenn  auch  entstellt,  vor- 
liegt. Es  ist  bekant,  welchen  streit  diese  aufstellungen  in  der  deutschen  philologie 
erregten,  um  so  mehr  darf  hier  von  einer  beurteilung  derselben  abgesehen  werden.; 
ganz  ungeziemend  Wäre  es  auf  den  persönUcheB  Charakter  dieses  Streites  einzugeIvMi* 
Auf  die  „Untersuchungen  über  das  Nibelungenlied*'  folgte  bald  die  historische  Unter- 
suchung: „  Kelten  und  Germanen  "  (Stuttgart  1855).  Der  bisher  namentlich  von  den 
grfindem  der  neueren  Sprachwissenschaft  angenommenen  ansieht  entgegen  wird  darin 
die  identität  der  Kelten  und  Germanen  aufgestellt,  und  die  verwantschaftliche  verbin** 
düng  der  ersteren  mit  den  heutigen  Gaelen  geläugnet  Die  übrigeai  werke  Holtz- 
manns aus  seiner  Heidelberger  zeit  sind  zum  teil  ausgaben,  in  denen,  zumeist  der  in 
den  Untersuchungen  als  ursprünglich  angenommene  text  der  Nibelungen  teils  mit 
kritischem  apparat  (Stuttgart  1857),  teils  zum  schulgebrauoh  (Stuttgart  1858  und 
1863)  hergestellt  wurde,  aber  auch  die  Klage  (Stuttgart  1859)  und  der  grosse  Wolf- 
dietrich (Heidelberg  1865),  der  letztere  zum  ersten  male,  erschienen.  Zum  anderen 
teile  aber  waren  es  zahlreiche  aufsätze  und  recensionen  in  Pfeiffers  Germania  von 
1856  ab;  die  gegenstände  der  ersteren  werden  aus  dem  unten  folgenden  verzeiehniase 
ersichtlich  sein.    Endlich  beabsichtigte  HöUzmann  noch,  die  fruchte  seiner  langjihri- 


204  IfABTIM 

gen  grammatischen  Studien  auf  dem  gebiete  des  Altdeutschen  zu  sammeln  und  in 
einem  grösseren  werke  darzustellen.  Er  konte  nur'  die  erste  abteilung  des  ersten 
bandes  veröffentlichen,  die  specielle  lautlehre  des  Gotischen,  Altnordischen ,  Altsäch- 
sischen ,  Angelsächsischen  und  Althochdeutschen.  Dass  die  zunehmende  krankheit  und 
der  drohende  tod  die  Vollendung  dieses  Werkes  verhinderten,  war  ihm  in  den  letzten 
tagen  ein  besonders  schmerzlicher  gedanke.    Er  starb  am  3.  juli  1870. 

Holtzmann  war  zweimal  verheiratet:  seine  erste  ehe,  während  seines  aufent- 
haltes  in  Karlsruhe  geschlossen ,  wurde  in  Heidelberg  durch  den  tod  der  gattin  gelöst. 
Aus  beiden  eben  hatte  er  kinder,  und  das  glücklichste  familicnleben  war  ihm  beschie- 
den. Auch  an  weiterer  geselligkeit  nahm  er  gern  teil,  und  obwol  in  den  letzten  jäh- 
ren seine  Schwerhörigkeit  ihm  vieles  versagte,  so  erfreute  er  doch  den  kreis  seiner 
bekanten  durch  seine  liebenswürdige,  oft  heitergelaunte  umgangsweise.  Seine  ehe- 
maligen Zuhörer  rühmen  sein  freundliches  entgegenkommen ,  das  unbemittelten  gegen- 
über selbst  zur  woltätigkeit  wurde.  Für  seine  milde  anderen  auslebten  gegenüber 
glaubt  der  erstatter  dieses  berichtes  dankbar  anführen  zu  müssen,  dass  Holtzmann 
ihm,  trotz  seiner  in  manchen  punkten  abweichenden  wissenschaftlichen  Überzeugung, 
die  habilitation  an  der  Heidelberger  Universität  nur  erleichtert  hat.  Diese  milde 
beurteilung  anderer  lässt  sich  wol  als  ein  zug  des  süddeutschen  Wesens  auffassen: 
wie  Uhland  jedem  sänger  im  deutschen  dichterwald  das  recht  des  hervortretens  zu- 
spricht, so  urteilte  Holtzmann  über  die  freiheit  der  wissenschaftlichen  bestrebungen. 
Wo  er  diese  durch  harte  urteile  beeinträchtigt  glaubte,  zögerte  er  nicht  mit  schar- 
fer entgegnung.  Dass  die  strenge  der  anforderungen ,  die  jeder  redliche  forscher  an 
sich  selbst  stellen  wird,  auch  anderen  gegenüber  berechtigt  ist,  dass  sie  namentlich 
für  die  mehrzahl  der  lernenden  eine  notwendige  schule  bildet,  erkante  er  zu  wenig 
an;  und  er  hat  daher  namentlich  Lachmanns  auftreten  gegen  v.  d.  Hagen  entschie- 
den unrecht  beurteilt. 

Holtzmanns  wissenschaftliche  Verdienste  liegen  mehr  auf  der  grammatischen 
Seite  der  philologie,  als  auf  der  litterarhistorischen.  Eindringender  Scharfsinn  und 
kühnheit  der  combination  waren  ihm  mehr  eigen  als  das  hingebende  versenken  in  das 
Wesen  eines  Schriftstellers,  einer  dichtungsgattung^  einer  litteraturperiode.  Er  war 
daher  auch,  wie  es  scheint,  im  allgemeinen  glücklicher  in  der  behandlung  der  älte- 
ren sprach-  und  culturzustände ,  als  in  der  beurteilung  der  späteren  zeit.  ^  Zwei 
eigenschaften  der  wissenschaftlichen  richtung  Holtzmanns  sind  ganz  besonders  her- 
vorzuheben: einmal  seine  grossartige  consequenz,  die  von  einem  als  sicher  angenom 
menen  punkte  aus  jede  Schlussfolgerung  zog;  und  andererseits  seine  vollkommene 
Unabhängigkeit  des  eigenen  Urteils.  Für  diese  freiheit  der  überlieferten  Wissenschaft 
gegenüber  hat  er  selbst  einmal  einen  treffenden  ausdruck  gebraucht,  in  seinem  werke 
über  die  Kelten:  „Eine  Wahrheit  ist  immer  fruchtbar,  und  wenn  eine  ansieht  längere 
zeit  festgehalten  wird,  ohne  durch  aufschlüsse,  die  sie  bringt,  auf  entdeckungen,  die 
ihre  natürliche  folge  sind,  durch  licht,  das  sie  fortwährend  verbreitet,  sich  als  Wahr- 
heit zu  beurkunden,  so  muss  man  endlich  zweifeln,  ob  sie  mehr  sei  als  eine  überlie- 
ferte, aber  falsche  meinung.'* 

Aus  dieser  Originalität  seines  forschens  erklärt  sich  die  menge  von  neuen 
ansichten,  die  er  aufgestellt  hat.  Um  so  wichtiger  erscheint  es,  dass  die  kleineren 
abhandlungen ;  von  welchen  einige  aus  buchhändlerischen  gründen  keine  grosse  ver- 

1)  Über  die  neuere  blüteperiodo  der  deutschen  litteratur  hat  er  nur  eine  schrift 
veröffentliobt ,  einen  für  freunde  bestirnten  vertrag,  in  welchem  er  Schiller  vor  dem  vor- 
würfe der  feiudseligkeit  gegen  das  Christentum  in  schuts  nahm. 


ADOLF  HOLTZMAHN  205 

breitong  gefanden  haben,  von  professor  Holland  gesammelt  neu  erscheinen  soUen. 
Vielleicht  ist  dann  anch  ein  eingehenderer  bericht  über  das  leben  und  wirken  des 
verstorbenen  zu  erwarten,  als  er  hier  gegeben  werden  konnte.  Auch  der  im  nach- 
lasse vorgefundene  teil  der  grammatik  soll  noch  veröflfentlicht  werden ,  sowie  die  Vor- 
lesungen Über  die  Germania  des  Tadtus,  deren  herausgäbe  A.  Holder  übernommen 
hat.  Von  diesem  hat  der  berichterstatter  einige  in  die  vorstehende  lebensübersicht 
aufgenommene  nachweisungen  erhalten;  ganz  besonders  aber  ist  er  bei  der  ausarbei- 
tung  derselben  von  der  familie  des  verstorbenen  zu  danke  verpflichtet  worden ,  welche 
über  eine  reihe  von  punkten  die  gütigste  auskunft  gewährt  hat. 

FRBIBUBG   I.  B.  EBMST  MARTIN. 

VERZEICHNIS   DER  SCHRIFTEN  ADOLF  HOLTZMANNS   NACH   DER 

ZEITFOLGE  GEORDNET. 

1836.  1.  Isidori  Hispalensis  de  nativitate  Domini,  passione  et  resurrectione,  regno 
atque  judicio  epistolae  ad  Florentinam  sororem  versio  francica  saeculi  octavi 
quoad  superest,  ex  codice  Parisiensi  edidit,  annotationibus  et  glossario 
instruxit  Adolfus  Holtzmann.   Carolsruhae  1836. 

1841.  2.  Bruchstücke  aus  Walmikis  Ramajana ,  übersetzt  von  Adolf  Holtzmann.  Karls- 
ruhe 1841. 

3.  Über  den  griechischen  Ursprung  des  indischen  tierkreises  von  Adolf  Holtz- 
mann.   Karlsruhe  1841. 

4.  Indravidschaja.    Eine   episode  des  Mahäbharata,   herausgegeben  von  Adolf 
Holtzmann.    Karlsruhe  1841. 

1843.  5.  Rama.    Ein  indisches  gedieht  nach  Walmiki.     Deutsch  von  Adolf  Holtz- 

mann.   Zweite  vermehrte  aufläge.    Karlsruhe  1843. 
6.  Über  den  umlaut.    Zwei  abhandlungen  von  Adolf  Holtzmann.    Karlsruhe 
1843. 

1844.  7.  Über  den  ablaut  von  Adolf  Holtzmann.    Karlsruhe  1844. 

1845.  8.  Beiträge  zur  erklärung  der  persischen  keilinschriften  von  Adolf  Holtzmann. 

I.  heft.    Karlsruhe  1845. 

9.  Indische  sagen  von  Adolf  Holtzmann.  Teil  L    Karlsruhe  1845. 

1846.  10.  Indische  sagen  von  Adolf  Holtzmann.  Teil  II.    Karlsruhe  1846. 

1847.  11.  Indische  sagen  von  Adolf  Holtzmann.  Teil  IH.    Karlsruhe  1847. 

1851.  12.  in  der  Zeitschrift  der  deutschen  morgenländischen  gesellschaft,  V.  band, 

Leipzig  1851 ,  s.  145  —  178  :  Über  die  zweite  art  der  achämenidischen  keil- 
schrift ,  von  hofrat  Adolf  Holtzmann  in  Karlsruhe. 

1852.  13.  in  der  Zeitschrift  der  deutschen  morgenländischen  geseUschaft,   band  VI, 

Leipzig  1852,  s.  35—47:  Über  die  zweite  art  der  achämenidischen  keilschrift, 
von  hofrat  Adolf  Holtzmann. 

14.  Über  das  Verhältnis  der  Malberger  glosse  zum  texte  der  Lex  Salica. 
Eine  abhandlung  von  Adolf  Holtzmann,  grossherzoglich  badischem  hofrat, 
ordentlichem  professor  der  älteren  deutschen  spräche  und  litteratur  an  der 
Universität  Heidelberg,  ritter  des  Zähringer  löwen-  sowie  des  roten  adler- 
ordens  dritter  klasse ,  mitglied  der  deutschen  morgenländischen  geseUschaft, 
bei  eröfi&iung  des  neu  gegründeten  lehrstuhls  der  deutschen  philologie  im 
mai  1852  seinen  collegen  gewidmet 

15.  in  der  Zeitschrift  für  vergleichende  Sprachforschung  auf  dem  gebiete  des 
deutschen,  griechischen  und  lateinischen,  herausgegeben  von  Th.  Aufrecht 
und  Ad.  Kuhn,  L  band,  BerHn  1852,  s.  483—491:  Vyäsa  und  Homer. 


906  MABTIN,    Ai>Oti^  HOLTZMANN 

1854.  16.  Untersuchungen  über  das  Nibelungenlied  von  Adolf  Holtzmann.    Stuttgart 

1854. 

17.  in  der  Zeitschrift  der  deutschen  morgenländischen  gesellschaft ,  band  VIII, 
Leipzig  1854,  s.  329 — 345:  Über  die  zweite  art  der  achämenidischen  keil- 
schrift,  von  professor  Adolf  Holtzmann.  Portsetzung;  und  s.  539 — 547: 
Neue  inschriften  in  keilschrift  der  ersten  und  zweiten  art,  von  professor 
Adolf  Holtzmann. 

18.  Indische  sagen  von  Adolf  Holtzmann ,  zweite  verb.  aufläge.  Stuttgart  1855. 

1855.  19.  Kampf  um  der  Nibelunge   bort  gegen  Lachmanns  nachtreter.    Von  Adolf 

Holtzmann.    Stuttgart  1855. 
20.  Kelten  und  Germanen.    Eine  historische  Untersuchung  von  Adolf  Holtzmann. 
Stuttgart  1855. 

1856.  21.  in  Germania,  vierteljahrsschrift  für  deutsche  altertumskunde ,  herausgegeben 

von  Franz  Pfeiffer,  I.  band,  Stuttgart  1856,  s.  110  —  117.  Die  alten  glos- 
sare  L  —  217  —  223:  Über  das  deutsche  duodecimalsystem.  —  341 — 346: 
Regiert  die  präposition  mü  den  accusativ?  —    462  —  475:  Zum  Isidor. 

1857.  22.  Das  Nibelungenlied   in   der   ältesten   gestalt  mit   den   Veränderungen   des 

gemeinen  textcs.    Herausgegeben  und  mit  einer  einleitung  versehen  von 
professor  Adolf  Holtzmann.    Stuttgart  1857. 
23.  in  PfeilFerg  Germania  II  (Stuttgart  1857)  s.  1—48:  Der  dichter  des  Anno- 
liedes. —  214 — 217:  Zur  und  st*.  —  424—425:  Das  grosshundert  beiden 
Goten.  —   448  — 449:  Sihora.  —  464 — 466:  Min  im  vocativ. 

1858.  24.  Das  Nibelungenlied  in  der  ältesten  gestalt.    Herausgegeben  und  mit  einem 

Wörterbuch  vei*sehen  von  prof.  Ad.  Holtzmann.  Schulausgabe.  Stuttgart  1858. 
25.  in  Pfeiffers  Germania  III  (Stuttgart  1858)  s.  51  —  56:  Nibelungen,  bruch- 
stüok  R.  —  307  —  328:  Meistergesänge  des  XV.  Jahrhunderts. 

1859.  26.  Die  Klage  in  der  ältesten  gestalt  mit  den  Veränderungen  des  gemeinen  t«x- 

tes,  als  anhang  zum  Nibelungenlied  herausgegeben  und  mit  einem  wörter- 
buche  und  einer  einleitung  versehen  von  prof.  Ad.  Holtzmann.  Stuttg.  1859. 
27.  in  Pfeiffers  Germania  IV  (Wien  1859),  s.  315—337:  Nibelungenhandschrift  k. 
Der  Nibelunger  Liet. 

1860.  28.  Zur  Schillerfeier.     Ein  Vortrag,   gehalten  in  der  dienstagsgesellschaft  zu 

Heidelberg,  den  8.  november  18e59.     (Als  manuscript  fßr  den   Verfasser 
gedruckt).    Heidelberg  1860. 
29.  in  Pfeiffers  Germania  V  (Wien  1860),    s.  210  —  219:   Meistergesänge  des 
XV.  Jahrhunderts.  —  S.  444—448:  Aus  der  Colmarer  liederhandschrift. 

1861.  30.  in  Pfeiffers  Germania  VI  (Wien  1861),  s.  1  —  24:  Das  adjectiv  in  den  Nibe- 

lungen. 

1862.  31.  in  Pfeiffers  Germania  VII  (Wien  1862),  s.  196—225:  Zum  Nibelungenliede. 

1863.  32.  in  Pfeiffers  Germania  VDI  (Wien  1868),  s.  257  —  268:   Das  gotische  adjec- 

tivum.  —    385—414:  Die  alten  gloasare  II.  —    489  —  497:  Zu  Beowulf. 
33.  Schulausgabe  des  Nibelungenliedes  in  der  ältesten  gestalt,  herausgegeben 
und  mit  einem  wörterbuche  versehen  von  professor  Adolf  Holtzmann.  Zweite 
umgearbeitete  aufläge.    Stuttgart  1863. 

1^864.  34.  in  Pfeiffers  Germania  IX  (Wien  1864),  b.  1  — 13:  Der  name  Germanen.  — 
179—191:  Das  lange  a.  —  289—298:  Zum  Hfldebtandsliede. 

1865.  35.  Der  grosfTeWolfdietrich,  herausgegeben  von  Ad.  Holtzmann.  Heidelberg  1865. 

1866.  36.  in  Pfeiffers  Germania  XI  (Wien  1866) ,  s.  30  —  6^ :  Althochdeutsche  glossare 

und  glosseii. 


JULIIIB  BBAKSLMAKK  207 

1867.  37.  in  Pfeiffers  Gennaiiia  Xu  (Wien  1867),  s.  257  —  284:  Artus. 

1870.  38.  Altdeutsche  grammatik ,  umfassend  die  gotische ,  altnordische,  altsächsische, 

angelsächsische  und  althochdeutsche  spräche.    Von  Adolf  Holtzmann.  I.  bd. 

I.  abteilung.    Die  specielle  lautlehre.    Leipzig  1870. 


JULIUS   BRAKELMANK 

Der  gute  des  herm  prorector  dr.  Legerlotz  in  Soest  verdanke  ich  die  nachste- 
henden lebensnachrichten  über  diesen  begabten  und  kentnisreichen  mitarbeiter  unserer 
Zeitschrift,  der  im  beginne  der  fruchtbaren  entfaltung  seiner  wissenschaftlichen  laufbahn, 
in  vollster  frischer  jugendkraft  den  heldentod  fürs  deutsche  Vaterland  gestorben  ist. 

Fbisdbich  Wilhelm  Julius  Bbakslmann,  geb.  den  23.  Januar  1844,  war  das 
einzige  kind  eines  kaufoianns  zu  Soest  in  Westfalen.  Zu  einem  sehr  kräftigen  und 
munteren  knaben  heranwachsend  suchte  er  doch  nur  selten  die  Spielplätze  seiner 
altersgenossen ,  sondern  erfreute  sich  lieber  daheim  an  seinem  puppentheater  und  sei- 
nen büchem.  Im  herbste  1853  auf  das  archigymnasium  zu  Soest  getan,  machte  er 
nicht  die  von  seiner  ungewöhnlichen  begabung  erwarteten  fortschritte ,  vielmehr  brachte 
er  es  als  schüler  der  unteren  klassen  nie  über  einen  mittleren  platz ,  wegen  entschie- 
dener abneigung  gegen  manche  fächer,  namentlich  gegen  mathematik  und  gramma- 
tik.  Um  so  eifriger  las  er,  was  er  von  historischen  und  von  werken  der  deutschen 
und  der  französischen  litteratur  erhaschen  konte,  namentlich  einen  grossen  teil  der 
Schriften  Voltaires.  So  früh  entwickelte  sich  die  richtung,  die  er  später  eingehalten 
hat.  Auch  der  schaffenstrieb  regte  sich  schon  mächtig  in  ihm ,  und  fand  seineu  aus- 
druck  in  gedichten  und  sogar  in  dramen ,  von  denen  sich  bruchstücke  erhalten  haben, 
die  durch  gedanken  und  geschick  der  formgebung  überraschen.  So  absonderliche 
neigungen  und  bestrebungen  fanden  aber  wenig  beifall  bei  seinen  mitschülem,  mit 
deren  mehrzahl  er  deshalb  jahrelang  auf  dem  kriegsfusse  stand,  was  nicht  ohne  ein- 
fluss  auf  seine  weitere  entwickelung  blieb ,  auf  die  Stärkung  des  bewustseins  von  sei- 
ner geistigen  Überlegenheit  und  auf  seine  neigung  zur  satire. 

Zu  ostem  1859  zog  er  mit  seiner  mutter  nach  Essen  und  ward  in  die  unter- 
secunda  des  dortigen  gymnasiums  aufgenommen,  dem  er  bis  zu  seinem  abgange  auf 
die  Universität  im  herbste  1863  angehörte.  Hier,  in  den  oberen  klassen,  genügte  er 
den  ansprüchen  der  schule  in  vollständigerer  weise,  und  fand  auch  bald  bei  seinen 
mitschülem  anerkennung  und  liebe;  doch  blieben  seine  wissenschaftlichen  neigungen 
dieselben,  und  festigten  sich  so,  dass  er  schon  als  secundaner  sich  das  Studium  der 
germanischen  und  besonders  der  romanischen  litteraturen  zur  lebensaufgabe  stellte, 
und  zugleich  auch  fleissig  wichtigere  und  seltenere  bücber  aus  diesen  gebieten  aufzu- 
stöbern und  zu  erwerben  trachtete. 

Nach  ehrenvollem  abiturientenexamen  besuchte  er  von  michaelis  1863  bis  ostem 
1867  die  Universität  zu  Berlin.  Inzwischen  rief  ihn  der  sommer  1866  ins  feld,  zur 
beteiligung  am  Jfainfeldzuge  unter  Vogel  von  Falckenstein.  Während  seiner  unitersi- 
tätszeit  entsagte  er  dem  dichten  gänzlich,  und  studierte  neben  der  romanischen  phi- 
lologie  auch  fleissig  und  gründlich  klassische  und  germanische  und  handschriftenkunde. 
Seine  romanischen  Studien  fanden  namentlich  f5rderung  in  dem  unter  pvofessop  Hei^ 
rigs  leitung  stehenden  seminare  für  lehrer  der  neueren  sprachen. 

Im  april  1867  Übernahm  er  eine  hauslehrerstelle  bei  dem  herrenhauanütgliBde 
grafen  Brinski  zu  Samostrzel  im  reg^erungsbezirk  Bromberg.  Die  gediegene  lÖAung» 
einer  preisaufgabe  „Histoire  de  Tetade  de  langue  d*oll''  erwirlcte  ihm  jetstainreite^ 


208  JTJLIU8  BBAKBLMANN 

Stipendium  für  Paris,  was  für  seinen  weiteren  lebensgang  entscheidend  wurde.  Denn 
rasch  entschloss  er  sich  nun  zur  ergreifung  der  universitätslaufbahn ,  promovierte  in 
Göttingen  mit  einer  dissertation  über  Giovan  Francesco  Straparola  da  Caravaggio 
(Göttingen  1867.  47  s.)  und  begann  darnach  in  Paris  zunächst  die  ihm  aufgetragene 
abschrift  der  wichtigen  altfranzösischen  liederhandschrift  Fonds  Mouchet  8,  während 
er  zugleich  seine  vergleichenden  studien  der  romanischen  sprachen  und  litteraturen, 
so  wie  des  Vulgärlatein  und  der  mittelalterlichen  lateinischen,  der  mittelhochdeut- 
schen, mittelniederländischen,  mittelgriechischen,  bretonischen  und  altenglischen  lit- 
teraturen  eifrig  fortsetzte.  Aus  der  eingehenden  beschäftigung  mit  der  altfranzösi- 
schen lyrik  und  der  durchforschung  einer  beträchtlichen  zahl  von  liederhandschriften 
erwuchs  der  entschluss  zu  einer  neuen  ausgäbe  der  Berner  liederhandschrift  in  zwei 
bänden,  welcher  sich  durch  das  entgegenkommen  des  Verlegers  bald  erweiterte  zu 
dem  plane  einer  auf  drei  bis  vier  bände  veranschlagten  vollständigen,  chronologisch 
geordneten ,  und  von  einleitungen  begleiteten  kritischen  ausgäbe  sämtlicher  erhaltener 
altfranzösischer  lyrischer  dichtungen.  Von  diesem  umfassenden  und  mit  methodischer 
kritik  durchzuführenden  unternehmen  durfte  die  Wissenschaft  um  so  grösseren  gewinn 
hoifen,  weil  die  Franzosen  selbst,  wie  Tarbe,  Dinaux  u.  a. ,  in  ihren  ausgaben  alt- 
französischer lyrischer  dichtungen  bisher  nur  unvollständiges  geliefert  und  mit  dilet- 
tantischer ungründlichkeit  gearbeitet  hatten,  während  den  deutschen  herausgebem 
Wackemagel  und  Mätzner  ein  zu  geringes  material  zur  Verfügung  gestanden  hatte. 
Rüstig  ward  band  ans  werk  gelegt.  Im  frühjahr  1869  wurden  die  Bemer  handschrif- 
ten  an  ort  und  stelle  ausgeschöpft  und  bald  darnach  der  druck  begonnen;  im  herbste 
desselben  Jahres  liess  sich  bereits  der  abschlnss  des  ersten  band  es  im  manuscripte 
ersehen,  abgesehen  von  der  noch  auszuarbeitenden  einleitung;  am  1.  october  1870 
sollte  nach  dem  contractlichen  abkommen  das  manuscript  des  dritten  bandes  einge- 
liefert werden. 

Neben  diesen  weitausgreifenden  arbeiten  und  studien  entstanden  noch  eine 
reihe  von  äbhandlungen  und  aufsätzen.    So  erschienen 

In  Herrigs  archive  für  das  studium  der  neueren  sprachen  und  litteraturen : 

Die   drei  und  zwanzig  altfranzösischen  Chansonniers  in  bibliotheken  Frankreichs, 

Englands ,  Italiens  und  der  Schweiz.    Bd.  42.  (1868). 
Die  altfranzösische  liederhandschrift  no.  389  der  stadtbibliothek  zu  Bern.  (Fonds 

Mouchet  8  der  Pariser  kaiserlichen  bibliothek.)    Bd.  42.  43.    (1868). 
Kritischer  anhang  zu  der  abhandlung  über  die  Chansonniers.    Bd.  43.    (1868). 

In  Lemckes  Jahrbuch  für  romanische  und  englische  litteratur: 

Die  pastourelle  in  der  nord-  und  südfranzösischen  poesie.    Ein  beitrag  zur  fran- 
zösischen litteraturgeschichte  des  mittelalters  nebst  einem  anhange  ungedruck- 
ter pastourellen.    Bd.  9.    (1868). 
Zur  Bemer  liederhandschrift  231.    Bd.  10.    (1869). 
Veriorene  handschriften.    Bd.  11.    (1870). 

Eecension  von  TArt  d' Amors  und  li  Remedes  d*Amors  von  Jacques  d*Amiens 
ed.  Körting.    Bd.  S,    (1868). 

Ausserdem  lieferte  Brakeimann  noch  beitrage  an  eine  nicht  unbeträchtliche 
zahl  von  Zeitschriften  und  Zeitungen:  an  die  grenzboten,  unsere  zeit,  Lehmanns 
magazin,  die  debatte,  den  Würtembergischen  Staatsanzeiger,  den  Hamburger  corre- 
spondenten,  die  Leipziger  illustrierte,  die  Angsburger  allgemeine,  die  Spenersche, 
die  Vossische,  die  national-  und  die  Rheinische  allgemeine  zeitung.  Es  waren  das 
besprechungen  von  büchern,  litterar-  und  kunstgeschichtliche  aufsätze,  besonders  aus 


JULIUS  B&AKfiÜJCAKK  209 

dem  bereiche  der  romanischeB  weit,  politische  erörterungen  und  mitteilungen  aus  dem 
Pariser  leben  und  treiben.  Mit  dem  französischen  und  namentlich  mit  dem  Pariser 
leben  war  Brakelmann  so  vertraut,  dass  seine  freunde  ihn  scherzend  einen  kleinen 
Franzosen  nanten,  doch  war  und  blieb  er  durchaus  deutsch,  wie  er  auch  die  seele 
des  wöchentlich  sich  versammelnden  Vereins  deutscher  gelehrten  in  Paris  war. 

Als  auf  Frankreichs  frevelhaften  friedensbruch  und  angriff  ganz  Deutschland 
wie  ein  mann  sich  erhob,  folgte  auch  Brakelmann  am  17.  juli  freudig  und  mit  Sie- 
geszuversicht dem  rufe  des  königs,  um  im  16.  Westfälischen  regimente  als  viccfeld- 
webel  einzutreten.  Vier  wochen  später,  am  16.  august,  starb  er  zu  Mars  la  Tour 
den  heldentod  fürs  deutsche  Vaterland.  Schon  im  beginne  seiner  gelehrten  -  und  sei- 
ner siegeslaufbahn  abberufen,  hat  er  doch  nicht  vergeblich  gelebt  und  gestrebt. 
Mögen  diese  Zeilen  dazu  beitragen  ihm  ein  dankbares  und  ehrendes  andenken  zu 
erhalten. 

Dreizehn  im  drucke  vollendete  bogen  seines  grossen  Werkes  hatte  Brakelmann 
in  die  heimat  mitgebracht;  seine  bucher  und  papiere  waren  verpackt  in  Paris  zurück- 
geblieben. 'Kurz  nach  dem  tode  des  herausgebers ,  muste  bei  der  ebenso  schmäh- 
lichen als  törichten  austreibung  der  Deutschen  im  september  d.  j.  auch  der  Verle- 
ger, der  besitzer  der  rühmlichst  bekanten  buchhandlung  A.  Franck,  der  das  werk 
mit  Elzevier  -  typen  und  Vignetten  schön  ausgestattet  und  ein  nicht  unbeträchtliches 
kapital  darauf  verwendet  hatte,  aus  Paris  weichen. 

Für  unsere  Zeitschrift  hat.  Brakelmann  die  beiden  in  diesem  hefte  enthaltenen 
aufsätze  geliefert:  die  abhandlung  über  die  Nitharthandschrift  und  die  Strasburger 
cide  und  die  besprechung  von  Martins  ausgäbe  des  Besant  de  dieu.  Auf  mein  ersu- 
chen hatte  er  femer  zugesagt  eine  historisch  -  kritische  Übersicht  der  leistungen  und 
bestrebungen  auf  dem  gebiete  der  altfranzösischen  philologie  in  Frankreich  selbst, 
seitdem  dort  der  einfluss  deutscher  Wissenschaft  wahrnehmbar  geworden  war.  Es 
sollte  diese  arbeit,  für  welche  er  bereits  seit  geraumer  zeit  material  gesammelt  und 
zum  teU  auch  schon  redigiert  hatte,  sich  über  alle  föcher  der  altfranzösischen  philo- 
logie, über  grammatik,  metrik,  accentlehre,  lexicographie ,  ausgaben  und  litteratur- 
gcschichte  erstrecken ,  und  deren  äussere  und  innere  geschichte  darlegen.  „  Es  war," 
wie  er  sich  selbst  darüber  aussprach,  „darauf  abgesehen,  eine  Orientierung  auf  dem 
ganzen  felde  der  Wissenschaft  zu  geben,  und  das  geleistete  in  seinem  organischen 
zusammenhange,  wie  das  noch  zu  leistende  übersichtlich  darzustellen."  Auch  die  Ver- 
tretung der  altfranzösischen  philologie  im  höheren  unterrichte  gedachte  er  dabei  aus 
eigener  anschauung  zu  charakterisieren.  Endlich  hatte  er  noch,  auf  mein  mit  seinen 
eigenen  absiebten  zusammentreffendes  ersuchen ,  in  aussieht  gestellt  eine  Untersuchung 
des  Verhältnisses  der  deutschen  minnesinger  zu  den  nordfranzösischen  trouv^res. 

Zum  Schlüsse  möge  noch  die  äusserung  eines  bewährten  fachgenossen  und  freun- 
des hier  platz  finden,  welcher  mir  schreibt:  „Ich  bin  während  meines  sechsmonat- 
lichen aufenthaltes  in  Paris,  im  sonmier  1868,  in  beständigem  Umgänge  mit  ihm 
gestanden,  habe  seitdem  öfters  briefe  mit  ihm  gewechselt,  in  welchen  er  öfters  mir 
mit  grosser  gefälligkeit  wissenschaftliche  fragen  erledigte,  und  habe  ihn  zuletzt  ostem 
dieses  Jahres  in  Paris  gesehen  In  seinem  Charakter  ist  ein  zug  besonders  hervorzu- 
heben ,  seine  Offenheit  und  geradheit.  Gerade  in  Paris ,  wo  auf  die  formen  so  sehr 
gehalten  wird ,  trat  diese  eigentümlichkeit  auf  das  schärfste  hervor.  Mochten  anföng- 
lich  manche  seiner  urteile  verletzend,  rücksichtslos  erscheinen,  so  trat  bei  längerem 
umgange  die  ehrlichkeit  und  mannhaftigkeit ,  aus  der  diese  urteile  hervorgegangen 
waren,  um  so  gewinnender  hervor.    Den  Franzosen  imponierte  gerade  dieser  charak- 

ZB1T8CHR.    F.   DEUTSCHS  PHILOL.    BT).  III.  14 


210  JULIUS  BRAKELMANM 

terzug  Brakelmanns  ganz  besonders.  Seine  wissenschaftliche  bildung  zeigte  sich  auch 
als  eine  wesentlich  durch  eigene  feaft  gewonnene.  Als  er  studierte,  wurden  in  Ber- 
lin keine  Vorlesungen  über  Altfranzösisch  gehalten.  Aber  was  die  litteratur  des  faches 
bot,  hatte  er  mit  seltenem  fleisse  und  seltener  genauigkeit  sich  angeeignet.  Seine 
sanilung  der  altfranzösischen  lyriker,  die  nun  wol  fragment  bleiben  wird,  würde  ihm 
einen  sehr  ehrenvollen  namen  gewonnen  haben.  Ich  kann  den  Verlust  Brakelmanns 
als  freund  und  f|chgeuosse  nur  innig  bedauern.  Sein  leben  ist  seines  heldentodes 
würdig  gewesen." 

HALLE,  WEIHNACHTEN    1870.  J.    ZACHEB. 


Le  besant  de  diett  von  Guillaume  le  clerc  de  Normandie  mit  einer  ein- 
leitung  über  den  dichter  und  seine  sämmtlichen  werke  herausge- 
geben von  £ni8t  Martin.  Halle ,  Verlag  der  Buchhandlung  des  Waisenhauses, 
1869.    8.    XJiVm  und  124  s.     n.  1  thlr. 

Das  vorliegende  didactische  gedieht  aus  dem  anfange  des  13.  Jahrhun- 
derts, nach  einer  einzigen  handschrift  der  Pariser  kaiserlichen  bibliothek  zum  ersten 
male  herausgegeben,  ist  für  die  spräche  und  litteratur  jenes  Zeitraums  in  gleicher 
weise  interessant.  Der  Verfasser,  ein  herumziehender  dichter,  der  aus  dem  dichten 
und  recitieren  ein  gewerbe  machte,  wie  mehrere  stellen  seiner  erhaltenen  werke 
beweisen,  also  ein  Jongleur,  nennt  sich  bei  verschiedenen  gelegenheiten  clerc;  diese 
bezeichnung,  wie  auch  seine  ganze  geistesrichtung,  zahlreiche  anführungen  von  quellen, 
deren  benutzung  kenntnis  des  lateinischen  voraussetzt,  und  anspielungen  auf  die  göt- 
ter  -  und  heldensage  des  altertums  (Martin ,  XLU  ff.)  deuten  darauf  hin ,  dass  er  eine 
geistliche  erziehung  erhalten.  Priester  ist  er  nicht  geworden,  obgleich  das  stück  2 
der  den  Besant  enthaltenden  handschrift,  das  der  Schreiber  und  Le  Clerc  ihm  bei- 
legen (vgl.  weiter  unten),  in  der  schlusswidmung  hat:  Prestre  sui  ordevU  —  er  hatte 
ja  weih  und  kinder  (Besant,  v.  96  —  98).  Seine  dichterische  tätigkeit  war  für  jene 
zeit  ziemlich  vielseitig,  wie  schon  seine  erhaltenen  gedichte,  die  wol  nur  einen  teil 
seiner  sämtlichen  werke  ausmachen,  zur  genüge  zeigen:  es  befindet  sich  darunter 
ein*  nicht  allzu  feines  fMiau,  ein  ziemlich  ausgedehntes  rittergedicht ,  das  sich  dem 
Artussagenkreise  einreiht,  ein  bestiaire  allegorisch -moralischen  Inhalts,  der  fast  in 
ebensoviel  handschriften  erhalten  ist ,  als  der  Bestiaire  cTamowa  des  Richard  de  Fur- 
nival,  endlich  eine  reihe  minder  ausgedehnter  gedichte  didactisch- moralischer  ten- 
denz,  unter  welchen  der  Besant  de  Dien  nach  umfang  und  Wichtigkeit  den  ersten 
rang  einnimt.  Diese  werke  scheinen  sich  zum  teil  einer  ziemlich  grossen  Verbreitung 
und  beliebtheit  erfreut  zu  haben ,  wie  für  den  bestiaire  die  zahlreichen  handschriften 
und  die  Übersetzung  ins  Altenglische  (Martin  XXIII),  für  den  nur  in  zwei  handschrif- 
ten erhaltenen  Fregus  eine  mittelniederländische  bearbeitung  (ib.  XX)  zeigen.  Ausser 
dem  litterarhistorischen  Interesse  der  werke  Guillaumes  ist  ihr  sprachliches  Interesse 
nicht  gering:  die  werke,  von  denen  wir  nicht  allein  namen  und  Vaterland  des  dich- 
ters  und  die  spräche ,>   in  der  er  schrieb,   sondern  auch  die  genaue  abfassungszeit 

1)  Dass  diese  durchaus  nicht  mit  notwendigkeit  aus  dem  vaterlande  des  dich- 
tere folge,  zeigt  z.  b.  (von  Quenes  de  Bethune  nicht  zu  reden)  der  Florimont  des 
Aymon  de  Varennes  und  die  normannische  Vi*  de  St.  Thomas  de  Canterbury  von  dem 
Picarden  Garnier  de  Pont  -  Sainte  -  Maxence.  Allerdings  hatte  Guillaume  nicht,  wie  diese 
beiden ,  einen  besonderen  grund ,  in  einem  anderen  dialecte  zu  schreiben ,  als  in  dem  sei- 
ner heimat. 


ÜB.  LS  BEBAKT  BS  DIEU  BD.  MABTIN  211 

kennen  y  wie  für  zwei  hauptwerkeGoillaumes,  sind  nicht  allzu  zahlreich  und  zur  kri- 
tischen hehandlung  vorzugsweise  berufen. 

Die  werke  Guillaumes  sind  bisher  gegenständ  einer  wissenschaftlich  ernsten 
bearbcitung  kaum  geworden,  obgleich  sie  es  aus  den  angeführten  gründen  wol  ver- 
dienten. Meon  hat  das  fabliau  du  presire  et  d^AUson  nach  der  handschrift  Fonds 
St.  Germain  1239  (jetzt  19152)  fol.  49d  herausgegeben;  sein  abdruck,  für  jene  zeit 
sorgfältig  genug,  genügt  heute  nicht  mehr.  Den  Fregus  hat  Fr.  Michel  nach  der 
Pariser  handschrift  ir)53  für  den  Abbotsford - club  herausgegeben:  diese  Veröffent- 
lichung ,  ein  reiner  und  nicht  einmal  durchaus  sorgfältiger  abdruck ,  erhebt  sich  nicht 
über  das  niveau  der  gewöhnlichen  clubpublicationen  französischer  gedichte ,  die  bekant- 
lich  in  der  regel  vieles  zu  wünschen  übrig  lassen.  Der  bestiaire  endlich  ist  Hippeau 
in  die  bände  gefallen ,  der  vielleicht  durch  die  ttcissige  arbeit  von  Cahier  darauf  auf- 
merksam gemacht  worden  war  (obgleich  er  sie  nicht  nent).  Diese  ausgäbe,  wenn  ich 
nicht  irre,  sein  erstes  debut  als  herausgeber  altfranzösischer  gedichte,  steht  noch 
unter  dem  niveau  seiner  übrigen  Veröffentlichungen,  über  welche  die  kritik  längst 
abgeurteilt  liat.  Die  vorliegende  ausgäbe  des  BesatU  ist  die  erste,  welche  uns  ein 
werk  des  normannischen  dichters  in  würdiger  gestalt  und  sorgfältiger  wissenschaftlicher 
behandlimg  vorführt.  Namentlich  die  einleitung  verdient  alles  lob;  sie  bemüht  sich, 
ihrem  gegenstände  nach  allen  selten  hin  gerecht  zu  werden,  und  hat  ihn  auch,  bis 
auf  wenige  nachzutragende  einzelnheiten,  vollständig  erschöpft  und  abschliessend 
behandelt. 

Der  erste  abschnitt  ist  der  einzigen  handschrift  gewidmet,  welche  uns  das 
gedieht  überliefert;  sie  ist  mit  einer  ausführlichkeit  behandelt,  welche  sie  so  wol  wegen 
der  zahlreichen  anderswoher  nicht  bekanten  stücke  verdient,  die  sie  enthält,  als  auch 
wegen  der  wichtigen  recensionen  solcher  stücke,  welche  uns  auch  andere  handschrif- 
ten  aufbewahrt  haben.  Zu  den  gegebenen  nachweisungen  über  einzelne  stücke  kann 
ich  noch  folgende  nachtrage  liefern. 

2)  Abgesehen  von  der  bei  Martin  nach  de  la  Rue  citierten  handschrift  Harl. 
222  ist  mir  dies  stück  noch  aus  acht  andern  handschriften  bekant,  von  denen  sechs 
in  der  Pariser  kaiserlichen  bibliothek  aufbewahrt  werden,  nämlich: 

a.  Ms.  818  f.  fr.  (alt  7208)  XIII.  Jahrhundert  (bis  auf  eine  reihe  von  heiligen- 
leben ,  die  im  XIV.  am  ende  nachgetragen).  Das  gedieht  füllt  fol.  13^  — 17*^ 
und-  umfasst  522  verse.  Titelrubrik:  Del  cruciflement  nostre  seignor  et  coment 
il  cotnathda  nostre  dame  a  S.  Johan.  Dichter  genant  fol.  17  ""a:  Que  je  ai 
nun  Hermans. 

b.  Ms.  1444  f.  fr.  (alt  7534)  XIH.  Jahrhundert  fol.  66'-7l^  811  verse.  Titel- 
rubrik: De  Vassumptiofi  nostre  dame.  Dichter  fol.  71'"a:  Jou  ai  a  non 
Hermans. 

c.  Ms.  1822  (alt  Colbert  4154)  XIII.  Jahrhundert  Fol.  194'  — 198  \  Titelru- 
brik und  Schlusswidmung  fehlen ,  anstatt  letzterer  ein  gebet  an  die  Jungfrau 
für  autor,  copisten  und  leser.     Stimt  ziemlich  genau  zu  19525. 

d.  Ms.  20,030  f.  fr.  (alt  St.  Germain  1454)  XIU.  Jahrhundert.  Fol.  114^—123'. 
562  verse.    Titelrubrik :  Issi  com  nostre  sire  coinanda  sa  mere  a  monseignor 

Saint  Jehan.    Dichter  fol.  123 "" :    Je  ai  a  non  Hermans   Explicit  li 

romanz  de  dieu  et  de  sa  mere  et  des  profetes  et  des  apostres.    Auch  der 
Schreiber  nent  sich :  Gruerris  m*escrist  . . . 

e.  Ms.  22928  f.  fr.  (alt  Lav.  85)  XIV.  Jahrhundert.  FoL  292^—299^.  532  verse. 
Titelrubrik :  De  Vassumption  nostre  dame.  Dichter  fol.  299  ^ :  Je  ai  a  non 
Hernaus. 

14* 


212  BEAKELMANK 

f.  Ms.  25439  f.  fr.  (alt  Lav.  2714)  Xni.  Jahrhundert.  Fol.  91^  —  100'.  538  verse. 
Keine  titelrnbrik,  unmittelbar  an  den  Romans  de  Sapience  von  Hemaut 
(1.  Herraan)  de  Valenciennes  (vgl.  fol.  29^^)  angeschlossen,  wie  zu  diesem 
gehörig,  Dichter  fol.  100":  Je  ai  a  non  Hernaut. 

Zwei  andere  finden  sich  noch  im  British  miiseum: 

g.  Ms.  Harl.  5234.  Ich  kenne  es  bei  der  ungeniigendheit  des  alten  catalogs 
der  Harl.  mss.  nur  aus  Wright,  ßiogr.  Brit.  litt.  Anglonorman  periud  p.  325. 
Dichter:  Jeo  ai  mm  Thwnas, 

h.  Ms.  Cotonn.  Dom.  XI  fol.  866 — 92.  Titelrubrik:  De  Vassomption  nostre 
dame.    Dichter:  Jeo  ai  nun  Chermans. 

Es  braucht  kaum  besonders  gesagt  zu  werden ,  dass  gegenüber  der  Übereinstim- 
mung der  handschriften  a  b  d  e  f  h  das  zeugnis  der  handschrift  19525 ,  welche  das 
gedieht  für  Wille7n'me  (was  offenbar  unser  Guillaume  sein  soll)  in  anspruch  nimt, 
ebensowenig  gewicht  hat^  wie  das  zeugnis  des  manuscripts  g,  welche  an  derselben 
stelle  den  namen  Thumas  einschiebt.  Dass  in  einer  sanmielhandschrift  für  den  dich- 
ter, der  darin  hauptsächlich  vertreten  ist,  auch  solche  stücke  in  anspruch  genommen 
werden ,  die  mit  seiner  Schreibweise  und  dichtart  gar  keine  verwantschaft  haben ,  ist 
zu  gewöhnlich,  namentlich  in  altfranzösischen  handschriften,  als  dass  es  besonders 
belegt  zu  werden  brauchte.  Der  in  g  genannte  Thumas  ist  übrigens  der  bekante 
Thomas  von  Britannien,  der  Verfasser  des  romans  von  Hörn  und  des  Tristan,  von 
welchem  Fr.  Michel  die  erhaltenen  bruchstücke  veröffentlicht  hat :  beide  gedichte  befin- 
den sich  in  derselben  handschrift.  —  Das  manuscript  f.  hat  durch  den  unmittelba- 
ren anschluss  unseres  gedichtes  an  den  bekanten  Bomans  de  Sapience  von  Herman 
de  Yalencienes  den  Verfasser  der  assumption  (dies  scheint  nach  h  eh  der  richtige  tltel 
des  gedichts,  die  Überschriften  im  a  und  d  können  nicht  als  eigentliche  titel  ange- 
sehen werden)  als  identisch  mit  jenem  betrachtet  und  hinstellen  wollen ,  ohne  grund, 
denn  unser  Hermans  war  sicherlich  ein  Normanne.  Ist  er  mit  dem  Verfasser  des 
livres  de  le  btble  im  Ms.  2162  fol.  1  —  77  identisch  ?  (Vgl.  im  eingang  v.  26 :  Ce 
nos  dist  dans  Hermans),  Ton  und  spräche  machen  es  eher  wahrscheinlich.  Gewis  hat 
er  aber  nicht  Guillaume  Hermans  geheissen,  wie  de  la  Bue  wollte.  Die  fassung 
unseres  gedichts  in  19525  ist  übrigens  wol  allerdings,  wie  de  la  Bue  glaubte,  ein 
auszug  (oder  eine  kürzere  redaction),  da  es  nur  395  verse  hat,  während  a  e  f  d  deren 
resp.  522,  532,  538  und  562  haben  und  b  gar  811.  (Erweiterung?)  Eine  nähere 
Untersuchung  ist  hier  nicht  am  orte. 

4)  Zu  den  schon  im  nachtrag  p.  119  angeführten  handschriften  der  Vie  de 
Ste.  Marie  EgipUenne  füge  ich  noch  das  manuscript  283  Beiles- Lettres  des  Arsenal 
hinzu ,  eine  leider  auf  schändliche  weise  ^  durch  ausschneiden  der  miniaturen  verstüm- 
melte, aber  noch  immer  sehr  wertvolle  handschrift  aus  der  besten  zeit  des  13.  Jahr- 
hunderts. Das  gedieht  umfasst  hier  auf  fol.  118  — 122  (die  handschrift  ist  gr.  fol. 
zu  3,  oft  auch  4  col.)  ungefähr  1550  verse,  von  denen  etwa  60  gegen  das  ende  hin 
durch  ausschneiden  einer  miniatur  in  wegfall  gekommen.  Das  Verhältnis  zu  den  übri- 
gen redactionen  kann  ich  hier  nicht  näher  untersuchen;  ich  bemerke  nur,  dass  die 
arsenalhandschrift  im  ganzen  zu  der  Oxforder  des  Corpus  Christi  College  stimt. 

5)  Wie  mir  Paul  Meyer  freundlichst  mitteilt,  befindet  sich  das  Alexinsleben 
doch  in   der  Barroishandschrift  112   zu  Ashbumham  place,   trotz  des  irreführenden 

1)  Der  verstümmler  hat,  um  eine  Vignette  aussuscbneiden ,  oft  noch  die  drei  bis 
vier  folgenden  blättcr,  die  nichts  für  ihn  wertvolles  enthielten,  mitgefasst. 


ÜB.   LE   BBSANT  DB  DIEÜ  BD.   MABTIN  213 

titels:   Vies  des  saintes.    Es  wird  zn  der  neuen  grossen  Alexiusausgabe ,  die  Gaston 
Paris  vorbereitet,  mit  herangezogen  werden. 

6)  Noch  im  (bereits  erwähnten)  Arsenalmanascript  B.  -  L.  F.  283 ,  fol.  LXIU  •"  — 
LXIV'',  viel  corrccterer  text,  ohne  die  groben  Sprachfehler,  welche  die  version  unse- 
rer handschrift  in  einer  in  prosastäcken  aus  der  gnten  zeit  seltenen  zahl  verunzieren. 
Anfang:  Segnor,  U  secont  travail  as  crestiens  apreg  Noiron  Vempereor  fist  Domi- 
siens  li  empereres, 

7)  ibidem  fol.  LXIX  R*»— LXX  R«. 

9)  ibidem  fol.  LXX  R^.  Auch  hier  ist  der  text  der  Arsenalhandschrift  viel 
correcter.  Gleich  im  anfang  dm  feel  maistre  für  deus  feels  maisttes  in  19525.  — 
Die  passian  St.  Pol  beginnt  fol.  LXXI  R"  und  geht  bis  LXII  R^.  Die  prosaerzäh- 
lung  von  der  passion  der  beiden  heiligen  findet  sich  übrigens  noch  oft,  wenn  auch 
in  teilweise  abweichender  fassung,  z.  b.  manuscript  818  fol.  154. 

11)  Der  sehr  seltene  Jubinalsche  druck  dieses  stückes  (nur  in  30  exemplaren 
abgezogen),  der  mir  durch  einen  zufall  zugänglich  geworden,  ist  vielfach  ungenau, 
wie  mich  eine  vergleichung  lehrte.  Das  sprachlich  und  litterarhistorisch  interessante 
stück,  das  ich  für  nicht  unwesentlich  älter  halten  möchte,  als  der  herausgeber,  ver- 
dient mit  no.  13  neu  gedruckt  zu  werden. 

13)  Die  annähme  de  la  Rues  und  nach  ihm  des  anonymen  herausgebers  dieses 
Stückes, >  dass  dieser  sermon  den  Cluniacenser  Giscardus  de  Bellojoco  zum  Verfasser 
habe,  halte  ich  mit  Martin  für  unbegründet.  Sie  basiert  nur  auf  dem  Explicit 
der  Londoner  handschrift :  Ici  fine  le  semmn  Cruichard  de  beau  liu  (Oatalogue  of  the 
Harl.  Mss.  in  the  British  Museum ,  IQ ,  140)  eine  namensähnlichkeit ,  die  nicht  genü- 
gen dürfte  dem  stücke  ein  so  hohes  alter  zuzuweisen.  Es  ist  übrigens  nicht,  wie 
Martin  angibt ,  die  Londoner  handschrift  Harl.  4388 ,  die  dem  Pariser  druck  zu  gründe 
liegt,  sondern  unsere.  Der  abdruck  ist  genau,  nur  hat  der  herausgeber,  in  directem 
Widerspruch  mit  de  la  Rue,  den  er  anführt,  nicht  allein  das  stück  auf  dem  titel  ins 
Xin.  Jahrhundert  verlegt,  sondern  auch  in  einem  langen^  als  einleitung  dienenden 
auszug  aus  De  laRue  (ü,  137),  über  den  er  sich  sonst  kein  urteil  erlaubt,  eigenmäch- 
tig und  ohne  jede  benachrichtigung  des  lesers  in  dem  satze :  „  St  notts  examinons  le 
style  de  Guichart  nous  trauvons  que  &est  bien  celui  du  XII*  siede**  anstatt  XQ* 
XUI"  gesetzt,  was  kaum  erlaubt  sein  dürfte  und  im  Zusammenhang  de  la  Rues  einen 
unsinn  gibt.  Unbegreiflich  ist  auch,  wie  er  auf  dem  titel  nach  einer  Pariser  einzi- 
gen handschrift  zu  drucken  vorgeben  konte,  während  in  dem  als  vorrede  ausgezoge- 
nen passus  de  la  Rues  ausdrücklich  vom  Londoner  manuscript  die  rede  ist.  Er  beab- 
sichtigte übrigens,  wie  er  in  der  vorrede  sagt,  wenn  dieses  debut  gut  aufgenommen 
würde,  auch  den  Besant  herauszugeben. 

14)  Noch  in  Cott.  Dom.  XI  foL  92— 95.  Ist  das  altenglische  life  of  Mary 
Magdalena  Cott.  Titus  A  XXYI  fol.  154  (dieselbe  handschrift,  wo  der  altenglische 
Alexis)  eine  Übersetzung  unserer  Fie? 

20)  Bekantlich  hat  auch  Stephan  Langton  einen  Debat  oder  Plait  der  Justice, 
Veriti  usw.  geschrieben,  der  im  manuscript  Arundel  292  fol.  38"  ff.  erhalten  ist.  Es 
wäre  zu  untersuchen,  ob  die  eine  dieser  bearbeitungen  die  andere  gekant  und  nach- 
geahmt. 

21)  Noch  in  Cott.  Dom.  XI  foL  95.  —  Margaretenleben  in  vielfach  abwei- 
chender fassung,  die  wol  ganz  selbständig  von  unserer,  sind  mir  noch  vielfach 
bekant,  namentlich  in  8  manuscripten  der  Pariser  kaiserlichen  bibliothek  (1555,  2162, 

1)  Nach  Wright  (Biogr.  brit,  litt. ,  Anglon,  per.)  ist  es  auch  Jubinal. 


214  BRAKELMANN 

2466,  1809,  2198,  19526,  24957,  24863)  deren  Versionen  im  ganzen  übereinstimmen, 
auch  das  manuscript  des  Arsenals  283  (fol.  129),  die  handschrift  Douce  268  und  die 
verlorene  handschrift  La  Clayette  (in  der  Ste  Palayeschen  copie  erhalten  F.  Moreau 
1715  p.  32  col.  1  ff.)  enthalten  dieselbe  Version.  Von  dieser  und  unter  sich  abwei- 
chend sind  zwei  Versionen  aus  dem  XV.  und  XVI.  Jahrhundert,  manuscript  1801  und 
14977  der  Pariser  kaiserlichen  bibliothek.  Ein  fragment  ist  mir  noch  in  der  bibUo- 
thek  zu  Kennes  bekant  (nr.  261). 

22)  Noch  im  manuscript  Fonds  francais  25407  (alt  Notre  Dame  277)  fol.  139'  — 
156\  Durchweg  besser  erhaltener  text;  auch  die  normannische  sprachform,  die  in 
unserer  handschrift  vielfach  verwischt  worden,  ist  sehr  rein  erhalten. 

28)  Noch  im  manuscript  Fonds  fran9ais  25439  fol.  65^  zeile  7  von  unten.  Der 
erste  Schreiber  dieser  religiösen  miscellaneenhandschrift  hat  an  den  romans  de 
sapience  mehrere  gedichte  verwanten  Inhalts  und  gleichen  versmaasses  ohne  weiteres 
angereiht,  so  namentlich  die  assomption  (ich  habe  deshalb  bei  nr.  2)  diese  handschrift 
schon  anführen  müssen  und  sie  daselbst  f.  genant).  Die  anreihung  dieses  gedieht s 
brachte  mir  die  Vermutung  nahe,  dass  auch  andere  gedichte,  welche  die  geschichte 
Jesu  zum  gegenstände  haben,  in  ähnlicher  weise  hier  angeschlossen  sein  könten, 
ohne  Überschrift,  absatz,  und  alles,  was  sie  als  selbständiges  gedieht  kenntlich  machen 
könte.  In  der  tat  fand  sich  auch  fol.  65^  das  stück  vom  Lazarus  und  der  passion, 
welches  in  unserer  handschrift  am  ende  steht.  Die  eigentliche  passionsgeschichte, 
welche  hier  fortlaufend  an  die  geschichte  des  Lazarus  angeschlossen  (f.  197  ^) ,  ist  in 
25439  durch  eine  rubrik  von  derselben  getrent  (fol.  75^  de  la  paisiom  nostre  seignoitr) 
und  geht  in  dieser  handschrift  bis  fol.  91^  z.  1  v.  o.  zu  dem  verse  Alias!  por  son 
bienfait  qiiel  guerdon  li  rend^m?  (19525  fol.  200 'b  z.  4  v.  o.).  Dann  schliesst  sich 
ohne  Überschrift  und  Übergang  die  assomption  an. 

Auf  die  sprachlichen  bemerkungen  über  die  handschrift  komme  ich  weiter  unten 
zurück. 

Der  zweite  abschnitt  der  einleitung  gibt  eine  sehr  klare  und  übersichtliche 
analyse  des  gedichts,  eine  feststellung  der  entstehungszeit  auf  grund  der  zahlreichen 
andeutungen,  welche  dafür  das  ende  des  Jahres  1226  oder  den  anfang  d.  j.  1227 
ergeben,  und  eine  Untersuchung  über  die  quellen,  die  Guillaume  benutzt  hat.  Als 
eine  hauptquelle  wird  ein  bekantes  werk  Innocenz  HI.  de  contemptu  mtmdi  usw.  ein- 
gehend nachgewiesen. 

In  gleich  eingehender  weise  hätte  die  benutzung  des  Morisses  de  Sully  nach- 
gewiesen werden  sollen ,  welcher  in  noch  höherem  grade  als  Innocenz  UL  eine  quelle 
und  ein  vorbild  unseres  dichters  gewesen.  Ich  hole  diese  lücko  hier  nach  und  teile 
nach  einer  bisher  noch  nicht  benutzten  handschrift  eine  ungedruckte  predigt  dieses 
bischofs,  bei  welcher  die  abhängigkcit  des  Guillaume  besonders  ersichtlich,  liier 
unverkürzt  mit.  Ausser  dem  litterar- historischeu  Interesse,  welches  die  vergleichung 
des  Besani  mit  einer  seiner  hauptquellen  hat,  ist  das  sprachliche  Interesse  der  fast 
gleichzeitigen  und,  wie  man  anzunehmen  allen  grund  hat ,  ursprünglich  in  dem  eigent- 
lichen Französisch  der  Isle  -  de  -  France  abgefassten  Übersetzung  der  predigten  des 
bischofs  von  Paris  nicht  gering.* 

1)  Der  abb^  Lebeuf  druckte  zuerst  in  einem  mömoiro  über  die  ältesten  Übersetzun- 
gen ins  Französische  {MSm.  d.  l*ae,  d.  intcr.  1751 ,  p.  781  ff.)  den  Sermo  ad  preBbyteros 
(p.  722)  und  ein  kleines  stück  des  Sertno  in  eireiimeitione  dei  (p.  723)  nach  einer  hand- 
schrift des  capitels  zu  Sens  ab,  zwei  weitere   bruchstücke  (nach  B)  finden  sich  in  Dau- 


Ob.  LS  BE8ANT  DB  DIBU   BD.    MARTIN  215 

Ich  lege  den  text  der  Pariser  handschrift^  die  wol  als  die  älteste  und,  trotz 
einzelner  nachlässigkeiten  des  Schreibers,  in  den  meisten  beziehnngen  als  die  beste 
angesehen  werden  kann  (Ms.  13314 ,  anc.  snppl.  fr.  2036  >")  und  welche  ich  A  nenne, 
zu  gründe,  und  notiere  die  Varianten  von  zwei  andern  handschriften  der  kaiserlichen 
bibliothek,  nro.  24838  (alt  St.  Victor  620)  =>  JB  und  nro.  187  (alt  6847)  =  C.  (Auch 
die  handschriften  13315  und  13317  enthalten  die  predigten  des  Morice,  doch  sind 
sie  nach  spräche  und  text  zu  vielfach  abweichend,  als  dass  sie  hier  zu  den  Varian- 
ten herangezogen  werden  kdnten.  Bei  einer  Untersuchung  über  die  handschriftliche 
Überlieferung  der  predigten  müssen  sie  jedoch  eingehend  berücksichtigt  werden).  Dass 
ich  überhaupt  varianteo  mitteile,  bedarf  bei  der  sprachlichen  Wichtigkeit  des  vorlie- 
genden textes  einer  besonderen  entschuldigung  nicht,  ausserdem  ist  auch  B  zur  her- 
stellung  des  textes  von  A  mehrfach  notwendig,  auch  G,  eine  handschrift  des  14.  Jahr- 
hunderts, verdient  berücksichtigung ,  obgleich  sie  vielfach  fehlerhaft  und  wahrschein- 
lich sogar ,  nach  den  zahlreichen  misverständnissen  zu  urteilen ,  von  einem  des  Fran- 
zösischen wenig  kundigen  Schreiber  abgeschrieben,  der  sich  am  ende  j^fot^on*  de  Saint 
Jathe ,  de  son  proprie  nun  Laurenz  de  la  Roche  nent.  Die  handschrift  gehörte  der 
Bianca  von  Savoyen,  wie  eine  inschrift  auf  dem  schutzblatte  zeigt:  Iste  Über  est 
illustris  domme  Blanche  de  Sabaudia.  Über  das  Verhältnis  der  handschriften  gibt  der 
apparat  selbst  auskunft 

Ms.  13314  f.  fr.    Auf  dem  B°  des  15.  blattes  (der  codex  ist  nicht  foliiert): 

S[ermoJ|  I  p[rima]  do[minica]  LA 

In  B  (auf  fol.  18')  keine  Überschrift;  in  C:  Secundum  Matheum,  La  demence 
qui  Ven  du  septugexima.    Fol.  YII  B^a. 

Simile  est  regnum  celorum  hommi  patrifamüias  qui  exüt  primo  mane  condu- 
cere  operarios  in  vineam  suam,  Damedeus  nos  aparole*  en  Tevangile  d'ui  et  si 

nos  demostrc  par  essanple'  que,  se  nos  volons  faire  le  suen^  servise  en  terre,  que 
nos  en  aurons^  le  loier  molt  grant  el  cieL^  Quar  ce  dist  n[ostres]  s[ires]  d[eus]^ 
en  Tevangile  d'ui,  qu'il  se^  fu  uns  preudom"  qui  essi  premierement  par^  matin, 
aloer'*^  ovrivrs  en  sa  vingne.  Et  si  com  il  ot  fait  son  covenant  d'un  denier  a  cas- 
cun,"    si  les  envoia^'  en  sa  vingne. >*     Autresi^^  fist  il  a  üerce  et  a  miedi  et  a 

nous  artikel  über  Moritz,  Hitt.  UU.  XV,  157,  wo  auch  zwei  alte  drucke  des  16.  Jahr- 
hunderts angeführt  werden.  Hippeau  gab  in  den  Memoiren  der  aeademie  zu  Caen 
(1856,  p.  211)  nach  einem  jungen  und  fehlerhaften  manuscript  eines  herm  Renault  drei 
predigten,  für  den  ersten  und  zweiten  sonntag  nach  ostem  und  für  den  himmclfahrtstag, 
endlich  gab  Paul  Meyer  in  seinem  bericht  über  die  Oxforder  handschriften  (Kevue  des 
missions  2.  serie  Y,  p.  247)  den  8&rmo  in  die  eireumeisianis  in  der  altenglischen  Über- 
setzung des  ms.  Land.  Mise.  471  mit  der  französischen  Übersetzung  des  ms.  Douce  270. 
Aus  dem  ms.  A  (13814),  welches  ich  zu  gründe  lege,  ist,  so  viel  ich  weiss,  noch 
nichts  gedruckt;  es  verdient  ganz  veröffentlicht  zu  werden,  einstweilen  kann  die  oben 
mitgeteilte  predigt  als  probe  der  spräche  und  des  textes  dienen. 

1)  [D]ex  Nostre  sires  si  nos  enseigne  B  Kostre  sirez  nos  parole  C  2)  et  — 
essam^le  fehlt  in  B  si  nos  mostre  par  example:  C  3)  lo  suen  B  suon  C  4)  auue- 
rons  C  5)  le  louier  grant  on  ciel  C  (molt  grant  loier  B)  6)  deus  fehlt  B\  deus- 
d'ui  fehU  C  7)  fehU  BC  8)  preudon  B  prodons  C  9)  a  un  J?  10)  et  por 
louier  C  11)  et  quant  il  ot  fait  ses  comandemenz  a  chaoun  B\  Et  quand  il  oit  fait 
covant  a  chasoun  dax  C  12)  amene  O  .  18)  noch  por  ourer  B  14)  essement  B 
ausi  C. 


216  BBAKELMJLNN 

none.*ö  Et  quant  il  vint  vers  le  ^^  vespre,  si  r'ala  al  marcie,»'  s'i  trova  *»  ovriers  qui 
eatoient  uiseus,»^  et  il  disent:  „Nus*^  ne  trovames  **  qui  nos  loast**  ui."  „Orales," 
dist  li  preudom,  „en  ma  vingne  et  jo  vos  donrai  co  qui  sera  drois."  Et  eil  (f.  15^) 
alerent  en  la  vigne  al  preudome  **  ovrer  auvec  les  autres.**  Quant  co  ^^  vint  au  soir, 
81  parla**  li  sires  a  son  serjant  et  si  dist.*'  „Apele  les  ovriers  et  si  lor  rent  lor*** 
loier,  et  comence  a  cels**  qui  vindrent  daerrainement,'"  etva  jusqu'as  premerains,«> 
et  si  done  a  cascun  un»«  denier."  Et  il  si  fist.^^  Et  quant  90  virent  eil  qui  estoient 
par  matin  venu,  que  eil  qui  estoient  daarrainement*^*  venu,  avoient  caseuns  un 
denier,^*  lors  si  murmurerent ^^  entr'els  et  si  disent:®'  Nos  avons^®  tote  jor  traveil- 
U6  en  ta  ^^  vigne,  et  avomes  seffert  (sie)  le  fais  et  le  paine  del  caut  ,*"  et  tu  as  ces 
fais  parels**  a  nos?"  Lors**  respondi  li  preudom  a  un  de  cels:*»  „Amis,**  jo  ne 
f  ai  fait  nul**  tort.  Don  ne  venis  tu  a  moi  par  le  covent*®  d'un  denier?  Tu  as  ton 
covenant,  si  t'en  va!  Quar  je  vueil  a  cels  autant  doner,*'  com  a  toi.*"  Toi  que 
poise,*®  se  jo  fas  ma  bonte?"  Et  com*«  nostre  sire  ot  contöe  ceste  essanple,**  si 
dist  apres:  ö*  „Issi*®  seront  li  daerrain  premerain,  et  li  premerain  daarrain.**  Molt 
i  a*s  des  apeles  et  poi  i  a  des  eslis." 

Ore  oies*«  que  co  senefie:  Li  preudom  senefie  n^ostre]  s[eigneur]  d[ieu],*'  la 
vigne  senefie  le  seroise  Deu,*^^  les  diverses  hores  senefient  les  divers  tans  de  cest 
siecle.58  Par  matin  loa*<*  nostres  s[ires]  ovriers  en  sa  vigne,  quant  il  mist*'  les 
patriarches 6*  al  comencement  de  cest  siecle  en  son  servise,  que  par  bone  creance** 
(f.  16')  le  servirent  et  disent  le  suen  ensegnemens ®*  a  cels**  a  cui  11  Tavoient  a  dire. 
Autresi^ö  a  tierce  et  a  miedi  et  a  none«'  aloa  il  ovriers  en  sa  vigne,   quant  il««  al 

15)  Nach  tierce:  Essement  miidi.  Car  il  aloi  ices  ouriers  en  conuenant  a  chacun 
dun  denier  et  si  les  enuia  en  sa  uigne  B  16)  reuint  uers  \o  B  17)  en  la  place  B 
18)  i  retroua  B  et  torna  ouriez  C  19)  Mer  fehlt:  Si  lor  dist  porquoi  estes  vos  oiseus  P 
touto  jor  oisious  C  20)  nos  5  (7  21)  noch  oneor  B  22)  conduisistÄ  2^)  fehlt  B  C 
24)  o.  0  les  autres  B  avec  les  autrez  ouriers  C  25)  fehlt  B  C  26)  apcla  B  apcla  .  . 
soun  C  27)  sc  li  comanda  et  dist  B  28)  les  lor  B  29)  cos  B  30)  darrein  B 
darcre  C  31)  jusquau  premier  B  et  ains  jusquaux  prumerains  C  32  son  B  83)  Et- 
fist  fehlt  in  B  34)  au  vespre  B  35)  que  eil  qui  virent  auoient  chascun  que  un 
denier  C.  Nach  dieser  stelle  fehlt  in  A  und  C:  Mais  quant  li  sergenz  uint  a  aus  et  il 
nc  dona  a  chascun  que  un  denier  B  36)  sen  murmurent  C  37)  et  se  li  distrent  B 
38)  naeh  avons  in  C  noch:  des  hui  matin  39)  trauilier  en  vos  C  40)  lo  fes  de  la 
poine  et  do  chaut  B;  blos  le  chaut  C  41)  cels  faiz  pers  B\  fait  ceus  paraus  a  nos  C 
42)  Donques  B  Dout  C  43)  daus  B  daux  C  44)  et  si  dist  amis  B\  blos  Amic  C 
45)  mie  C  46)  Donc  ne  feis  tu  a  moi  covenant  B  47)  car  se  uoil  a  cos  doncr  si 
come  B\  car  je  uouel  autant  doner  ad  aux  C  48)  con  a  touz  B  49)  Et  ce  quo  te 
poisso  B'j  Que  te  doit  peser  C  50)  quant  BC  51)  conte  cest  example  B  out  dito 
ceste  samblauce  C  52)  si  —  apres  feJ^lt  in  B  53)  Ausi  B  C;    Issi  für  ausi  auch 

regelmässig  in  dem  Berliner  Meraugisfragment  (Ms.  gall.  4^  48),  das  stark  burgundische 
spuren.  54)  dairien  —  dereain  C  55)  et  saichiez  que  molt  hia  ...  et  poi  hia  B 

56)  [0]r  oez,  biau  seignor  B  67)  li  rodous  sifle  deus  C         68)  hiernach  noch  in  C: 

li  ouriers  ces  qui  le  servont  et  son  servise  fönt.  59)  senefient  lo  tens  de  cest  siegle  B 
los  diver^  oure^;  senefient  les  divers  chans  dou  secle  C  60)  aloia  £  aoura  C  61)  car 
11  i  enuria  B\  quant  il  au  comencament  dou  monde  C  62)  noch  premieremcnt  B 
63)  scnefiance  C  64)  et  distrent  son  comandement  B  66)  atoz  cels  B  66)  Esse- 
ment B\  Ausi  C  67)  au  uespre  B\  fehlt  C  68)  hiemach  noch  in  B:  quant  il  i 
enuoia  (el  tens  Moysen  et  Aaron  et  aus  prophetes  en  son  servisse). 


ÜB.   LE  BESAHT  DB  BIEÜ  BD.  MABTIN  217 

iens  Moysi  et  Aaron  et  as  autres  prophetes  mist  maiiis  buens  homes  en  son  servise 
qui  par  grant  amor  le  servirent,  ••  et  fist  le  sun  servise.  Vers  le  vespre  liva'*'  deus 
ovriers  en  sa  vigne,  quant  11  vers  la  fin  del  siecle  prist  car  en  la  virgene  Marie  ,^^ 
et  se  demostra  en  cest  monde.'''  Lores^^  trova  11  gent  qui  tote^^  jor  avoient  este 
uiseus,  quar  11  trova  les  paiens  qui  lone  tans*^  avoient  este  uiseus  et  fors  de  sa 
creance  et  de  s^amor  et  de  son  servise.  II  n'avoient  mie  est^^^^  uiseus  d'aorer  les 
diables**  et  de  faire  les  caraies*®  et  les  diablies.  Mais  por  90  le  dist  Tescriture^' 
qu'il  avoient  este  uiseus ,  quil  ne  s'estoient  de  rien  eutremis  de  Deu  croire ,  ne  de  lui 
amer  ne  de  lui  servir.^"  Quar  quanque  on  fait  en  cest  siecle,  desque  on  n'aime  Deu  ne 
ne  sert ,  tot  est  et  tot  doit  estre  conte  a  oiseuse  et  tot  revient  a  nient.  Lores  blasma 
nfostres]  s[ires]  les  paiens ^^  par  les  aposteles  que  il  avoient  este  uiseus«  et  qu'il 
n'avoient  rien  entendu  en  son  servise.^^  Lores  ^^  respondirent  11  palen ,  que  nus  nes  avoit 
loes,®*  c'est  a  dire  qu'il  n'avoient  onques  eü  prophete  ne  apostele"*  ne  preceor,"*  qui 
lor  mostrast,®'  conment  11  deüscent  croire  nostre  s[eigneur)  ne  servir.  „Entres/*®* 
fist  se®*  nostre  sire,  „en  raa  vigne  (ce  est'**  en  ma  creance)  faites  mon  servise,®* 
et  jo  vos  donrai  vostre  denier"  (c'est  la  vie  pardurable).  ®*  Li  palen  *s  entrerent  el 
servise  ^  Deu ,  et  nos  1  entrames  par  baptesme  '^  qui  somes  del  lignage  d'els ,  et  par 
baptesme  arons  le  denier  autresi  com  eil  qui  leverent  matin  et  entrerent  en  la  vigne,<^® 
quar  nos  aureus  la<^'  vie  pardurable  autresi  com  11  patriarche,  11  prophete,  11  apostele 
et  11  buen  home*®  qui  al  comencement  del  siecle  servirent  Deu.**  Et  ausi  com  nos 
vos  avons  dit  des  divers  tens  de  cest  siecle,*^"  que  Deus  mist  ovriers  en  sa  vigne  al 

69)  qui  blen  Ion  servirent  B  aus  autres  pechlerz  en  son  servise  maint  proudoroe 
par  grand  amor  se  tinrent  C  70)  Envers  lo  uespre  ausement  aloia  nostre  sires  B\  et 
fircnt  soun  servise  a  uespre  C  71)  bloa  quant  11  prist  cbar  en  la  gloriose  ulrge  marie  B\ 
prist  cbar  et  sanc  en  la  uergon  C  72)  et  dvmonstra  el  monde  C  73)  Adonqucs  B\ 
donc  C         74)  toit  jorz  75)  par  molt  lonc  tens  B\    in  C  die  ganze  stelle  abweichend: 

et  les  paienz  qui  ne  sofroient  ne  estoient  entremis  de  lui  scruir  ne  de  lui  croire.  Quar 
quant  li  ons  fait  en  cest  siecle  qui  ne  uet  dieu  croire  doit  estrait  a  oiseuse,  car  tout 
reulni  a  noiant,  lors  blama  etc.  76)  Et  sai  obiez  que  icil  nanoient  pas  este  B  77)  lor 
ydrcs  B  78)  faire  lo  servisse  au  deable  B  79)  £t  por  ce  nos  dit  la  sainte  e.  B 

80)  Car  11  ne  creolent  mie  damedeu.  Ne  son  servisse.  Ne  ses  hueures  11  ne  falsolent  B 
Der  ganze  folgende  »atz  fehU  in  B.  81)  les  apostres  de  ce  qil  avoient  e.  o.  C  82)  por 
ce  quil  nauolcnt  pas  este  en  son  servisse  B\  cest  a  dire  quil  nauoint  rions  fait  de  son 
servise  C  83)  "Ei  B\  Et  dont  respondirent  11  C  84)  que  nus  bom  nes  auoit  onques 
aloiez  B  85)  fehlt  C  86)  ne  patriarcbe  ne  apostre  ne  preescbeor  B  87)  Noch 
ne  enseignast  B\  qui  lor  mostrasent  coment  11  deussent  dieu  servir  C  88)  Eurros  C 
S9)  fehlt  B  C         90)  Nach  est  noeh  in  B:    Ce  est  a  dire  entrez  91)  mes  bueures  et 

m.  s.  B;  fehlt  in  C  92)  Statt  der  parentheee  in  C:  come  a  ceux  qui  se  loierent  par 
matin  et  entrerent  en  la  uigne  au  prodome ;  in  B  ist  A  nur  ampUßeiert :  ce  est  a  dire  la 
gloriose  u.  p.  93)  Cest  11  paiens  C  94)  en  la  uigne  ce  est  el  servisse  B  95)  et 
si  recurent  'lo  salnt  baptesme  et  nos  i  entrons  ausement   par  baptesme  B  96)  Statt 

qui  —  uigne  in  B:  et  nos  aurons  le  denier,  ausi  come  eil  qui  entrerent  par  matin  en  la 
uigne  B;  in  C:  ausi  com  eil  qui  seruirent  par  matin  et  penerent  dans  la  vigne  G 
97)  gloriose  eingeschoben  B  98)  et  li  apostre  et  11  martyr  et  li  confessor  et  ausi  come 
11  bon  bome  B;  in  C  fehlt  buen,  sonst  wie  A  99)  nostre  selgnor  B  C  100)  do  siegle 
B\  des  ouvres  caus  dou  secle  C  darnach  noch-,  ausi  poons  nos  dire  de  laaige  de  lome  C\ 
in  B:  Kostre  sires  met  ouriers  en  sa  vigne  tot  ausi  poons  nos  dire  dun  cbascun  home  si  ^ 
vos  dural  comant     Car  dex  met  ete. 


218  BRAKELMANN 

matin,  quant  il  apele  de  tels  en  i  a^^*  en  lor  e[nfa]nGe  en  son  senrise.*^'  Li  matms 
senefie  Taage  de  .XV.  ans,  u  de  vint  u  de  mains,^"^  li  miedis  senefie  Taage  de  .XXX. 
ans  n  de  .XL:  quar  ausi  come  li  jor  ^'^^  sont  plus  cant  entor  miedi,  ensement  Tumaine 
nature  est  de  greignor  calor  environ  cest  eage.  Li  vespres  senefie  la  vieillece,*"* 
c'est  la  fins  de  la  vie.*<*«  Damed[eu8]  *<»'  n[o8tres]  8[ires]  met  ovriers  en  sa  vigne*"» 
vers  le  vespre,  quant  il  les  pluisors  en  lor  vieillece  torne  de  pecie*"'  a  son  servise,"** 
et  ausi  come  eil  qui  entrerent  daarrainement  en  la  vingne  al  preudome,**^  orent  un 
denier."*  Autresi  averont  eil,  qui  el  servise  Den  enterront  (fol.  17')  en  lor  viellece, 
Ic  denier:  c'est  la  vie  pardurable.'"^  Nequedent  por  90,  se  la  bontes  Deu  est  si 
grans,^^^  que  il  done  autretant  as  uns  com  as  autres,  ne  se  doit  nus  aseürer,"*  nV 
targier  de  soi  tomer  a  Den,  quar  90  dist  escriture:  Nus  ne  set  Tore  ne  le  jor  de  sa 
mort.  Ore  segnor,^^^  or  aves  oie  le  sanblance  que  Dens  dist  et  la  senefiance.  Or 
esgardös,^^^  se  vos  estes  en  la  vigne  Deu,  c'est  en  son  servise,*^"  se  vos  haes  i  celes 
coses  que  Dens  het,  et  ames  i  celes  coses  '^^  que  il  aime  et  se  vos  laisiös  190  que  il 
deifent,  et  faites  90  que  il  comande:  donques***»  estes  vos  en  la  vingne  Deu.  Se 
vos  nel  faites  issi,  si  en  estes  hors,  et  se  vos  le  faites  issi,*^*  si  deserves  le  denier, 
c'est  la  vie  pardurable.  Vos  deserves  i  cel  bien  que  eis  ne  vit,***  n'oreiUe  ne  puet 
o'lr,  ne  cuers  d'ome  ne  poroit^^^  penser:  issi  est  grans  icels  biens  que  Dens  estuie 
a  cels  qui  lui  aiment.***  quod  nohis  et  cetera.^*^ 

Die  vergleichung  mit  Guillaumes  Besamt  zeigt,  dass  dor  normannische  dichter 
die  predigten  des  bischofs  noch  in  weiterem  umfange  benutzt  hat,  als  er  selbst  sagt, 
denn  die  zweite  senefiatice,  die  er  anderswoher  genommen  haben  will  (vers  3075: 
E  uncor  en  autre  Latin) ,  findet  sich  gleichfalls  bei  jenem ;  ebenso  finden  sich  an  die 
predigten  in  primae  seamda,  tertia  dominica  post penta^iost.  Ms.  13314  fol.  41'— 44"^ 
(neunundneunzig  schafe  —  reicher  mann  und  armer  Lazarus  —    hochzeitliches  kleid) 

N 

101)  de  tex  hia  B;  tex  ia  en  laage  de  .V.  ans.  de  .XX.  ou  de  XXX.  Car  ausi 
come  le  jor  sunt   plus    chant   au   droit  medi  ete,  C  102)   a  fere   le   suen  servisse  B 

103)  et  cos  met  il  a  tierce  eu  sa  uigne  que  il  a  atornez  en  son  seruisse  an  laaige  de 
XX.  ans  B  104)  Car  tot  ausint  come  li  jorz  est  plus  chauz  environ  Ion  midi  B 
105)  si  nös  senefie  la  uciUecc  B    la  uelesce  C  106)   de   lome  C         107)  fehlt  B  C 

108)  fehlt  C  109)  retome  de  lor  peichi^  B  de  lor  peciez  C  110)  ou  il  ont  lon- 
guement  estc  a  faire  Ion  suen  servisse  B  111)  com  —  preudome /?A/^  in  B  118)  aura 
eil  uie  perdurable  C  113)  In  B  dieser  eatz:  et  tot  ausement  auront  il  un  denier  comme 
eil  qui  antrerent  au  bien  matin  aula  uigne  Kostre  seignor  Ce  est  adire  quil  auront  la 
vie  perdurable  et  dex  la  nos   otroit  114)  In  B  nur:   par   ceste   bont^;    in  C:   mala 

nequant  por  ce  que  dieus  est  de  sigrant  bonnte  que  donne  as  unz  et  aux  autrez  115)  at 
argier  de  tomer  a  lui  C;  quar  —  mort  fehlt  in  diesem  ms.  In  B:  aseurer  ne  tarder 
ne  soi  atendre  de  soi  torner  a  nostre  seignor.  Car  si  come  la  sainte  escriture  lou  nos 
raconte  Nuns  ne  set  ete.  116)  Ores  biau  seignor  et  beles  dames  vos  avez  oie  la  sainte. 
euangilc  et  la  senefiance  B.  Seignor  or  auez  oi  laxample  de  leuangile  dui  et  la  sini- 
fience  C.        117)  Or  vos  prenez  garde  B.     Oardex  que  vos  soies  tel  en  la  vigne  dieu  C 

118)  noch  in  B:    et  es  hueures  Nostre  seignor  et  se  vos  haez  ces  oboses   quo  il  het  B 

119)  ce  que  il  jS    ce  quil  amera  C        120)  adonc  poez  vos  bien  dire  que  vos  estes  B 

121)  Ce  vos  nel, —   issi  fehlt  in  B  C.      Dann  in  B:    et  que  vos  deseruei  in  C:  et  des. 

122)  Ce  est  li  granz  biens  que  hiauz  ne  vit  ne  oroille  noi  B  itel  bien  que  oreiUe  noit  ne 
jox  ne  vit  123)  no  pot  B  ne  pout  C  124)  que  dex  estoie  a  cos  qui  de  bon  euer 
laimcnt  et  croient  et  seruent  B  125)  quod  N.  p.  di.  qui  vi.  et  r.  p.  o.  s.  s.  amen  B 
Quod  nobis  et  uobis  C. 


Ob.  lb  besamt  db  dibu  ed.  biabtin  219 

starke  reminiscenzen  bei  Guillaume  an  den  betreifenden  stellen »  auch  die  drei  letzten 
predigten  der  samlung  (Tom  nnkraut  zwischen  gutem  samen  —  vom  vergrabenen 
besant  — -  von  den  törichten  Jungfrauen),  namentlich  die  ersteren  beiden,  hat  er  benutzt. 
Man  kann  sagen,  dass  namentlich  für  den  letzten  (auch  im  hestiaire  teilweise  repro- 
duderten)  teil  seines  gedichts  (vv.  2608  —  3758)  die  predigten  des  bischofs  seine 
hauptquelle  gewesen 

Der  dritte  abschnitt  der  einleitung  behandelt  die  übrigen  werke  des  dichters, 
das  fabliau  von  dem  quiproquo,  welches  einem  üppigen  priester  gespielt  wird,  den 
roman  von  Fregus,^  welchen  Martin  neu  herauszugeben  beabsichtigt,  und  den  hestiaire, 
der  wegen  seines  nahen  Verhältnisses  zum  Besant  besonders  eingehend  besprochen 
wird.  Bei  der  aufzählung  der  zwölf  bis  jetzt  bekanten  handschriften  sind  Martin, 
wie  übrigens  allen,  die  sich  vor  ihm  damit  beschäftigt,  zwei  handschriften  der  Pari- 
ser kaiserlichen  bibliothek  entgangen,  nämlich  (um  in  seiner  Zählung  fortzufahren): 

n)  Ms.  f.  fr.  2168,  früher  799a  2.  perg.  gross  8"  XUI.  jahrh.  2  spalten  zu 
37  Zeilen;  fol.  188^^:  Chi  commenche  li  drois  bestiaires  de  le  devine  escriptwre  bis 
fol.  209 "".  Der  schluss  fehlt,  widmung  wie  gleichnisse,  und  das  gedieht  endet  ziem- 
lich brüsk  nach:  D^une  piere  qui  est  en  oriant  mit  dem  passus:  Orprtons  dieu  bis 
chascuns  en  die,  der  auch  in  ab  fh  der  widmung  vorangeht,  während  z.  b.  c,  wo 
auch  die  piere  en  oriant  an  letzter  stelle  steht,  einen  anderen  schluss  hat. 

0)  Ms.  f.  fr.  25406  früher  Notre-Dame  192.  perg.  XUI.  jahrh.  8°.  2  spal- 
ten zu  33  Zeilen.  Platz  für  miniaturen  leer  gelassen.  Vom  besiiaire,  der  die  erste 
hälfte  der  haudschrift  ausfüllt,  fehlt  das  erste  blatt,  er  reicht  bis  fol.  80 '^  und  schliesst, 
wie  in  n,  ohne  die  schlusswidmung  zu  haben,  mit  dem  oben  angegebenen  passus, 
doch  handelt  die  letzte  rubrik,  abweichend  von  n  und  mehreren  anderen  handschrif- 
ten ,  von  der  chievre.  Auch  die  Stellung  der  gleichnisse  vom  besant  und  den  ovriers 
en  la  tngne,  die  sich  in  dieser  handschrift  finden,  ist  abweichend,  sie  stehen  hier 
17  rubriken  vor  dem  ende ,  also  noch  in  der  ersten  hälfte  des  gedichts.  Ich  habe 
überhaupt  bemerkt^  dass  sowol  die  zahl  wie  die  folge  der  rubriken  in  den  verschie- 
denen handschriften  sehr  verschieden  ist. 

Die  handschrift  l,  früher  im  besitz  von  Sir  Francis  Douce ,  deren  nunmier  in  der 
Bodl.  libr.  Martin  nicht  nachweisen  konte ,  ist  jetzt  nro.  182  des  Fonds  Douce.  Auch 
hier  stehen,  wie  in  den  meisten  handschriften,  die  fabeln  der  Marie  de  France  mit 
dem  hestiaire  unmittelbar  zusammen,  ausserdem  enthält  die  handschrift  noch  die 
geste  von  Hom  und  das  Chasteau  d'afnour  von  Grosseteste.  Die  handschrift  schliesst, 
nach  der  angäbe  des  Catalogtie  of  the  printed  books  and  manitscripts  beqveathed  by 
Francis  Douce  Esqu,  to  the  Bodl.  library.  (Oxford  1840)  p.  21  mit  den  versen: 
Ou  ü  ad  enfem  despoillie  ||  E  canfondu  e  eissülie,  —  Die  interessante  einleitung, 
die  schlusswidmung,  sowie  noch  eine  andere  stelle ,  aus  der  die  abfassungszeit  ersicht- 
lich, teilt  Martin  nach  der  handschrift  des  British  Museum  mit;  er  hat  übersehen,  dass 

1)  Es  existiert  davon ,  wie  ich  aus  der  einleitung  zu  Hippeaus  bei  inconnu  XXV  ff. 
ersehe,  eine  zweite  handschrift  in  der  bibliothek  des  herzogs  von  Anmale  zu  Twicken- 
ham.  Hippeau  hat  daraus,  ausser  dem  erwähnten  gedieht  des  Renaus  de  Beauju,  später 
noch  die  Vengeanee  de  Ragttidel  von  Raoul  de  Houdenc  herausgegeben,  es  enthält  auch 
das  gedieht  Li  atre»  periUous ,  welches  Schirmer  nach  der  vermeintlich  einzigen  hand- 
schrift 2168  der  Pariser  kaiserlichen  bibliothek  in  Herrigs  archiv  42,  135  —  212  heraus- 
gegeben und  das  sich  in  einer  dritten  guten  handschrift  auf  derselben  bibliothek  befindet 
(Fonds  fr.  1433 ,  alt  7526/3). 


220  BBAKELMANN 

Thomas  Wright  dieselben  stellen  des  anfangs  und  Schlusses  bereits  aus  derselben 
handschrift  herausgegeben  hat  (Biogr,  hrit.  lütl,  428  —  430).  Dieser  druck  scheint 
sogar  mehrfach  correcter  als  die  Scottsche  abschrift,  wenn  auch  mehrere  kleinigkeiten 
bei  Martin  wol  nur  druckfehler  sind ,  wie  Boman/nz  für  Bomawnz,  powre  für  povre, 
tuit  für  tint.  Wright  hat  übrigens  am  augeführten  orte  auch  alle  historischen  stellen 
aus  dem  Besant  ausgezogen  und  abgedruckt. 

Das  Verhältnis  des  Besant  zum  Bestiaire  wird  im  weiteren  verfolg  dieses 
abschnittes  bei  Martin  eingehend  nachgewiesen  und  die  Übereinstimmung  durch  Inter- 
polation des  letzteren  aus  dem  ersteren  erklärt.  Darin  scheint  allerdings  diese  Über- 
einstimmung ihre  richtige  erklärung  zu  finden.  Die  betreffenden  stücke  des  Besant 
finden  sich  in  den  handschriften  des  Bestiaire  nicht  allein  ap  ganz  verschiedenen 
stellen,  sondern  auch  so  äusserlich  in  den  Zusammenhang  eingeflickt,  dass  eine  Inter- 
polation unschwer  ersichtlich.  Einzelne  handschriften ,  namentlich  die  oben  angezeigte 
Fonds  fr.  25406 ,  scheinen  mir  sogar  für  diese  stücke  dem  Besant  noch  näher  zu  ste- 
hen, als  die  vom  herausgeber  zur  kritik  desselben  herangezogene  (welche  ist  dies 
übrigens  ?). 

Der  herausgeber  bespricht  weiter  das  in  derselben  handschrift  erhaltene  gedieht 
des  treiz  moz,  das  er  mit  recht  gegen  de  la  Rue  und  andere  unserem  dichter  zu- 
schreibt, welcher  an  mehreren  stellen  auf  ein  anderes  büchlein  von  ihm  hinweist,  das 
offenbar  der  Besant  ist.  Martin  weist  auch  als  den  auftraggeber  Guillaumes  für  dies 
gedieht  mit  Sicherheit  den  Alexander  de  Stavenby  nach ,  während  de  la  Rue  (II,  274) 
und  nach  ihm  Wright  {Biogr,  hrit.  litt.  1 ,  333)  denselben  in  dem  1147  gestorbenen 
Alexander,  bischof  von  Lincoln  erblicken  weiten.  Auch  das  gedieht  von  der  gehurt 
Christi  wird  unserem  dichter  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  beigelegt.  Das  leben  der 
Magdalena  mag  der  Schreiber  dem  Guillaume  haben  beilegen  wollen  wie  die  a^somp- 
tion  (s.  0.) ;  das  (von  Martin  nicht  erwähnte)  fabliau  La  fUle  a  la  borgoise,  von  dem 
De  la  Rue  spricht,  soll  nach  Wrights  Vermutung  und  Daunous  behauptung  (Hist 
litt.  XIX,  664)  mit  dem  vom  Prestre  und  Alison  identisch  sein.  Der  titel  scheint 
darauf  hinzudeuten,  die  Wahrheit  der  behauptung  habe  ich  jedoch  nicht  feststellen 
können,  da  in  keiner  der  mir  bekanten  fabliauxhandschriften  das  fabliau  du  prestre 
et  W Alison,  das  ich  überhaupt  nur  in  der  einzigen  handschrift  19152  (fol.  49 d) 
kenne ,  unter  dem  ersterwähnten  titel  sich  findet.  Für  verschiedene  andere  dem  Guil- 
laume beigelegte  gedichte  weist  der  herausgeber  die  Vermutung  seiner  autorschaft  als 
unbegründet  zurück. 

Der  vierte  und  letzte  abschnitt  der  einleitung  behandelt  das  leben  und  den 
character  unseres  dichters.  Alle  andeutungen  in  seinen  werken,  welche  über  sein 
leben  auskunft  geben  können,  sind  mit  Sorgfalt  und  genauigkeit  zusammengestellt,  •— 
sie  sind,  wie  das  bei  den  dichtem  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  die  regel,  ziemlich 
dürftig.  Für  die  Charakteristik  bot  sich  ein  reicherer  stoff,  namentlich  in  den  mora- 
lisch -  didactischen  gedichten.  Auch  sonst  tritt  die  subjectivität  des  dichters,  der 
seine  sympathieen  und  personlichen  meinungen  bei  passender  gelegenheit  auszuspre- 
chen liebte,  deutlich  genug  hervor.^    Die  daran  angeschlossene  kritik  der  poetischen 

1)  Eine  umstimmung  des  dichters  der  Croiaade  eontre  Ua  Albigeoisy  auf  welche 
gelegentlich  (p.  XLY)  hingewiesen  wird ,  kann  wol  nicht  angenommen  werden.  Die  bei- 
den teile  des  gcdichts  rühren  von  verschiedenen  Verfassern  her,  wie  Paul  Mejer  überscu- 
gend  nachgewiesen  (vgl.  dessen  Eeeherche»  sur  let  auteurs  de  la  ehanson  de  la  eroiaade. 
Paris,  1865). 


ÜB.   LE  BESAHT  DB  DIEÜ  ED.  MARTIN  221 

bedeutnng  Gtüllaumes  erscheint  als  durchaus  zutreffend.  Der  ganze  abschnitt  verrät 
eine  sorgfältige  durcharbeitung  der  werke  des  dichter s,  welche  das  füllwerk  wolfeiler 
hypothesen  verschmäht,  mit  welchen  gewisse  bearbeiter  der  französischen  litteratur- 
geschichte  des  mittelalters  uns  in  ermangelung  positiver  nachrichten  abfinden  wollen. 

Es  erübrigt,  vom  texte  äesBesant,  beziehungsweise,  da  derselbe  nach  der  ein- 
zigen handschrift  nur  mit  einzelnen  bestimten  änderungen  gegeben  ist,  von  dersel- 
ben zu  reden.  Der  herausgeber  hat  die  principien,  die  ihm  bei  der  behandlung  des 
textes  maassgebend  waren,  in  der  einleitung  p.  VII  — IX  auseinandergesetzt.  Es 
folgt  da  zunächst  der  beschreibung  der  handschrift  eine  liste  der  eigentümlichkeiten 
ihrer  Orthographie.  Das  tertium  comparaiionis  ist  mir  dabei  nicht  ersichtlich:  es 
scheint  nicht  das  heutige  Französisch  zu  sein ,  da  dies  doch  nicht  formen  wie  dou- 
QWy  ancesorie,  mouteplier  kent.  Das  gleichzeitige  Französisch  der  Isle- de -France 
kann  es  ebensowenig  sein ,  da  das  weder  die  form  veul ,  noch  peu ,  noch  örgeul  hat, 
welche  Martin  als  regelmässige  hinstellt,  andererseits  horCy  ovrer,  jor,  deu  u.  a.  m., 
die  er  als  der  handschrift  eigentümlich  characterisiert  ,•  gute  centralfranzösische  for- 
men aus  dem  anfange  des  13.  Jahrhunderts  wären ,  während  im  gegenteil  die  diph- 
thongierten: hewre,  jour  usw.  einer  weit  späteren  epoche  angehören.  Die  von  Martin 
verzeichneten  eigentümlichkeiten  gehören  zum  grösseren  teil,  wie  er  sagt,  ganz  all- 
gemein dem  normannischen  dialecte  an,  zu  einem  andern  teil  der  ganzen  domäne 
des  altfranzösischen ,  endlich  zu  einem  dritten ,  nicht  geringen  teil  den  Schreibern, 
die  sehr  nachlässig  waren  und  sich  für  die  spräche  des  dichters  offenbar  vielfache 
änderungen  erlaubten.  Dahin  gehören  z.  b.  gleich  mesmes  (im  reim  mit  primes),  wo 
nicht  s  eingeschoben,  sondern  t  weggelassen  ist,  auch  glaube  ich  nicht,  dass  die 
cndung  um  der  ersten  pluralis  als  der  ausspräche  des  dichters  unangemessen  erwie- 
sen wird  durch  den  reim  feon  :  veon,  sondern  dass  man  fetm  :  veum  lesen  muss. 
Warum  sollen  überhaupt  nachlässige  Schreiber  den  reim  mit  religiöser  Sorgfalt  con- 
serviert  haben? 

Eine  liste  der  eigentümlichkeiten  der  handschrift  war  allerdings  angezeigt, 
doch  würde  ich  dabei  von  einem  anderen  princip  ausgegangen  sein.  Statt  zu  ver- 
zeichnen ,  was  allgemein  normannisch ,  hätte  ich  vorgezogen ,  zusammenzustellen ,  was 
nicht  allgemein  normannisch;  dessen  ist  leider  sehr  viel  in  der  handschrift.  —  Der 
normannische  dialect,  in  dem  Guillaume  sicherlich  geschrieben,  ist  uns  in  einer 
menge  grammaticalisch  sorgfältiger  denkmäler  erhalten,  von  denen  ein  grosser  teil 
veröffentlicht  ist;  die  constanten  characteristischen  eigentümlichkeiten  des  normanni- 
schen dialectes ,  die  sich  bis  zur  neige  des  13.  Jahrhunderts  mit  grosser  dauerbarkeit 
erhalten,  sind  daher  ohne  mühe  aus  gedruckten  hilfsmitteln ,  die  im  bereiche  aller, 
zu  erkennen  und  festzustellen,  soweit  dies  noch  nicht  bereits  geschehen.  Das  tertium 
comparationis  war  damit  gegeben:  die  vielfach  entnormannisierten  sprachformen  des 
Besant  —  ob  sie  nun  ein  werk  der  letzten,  dem  vierzehnten  Jahrhundert  angehöri- 
gen  Schreiber  sind,  welche  die  vorliegende  einzige  handschrift  ausgeführt,  oder  bereits 
von  früheren  copisten  herrühren  —  konten  damit  verglichen,  und  eine  grosse  zahl 
von  formen  des  einzigen  besantmanuscripts  als  entweder  nicht  dem  dialect,  oder 
auch  nicht  einmal  der  zeit  Guillaumes  angehörig  ausgemerzt  werden.  Da  zeit  und 
dialect  des  dichters  feststehen,  und  auch  die  reime  —  freilich  in  einem  sprachlich  so 
verfälschten  texte  mit  grosser  vorsieht  —  als  kritisches  hilfsmittel  herangezogen  wer- 
den konten,  so  war  damit  ein  weg  gegeben,  in  vielen  fällen  die  sprachliche  form 
Guillaumes  widerherzustellen,  und  ~  wenn  auch  der  text  selbst,  als  in  einer  editio 
princeps  genau  die  handschrift  reproducierte  —  wenigstens  in  der  einleitung  anzu- 


222  BEAKELMAKK 

geben ,  wie  und  auf  welchen  basen  seine  kritische  widerherstellung  zu  bewerkstelligen 
sein  dürfte.  Eine  solche  nachweisung  der  sprachlichen  eigentümlichkeiten  der  band- 
Schrift  wäre  gewis  von  wesentlichem  nutzen  gewesen. 

In  der  tat,  wenn  wir  in  einem  gedichte  aus  dem  anfange  des  13.  Jahrhun- 
derts neben  einander,  mit  der  grösten  inconsequenz ,  acht«,  alt  normannische  for- 
men, wie  sie  öuillaume  offenbar  gebraucht  haben  muss,  neben  solchen  finden,  die 
allen  anderen  dialecten  Frankreichs,  mit  ausnähme  des  normannischen,  teilweise 
sogar  erst  dem  ausgange  des  13.  Jahrhunderts  oder  dem  14.  angehören,  so  können 
wir  kaum  annehmen,  dass  eine  solche  dialect-  und  epochenmengerci  das  werk  des 
dichters  selbst  gewesen,  wir  müssen  sie  notwendiger  weise  als  den  fimts  später  und 
nicht  normannischer  copisten  ansehen.  Wenn  wir  zumal,  wie  im  vorliegenden  falle, 
bei  anderen  von  denselben  Schreibern  abgeschriebenen  stücken,  die  noch  in  anderen 
handschriften  erhalten  sind,  durch  vergleichung  mit  diesen  eine  grosse  incorrectheit  und 
nachlässigkeit  ihrer  abschrift  constatieren  können,^  so  sind  wir  um  so  mehr  berech- 
tigt, im  Besant,  obgleich  wir  hier  keine  zweite  handschriffc  zu  hilfe  ziehen  können, 
eine  grössere  Sorgfalt  ihrerseits  a  priori  durchaus  nicht  vorauszusetzen. 

Wir  werden  z.  b.  namentlich  annelmien  dürfen,  dass  alle  die  zahlreichen  for- 
men in  or,  welche  sich  vorzugsweise  in  der  zweiten  hälfte  des  gedichts  finden  (wäh- 
rend die  erstere  das  normannische  ur  weit  sorgfältiger  bewahrt)  änderungen  der 
Schreiber  darstellen.  So  namentlich  lor  1155,  2808,  2830,  2888  und  a.  a.  o. ,  neben 
lur  145,  194,  706,  855,  1788  usw.;  por  205,  419  neben  pur  44,  344,  3701;  das 
doppelt  falsche  plusors  584,  1103,  1310,  1320,  1327  und  das  2yl^sor  851  neben  plu- 
sur  22;  dolore  231,  jors  246  neben  dolur  129,  224,  229,  245,  1208,  1523,  jurs 
250,  334,  372,  426,  472,  528,  852,  flm  907,  creatur  :  entur  567  :  68  usw.  Der 
reim  lehrt  als  falsch  erkennen  plor  gereimt  mit  dolur  743  :  44,  sah^eor  mit  dolur 
129  :  30,  dote  mit  tute  275  :  76,  darnach  auch  dot  592,  salveor  130,  1300,  1584, 
2410.  Verglichen  mit  pereillus  268,  dolorus  708,  joius  :  vtts  1035  :  1036,  leprus 
141 ,  VU8  :  glorius  2145 :  46  sind  für  die  spräche  des  Guillaume  falsch ,  auf  der  einen 
Seite  alle  die  zahlreichen  formen  perillos  3255,  doloros  694,  401^  410,  pitos  745, 
3527  usw.,  femer  die  feminina  tenebrose  135,  3166,  joiose  (mit  s'espose  gereimt) 
2085  :  86  usw.  oder  gar  diphthongierungen  wie  preciouse  186,  dolorouse  323,  tene- 
brouae  324,  delitouses  1341,  die  adverbien  wie  hidosement  329  —  auf  der  anderen 
Seite  V08  und  nos  in  allen  den  zahlreichen  fällen ,  wo  es  nicht  Possessivpronomen  ist. 
Ebenso  steht  soUment  173,  1511,  2853  neben  sulement  2035  ^  2915  und  ml  334, 
2912,  3262.    Bulz  habe  ich  nur  einmal  (709)  gefunden,  dennoch  halte  ich  für  nicht 

1)  Die  ganze  liandschrift  rübrt  von  mindestens  drei  Schreibern  her,  im  Betant 
selbst  sind  zwei  verschiedene  bände  deutlich  unterscheidbar.  Es  ist  einiger  grund  vor- 
handen, anzunehmen,  dass  die  Schreiber  derselben  klosterschulo  angehörten  und  sich  im 
abschreiben  ihrer  vorläge  (die  wol  auch  ein  religiöser  sammelcodex  mit  vorzugsweiser 
berücksichtigang  der  Guillaume  zugeschriebenen  werke  wie  das  allein  erhaltene  ms.  19525) 
ablösten.  Ein  solcher  fall  wäre  durchaus  nicht  vereinzelt,  und  ist  namentlich  in  sam- 
melhandschriflen  religiös  -  didaotischer  werke,  heiligenleben  usw.,  deren  Vervielfältigung 
vorzugsweise  klösterlichen  abschreiben!  anheimfiel,  mehrfach  nachzuweisen.  Die  Schreiber 
pflegten  gewöhnlich  ihr  werk  bis  zum  ende  eines  quatemio  fortzufahren,  nicht  in  der 
mitte  abzubrechen;  so  begint  in  unserer  handschrift  die  zweite  band  unmittelbar  nach 
dem  10.  quatemio,  die  dritte  fangt  unmittelbar  nach  dem  15.  an,  während  die  zweite 
ein  quatemio  weiter  wider  eintritt  (jedoch  erst  nach  abschluss  eines  gfedichtes  von  dem 
noch  ein  kleiner  rest  blieb  und  nach  freilassung  eines  blattos). 


ÜB.   LE   BB8AN9  DB  DUEU   BD.   MABTIN  223 

der  spräche  Goillaumes  angehörig  dolz  (in  zahLreichen  föllen  wie  745,  1300,  2206, 
3088),  dolce  3350,  dolcement  2786,  2798,  3472  a.  ö.  a.  ebenso  wie  ducor  3559.  Ebenso 
halte  ich  für  falsch  (für  die  Schreibart  des  Goillaume)  mouieplier  2745  oder  gar  mou- 
tepleier  2749  für  multeplierf  das  z.  b.  2729  steht,  die  zahlreichen  fölle  wo  on  für  das 
normannische  un  oder  um  geschrieben  ist ,  wie  jptt'son  :  chaitiveaon  2593  :  94,  scUveicion 
G16,  669^  2796,  aavo»  56,  awm  3175,  istron  3171,  deusom  52,  neben  felun  13,  481^ 
savum  49,  53  u.  a.  m.  Den  Sprachgebrauch  >  Guillaomes  glanbe  ich  auch  erhalten  in 
sumes  3175,  3194,  401,  nicht  in  sames  1301.  Richtig  erhalten  und  für  den  Sprachge- 
brauch Guillaumes  beweisend  sind  auch  die  formen :  tumbel  247,  ttmbe  3243 ,  perfunde 
3598,  habunde  3713^  curt  592,  Tunt  22,  792,  encmUre  389,  cumpaignie  322,  etm- 
trtfaiz  131 1 ,  cutisei/  7 12 ;  das  alles  sind  Normannismen ,  die  in  jedem  einzelnen  falle 
den  nicht  normannischen  formen  in  o  vorgezogen  werden  müssen ,  wo  änderungen  der 
Schreiber  solche  in  den  tezt  gebracht,  ebenso  wie  die  abkürzungen  für  muH,  pur, 
cu/n  nicht  molt  (oder  gar  motiU  332)  por,  con  aufzulösen  sind. 

Im  anschluss  an  eine  solche  liste  von  sprachformen  des  Besant,  die  dem  nor- 
mannischen dialect  nicht  angehören,  konten  einige  andere  sprachlich  interessante 
details  verzeichnet  werden,  z.  b.  das  femininum  tele  2301,  2304  u.  o. ,  licUe  2209, 
mit  bezug  auf  die  von  Littr^  und  nach  ihm  von  Brächet  mit  so  grosser  allgemein- 
heit  ausgesprochene  regel  vom  femininum  der  adjectiva  zweier  endungen  im  lateini- 
schen, die  freilich  nicht  mehr  umgcstossen  zu  werden  braucht;  femer  das  alte  cUt 
2110,  2556  neben  vait  420,  513,  516,  527,  876,  917,  1142,  1971  u.  ö.  a. 

In  diesem  zusammenhange  liegt  auch  die  frage  nahe ,  wie  sich  der  dichter  zu 
der  regel  vom  casusabzeichen  gestellt  habe.  Der  herausgeber  hat  sich  darüber  ent- 
halten: die  beantwortung  dieser  frage  hat  auch  ihre  ganz  besonderen  Schwierigkeiten,  da 
die  handschrift  nicht  allein  im  reime,  sondern  auch  im  innem  des  verses  sehr  oft 
das  regime  für  das  sujet  braucht  Von  dem  werte  salvere  habe  ich  nur  einmal  das 
sujet  gefunden  (2127),  sonst  wird  dafür  stets,  im  verse  wie  im  reime,  le  salveor 
gebraucht  Mit  anderen  Wörtern  ist  es  ähnlich ;  die  gröste  inconsequenz  ist  regel.  — 
Angesichts  dieser  regelmässigkeit  in  der  Unregelmässigkeit,  der  enormen  incorrect- 
heit,  die  nahezu  alle  stücke  unserer  handschrift  verunziert,  sogar  die  prosaischen 
(ich  habe  oben  einige  beispiele  gegeben)  darf  man  schon  a  priori  starke  zweifei  dage- 
gen haben,  dass  alle  die  offenbaren  Sprachfehler  sowol  in  den  anderen  stücken  von 
den  betreffenden  dichtem,  als  im  Besant  von  Guillaume  herrühren  sollten,  dass 
nahezu  alle  Verfasser  der  in  diese  samlung  aufgenommenen  religiösen  gedichte  und 
prosastücke  ganz  ausnahmsweise  incorrect  geschrieben  hätten.  Da  ich  nun  aber  eine 
anzahl  von  solchen  in  unserer  handschrift  nach  spräche  und  text  sehr  fehlerhaft  über- 
lieferten stücken  in  anderen  handschriffcen  nachgewiesen  habe^  wo  sie  durchweg 
sowol  dialectisch  reiner  erhalten  sind,  als  auch  sprachlich  einen  sehr  viel  correcteren 
tezt  aufweisen,  so  glaube  ich  eine  gleiche  Verfälschung,  wie  ich  sie  oben  für  die 
spräche  des  Besant  wahrscheinlich  zu  machen  gesucht  habe,  auch  für  den  text  mit 
voller  berechtigung  annehmen  zu  dürfen. 


1)  Ich  brauche  dies  wort  in  diesen  au&ählungen  darchgehends  in  allgemeinerem 
sinne  für  schreibgebrauch,  weil  ich  hier  durchaus  nicht  untersuchen  will  oder  zu  unter- 
suchen habe,  ob  letzterer  von  der  ausspräche  in  einzelnen  fallen  verschieden;  die  (rage 
der  ausspräche  lässt  sich  nicht  so  nebenher  bebandeln ,  es  ist  für  dieselbe  noch  viel  oder 
alles  zu  tun.  Hoffentlich  bringt  Gaston  Paris  bald  seine  wertvollen  Untersuchungen  darüber 
an  die  öffentlichkeit. 


224  BRAKKTiMANN 

Wenn  eine  durchgehende  sprachliche  Verfälschung  des  yorliegenden  Besanttex- 
tes  ans  den  angeftShrten  gründen  höchst  wahrscheinlich  ist,  so  geht  es  doch  nicht  an, 
denselben  in  allen  fallen  zu  corrigieren,  es  gibt  deren,  wo  maass  und  reim  den  fal- 
schen casus  erfordern  (wie  in  den  meisten  altfranzösischen  gedichten).  Wie  viele  von 
diesen  fällen  wirklich  auf  rechnung  des  dichters  kommen^  lässt  sich  bei  der  einzigen 
handschrift  nicht  entscheiden;  ich  glaube,  dass  sich  noch  ein  guter  teil  berichtigen 
Hesse,  wenn  wir  ältere  und  bessere  texte  besässen.  Wenn  wir  aber  auch  annehmen 
wollten ,  dass  öuillaume  so  sehr  wenig  anstand  genommen ,  dem  reime  und  dem  vers- 
maasse  zu  liebe  der  grammatik  auch  da,  wo  es  sich  leicht  vermeiden  liess,  gewalt 
anzutun,  so  wären  wir  darum  noch  keineswegs  berechtigt,  anzunehmen,  dass  er  auch 
da,  wo  solche  rücksichten  nicht  obwalteten,  die  sprachlichen  regeln  vernachlässigt 
habe,  die  wir  in  allen  guten  handschriften  von  werken,  die  seiner  zeit  angehören, 
ziemlich  durchgehends  beobachtet  finden. 

Um  auf  besondere  fälle  des  vorliegenden  Besanttextes  einzugehen  ,8o  glaube 
ich,  dass  der  herausgeber  mindestens  berechtigt  war,  da  den  richtigen  casus  wider 
herzustellen,  wo  der  vers  es  erforderte.  So  z.  b.  v.  2162,  wo  die  handschrift  liest: 
Or  quide  Vorne  bien  espleiter.  Der  vers  ist  um  eine  silbe  zu  lang,  und  der  heraus- 
geber streicht,  um  das  richtige  maass  zu  bekommen,  das  2,  welches  eigentlich  nötig 
ist.  Ich  würde  hier  die  änderung  Voms  unbedingt  vorziehen.  Ebenso  v.  1736,  wo  die 
handschrift  liest :  E  qom  loist  de  quier  fin.  Es  fehlt  eine  silbe ,  der  herausgeber  bes- 
sert: E  qu'ome  oist  (wobei  das  e  natürlich  nicht  elidiert  werden  soll).  Ich  würde 
lesen:  Et  que  Voms  oist.  —  Auch  in  421,  einem  verse,  der  um  eine  silbe  zu 
kurz  ist ,  würde  ich  li  anciens  setzen.  Wenn  man  enemis  nicht  zulassen  will  (obgleich 
Guillaume  für  das  äuge  durchaus  nicht  genau  genug  reimt;  dass  der  reim  is  :i  (ü) 
befremden  könte,  der  sogar  lyrikem  aus  der  besten  zeit  genügen  muss),  so  kann 
das  Casusabzeichen  des  im  reim  befindlichen  substantives  wol  wegfallen.  Ich  würde 
auch  1513  ändern:  Li  didblcs  out  grant  envie,  1261  Dont  homs  se  deit  en  orgoillir 
(vgl.  1481)  u.  a.  m.  In  solchen  fällen  l^atte  die  herstellung  des  casusabzeichens  wol 
ihre  berechtigung.  Ich  würde  es  noch  in  sehr  vielen  anderen  fällen  widerhergestellt 
haben,  namentlich  wenn  innerhalb  des  verses  artikel  und  adjectiv,  nicht  aber  das 
zugehörige  Substantiv  das  nominativabzeichen  hat.  Ich  begreife  aber  sehr  wol,  dass 
man  in  der  ersten  ausgäbe  einer  einzigen  handschrift  bedenken  tragen  kann,  in  die- 
ser hinsieht  durchgreifend  zu  bessern,  zumal  die  ansichten  Über  die  grammatische 
regelmässigkeit  in  poetischen  stücken,  insbesondere  über  den  grad,  bis  zu  welchem 
sie  dem  reim  und  versmaass  zum  opfer  fallen  durfte ,  noch  in  der  schwebe  sind.  Doch 
sollte  man  sich;  wie  Mussafia  treffend  sagt,  aus  furcht  vor  Willkür  der  willkür  eines 
Schreibers  nicht  unterwerfen  (6rert/kima,  1865,  115).  Namentlich  mit  texten,  die 
in  einem  solchen  grade,  wie  der  des  Besant  (und  der  meisten  anderen  stücke  der  hand- 
schrift 19525)  verunstaltet  sind,  können  wir  uns  wol  nicht  begnügen. 

In  einer  gewissen  hinsieht  hat  die  nachlässigkeit  des  copisten,  resp.  eine  zu 
grosse  ehrfurcht  vor  der  tradition ,  die  vom  herausgeber  an  unserem  texte  geübte  kri- 
tik  beeinflusst,  nämlich  in  bezug  auf  die  behandlung  des  elidierten  e  Gaston  Paris 
hat  in  seiner  eingehenden  kritik  des  Besant  {Revue  a^tique ,  1869  uro.  30  p.  59)  die 
bedenken,  welche  der  Zulassung  einer  elision  des  weiblichen  e  nach  bedürfnis  und 
belieben  des  dichters  entgegenstehen,  in  vortrefflicher  weise  ins  licht  gestellt,  es  ist 
also  überflüssig ,  darauf  zurückzukommen ,  da  ich  mich  seinen  ausführungen  vollkom- 
men anschliesse  und  sogar,  in  gewisser  beziehung  noch  weiter  gehend  als  er,  wenig- 
stens für  die  lyrische  poesie  unbedingt  behaupten  möchte,  dass  überall  da  eine  text- 
yerderbnis  vorliegt,  wo  eine  nidit- elision  zur  richtigen  länge  des  verses  erforderlich 


6b.   LS  BB8AKT  DB  DtBO  BD.  ICABTIK  225 

wäre.  Ich  möchte  hier  nur  einen  besonderen  fall  von  elision  des  e  betonen,  nämlich 
in  gue  und  se.  Jedermann,  der  altfranzösische  gedichte  in  mehreren  copien  nach 
handschriften  namentlich  des  aasgehenden  13.  und  beginnenden  14.  Jahrhunderts 
verglichen  hat ,  weiss,  wie  geläufig  den  Schreibern  die  auseinanderrenkung  der  durch 
die  elision  eines  e  vereinigten  wörtchen  que  und  üy  ae  und  ü  und  ähnlicher  ist,  um 
einen  vers,  der  um  eine  silbe  zu  kurz  ist,  auf  das  richtige  maass  zu  bringen.  Die 
Schreiber  des  Beaant  haben  von  diesem  bequemen  mittel,  verse  zu  vervollständigen,  die  in 
ihrer  vorläge  durch  die  nachlässigkeit  eines  ihrer  Vorgänger  (in  einzelnen  fallen  viel- 
leicht auch  des  dichters ,  das  lässt  sich  nicht  entscheiden)  das  maass  nicht  hatten ,  in 
ausgiebigster  weise  gebrauch  gemacht  Der  herausgeber  hat  daraus  für  sich  die 
bcrechtigung  hergeleitet,  in  gleicher  weise  überall  durch  trennung  von  qu'ü  und  s'tl 
das  maass  herzustellen,  wo  der  vers  um  einen  fuss  zu  kurz  ist.  Wirklich  kritische 
ausgaben  der  chansons  de  geate  müssen  erst  zeigen,  ob  diese  trennungen  im  heroischen 
verse  zulässig  sind;  für  die  achtsilbner  und  andere  kürzere  maasse  Ute  ich  sie, 
wenigstens  was  den  strengeren  Sprachgebrauch  der  lyrischen  dichter  angeht,  im  all- 
gemeinen für  unzulässig,  und  glaube,  dass  an  den  meisten  stellen,  wo  eine  solche 
trennung  vorkomt,  eine  leichte  besserung  dieselbe  überflüssig  machen  kann.  Was 
speciel  den  Beaant  anbetriilt,  so  glaube  ich,  dass  auch  hier  an  manchen  stellen,  wo 
Martin  gegen  die  handschrift  die  durch  elision  eines  e  vereinigten  werte  getrent  hat, 
um  das  richtige  maass  zu  bekommen ,  dem  verse  auf  eine  andere  art  geholfen  werden 
konnte.  Ich  notiere  eine  anzahl  solcher  stellen :  242  L.  Qü'ele  en  pert.  —  245  L. 
SHl  fuat  au  pariaair  vgl.  235,  12%.  —  249  L.  S'il  le  aeüat.  —  262  L.  Äinz  qu'ü 
bien  aache,  —  265  L.  QuHl  deit  e  aler  e  parier  vgl.  717,  734.  —  290  L.  Deaqu'ü  en 
avera  ^  bleamie.  —  390  L.  Ä  icel  jar  qu'ü  vendra  dire.  —  416  :  17  L.  SHl  veeit  celm 
ena  el  via  :  Qu^ü  a'en  enragereit  tut  via,  —  800  L.  Maia  qu'ü  i  aü  (im  vorhergehen- 
den verse  würde  ich  lesen:  qu'en  aü  perdu),  —  1124  Toblers  t  statt  ü  ist  sehr  gut, 
warum  aber  nicht  %  einschieben  und  aHl  i  a  lesen?  —  1128  L.  E  a^ü  ja  puet.  — 
1134  L.  Et  a  none  du  quHl  eat  nuü.  —  2411  L.  S'ü  pardonereü.  —  2442  L.  E  jeo 
vei  qu'ü  ont  vgl.  2456.  —  2929  L.  Cela  quHl  trava  tot  maintenant  (Best  Ms.  25406  f. 
15^)  3379  L.  En  porcherie  peatre  pora. 

In  allen  diesen  fällen  (mit  ausnähme  von  416,  vro  ae  ü  steht)  hat  das  manu- 
script  die  elision,  die  mit  den  angedeuteten  leichten  Veränderungen  beibehalten  wer- 
den konnte.  In  einigen  anderen  fällen  scheint  die  herstellung ,  auch  gegen  das  manu- 
script  angezeigt ,  z.  b.  v.  354  Ä  lur  cora  que  eua  reprendront ,  wo  ich  qu^elea  {lea 
almea)  lesen  würde.  —  408  L.  Qu'ania  ü  Iw  fu.  —  1021  L.  Si  qu'ü  hien.  — 
1154  L.  QuHl  ont  ci  eu  (vgl.  3107).  —  1297  L.  Qu  qu'enaeveU  ne  jeo  fui.  —  1453  L. 
Qu'ü  a  Deu  face.  —  1480  L.  Por  la  grant  biauti  qu'ü  aveit  —  1666  L.  La  chaatei 
qu'ü  tant  ama.  —  2116  L.  AI  höre  qu'ü  tat  fora  del  onde.  —  2132  L.  Qu'ü  teit 
devenu  Deu  baatart.  —  2152  L.  Mea  dea  qu'ü  en  velt  revenir,  —  An  sonstigen  bes- 
scrungen  würde  ich  etwa  noch  vorschlagen  215  Quanqu'ä  deaez  le  firmament.  — 
284  De  ceo  que  eil,  —  364  Qu'oma  ne  ne  penae  e  qu'ü  ne  veiUe.  —  481  würde  ich 
aus  dem  reime  averaairea  lesen ,  ebenso  1099  doaire  und  demgemäss  auch  gloire  943, 
1965.  Dem  Schreiber  ist  diese  etymologische  Umstellung  geläufig,  er  schreibt  auch 
patrimowie,  —  554  derverie.  —  1058  qui.  —  1338  gemcUea,  —  1435  S'or  vua  avez,  — 
1437  Quela.  —  1865  pacience  ebenso  zu  corrigieren  wie  1529  acience.  —  1935  A  en 

1)  Hier  und  an  anderen  stellen  (12,  607,  3102,  3188,  1805)  schreibt  der  heraus- 
geber avroy  ebenso  682,  687  avrant,  3699  avron,  aber  2896  und  2901  auront,  416  aureü, 
2000  anrex,  3064  aurai.     Wie  soll  geschrieben  werden? 

ZBITSOHR.   F.  DEUTSCHS  PHILOL.    BD.  III.  15 


226  BRAKBLMANN,    ÜB.    LE  BBSAKT  DB   DIEU  ED.   MARTIN 

ferir  quangu'ele  ataint,  —  2443  L.  Entr^eU.  —  2832  QfAe  plus  il  rCont  estS  entor,  — 
2934  tneisme.  -  3009  cl&ix  (Best.)  —  3028  Be  lequel,  —  3079  :  80  Best. :  Que  U 
monz  avait  duri  pluz :  Quant  dieus  avint  en  tere  Jim.  —  3102  (Best.) :  Mais  ü  aura 
tot  U  denier  :  Tont  par  est  Deus  larges  et  dolz.  —  3136  (Best.):  Tel  en  est  mort 
pidz  hm  matin.  —  3149  sorpris  (Best.).  —  3150  En  Deu  creient  (Best.).  —  3228  :  29 
De  que  q}/Cü  ot  ou  quHl  veeü  :  Ou  que  quHl  pense  <m  quHl  desire.  —  3236  Qu'il 
n'en  i  ait.  —  3237  Ne  ja  sa  jene.  -— 

In  einem  punkte  bin  ich  einer  wesentlich  anderen  ansieht  als  der  heransgeber, 
nämlich  in  bezug  auf  sein  System,  keine  accente^  tr^mas,  c^dillen  usw.  zu  setzen, 
ein  System ;  das  bei  einigen  neueren  deutschen  herausgebem  wider  in  aufnähme 
gekommen  ist,  nachdem  es  eine  Zeitlang  verlassen  war.  Wenn  diese  zeichen  nicht 
gebraucht  werden  sollen,  weil  sie  nicht  in  der  handschrift  sind,  so  mache  man 
folgerichtig  auch  keine  t  zu  j,  u  zu  v,  man  interpungiere  nicht,  man  setze  vor  allem 
keine  apostr^he  ~  man  mache  mit  einem  worte  diplomatische  ausgaben.  Will  man 
aber  das  Verständnis  wirklich  erleichtem,  so  ist  dazu  und  zur  richtigen  lesung  der 
verse  das  tr^ma,  das  z.  b.  chaüt  von  chaut  unterscheidet,  sehr  oft  viel  nötiger,  als 
die  Umänderung  von  u  m  v,  oder  gar  die  setzung  der  apostrophe.  Diese  vollstän- 
dige enthaltung  ist  der  entgegengesetzte  cxoess  von  dem,  in  welchen  einige  franzö- 
sische herausgeber  verfallen  sind^  die  lesezeichen,  namentlich  die  accente^  in  unend- 
licher abenteuerlicher  varietat  zu  setzen.  Dieser  häufung  gegenüber  war  enthaltsam- 
keit  geboten,  aber  es  scheint  mir  noch  innerhalb  der  grenzen  dieser  enthaltsamkeit 
zu  liegen,  zwei  getrennt  ausgesprochene  vocale  von  einem  diphthong,  ein  betontes  e 
von  einem  unbetonten  zu  unterscheiden,  ebenso  zwei  gänzlich  verschiedene  laute  wie 
c  und  g  zu  trennen.  In  bezug  auf  die  accente  scheint  mir  der  enthaltsamkeit  volle 
genüge  geschehen ,  wenn  man  dieselben  auf  die  bezeichnung  der  betonung  beschränkt 
und  von  der  bezeichnung  der  ausspräche  ganz  absieht,  also  nur  den  aigu,  nicht  den 
grave  verwendet.  Aber  innerhalb  dieser  grenzen  scheint  mir  die  Setzung  der  lese- 
zeichen  erforderlich. 

In  bezug  auf  die  genauigkeit  der  reproduction  gebührt  der  vorliegenden  aus- 
gäbe alles  lob.  Ich  habe  zeile  für  zeile  mit  der  handschrift  verglichen  und  nur  einige 
kleine  ungenauigkeiten  bemerkt,  die  wol  gröstenteils  druckfehler  sind.  So  steht  126 
im  manuscript  muU  (ausgeschrieben),  232  mVt,  das  auch  nwU  aufzulösen,  215  quanqe, 
1224  eovendrait,  1566  damnedeus ,  2611  raimSy  2844  (var.)  hat  das  manuscript 
quauios,  2847  damnede.  Dass  ein  so  stark  verderbter  text,  auch  wenn  man  von  tie- 
fer eingreifenden  änderungen  in  sprachlicher  und  grammatischer  hinsieht  abstand 
nahm,  vielfacher  besserungen  bedurfte,  um  nur  einigermaassen  lesbar  zu  werden,  ist 
erklärlich;  Martin  hat  ihn  vielfach  mit  sicherem  blick  und  leichter  band  emendiert, 
Tobler  eine  ganze  reihe  von  scharf  sinnigen  und  von  umfassender  lecture  zeugenden 
änderungsvorschlägen  hinzugefügt.  Aber  trotzdem,  und  trotz  der  reichen  nadilese 
von  G.  Paris  und  Mussafia  (Bev.  crit. ;  Litt,  centralblatt)  könte  man  kaum  sagen, 
dass  alle  Schwierigkeiten  gehoben  seien.  Die  auffindung  einer  besseren  und  älteren 
handschrift  könte  hier  allein  helfen.  Nach  den  aus  dem  Besant  in  den  BesÜaire 
hineininterpolierten  stellen  muss  übrigens  neben  der  uns  im  manuscript  19525  erhal- 
tenen überlieferungsform  eine  andere  existiert  haben,  die  stellenweise  ausführlicher 
und  xjielfach  correcter  war;  soviel  scheint  mir  wenigstens  aus  der  vergleidiung  mit 
der  Bestiairehandschrift  f.  fr.  25406  hervorzugehen. 

Referent  kann  schliesslich  dem  herausgeber  zu  dieser  höchst  sauber  gearbeite- 
ten ersten  leistung  auf  dem  felde  der  romanischen  philologie  nur  glück  wünschen. 
Er  hat  gezeigt,  dass  er  die  philologische  akribie,  die  gereifte  £rucht  einer  methodisch- 


UÖmUB,  ÜB.   SKiDABlIfA  V.  K.   MAÜBER  227 

strengen  schule,  die  er  bisher  ausschliesslich  den  germanistischen  Stadien  gewidmet, 
mit  glück  und  geschick  anch  auf  das  verwante  feld  der  mittelalterlich  -  französischen 
spräche  und  litteratar  zu  übertragen  versteht.  Möge  er  uns  bald  mit  einer  kritischen 
ausgäbe  der  gesamten  werke  Guillaumes  erfreuen,  im  anschluss  an  die  Fregusausgabe, 
durch  welche  er  nächstens  in  neue  beziehungen  zu  seinem  dichter  treten  wird. 

PAUS,   IM  NOVElfBBB   1869.  JULIUS  BRAKELMAIVN. 


Die  Skidarima.    Von  KaBr.Maerer*    (Aus  den  Abhandlungen  der  könig- 
lich baierschen  Akademie.)    München  1869.    70  b.    4. 

Die  Skidarima  gehört  einer  dichtungsgattnng  an ,  die  auf  Island  seit  dem  ende 
des  14.  Jahrhunderts  bis  in  das  18.  herab  sich  einer  besondem  pflege  erfreut  hat 
und  während  dieser  zeit  fast  als  die  ausschliessliche  form  für  erzählungen  in  gebun- 
dener rede  betrachtet  werden  darf. 

Von  älteren  rimur  waren  bisher  nur  gedruckt:  die  Skdld'Htlga'rimwr  (Grh. 
Mind.  n,  419 — 575)  und  die  prymlwr  und  lUmw  frd  Völswngi  himum  öhorna  (Ssom. 
Edda,  Leipzig  1860,  235  —  289;  240-- 254  und  Vorwort  IX— XV);  ausserdem  die 
Olafs 'fima  (Fiat.  I,  8  —  11).  Zu  diesen  komt  jetzt  die  Skidarima,  die  man  bis- 
her nur  aus  den  gelegentlichen  anführungen  P.  £.  Müllers  und  Finn  Magnusens 
kante.    Hiemach  galt  sie  für  eines  der  ältesten  gedichte  dieser  gattung. 

Mit  der  letzterwähnten  t)Za/*«-rtma  hat  sie  zweierlei  gemein.  Einmal,  dass  sie 
beide  nicht  wie  alle  sonst  bekanten  aus  mehreren  abteilungen  (nrnttr)  bestehen,  son- 
dern ungeteilt  in  je  einer  rima;  die  Olafs -rima  hat  65  vierzeilige  Strophen,  die  Ski- 
darima hat  deren  203,  während  die  oben  erwähnten  Skala -Helga -rimur  390  Stro- 
phen in  7  rimur,  die  piymlur  79  Strophen  in  8  rtmwr,  die  V&swugs  rimur  279  str. 
in  6  rimur  umfassen.  Femer:  beide  gedichte  sind  nicht  wie  die  SkcUd- Helga - 
rimur,  die  prgmlur,  die  Vdlsungs  rimur  und  alle  die  übrigen  älteren,  von  denen 
wir  kentnis  haben,  gereimte  paraphrasen  von  zum  teil  noch  vorhandenen  sagas  (oder 
wie  die  prymlur  von  einem  alten  Edda  -liede) ,  sondem  es  sind  originale  dichtungen, 
wenn  auch  verschiedenen  Inhaltes  und  Charakters;  die  Skidarima  ist  eine  ganz  frei 
erdichtete  erzählung,  die  Olafs -rima  dagegen  nach  art  der  encomiastischen  drdpur 
ein  lobgedicht  auf  den  norwegischen  könig  Oli^  den  Heiligen  (f  1030),  dessen  taten 
und  tod  sie  feiert. 

Die  Skidarima  berichtet  aber  von  einem  norwegischen  bettelmanne  Skidi, 
der  auf  Island  von  einem  hofe  zum  andern  hemmzieht  und  auf  einem  derselben, 
dem  des  porleifr  beiskjaldi,  wo  er  einmal  übernachtet,  einen  träum  erlebt,  dessen 
erzählung  den  hauptinlialt  des  gedichtes  (str.  46  —  187)  bildet.  Ihm  träumt,  dass  er 
vom  gotte  Thor  im  auftrage  des  Odin  nach  Yalhöll  geleitet,  hier  die  Äsen  und  Asin- 
nen  und  eine  ganze  schaar  nordischer  beiden  versammelt  findet.  Odin,  nachdem  er 
ihn  aufs  beste  bewillkomnet  und  beschenkt,  führt  ihm  auch  eine  frau  zu,  Högnes 
tochter,  Hild,  und  verleiht  ihm  königsnamoi  wie  königreich,  nämlich  ganz  Asien 
und  was  er  sich  ausserdem  wünschte.  Als  Skidi  ein  kreuz  schlägt  und  sich  hier- 
durch als  Christ  kennzeichnet,  erhält  er  zunächst  vom  Äsen  Heimdall  einen  hieb, 
dessen  erwidemng  durch  Högne,  der  dem  Schwiegersöhne  Skidi  schützend  zur  seite 
tritt ,  das  Signal  zu  einem  kämpf  und  gemetzel  wird ,  woran  sich  allmählich  die  ganze 
ehrenwerte  versamlung  beteiligt.  Viele  der  hervorragendsten  beiden  verlieren  hierbei 
das  leben ,  ja  selbst  die  Äsen  Balder  und  Njord ,  Loke  und  Honer ,  von  Skidis  höchst- 
eigner band  erschlagen,  bis  dann  dieser  selber  von  Jung-Sigurd  schliesslich  zur 
türe  hinausgebracht  wird  und  —  wider  erwacht.    Die  Wahrheit  seines  traumes  wird 

15* 


228  MÖBIDS 

nicht  nur  durch  die  mishandlungen  betätigt,  die  er  während  desselben  seinen 
schlafgenossen  angetan  und  von  denen  fünf  sterben,  sondern  auch  durch  den  aus 
dem  geträumten  kämpfe  mitgebrachten  grossen  zahn,  den  er  einem  seiner  gegner 
ausgeschlagen  und  der  dann  kunstvollst  zum  bischofsstabe  für  die  kirche  in  Holar 
verarbeitet  wird. 

Dies  ist  ganz  kürzlich  der  Inhalt  der  Skidarima,  die  nun  hier  unter  obigem 
titel  von  Eonr.  Maurer  zum  crstenmale  vollständig  herausgegeben  und  mit  einer 
höchst  gehaltreichen  einleitung  versehen  worden  ist. 

Die  einleitung  (s.  3  —  55) ,  die  dem  texte  des  gedichtes  (s.  55  —  68)  vorausgeht, 
gibt  zunächst  eine  ausführliche  Inhaltsübersicht  (3  —  5) ,  spricht  sodann  unter  ver- 
gleichung  ähnlicher  dichtungen  sowol  auf  nordischem  gebiete,  vrie  auf  deutschem 
(Rosengarten  u.  dgl.)  über  die  tendenz  der  Skidarima,  die  als  Verspottung  der  unna- 
türlichen überspantheiten  der  romantik  bezeichnet  wird  (5  — 17),  wendet  sich  darauf 
zu  den  mannichfaltigen  quellen ,  aus  denen  der  poet  seinen  stoff  geschöpft  (17  •—  34), 
sucht  dann  in  eingehender  erörterung  der  frage  über  zeit  und  ort  der  entstehung  des 
gedichtes  darzutun,  dass  es  nicht  früher  als  höchstens  der  mitte  des  15.  Jahrhun- 
derts angehöre  und,  ohne  dass  person  und  namen  des  dichters  nachweisbar  wäre, 
seine  heimat  im  westlichen  Island  habe  (34  —  54) ,  um  zuletzt  noch  über  die  hand- 
schriftliche Überlieferung ,  papierhandschriften  des  18.  Jahrhunderts  (vgl.  s.  46  —  47) 
und  eine  von  Maurer  selbst  für  die  vorliegende  herausgäbe  benutzte  abschrift  von  der 
band  Gudbrand  Vigfnssons,  zu  berichten  (54  —  55). 

Indem  wir  den  leser,  der  sich  über  die  angegebenen  punkte  näher  unterrich- 
ten vrill,  auf  Konr.  Maurers  einleitung  selber  verweisen,  wollen  wir  versuchen  einen 
vom  herausgeber  zwar  ebenfalls,  doch  nur  beiläufig  (s.  47)  berührten  punkt,  nämlich 
die  spräche  der  Skidarima  hier  etwas  näher  zu  charakterisieren. 

Sie  bietet  in  grammatischer  vrie  lexicalischer  beziehung  mancherlei,  das  teils 
in  folge  ihrer  entstehungszeit ,  teils  der  gebundenen  redoform  von  der  altnordischen 
spräche,  wie  wir  sie  aus  der  litteratur  des  12.  bis  14.  Jahrhunderts  kennen  lernen, 
mehr  oder  minder  abweicht. 

Wir  scheiden  zunächst  die  Umschreibungen  (kenningar)  aus;  sie  gehören  als 
ein  rein  äusserlicher  schmuck  der  poetischen  diction  als  solcher  an  und  können^  min- 
destens in  dieser  art  reimereien,  ebenso  gut  bleiben,  als  durch  die  gewöhnlichsten 
prosaausdrücke  ersetzt  werden. 

Die  Skidarima  enthält  folgende;  für  Odin:  stäla-gatUr  (124);  für  mann: 
audar-baldr  und  mcfija -haldr  (12.  7),  örva-lundr,  mens-lundr  (59),  lanfa-lundr, 
seima-lundr,  fleina-lundr  (26.  59.  67.  92.  127),  laufa-vidr  und  seima-viär  (52. 
145);  ferner:  randa-hrjötr  (?  143),  nisiill  silkitreyju  (180),  aeima-poUr  (199),  her- 
janS'Jhöttr  (60);  für  fr  au:  hauga-  skorda  und  gullhlads-skarda  (4.  5),  sÜkt-hrund 
(3),  parna-hrü  und  veUa-hru  (112.  120),  porna-vigg  (87);  für  kämpf:  ibeppa-so^ 
und  eggja-aag  (136.  139),  mälma-prä  (88),  örva-seimr  (147),.  odda-skwr  (153), 
«eate-Än<f  (165),  kappa-dana  (172),  piumar-vera  (178);  für  gedieht:  Fjölnia- 
bdtr  (6)  und  Sudra  ajdfarrok  (203);  für  gold:  greipar-rnjöll  (71),  Qrettia  rauda 
bdl  (71),  arma-aetr  (86);  für  köpf:  frada-adlr  (188);  für  brüst:  ödar-rann  (6); 
für  Speer:  remmi-g^gr  (132);  der  ort  Hitar-dalr  wird  genant:  Belgja  dair  (35). 

Es  finden  sich  nur  wenige  unter  diesen  kenrnngarf  die  nicht  bereits  von  Svbj. 
Egilsson  aus  den  altem  dichtungen  nachgewiesen  würden;  nur  dass,  offenbar  unter 
dem  einflusse  des  vorsmaasses,  die  composita  der  kenningar  in  der  Skidarima  die 
vollere  form  zeigen;  so  z.  b.  bei  Egilsson:  ör-,  lauf-,  aeim-,  baug-,  pam-,  veU-, 
während  in  Skidarima:  örva-,  laufa^,  aeima-,  bauga-,  poma^,  «e22a-. 


ÜBBB   BKiDARlMA   VON   K.   MAUBKB  229 

Einige  der  oben  angeführten  kenninffar  dürften  jedoeli  seltner  sein;  so:  nisHU 
sükUreyiu ,  d.  i.  heftnadel  der  seidenjacke  (dorchbohrer  des  gewandes)  =  mann ,  wo- 
mit Skidi  den  draohentöter  Sigurd  anredet;  nistül,  was  kein  Wörterbuch  anführt, 
von  nist  oder  nisti,  n.:  spange,  heftel.  Femer:  -sag  (vgl.  sog,  f.  die  säge  und 
saga,  sägen)  in  keppa^sag  and  eggja-Siig:  das  sagen,  schneiden,  hauen  mit  knüp- 
peln, mit  Schwertern,  d.  L  kämpf.  Zwei  andere  hsnninga/r  für  kämpf  sind:  Icappa- 
dans,  heroum  saltatio,  und  das  nicht  wol  deutbare  pusnar-vers;  Svbj.  Egilsson  ver- 
zeichnet aus  Snarra-Edda  dreyra-vera:  versM,  sonUus,  Stridor  sanguinis;  doch 
fusnar?  pusn,  f.  (von  Pytja  rttere):  clamor,  str^tus?  wenn  es  nicht  gar  zu  nahe 
läge  An  pusS'  d.  i. :  purs»  (riese)  zu  denken:  ptMsa-vers?  Gedicht  wird  umschrie- 
ben durch  hdtr  Fjölms:  bort  des  fjölnir,  d.  L  Odin,  nicht,  wie  dies  öfter  geschieht, 
der  Zwerge;  femer  durch  Sudra  sjafar^rok;  sjdfar-rok  vgl.  sjor  r^hr  die  see  raucht, 
von  dem  durch  die  luft  aufgewirbelten  wasserdampf;  ähnlich  dverg^regn:  poesis.  Der 
aus  der  Njdla  b^kante  eigenname  der  Streitaxt  des  Skarphedin,  Bimmu  -  gi^gr,  d.  i.: 
kampfriesin ,  wird  hier  (str.  132)  unter  der  form  Bemmi-g^gr  appellativ  für  axt  über- 
haupt gebraucht. 

In  grammatischer  beziehung  enthalten  lautgestalt ,  bezüglich  Orthographie ,  wie 
flexion  mehrere  kriterien  för  die  spätere  zeit ,  obwol  nur  diejenigen  von  ihnen  maass- 
gebend  für  das  alter  der  entstehung  sein  möchten,  die  sich  neben  der  handschrift- 
lichen Überlieferang  auf  das  zeugnis  von  reim  und  metrum  stützen ;  denn  jene  reicht 
nicht  weiter  als  bis  in  den  anfang  des  18.  Jahrhunderts ,  wobei  es  überdies  zweifelhaft 
bleibt,  in  vrie  weit  der  vorliegende  text  sich  ganz  streng  an  seine  so  späte  vorläge 
gehalten  oder  ob  nicht,  wie  wir  fast  glauben  möchten,  hier  und  da  im  interesse  des 
lesers,  wenn  auch  nur  in  orthographischer  beziehung  kleine  änderungen  vorgenom- 
men worden. 

Rücksichtlich  der  lautgestalt  heben  wir  folgendes  hervor.  Vocale:  überall, 
wie  sich  im  vorliegenden  falle  von  selbst  versteht ,  e  (sprich  ja)  für  i ,  femer  (B 
Umlaut  sowol  von  d  als  von  ö;  sonach  reimen  hida  (=  haHa)  und  nuBla  (31),  Siekja 
(=  sakja)  und  hraikja  (51),  fair  (=«  faW)  und  lestr  (52.  138);  die  verlängerangen 
aller  vocale  vor  ng  und  nik,  so  wie  au  als  die  verlängerang  des  umlautes  ö  vor  ng 
in:  laung  ==  long,  gaung  =  gong,  saung  »»  söng  (vgl.  43);  ö  statt  des  älteren  au 
in  sjö  Septem;  das  epenthetische  u  begegnet  nur  zweimal  in  ofurlegt  und  in  tennur 
(194)  neben  tennr  (142)  und  tenn  >— — s  menn  (5.  8),  obwol  wr  =:  r,  wenn  auch  als 
zweite  silbe  weiblicher  schlussreime  erst  seit  dem  16.  Jahrhundert,  doch  als  beson- 
dere silbe,  wie  hier  in  der  mitte  des  verses  bereits  am  ende  des  13.  Jahrhunderts 
erscheint 

Consonanten.  Erweichung  des  ^  zu  ^  und  des  ib  zu  ^,  wie  sie  später  noch 
weiter  um  sich  greift,  in  ad,  iä,  päd,  wd,  annad,  nokkud  usw.;  in  eg,  og,  pig  usw. 
Vereinfachung  des  auslautenden  rr  und  ss  {-^  sr)  zu  r  und  s ,  zum  teil  durch  den  reim 
gesichert,  z.  b.  pör  (=  pörr)  reimt  mit  lic  sior  (167),  Icms  {=  lauss)  mit  rov  Jiaus 
(174)  usw. 

Die  Silben -reime  am  ende  der  verse  sind  im  ganzen  rein,  wobei  es  sich  der 
dichter  häufig  ziemlich  leicht  gemacht,  indem  er  entweder  dieselben  reime  vriderholt 
oder  zum  reime  dasselbe  wort  verwendet,  vrie  pörf  und  pörf  (23),  skreppu  und 
skreppu  (40),  peir  und  peir  (65).  Unächte  oder  doch  nicht  ganz  ächte  reime,  die  es 
nicht  bloss  der  schrift  nach  sind ,  sondern  auch  nach  der  ausspräche ,  finden  sich 
wenige:  dtta  (sprich  autta)  und  hrotta  (192),  aUumst  und  sMust  (116),  rista  und 
hristna  (180),  voU  und  voH  (122),  v<mund  n^erri  (66),  heljar  wi^htlja  (160),  fiima 
und  pinnar  (93),  obwol  schon  früh  das  r  fast  lautlos  wird  (z.  b.  vart  und  svartr  in 


280  MÖBIÜS 

Isl.  n ,  219 ,  higgja  und  Friggjar  in  Baräar  ».  (1860)  s.  15  n.  a.) ;  avinia  und  titna 
(128),  e  und  e  in  er  und  mer,  smeU  und  ßU  u.  a.  werden  durch  gleichen  hauptton 
zum  reime ;  verändert  des  reimes  wegen  sind  vißla  (d.  i.  vela)  und  Uela  (2) ,  vendr 
(d.  i.  vandr,  s.:  Svbj.  Egilsson)  und  kendr  (19).  In  den  übrigen  fallen,  wo  die  reime 
in  der  schrift  nicht  stimmen,  beruhen  sie  auf  der  spätem  ausspräche,  der  sich  die 
Schrift  hier  und  da  anbequemt  hat;  sonach  reimen:  vers  mit  pess  (4.  178),  fyrst  mit 
hfst  (91.  93) ,  mart  (d.  i.  margt)  mit  baii  (191) ,  pr^da  (sprich  priäa)  mit  vida  (49), 
teiga  (d.  i.  teygja,  sprich  ttigja)  mit  ci^a  (120),  l^eai/r  (d.  i.  6c^r)  mit^e^^r  (32.  97), 
lands  mit  mami^  (15),  hitxa  (d.  i.  hugsa)  mit  t4a;a  (21),  W  mit  II  (spr.  beidod  drZ/) 
in  jarl  mit  i)ai2  und  /o«  (81.  176) ,  in  SMli  (d.  i.  Sturli)  mit  /t««t  (99). 

In  der  flexion  der  nomina  weist  schwanken  der  nominatiy-  und  accusativ- 
formen  auf  die  spätere  zeit;  so  zunächst  neben  niadr  (57)  und  inadrinn  (11)  auch: 
6  mcmn  (47.  58.  63),  das  zweimal  (58.  63)  mit  kann  reimt;  neben  -mundr  in 
Asmimdr  (178)  auch  o-fnund  in  Geirmund  (77)  und  Asirrnnd  (78);  6  milding  =^ 
müdingr  (51),  sdr(r)  op  mo(t(r)  reimt  mit  hUd  (15G),  abgesehen  von  der  regel- 
mässigen, schon  oben  erwähnten  abwerfung  des  nominativ  -r  in  Svar  («=  Svarr) 
Ägnar,  Edgeir^  pör  usw.;  neben  Fofnir  (161.  165)  auch  —  veranlasst  durch 
das  vorausgehende  Beginn  —  6  Fofnin  (82);  andrerseits  behalten  die  nomina  auf 
-tr  das  r  im  accusativ,  z.  b.  lov  pörir  (8i),  vor  Hcenir,  das  mit  jov  nuBnir  (179) 
reimt,  während  auch  rov  Fjölni  (91)  und  tov  Fofni  (85);  Rögna  (117),  um  es  nicht 
als  acc.  von  Bögm  =  Rögnir  (112)  gelten  zu  lassen,  muss  wol  raiv  rögnu  sein;  rov  gar^ 
priwn  statt  gaipinn  (83)  und  wol  auch  rbv  prdimi  statt  prdin  (157.  160)  möchten 
vielleicht  ebenso  wie  fleiru  statt  /Zetra  oder  fleirum  (64)  nur  druckfehler  sein.  —  In 
der  conjugation  begegnet  man  dem  späteren  i  für  a  in:  dtti  eg  (6),  eg  skyldi  (121), 
cp  <j?ndt  (101),  eg  ynni  (116)  usw.;  e»*  für  ew:  5ww  (94  und  öfter),  seu  pid  für  8^ 
(d.  i.  a^i^)  tY;  suis  vos  (118),  8€ettust  für  atßttist:  concüietis  vo8  (116),  mwt^t  für 
munduj  inf.praet.  (103). 

Spätere  wortformen  sind:  aldrei  (55.  34)  und  aldri  (27)  für  aldregi,  ei  (44  und 
öfter)  für  eigi,  köngr  für  konungr,  die  zahlformen  sextigi  (94)  und  prjdiigi  (178). 

Auf  dem  gebiete  der  8yntax  erklären  sich  die  abweichungen  von  der  älteren 
und  der  normalen  spräche  zum  guten  t«il  aus  der  lässigen  redeform  nicht  minder, 
als  aus  der  gebundenheit  durch  das  metrum.  Wir  hoben  den  freien  gebrauch  in  der 
Verbindung  von  Substantiv  und  adjectiv  hervor,  des  einen  bald  mit,  bald  ohne  artic. 
Suffix.,  des  anderen  bald  in  bestirnter,  bald  in  unbestimter  form,  bald  das  Sub- 
stantiv dem  adjectiv,  bald  dieses  jenem  vorangestellt  —  wie  es  eben  reim  und  sil- 
benzahl  gestatten  oder  fordern;  z.  b. :  drengrinn  hvasSf  aber  auch  laufavidrinn  stori, 
hüsin  stör,  aber  auch  Icapimf^veitin  difta,  fät€Bkt  fölkid,  f erleg  widrin  usw.;  fast 
jede  Strophe  enthält  beispiele;  dazu  die  auch  unserer  älteren  dichtkunst  geläufige 
nachsetzung  des  unflectiertcn  possessivs:  d  nddir  pin  (94),  t  küsum  min  (110),  ur 
gardi  sin  (14)  usw.  Auslassung  des  relativs:  sd  madr  (er)  mig  hefir  Igst  (93),  fyrvr 
pd  neyd  (er)  pü  fekkst  af  mer  (100);  alt  päd  (er)  kann  kjosa  vüdi  (123);  besonders 
häufig  ausgelassen  ist  ad  (=  at):  dass,  m.  indicativ  oder  conjunctiv»  nach  frd  eg 
usw.,  z.  b.:  frd  eg  (ad)  hann  var  (36),  oder:  <eüa  eg  (ad)  kann  heiti  (99)  auch  : 
3.  29.  34.  40.  43.  44.  45.  54.  59.  09.  103.  112.  180  und  öfter;  ebenso  9vo  =  8vo  ad 
(26.  60.  140.  158.  174)  und  %  pvi  ^  %  pvi  ad,  z.  b.:  i  pvi  (ad)  hann  lifid  Ut  (160). 
Öfter,  wie  dies  in  der  gewöhnlichen  rede  geschieht,  wird  dem  nomen  das  pronomen 
(kann  und  hiAn)  vorgesetzt:  hann  Skidi,  Jiann  fddir  minn  (10.  121.  126.  169.  177) 
und  hün  Fregja  (175.  87.  112)  hun  Valhöll  (69);  eben  dahin  gehört  das  slikt  en«-: 
solches  sind  — ,  slikt  tel  ek  —  (39.  77.  72)  und  der  periphrastische  gebrauch  von 


ÜBBB  SKlOABiMA  VON   K.   MAURER  281 

göra,  z.  b.:  rettet  gjOrdi  raumrinn:  —  er  tat  sich  erheben  (51),  ?Mnn  gjäräi  at 
faUa  (145).  Noch  sei  erwähnt  der  adverbialen  accasative:  minstan  und  litinn  (1. 
131)  nnd  der  selteneren  Verbindung  von  kunna  mit  dem  Infinitiv  dnrch  cUt  (32.  70. 
111.  143). 

Auch  Stellung  und  wähl  der  werte  Bind  öfters  von  jener  rücksicht  auf  den  vers 
abhangig,  so  z.  b.  das  durchaus  ungefüge  ad  farstü:  dass  du  giengst  (100)!  femer 
far  statt  ferr  wegen  por  (57),  vin  statt  öl  wegen  sin  (109);  widerholung  des- 
selben Wortes,  um  eine  silbe  zu  gewinnen,  z.  b.  staf  —  staf  {W-  *),  mtm  >-  mun 
(202>-  «)! 

Am  meisten,  wie  zu  erwarten,  zeigt  sich  jedoch  der  unterschied  der  spräche 
vorliegender  rima  in  lexicographischer  beziehung.  Einmal  enthält  sie  eine  ganze 
reihe  Wörter,  die  der  älteren  spräche  entweder  überhaupt  oder  doch  in  der  hier 
gebrauchten  bedeutung  fremd  zu  sein  scheinen,  andererseits  eine  anzahl  entlehnter 
Wörter,  insonderheit  deutscher,  auch  lateinischer.  Mehrere,  obwol  auch  nicht  alle, 
der  erstgenanten  finden  sich  nur  in  Björn  Haldorssons  wörterbuche,  diesem  so  iftge 
zeit  alleinigen,  doch  auch  jetzt  noch  unentbehrlichen  lexicalischen  hilfsmittel.  Wir 
verzeichnen  sie  unter  besonderer  rüclcsichtnahme  auf  Job.  Fritzners  Wörterbuch ,  des- 
sen benutzung  wir  bei  etwaigen  lesem  der  Sktäa-rima  voraussetzen. 

dlpa,  d.  L  apla,  nach  art  eines  aplif  m.  vitiilas  gehen,  anderwärts  älpast, 
hier  (54):  dlpuSu.  —  auli  wird  Skidi  genant  (98.  188.  189.  193):  Dumrian.  — 
barda:  caeso»  nent  str.  41  die  gründlinge  (grunmmgar)  y  indem  getrocknete  fische, 
bevor  man  sie  isst,  mürbe  geklopft  werden.  —  brumla  (74),  tosen,  lärmen.  — 
hrjöt  in:  randa-hrjöt  (143),  entweder  dativ  von  dem  allein  in  den  Wörterbüchern 
verzeichneten  masculinum  brjötr:  fractor,  oder  (?)  von  einem  neutrum  brjoi:  fractio, 
sonach  randa-brjot  schilderzerbrechen,  d.  i.  kämpf.  ~  brüni  in  den  Wörtern  og 
fttilti  ntpsta  Bruna  (163)  möchte  wol  Pofnir  als  den  „braunen,"  d.  h.  atrum,  fus- 
cum  (s.  Svbj.  Egilsson)  bezeichnen.  —  bupp  (163)  reimt  mit  tipp;  der  drache  Paf- 
nir  reckte  in  die  höhe  bölvad  bupp:  cctudam  exsecrandam  *{?\);  Bj.  Hald.  ver- 
zeichnet nur  bopp ,  n.  singultus  vulpium  und  saltus  pilae ;  gestattete  dies  der  gebrauch 
von  reka  upp,  so  wäre  der  sinn:  er  schlug  ein  geheul  auf.  —  byrdum^  dat.  plural. 
(35)  von  byrdr,  fem.:  last,  menge  —  die  p,  sammelt?  oder  von  byrda^  fem.:  trog,  so 
dass  safna  byrdum :  trog- ,  scheffelweise  den  häuslichen  besitz  anhäufen  ?  unter  dem 
texte  wird  conjiciert:  birgdum  von  birgdir,  f.  plur.  verrate.  —  byst  og  bart  (191); 
byst  d.  i.  byrst,  gebürstet,  Übel  zugerichtet;  sonst  heisst  byrsta:  mit  borsten  verse- 
hen (vgl.  guUi  byrstr)  oder  byrstast:  die  borsten  herauskehren  (metaph.).  —  danga 
in  den  Wörtern:  „krattans  synir  danga**  (136);  danga,  nach  Bj.  Hald.,  stark-, 
fett  werden,  während  kratti,  m.  weder  von  ihm,  noch  sonst  wo  verzeichnet  wird; 
der  herausgeber  conjiciert:  krattans  von  hratii,  m.  (gleichfalls  nur  bei  Bj.  Hald.): 
aesttis  maris  modictM  at  frequens;  sonach  krattans  synir  danga:  (das  ist  ein  kämpf, 
wo)  die  söhne  der  brandung,  d.  i.:  die  wogen  fluten  (?).  —  drukklangr  in  drukk- 
langa  sti^nd  (65)  wird  vom  herausgeber  selber  (einleitung  s.  12)  erklärt:  „nur  so 
lange,  als  man  etwa  zu  reiten  pflegt,  bis  man  wider  trinkens  halber  zukehrt."  — 
flür  —  von  flürr,  m.  (med  fagran  flür  200),  nicht  von  dem  allein  in  den  Wörter- 
büchern verzeichneten  flür,  n.  flores  —  hier  von  der  blumigen  Verzierung,  die  der 
zahn  durch  die  „Werkzeuge  der  ersten  künstler''  erhalten.  —  gylla  einn  i  ordum 
(4.  98):  jemand  durch  goldige  werte  schmeicheln.  —  harki,  m,  ttwitUtus,  strepi- 
tus  (149),  sonst  nur  kark,  n.  —  kerra,i.,  gewöhnlich  nur  titel  desbischofs,  hier 
(79)  in  dem  parenthetischen  ausrufe :  kerra/nn  vitr  (nicht  kerran  vür  ?)  von  gott:  all- 
wissender herri    oder:    der  herr  sei  mein  zeuge!  —    hrakföU,   n.  pl.  (60),   von 


232  MöBius 

den  unglücksföllen I  deren  Prophezeiung  sich  Skidi  verbittet.  —  kdklast  (61); 
„kdkl,  n.  levis  puUcUio'*  und  „kcücla  (ad)  lerUe  pUlsare**  nur  bei  Bj.  Hald.;  hier 
in  den  Wörtern  per  mtm  kostr  cid  kakUtst  um:  deine  läge  wird,  wenn  du  nach  Val- 
höll  komst,  eine  sehr  üble  werden.  —  kampa-sidi,  als  epith.  ornans  des  Skidi 
(90),  dem  freilich  vorher  (9)  ein  dünner  hart  beigelegt  wird,  wol  kaum  anders  zu 
deuten,  als:  mit  lang  herabhängendem  harte,  bezüglich  /hvotu^;  vergl.  hdr-sidr  bei 
Svbj.  Egilsson.  — -  kengr,  bei  Bj.  Hald.  unter:  keingr,  m.  gibber,  höcker;  krippa 
(d.  i.  kryppa),  f.,  bedeutet  dasselbe,  so  dass  die  Wörter:  p6  var  upp  wr  krippu 
kengr  (8)  entweder  heissen:  doch  ragte  aufwärts  aus  (ohnehin)  krummem  rücken  ein 
höcker,  oder:  krippu- kengr  ist  als  potenzierter  höcker  und  upp  ör  adverbial  zu  ver- 
stehen. —  kingr,  m.  =  kengr:  curviUwra,  nur  bei  Bj.  Hald.;  koma  tu  kings 
(155)  zur  beugung,  d.  h.  zu  falle  kommen.  —  kvarda  (41);  „  zukost  verbietet  sich 
von  selbst  (weil  er  keine  hat) ,  setr  tm  ctd  honum  kva/rda  **  ?  kvardi  (unter  quardt), 
m..  messstock,  ellenmaass  bei  Bj.  Hald.;  doch  was  soll  dies  hier?  —  lengja, 
f.  fl^),  s.  nachher  unter  malir.  —  lif,  n.  leben,  im  sinne  von  person  (99);  Sturli 
auf  Island  wird  mit  den  werten  eingeführt:  annat  er  par  dg<eU  lif,  dort  gibt  es 
noch  einen  andern  vornehmen  mann  usw.  —  lüinn,  adj.  (part.  praet.  von  Itfja: 
durch  hämmern  dünn  machen):  schlaff  (182).  —  loppa,  f.  tatze,  von  der  band 
Skidis,  mit  der  er  eiligst  ein  kreuz  schlägt  (125).  —  lukka,  f,:  glück  (50.  53.  57), 
der  älteren  spräche  so  gut  wie  fremd.  —  malir,  f.  pl.  (27)  von  dem  kreuz  auf 
dem  feile  des  viehrückens,  aus  dem  sich  Skidi  eine  „lengja  mikil  og  sid/'  ein  gros- 
ses und  weites  laugstück  für  seine  schuhe  schneidet.  —  neyta,  benutzen,  gemes- 
sen, hier  (12):  vorteil  erfahren;  in  den  werten:  enga  menn  fann  {kann)  %  ordum 
einum  neyta,  er  Hess  niemand  in  seiner  rede  gelten,  er  verläumdete  jedermann.  — 
pin,  f.  (164,  reimt  mit  sin),  in  keinem  wörterbuche,  wol  für  jwtia,  f.  cr%^MxJtu8, 
so  dass  die  worte  long  var  sü  hin  Ijöta  pin  bedeuten:  lange  dauerte  diese  scheuss- 
liche  landplage  (nämlich  der  drache  Fofnir).  —  rakna:  expUcari;  hier  (44)  in  den 
Worten:  seint  tök  gUdin  ad  rakna:  erst  spät  verlor  sich  die  lustigkeit  der  leute.  — 
reidigangr  (76),  in  keinem  wörterbuche;  alt  er  %  reidigangi,  d.i.  {v)reidi'gang%: 
in  zorniger  aufregung.  —  sjöli,  m.  (50),  könig,  nur  bei  Bj.  Hald.,  wie  der  her- 
ausgeber  bereits  bemerkt.  —  skoltr,  m.  (142),  rüssel,  schnauze,  unehrerbietiger 
ausdruck  für  den  mund  des  friesischen  beiden  Ubbi,  dem  Skidi  vier  zahne  ausschlägt; 
wol  für  skolptr  vom  stamme  skalp—  drehen,  wenden,  vgl.  skolpr,  m.  dreheisen.  — 
skrüdi,  m.  (ällan  skreppu  skruda  10)  nicht  blos  schmuck,  omat,  sondern  hier  all- 
gemeiner ,  wie  skrud,  n. ,  vom  ganzen  inhalt  der  reisetasche ;  ebenso  in  Markinskinna 
100":  skreppa  ok  alt  skreppu  skrud,  —  skrökkva  (130)  erdichten,  erdichtetes 
oder  unwahres  aussprechen,  von  dem  sonst  wolbekanten  skrök ,  f.  —  smer  (106), 
in  keinem  wörterbuche,  für  smjör:  butter,  wie  sonst  überall  geschrieben.  —  stüta 
(167),  gewöhnlich  trans. :  töten,  hier  intrans. :  umkommen;  „eher  wirst  du,  Iflmmel, 
unter  den  starken  hieben  dein  leben  verlieren.*'  —  süd,  {,  asserum  compages,  hier 
(24)  bloss:  bret,  dem  das  schuhleder  verglichen  wird.  —  teiga  (120)  nicht  allein  für 
teigja  wegen  des  reimes  zu  eiga,  wie  schon  der  herausgeber  bemerkt,  sondern  auch 
für  teygja:  hervorlocken;  ord  parf  sizt  at  teygja:  der  bejahenden  antwort  auf  einen 
heiratsantrag  bei  einem  mädchen  darf  man  im  voraus  versichert  sein  (?).  —  tenn: 
dentes  (5),  hier  von  den  Sprachwerkzeugen;  Idtum  heldr  leika  tenn  ä  liHum  aßntj^- 
rwn:  lasst  uns  unser  mundwerk  lieber  an  kleinen  geschichten  spielen,  lasst  uns 
solche  erzählen.  —  tetr,  adj.,  in  keinem  wörterbuche,  wol  für  tötrugr,  von  tetr 
oder  tötr,  m.  oder  n.^  läppen,  lumpen;  ur  hirzlu  tetri  Skida  (198):  aus  Skidis  arm- 
seligem bßhältnis.  —    ür-mata:   übermässig  (13);   wol  kaum  acht  nordisch.  — 


ÜBBB  BkIdABImA  von  K.   IfAUSBB  233 

vatna  (202),  „ehe  er  gelobte  heidoische  opfer  abzulegen  und  in  der  Sonnabend- 
nacht  bei  wasser  zn  fasten/'  —  ^ngismenn:  jtwenes  (2),  wol  nur  in  der  späte- 
ren spräche  üblich.  —  ^nki,  latnentationem  oder  lamentationes  (133) «  in  keinem 
Wörterbuche I  jedenfalls  dem  dänischen  ynk:  Jammer,  elend  entnommen,  das  selbst 
wider  auf  altnordisch  aumk  (in  aumka:  misereri)  zurückgeht. 

Ausser  diesen  Wörtern  finden  sich  nun  noch  einige  offenbar  fremde,  bereits 
vom  herausgeber  als  solche  gekennzeichnet:  fin  (19.  22.  114),  jungr  (199),  for- 
smä:  verschmähen  (121),  par:  paar  (32)^  kvittr:  quitt,  ausgeglichen  (4),  zu  denen 
man  wol  auch  sldngi  =»  armr  (auch  schon  in  der  Didrekssaga)  rechnen  darf.  Latei- 
nische Wörter  sind:  vers:  versiM,  in  der  kenning:  pusnar-vers  (178)  und  in 
amors  vers :  carmina  erotica  (4). 

Der  druck  ist  ein  correcter;  nur  wenige  druckfehler  sind  stehen  geblieben, 
lies:  Skiäi  (10),  stofunni  (36.  46),  vida  (49),  Uzt  (59),  hvorki  (61),  vist?  (69), 
utur  (80.  81.  84),  yet  (85),  poma  (87),  lofann  (114),  svima  (128),  -g^gi  (132). 
Störend  wirkt  der  mangel  eines  grossen  p. 

KIEL.  THEOD.   HÖBIU8. 

SSderwall)  K.  F*  Hufvudepokerna  af  svenska  spräkets  utbildning. 
Lund,  Gleerup.  1870.  (VUI),  132  ss.  8. 
Während  der  letzten  jahrzehende  haben  schwedische  gelehrte  ihrer  landes- 
sprache ,  sowol  in  betreff  der  älteren  gestalt  derselben ,  des  Altschwedischen ,  als  auch 
ihrer  mannigfachen  dialecte,  einen  regen  fleiss  zugewendet.  Die  dialectische  for- 
schung  hat  einen  gewissen  abschluss  wie  andererseits  grundlage  und  ausgangspunkt 
für  fortgesetzte  forschung  im  schwed.  dialectlexicon  von  J.  E.  Rietz  (1867)  erhal- 
ten; die  mancherlei  älteren  dort  aufgeführten  und  benutzten  monographieen  sind  seit- 
dem fast  jedes  jähr  um  eine  oder  mehrere  neue  vermehrt  worden.  Historische  gramraa- 
tik  des  Schwedischen  und  vor  allem  genauere  kentnis  der  alten  spräche  wurde  überhaupt 
erst  ermöglicht,  aber  dann  auch  wesentlich  gefördert  durch  kritische  ausgaben  der 
quellen,  einmal  durch  die  nunmehr  mit  dem  Xu.  bände  (1869)  voUendete  der  schwe- 
dischen provinzgesetze  durch  Co  11  in  (f  1834)  und  Schlyter  (geb.  1795),*  sodann 
durch  die  seit  1844  beginnenden  publicationen  der  schwedischen  Fomskriftsällskap, 
unter  denen  namentlich  das  altschwedische  legendarium,  herausgegeben  von  6eo. 
Stephens  (2  bände,  1847  — 58),  durch  alter  und  gute  der  handschriftlichen  Über- 
lieferung (Cod.  Buranus  und  Cod.  Bildstenianus)  hervorgehoben  zu  werden  verdient. 
Mit  umfassendster  benutzung  dieser  queUen,  und  unter  anwendung  alles  dessen,  was 
die  historisch -comparative  graromatik  der  gegenwart  an  methode  gelehrt  wie  an 
resultaten  zu  tage  gefordert  hat,  verfasste  Job.  Er.  Kydquist  sein  grundlegendes 
werk:  „die  gesetze  der  schwedischen  spräche"  {Svenska  spräkets  lagar),  worin  er 
deren  flexion  und  lautsystem  seit  dem  Schlüsse  des  13.  Jahrhunderts,  wo  unsere  quel- 
len beginnen,  bis  zur  gegenwart  in  ausführlicher  weise  zur  darstellung  bringt. 
(Band  I:  conjugation,  XLIV,  509  Seiten,  1850;  band  U,  declination,  633  Seiten,  1857 
bis  60;  bandlll:  Wortregister,  XYII,  303  selten,  1863;  band  IV:  lautlehre,  552  selten, 
1868  —  70).  Zu  Rydquist  und  dem  nicht  minder  verdienten  Carl  Säve  in  Upsala, 
dem  man  ausser  anderen  monographieen  die  treffliche  ausgäbe  des  alten  gotländi- 
schen  gesetzes  {Guialag)  so  wie  die  eingehende  behandlung  der  spräche  auf  der  insel 
Gotland  und  in  Dalame  verdankt ,  gesellt  sich  unter  den  in  gleicher  richtung  tätigen 
jüngeren  gelehrten:  K.  F.  Söderwall,  docent  an  der  Universität  in  Lund. 

1)  Eine   orientierende  Übersicht  über  das   ganze  werk  gibt  F.  Dyrlund   in  der 
Kopenhagener  Zeitschr.  f.  phii  u.  p»d.  VIII  (1870),  314 — 323. 


234  MÖBiüs 

Von  seinen  früheren  arbeiten  kennen  wir  die  drei  akademischen  ahhandlnngen : 
„Über  die  rection  der  verben  im  Altschwedischen."  1865, 37  seiten.  4 ;  „Über  die  behand- 
lung  fremder  werter  im  Altschwedischen."  1867,  19  seiten.  4 ;  „Über  die  kasnsformen 
im  Altschwedischen."  1868  (?),  17  seiten.  4.  Ganz  nenerdings  hat  er  eine  kleine 
Schrift  herausgegeben:  „Die  hauptepochen  in  der  entwickelnng  der  schwedischen 
Sprache."  Lnnd  1870  (VIII),  182  seiten.  8.  Anf  diese  möchten  wir  hier  den  leser 
ganz  besonders  aufmerksam  machen ,  weil  sie  ihm  in  kurzer  Übersicht  die  hanptergeb- 
nisse  mitteilt,  zu  denen  die  heutige  schwedische  Sprachforschung  gelangt  ist,  und 
wol  geeignet  erscheint,  ihn  in  die  quellen  selber  und  in  die  umfänglicheren  nntersn- 
chungen  einzuführen. 

Bekantlich  hatte  schon  N.  M.  Petersen  in  seiner  nordischen  Sprachgeschichte 
(2  bände,  Kopenhagen  1829  —  30),  wie  die  geschichte  der  dänischen  und  der  norwe- 
gischen y  SO  auch  die  der  schwedischen  spräche  verfasst ;  ihr  yerdienst  ist  für  die  dama- 
lige zeit  um  so  höher  anzuschlagen,  je  geringer  und  je  weniger  gesichtet  das  mate- 
rial  war,  das  ihm  zur  bearbeitung  vorlag;  Torarbeiten  aber  fehlten  so  gut  wie  gänz- 
lich. Unter  weit  günstigeren  bedingungen  ist  jetzt  Söderwall  an  seine  aufgäbe  her- 
angetreten ;  nicht  allein ,  dass  ihm  die  quellen ,  die  Petersen  teilweise  nur  aus  hand- 
schriften  und  in  dürftigen  cxcerptcn  zu  benutzen  hatte,  vollständig  und  sämtlich  in 
kritischen  ausgaben  vorlagen ,  konte  er  teils  seine  eigenen  Specialuntersuchungen, 
teils  die  anderer,  namentlich  Rydquists,  in  betreff  der  flexion  und  des  vocalismus, 
als  mehr  oder  minder  abgeschlossene  benutzen  und  sich  auf  sie  berufen. 

Söderwall  teilt  die  geschichte  der  schwedischen  spräche  in  vier  perioden;  die 
erste  beginnt  mit  der  anwendung  der  schwedischen  spräche  zu  buch  und  schrift, 
d.  i.  mit  dem  ende  des  13.  Jahrhunderts ,  dem  unsere  älteste  schwedische  handschrift 
angehört  (das  ältere  Vestgötalag  in  einem  codex  vom  jähre  1281);  die  zweite  reicht 
bis  in  die  der  kalmarunion  (seit  1397)  vorausgehende  zeit ,  ende  des  14.  Jahrhunderts ; 
mit  dem  aufhören  der  union  (1520)  und  mit  der  reforraation  (1527)  begint  die  dritte, 
die  sich  bis  in  die  mitte  des  18.  Jahrhunderts  erstreckt,  wo  die  vierte  anhebt. 
Jede  dieser  perioden  behandelt  Söderwall  in  der  weise,  dass  er  nach  einer  allgemei- 
nen Charakteristik  ihrer  sprachform  und  nach  kurzem  überblick  über  die  litt^ratur ,  in 
der  sich  dieselbe  ausprägt ,  das  lautsyst<jra ,  die  flexion ,  die  syntax ,  den  Wörterschatz 
bespricht;  eine  allgemeine  Übersicht  (116 — 122)  bildet  den  schluss. 

Um  an  dieser  stelle  nur  auf  laut-  und  flexionslehre  der  ältesten  periode  ein 
wenig  näher  einzugehen,  so  können  Söderwalls  auseinandersetzungen ,  in  willkomme- 
ner weise  veranschaulicht  durch  die  s.  123—130  beigefügten  paradigmen  der  alt- 
schwedischen declination  und  conjugation,  allerdings  nur  bestätigen,  was  uns  bereits 
P.  A.  Munch  und  Carl  Säve  dargelegt  haben,  jener  in  wenn  auch  nur  dürftigem 
umrisse  in  seiner  „altschwedischen  und  altnorwegischen  grammatik"  (1849),  dieser 
viel  eingehender  in  der  kleinen,  aber  sehr  inhaltreichen  abhandlung:  „Über  die 
sprachlichen  Verschiedenheiten  in  den  altschwedischen  und  altisländisphen  Schriften'' 
(1861);  nämlich:  die,  wenn  auch  charakteristische,  gleichwol  relativ  überaus  geringe 
Verschiedenheit,  die  zwischen  dem  Altschwedischen  des  13.  Jahrhunderts  und 
dem  sogenannten  Altnordischen,  d.  h.  dessen  altnorwegisch- isländischer  form, 
zu  tage  tritt.  Es  sind  eben,  wie  es  angesichts  der  gemeinsamen,  wirklich  „altnor- 
dischen" Stammsprache  nicht  anders  zu  erwarten,  nur  grad  -  unterschiede ,  während 
andererseits  merkwürdig  genug  die  beiden  nordischen  eigfentümlichkeiten ,  die  suf- 
figierung einerseits  des  pronomen  demonstr.  zur  bildung  des  articulierten  Substan- 
tivs ,  andererseits  des  pronomen  refiex.  zur  bildung  eines  medium  und  passivum  — , 
eine  jede  von  ihnen  sowol  im  Isländischen  und  Norweg^chen,  als  auch  im  Söhwe- 


Ob.   SÖDSBWALL,   SVENSKA  gPaAKETS  ÜTBILDNING  235 

dischen  und  Dänischen  sich  ganz  unabhängig  von-  und  parallel  neben  einander 
gebildet  zu  haben  und  dem  gemeinsam -nordischen  fremd  gewesen  zu  sein  scheinen; 
nur  selten  erscheinen  sie  anfangs  im  Altschwedischen,  während  sie  unsern  ältesten 
altnordischen  denkmälem  bekantlich  fast  ganz  fremd  sind,  um  aber  dann  im  skan- 
dinavischen Westen  wie  osten  sich  immer  mehr  und  mehr  zu  befestigen  und  in  den 
neunordischen  sprachen  als  durchgreifendes  kriterium  gegenüber  allen  übrigen  ger- 
manischen sprachen  zu  erscheinen. 

Bücksichtlich  der  altschwedischen  spräche  im  allgemeinen  hebt  Söderwall 
zunächst  hervor,  dass  die  spräche  unserer  ältesten  quellen,  also  der  provinzgesetze, 
nicht  etwa,  wie  man  erwarten  möchte,  provinciale  dialectverschiedeuheiten ,  minde- 
stens solche  nur  sehr  untergeordnet,  sondern  —  mit  ausnähme  nur  des  gesetzcs  von 
der  insel  Gottlaud  —  bereits  eine  ihnen  allen  gemeinsame  Schriftsprache  zeigen,  die 
sich  allerdings ,  wie  das  ja  auch  beim  heutigen  Schwedisch  der  fall  ist,  dem  dialecte 
Upplands  und  Södermannlands  am  nächsten  anschliesst. 

Im  vocalismus  ist  dem  Altschwedischen  dreierlei  eigen:  die  Verdichtung  der 
diphthongen  zu  langen  vocalen  (abgesehen  vom  Gotländischen ,  was  jene  bis  auf  heute 
bewahrt),  der  sehr  beschränkte,  wenn  auch  keineswegs  mangelnde  umlaut  des  a  durch 
u,  die  trübung  des  a  zu  ^,  namentlich  des  ja  zu  J€e.  Jene  Verdichtung  der  diph- 
thongen, sehen  wir  von  solchen  fällen  ab  wie  ste  =  steig ^  flo  =  flattg  usw.,  ist 
dem  Altnordischen  ganz  fremd.  Der  altnordische  umlaut  des  a  durch  u,  seit  dem 
anfange  des  11.  Jahrhunderts,  mindestens  auf  Island,  ganz  consequent  und  im  wei- 
testen umfange  durchgeführt,  erscheint  vor  dieser  zeit,  wie  uns  die  Innern  silben- 
T*  irae  lehren ,  nur  erst  im  beginne ,  während  er  im  Altschwedischen ,  wenn  überhaupt, 
so  nur  da  erscheint  —  sei  es  das  a  des  Stammes  oder  der  ableitung  —,  wo  das 
umlaut -wirkende  u  geschwunden,  (einerseits:  öl,  örn,  biorn,  skiolder,  iorp,  myoper 
(altuord. :  wjödr),  andererseits:  sakam,  nicht:  sokum,  kallum,  nicht:  kollum,  gamul, 
nicht  gomul  usw.)  Die  trübung  des  a  und  ja  zu  (ß  und  ja  zeigt  sich  wol  in  spätem 
norwegischen  (vom  Schwedischen  beeinflussten)  Schriften ,  nimmer  im  Isländischen.  Das 
häufige  ^  ^=  e  im  Altschwedischen  fehlt  dem  Altnordischen  nicht  sowol  dem  laute, 
als  dem  zeichen  nach.  Die  epenthese  eines  vocals  zwischen  consonanten  und  r  im 
auslaute  eines  wertes,  einest,  e,  <ß,  a  im  Altschwedischen,  des  u  im  Altisländischen, 
des  a  oder  e  im  Altnorwegischen  mag  ziemlich  gleichzeitig  eingetreten  sein ;  im  Islän- 
dischen ist  sie  bereits  zu  ende  des  13.  Jahrhunderts  nachweisbar  (z.  b.  in  AM. 
623,  4). 

Dem  altschwedischen  consonantismus  ist  bis  auf  vereinzelte  föUe  fremd 
die  im  Altnordischen  so  durchgreifende  assimilation.  Im  Altschwedischen  durchgän- 
giger abfall  des  Ä  vor  i,  n,  r,  beibehaltung  des  v  vor  r,  während  im  Altnordischen 
in  beiderlei  rücksicht  das  gegenteil.  Altschwedische  einschiebung  des  h ,  p  zwischen 
m  und  r,  des  d  zwischen  /,  n  und  r  ohne  dass  h  und  d  auch  vor  epenthetischem  e 
wider  weichen,  z.  b.  fulder,  alder,  sander,  domber,  warmber,  verglichen  mit  alt- 
nordisch: fuUr,  aür,  sannr,  dömr,  varmr. 

Die  flexion  des  nomen,  die  starke  wie  die  schwache,  ist  im  Altschwedi- 
schen und  Altnordischen  —  abgesehen  von  rein  lautlichen  Veränderungen,  wie  abfall 
einzelner  consonanten  (r,  t)  oder  vocale  (»,  u)  im  auslaute  usw.  —  wesentlich  ganz  die- 
selbe, auch  darin,  dass  die  erstere  hier  wie  dort  nur  zwei  declinationen  gestattet,  von 
denen  die  eine  die  nicht  mehr  scheidbaren  a-  und  t- stamme  umfasst,  die  andere  die 
wenigen  u- stamme,  deren  neutra  sich  auf  das  eine  wort/<e  (altnordisch/)^)  beschrän- 
ken, deren  masculina  und  feminina  den  i- umlaut  aufweisen  und  deren  masculina 
ihr  charakteristisches  u  im  acc.  pl.  auch  hier  und  da  erhalten  haben.     Dagegen: 


236  MÖBIUS,  ÜB.  SÖDERWALL,  8VENSK.  SFB. 

uominativ  und  accusativ  des  ploral  der  beiden  schwachen  nentra  ögha  (altn.  attga) 
und  öra  (altn.  eyra)  lauten:  öghmi  (altn.  augu)  und  önm  (altn.  eyru).  Dass  dies 
n  nicht  der  artikel  sei»  folgert  man  einmal  aus  den  formen  öghunin  (altn.  augwt) 
und  örtmin  (altn.  eynm),  in  denen  der  artic.  suffix.  sonst  zweimal  stehen  würde, 
andererseits  aus  dem  in  diesem  falle  ganz  gleichen  Altdänischen,  aus  dessen  Eriks 
loY  (2|  33)  L.  Wimmer  das  beispiel  anführt:  tu  eghan  oc  twa  huendar  oc  twa 
fetter,  wo  die  artikellosen  JuBndar  und  fetcBr  auf  gleichfalls  artikellose  eghasn  hin- 
weisen; hiemach  gilt  dies  n  als  eine  altertümlichkeit,  die  das  Schwedische  und 
Dänische  vor  dem  Altnordischen  voraus  hat  und  die  ihre  erklärung  in  dem  gotischen 
augona  und  ausona  findet  (s.  L.  Wimmer ,  altdänische  dedination  §  68  ff.  und  histo- 
rische Sprachforschung  s.  30  ff.).  Sollten  diese  beiden ,  im  Schwedischen  und  Däni- 
schen ganz  allein  stehenden  beispiele  für  solche  beibehaltung  des  n  maassgebend 
sein  dürfen  und  nichts  desto  weniger,  gleich  dem  dänischen  verden  und  verdenen 
(vergl.  dän.  verd  und  ahd.  werdU),  aus  allmählich  dem  bewustsein  entschwundener 
Verbindung  von  öghu  und  öru  mit  dem  artikel  entstanden  sein? 

Die  dedination  des  adjectivs  und  seine  comparation  bietet  keinerlei  unter- 
schied. Im  pronomen  begegnet  man  den  eigentümlichen  formen:  iak  (altn.  eJc),  vir 
und  ir  (altn.  vir  und  ir),  sina,  d.  i.  «tu,  (got.  setna,  altn.  sin);  sar  neben  sa  und 
8u  (altn.  sd  und  sü),  obwol  nur  im  älteren  Vestgötalag,  bevor  pan  und  pe,  d.  i. 
eum  und  eam  (altn.  pann  und  pä)  als  nominative  dafür  eintreten ;  dem  paragogischen 
n  begegnen  wir  in  pön  (altn.  pau) ,  pessin  (altn.  pesst) ,  hvilikin  (altn.  hvüikr)  u.  a. 

Charakteristischer  als  in  der  nominalflexion  sind  die  unterschiede  der  vcrbal- 
flexion  im  Altschwedischen  und  im  Altnordischen.  Namentlich  zweierlei  tritt  her- 
vor: das  altschwed.  n  statt  des  altn.  t  in  der  2.  plur. ,  ind.  und  conj. ,  praes.  und 
prset.  (die  2.  plur.  ind.  des  prset.  nicht  ausgenommen,  gavin  altn.  gdfut),  sodann: 
der  nicht -Umlaut  im  conj.  des  prset.:  gavi  altn.  gtßfa.  Andere  unterschiede  sind 
weniger  wesentlich,  wie  durchgehende  nicht -Unterscheidung  der  personen  im  Singu- 
lar, d.  h.  1.  (oder  1.  und  2.)  ="  3.,  gehe  sie  consonantisch  aus  (stamm,  oder  -er, 
ar,  ir),  oder  vocalisch  (-t,  dt,  api),  mit  einziger  ausnähme  des  für  das  nordische 
überhaupt  charakteristischen  t  in  der  2.  sing.  ind.  des  starken  pr»teritum  (1.  gav, 
2.  gavt ,  3.  gav);  ferner  nichtunterscheidung  des  indicativ  vom  conjunctiv  in  1.  pl. : 
-um  (kein  -im);  nicht  -  Unterscheidung  des  ganzen  indicativ  und  conjunctiv  im  schw. 
prset.  ausser'  der  3.  pl.  (indic.  kcUlapu  und  conj.  kaüapi);  auch  hier  in  der  3.  pl. 
der  beiden  conjunctive,  prses.  und  prset.,  stark  und  schwach,  das  paragogische  n 
in  der  nebenform  -in,  statt  des  gewohnlicheren  und  im  Altnordischen  alleinigen  -t; 
denn  dass  dies  n  wirklich  nur  ein  späteres  augmentum  sei,  wie  in  flcUrin,  p€nm 
u.  a.,  nicht  aber  dem  n  im  gotischen  nimaina  entspreche,  möchte  wol  auf  grund 
des  mangels  solcher  formen  auf  -in  in  den  ältesten  quellen  keinem  zweifei  unterlie- 
gen (vgl.  Wimmer,  altdänische  dedination  s.  117  —  118  und  historische  Sprachfor- 
schung 37). 

KIEL.  THSOD.  MÖBIUS. 

Die  gotische  spräche  im  dienste  des  Christentums  von  dr.  K.  Wein« 
hold.    Halle,  Buchhandlung  des  Waisenhauses.    1870.    7Vt  Sgr. 

Vorliegende  schrift  gibt  eine,  wenn  auch  nicht  viel  neues  enthaltende,  doch 
immerhin  dankenswerte  zusanmienstellung  derjenigen  gotischen  werte,  welche  Vulfila 
benutzte,  um  die  grundbegriffe  der  christlichen  religion  zu  bezeichnen.  Bedeutung 
und  ableitung  der  einzelnen  werte  sind  kurz  besprochen,  und  die  geschichte  dersel- 
ben wird  durch  die  übrigen  deutschen  mundarten  verfolgt. 


BBBMHABDT,   ÜB.  WSINHOLB,   GOt.   SPRACHE  237 

Zunächst  wird  nachgewiesen,  wie  Vulfila  für  die  griechischen  werte,  die  sich 
auf  gott  and  weit  bezichen ,  die  altheimischen  ausdrücke  verwandte,  sodann  wie  er  die 
eigentlich  christlichen  begriffe,  d.  h.  was  sich  auf  des  heilands  lehren  und  taten, 
seinen  tod  und  sein  erlösungswerk  bezog,  meist  in  genauem  anschluss  an  die  grie- 
chischen, ebenfalls  zu  diesem  zwecke  neu  geschaffenen  oder  doch  in  ihrer  bedeutung 
veränderten  worte  widergab.  Sodann  folgt  ein  Verzeichnis,  überschrieben:  „Der 
mensch  in  geist,  gemüt  und  Sittlichkeit,*'  und  schliesslich  werden  die  hierher  gehö- 
rigen ins  Gotische  aufgenommenen  fremdwörter  aufgezählt. 

Eine  ganz  ähnliche  arbeit  wie  die  vorliegende  findet  sich  in  W.  Kraffts 
kirchengeschichte  der  germanischen  Völker  I  p.  267  ff.  Krafffcs  darstellung 
ist  ausführlicher  und  beschäftigt  sich  mehr  mit  dem  ethischen  inhalt  der  begriffe, 
wobei  freilich  —  meist  nach  J.  Grimms  Vorgang  —  eine  anzahl  ziemlich  kühner  Ver- 
mutungen mit  unterlaufen,  namentlich,  wo  es  sich  um  das  Verhältnis  der  christ- 
lichen Vorstellungen  zu  den  heidnischen  handelt.  Weinhold  hat  dagegen  mehr  die 
sprachliche  seite  des  gegenständes  im  äuge.  Mit  recht  spricht  sich  derselbe  gegen 
die  annähme  der  gotischen  götter  Frauja  und  Vod  aus,  so  wie  gegen  die  persön- 
liche auffassung  von  vaihts.  Dagegen  kann  ich  ihm  in  betreff  der  ableitung  von 
skohsl  nicht  beistimmen,  ich  halte  an  der  abstammung  von  skiithan  fest  und  erkläre 
mir  das  o  als  aus  au  entstanden,  ein  Übergang,  der  sich  auch  in  taujan  —  tojis, 
stojan  —  stauida,  daübnan  —  dobnan  zu  vollziehen  begint  und  im  althochdeutschen 
vor  A,  r,  l,  n,  d,  t,  z  durchgeführt  wird. 

SLBBRFELD,   OCTOBEB   1870.  BRNST  BERNHABDT. 

Deutsches  heldenbuch,  fünfter  teil:  Dietrichs  abenteuer  von  Albrecht 
von  Kemenaten  nebst  den  bruohstücken  von  Dietrich  und  Wenezlan 
herausg.  v.  J«  Zupltca.  Berlin,  Weidmannsche  Buchhandl.  1870.  2Thlr.  20Sgr. 
Das  deutsche  heldenbuch  will  die  sämtlichen  reste  der  mittelhochdeutschen 
volkspoesie  mit  ausschluss  der  Nibelungen  und  Gudrun  in  kritisch  bearbeiteten  tex- 
ten vereinigen.  Es  bietet  somit  einmal  eine  geschichte  des  Verfalls  unserer  volks- 
tümlichen dichtung,  der  ja  anhebt  mit  der  fixierung  durch  die  schriffc,  andererseits 
lenkt  es  aber  auch  unseren  blick  zurück  auf  die  der  schriftlichen  aufzeichnung  vor- 
hergehende zeit  und  lehrt  den  Zusammenhang  beider  epochen  erkennen.  Die  beiden 
ersten  bände  enthielten  den  Biterolf,  Laurin  und  Walberan,  Alpharts  tod,  Dietrichs 
flucht  und  die  Babenschlacht.  Der  vorliegende  fünfte,  dessen  inhalt  der  titel  angibt, 
hat  darin  sein  hauptverdienst,  dass  der  herausgeber  bis  ins  einzelne  den  nachweis 
führt,  dass  die  vier  unter  dem  namen  „Dietrichs  abenteuer*'  zusammengefassten 
stücke,  nämlich  die  Virginal  (so  wird  recht  angemessen  das  bisher  als  „Dietrichs 
drachenkämpfe  *'  und  anders  bezeichnete  gedieht  genant) ,  das  fragment  des  Goldemar, 
der  Ecke  und  Sigenot  ^inem  Verfasser  angehören  und  zwar  dem  Albrecht  von  Keme- 
naten ,  jenem  Albrecht,  der  sich  im  eingange  des  Goldemar  nent  und  dessen  rühm 
Budolf  von  Ems  besingt.  Durch  feststeUung  dieser  früher  allerdings  schon  vermu- 
teten tatsache  war  es  denn  auch  möglich ,  die  entstehungszeit  jener  vier  gedichte  und 
ihre  reihenfolge  richtiger  als  bisher  zu  bestimmen.  Unter  ihnen  ist  jedenfalls  die 
Virginal  wie  dem  umfange  nach  die  bedeutendste ,  so  die  interessanteste.  Nicht  ihrer 
poetischen  Schönheit  wegen:  nach  dieser  hinsieht  wird  sie  vom  Ecke  weit  übertroffen. 
Das  Interesse  ist  ein  ausschliesslich  philologisches.  Die  einzige  handschrift,  die  das 
gedieht  vollständig  uns  erhalten  hat,  ist  sehr  verderbt  und  der  conjecturalkritik  bie- 
tet sich  ein  weites  feld.  Zupitzas  leistungen  in  dieser  richtung  sind  höchst  anerken- 
nenswert   Ausser  der  erwähnten  handschrift  besitzen  wir  aber  noch  bruchBtüeke  einer 


238  8TBINMEYEB 

kürzenden  reccnsion  und  eine  Umarbeitung  des  gedichtes.    Das  Verhältnis  dieser  bei- 
den zur  ursprünglichen  gestalt  ist  von  Zupitza  leider  gar  nicht  näher  erörtert  wor- 
den.   Ich   werde   mich  nachher  darüber  v^breiten:   um  dies  zu  können,   muss  ich 
zuvor  jedoch  auf  die  art  und  weise  eingehen ,  wie  der  dichter  in  der  Virginal  seine 
recht  geschickt  erdachte  fabel  im  einzelnen  durchführt.     Nur  an   einzelnen  stellen  in 
den  anmerkungen  hat  Zupitza  einiges  zur  Charakteristik   des  dichters  beigebracht: 
dieses  führe  ich  im  folgenden  nicht  auf.    Vor  allem  setzt  uns  Albrechts  vergesslich- 
keit  in  erstaunen.    Str.  33,  8  kent  die  dem  beiden  ausgelieferte  Jungfrau  den  Hilde- 
brant,  woher  wird  nicht  berichtet,  38,  7  aber  sagt  sie  zu  ihm  „herre,  swer  ir  sit," 
Mindestens  unklar  ist  56,  9  fgg.:   da  von  der  megede  ir  sorge  verswant,  die  si  vor 
menegen  jären  hat  üf  den  einen  tac  getragen ,   denn  nach  28 ,  9  entscheidet  ja  das 
loos  über  die,  welche  des  beiden  raub  werden  soll.    Ob  übrigens  die  ganze  Umgebung 
der  Virginal  dieser  gefahr  ausgesetzt  ist,    oder   nur   ihre  eigentliche   dienerschaffc, 
bleibt  gleichfalls  unentschieden;   es  scheint  beinahe  nur  die   letztere.     Denn   nach 
431,  7  fgg.  war  Ibelin,  Nitgers  Schwester,  auch  bei  der  Virginal  gewesen:  diese  würde 
aber  doch  kaum  dem  beiden   haben  übergeben  werden  dürfen.    61 ,  6  meint  Hilde- 
brant ,   Dietrich  werde  über  ihn  spotten ,    dass  er  einen  einzigen  beiden  nicht  bewäl- 
tigen könne,  während  er  ihm  doch  selbst  befohlen  hätte,  eine  gansen  rotten  gesigen 
an.    Dass  Hildebrant  dies   ansinnen  an  den  Bemer  gestellt  habe,    ist  vorher  nicht 
gesagt.    Wol  aber  entspricht  jene  äusserung  dem  nachher  geschehenden.    Doch  das 
kann  Hildebrant  nicht  vorauswissen.    72  igg-  ist  die  Situation  sehr  unklar.    Die  bei- 
den erfahren  den  tod  ihres  herrn  und  zwar  nach  84,  3  von  einem  wildenare,  sie 
trennen  sich,  um  Hildebrant  aufzusuchen,   einige  stossen  auf  Dietrich,  von  dem  sie 
erschlagen  werden,  immer  neue  dringen  an ,  er  muss  bis  zum  morgen  kämpfen  (97, 1), 
da  endlich  komt  ihm  Hildebrant  zu  hilfe.    Und  doch  hat  dieser  vorher  so  grosse  Sehn- 
sucht, seinen  herrn  wider  zu  sehen,  dass  er  nach  der  besiegung  des  Orkise  sofort  mit 
der  Jungfrau  zu  ihm  aufbricht;  der  weg  dahin  kann  auch  nicht  allzu  weit  sein,  haben 
doch  vorher  Hildebrant  und  Dietrich  von  der  stelle  aus ,   wo  der  letztere  nachher  zu 
verweilen  angewiesen  wurde ,  den  klageruf  der  Jungfrau  gehört  (22,  1).   In  str.  404, 12 
behauptet  Dietrich  sogar,  fünf  tage  gekämpft  zu  haben,  ehe  Hildebrant  erschienen 
sei.    83  und  64  widersprechen    sich;   letzterer  strophe   zufolge  weiss  Orkise  nicht, 
warum  seine  leute  ihm  nicht  zu  hilfe  kommen,  in  der  ersteren  wird  dagegen  erzählt, 
dass  er  selbst  ihnen   befohlen  habe  zurückzubleiben  und  ihn  allein  kämpfen  zu  las- 
sen.   143,  5  fgg.  hört  Bibunc  den  kämpf  Dietrichs  und  Hildcbrants  mit  den  drachen, 
doch  als  er  auf  den  Schauplatz  des  Streites  komt,  sind  beide  längst  fort  und  er  trifft 
sie  erst  zu  Arone,   nachdem  sie  bereits  gegessen  haben.    263,  13  beträgt  die  zahl 
der  getöteten  würme  72,  dagegen  271,  10  me  dan  hundert.    Dass  die  herzogin  Por- 
talaphe  den  rat  gegeben  hätte  (266 ,  12) ,  den  brief  an  die  Virginal  zu  schreiben ,  ist 
im  vorhergehenden    nicht  berichtet.     279  lügt  Bibunc,    wenn  er  seiner  gebieterin 
erzählt,   dass  er  gleich  nach  aufhebung  der  tafel  gebeten  habe,   ihn  wider  heim  zu 
senden.     Er  hatte  sich   nach  str.  241   erst  14  tage  ohne   gewissensbisse  auf  Arone 
amüsiert,  ehe  er  jenen  antrag  stellte.     Seiner  eigenen  aussage  zufolge  reitet  Bent- 
win  180,  1  einen  tag  und  eine  nacht ,  bevor  ihn  die  verhängnisvolle  müdigkeit  über- 
wältigt;   Bibunc  lässt  ihn   zwei  tage  und  ebensoviel  nachte  (283,  7)  reiten.    Was 
292,  10  fgg.  erzählt  wird,    ist  vorher  nicht  erwähnt  worden.     Wie  Dietrich  867,  8 
dazu  komt,   sich  vorwürfe  darüber  zu  machen,   dass  er  Hildebrant  nicht  gefolgt  sei, 
ist  nicht  abzusehen.    Ebensowenig  werden  wir  darüber  unterrichtet,  woher  der  riese 
weiss ,  dass  es  Dietrich  ist ,   den  er  gefangen  hat.    Der  inhalt  der  strophon  412  und 
413  ist  vorher  anders  dargestellt  worden.     417  wird  erzählt,    dass  Hildebrant  fbr 


ÜB.  ALBRECHT   V.  KBM8NATEN  ED.   ZUPITZA  239 

Dietrich  gegen  den  wurm  gekämpft  habe,  175  hat  er  jedoch  nur  diese  absieht,  an 
deren  aosführung  er  von  Dietrich  verhindert  wird.  Auch  strophe  420  macht  anga- 
ben, die  im  früheren  sich  nicht  finden.  429.  Dietrich  hat  gar  nicht  geschworen, 
sich  mit  silber  zu  lösen,  sondern  nur  über  die  art  und  weise  seiner  gefangennähme 
dnrch  den  riesen  zu  schweigen  (326).  Die  angaben  der  str.  459  sind  gegen  die  frü- 
here erzählung  sehr  übertrieben.  Der  dichter  hat  491  vergessen,  dass  der  spass  von 
den  Zwergen,  welche  Hildebrants  schild  nicht  heben  können,  mit  Bibunc  354  sich 
zugetragen  hatte  und  nicht  mit  Beldelin.  538  will  Imian  dci^  Baldunc  Steiermark 
schenken,  während  dies  doch  nach  543  Dietleip  besitzt.  551,  10  ist  nicht  wahr  oder 
wenigstens  schief  ausgedrückt.  Sonst  ist  Orkise  stets  mit  80  mannen  ausgezogen 
(1,  9.  30,  3),  dagegen  lässt  ihn  der  dichter  601  nur  selbahtzegest  reiten.  Aus  Ibe- 
lins  briefe  oder  Bcldelins  berichte  kann  ferner  Hildebrant  604  nicht  wissen ,  dass  der 
riese,  in  dessen  gewalt  Dietrich  sich  befindet,  Wicram  hcisst.  Woher  hat  er  also 
diese  künde?  Völlig  sinnlos  sind  die  str.  703  —  705.  König  Imian  fragt  den  Hilde- 
brant, obwol  er  dies  schon  542  durch  Bibunc  erfahren  hatte,  nach  dem  aufenthalts- 
orte  Dietrichs.  Ohne  sich  um  diese  frage  zu  bekümmern,  erzählt  nun  Hildebrant 
durch  zwei  strophen  hindurch  die  uns  schon  so  oft  vorgetragene  geschichte,  wie  er 
den  Orkise  und  Dietrich  dessen  begleiter  getötet  habe.  Am  Schlüsse  seiner  ausein- 
andersetzung  scheint  er  sich  jedoch  bewust  zu  werden ,  dass  er  eigentlich  recht  unge- 
höriges geredet  habe,  denn  er  bricht  plötzlich  ab.  Er  beantwortet  jedoch  auch  jetzt 
nicht Imians  frage,  es  heisst  vielmehr:  sus  Miezen  si  die  rede  ligen.  Wenn  Gemot  747 
sagt :  nu  ligewt  der  risen  ehtwe  tot ,  so  rechnet  er ,  da  bisher  nur  sieben  Zweikämpfe 
stattgefunden  haben,  den  von  Dietrich  früher  getöteten  Grandengrus  mit;  nicht  wird 
dieser  aber  728  mitgezählt,  wo  es  heisst:  nu  sint  der  nsen  zwene  ervalt,  Adelrant 
und  VellenwaU,  778,  5  fgg.  spricht  Dietrich  zu  Hildebrant,  als  ob  der  letztere  die 
Ibelin  bisher  noch  nicht  gesehen  habe  und  er  ihn  mit  ihr  bekant  machen  müsse.  Doch 
Hildebrant  kent  sie,  er  hat  ja  770,  10  mit  ihr  zusammen  bei  tische  gesessen.  Kecht 
unpassend  setzt  811  fgg.  Hildebrant  Dietrichs  erzählung  fort  und  berichtet,  was  doch 
nur  dieser  wissen  konte.  817,  1  widerspricht  518  fg.  859  machen  sich  die  beiden 
auf  die  reise  zur  Yirginal.  Sogleich  kam  gen  in  geschozzen  vil  manec  vnirm  her 
unde  dar  und  woltens  da  verbrennen  und  860,  4  die  wivrme  schuzzen  gegen  in  dar. 
In  demselben  augenblicke  erscheinen  aber  11  riesen.  Der  kämpf  mit  ihnen  begint, 
sie  werden  der  reihe  nach  erschlagen.  Wo  bleiben  inzwischen  die  drachen?  entwe- 
der haben  sie  geschlafen  wie  der  dichter ,  oder  sie  sind  fortgegangen ,  weil  sie  die 
helden  bereits  durch  den  kämpf  mit  den  riesen  beschäftigt  fanden  und  sie  dabei  nicht 
stören  wollten.  Denn  895,  3  nach  dem  falle  der  riesen  hören  die  recken  die  stimme 
eines  alten  wurmes,  der  kam  geschozzen  gegen  in  dar.  Der  schluss  des  ganzen 
gedichtes  ist  völlig  verfehlt  und  befriedigt  nicht  Man  verlangt  irgend  eine  lösung. 
Die  natürlichste  wäre  die  heirat  Dietrichs  mit  der  Virginal  und  Baidungs  mit  der 
Yalentrins.  Auf  die  letztere  ist  im  verlaufe  des  Werkes  mehrfach  hingewiesen  (267, 
13  fgg.  302,  5.  538,  8);  auch  die  erstere  hatte  der  dichter  im  äuge:  Virginal  selbst 
erwartet  sie,  ja  sie  trägt  sich  ganz  unverhohlen  974,  10  und  1055,  12  dem  Dietrich 
an.  Zu  ihren  Jungfrauen  sagt  sie  1030,  9 :  machent  al  iuwer  här  reit  diu  minne  wil 
iu  nahen.  Dietrich  selbst  und  seine  ritter  sind  verliebt,  aber  es  komt  zu  nichts. 
Um  nur  die  zeit  hinzubringen,  wird  zweimal  getanzt,  zweimal  tumiert  und  entspre- 
chend oft  gegessen.  Dabei  langweilen  sich  aber  die  recken  dennoch,  ¥rie  dies  Die- 
trichs frage  1031,  3  wes  wßUen  wir  heginnen?  zeigt.  Um  nur  dieser  peinlichen 
Situation  ein  ende  zu  machen,  muss  als  deus  ex  machina  ein  abgesanter  aus  Bern 
erscheinen  und  Dietrich  mit  absetzung  seitens  seiner  Untertanen  drohen,    wenn  er 


240  STEIKMETBB 

nicht  eiligst  zurückkehre.  Von  einzelnen  ungenauigkeiten  innerhalb  dieser  letzten 
partie  bemerke  ich  folgende:  1017»  6  ist  früher  unbekant.  1022,  C  fgg.  ist  vorher 
anders  dargestellt" worden.  Wer  sind  endlich  die  2000  mann,  die  1081,  9  mit  Die- 
trich nach  Bern  reiten  ?  Das  heer  betrug  nach  843  ungefähr  60000  mann  vor  Muter, 
gefallen  ist  niemand.  Wo  sind  die  58000  geblieben?  Wider  nach  hause  können  sie 
doch  nicht  abgeritten  sein,   denn  Imian  verabschiedet  sich  erst  zu  Bern  1094  von 

Dietrich. 

Fassen  wir  kurz  zusammen,  was  aus  dem  vorhergehenden  sich  für  die  Charak- 
teristik Albrechts  ergibt,  so  dürfte  sich  das  bild  etwa  folgendermaassen  gestalten. 
Im  grossen  und  ganzen  mag  wol  der  dichter,  ehe  er  an  die  ausführung  schritt,  sich 
einen  plan  für  seine  erzählung  gebildet  haben,  doch  diese  selbst  ist  weit  weniger 
eine  fortschreitende  handlung  als  eine  reihe  lose  verbundener  Schilderungen.  Mit 
lebhafter  phantasie  malte  er  die  einzelnen  bilder  aus ;  kam  er  im  verlaufe  seines  Wer- 
kes auf  ein  früher  dargestelltes  ereignis  zurück  ^  muste  er  es  einer  bei  demselben 
unbeteiligten  person  erzählen  lassen,  so  trat  es  mit  allen  seinen  einzelnheiten  wider 
vor  seine  seele,  er  reconstruierte  es.  Warum  sollte  es  sich  der  leser  nicht  auch  wider 
vorführen  lassen  wollen?  Das  interesse,  das  Alb  recht  selbst  an  den  Schicksalen  sei- 
ner personen  nahm,  setzte  er  auch  bei  seinen  lesem  (oder  hörem)  voraus.  Dass  bei 
derartigen  reconstructionen  sich  das  bild  häufig  verschob  und  Widersprüche  entstan- 
den, ist  erklärlich.  Doch  bei  seiner  Icbhaftigkeit  fehlte  dem  dichter  die  klare 
anschauung,  seine  phantasie  gieng  sprungweise  und  seine  detailmalerei  hatte  zur  folge 
dass  er  über  dem  einzelnen  den  Zusammenhang  des  ganzen  öfter  vergass.  Durch  die 
zahlreichen  widerholungen  war  der  umfang  des  Werkes  weit  über  die  ursprüngliche 
absieht  hinaus  gewachsen  und  hatte  natürlich  auch  entsprechend  längere  zeit  der 
arbeit  gekostet:  so  mochte  dem  alternden  dichter  die  lust  ausgehen,  das  werk  nach 
dem  früheren  plane  zu  vollenden  und  er  griff  gerne  nach  einem  mittel,  welches 
wenigstens  einen  äusserlichen  abschluss  zu  wege  brachte.  Die  mehrzahl  dieser 
momente  Hessen  sich,  glaube  ich,  auch  aus  der  spräche  und  insonderheit  dem  satz- 
baue Albrechts  nachweisen.  Ohne  auf  diesen  punkt  weiter  einzugehen  mache  ich 
nur  auf  den  häufigen  Wechsel  im  gebrauche  von  du  und  ir,  zuweilen  in  demselben 
satze ,  aufmerksam ;  ferner  auf  die  Übergänge  iu  der  anrede ,  so  dass  mit  demselben 
pronomen  kurz  hintereinander  zwei  verschiedene  personen  bezeichnet  werden,  ohne 
dass  man  diesen  Wechsel  anders  als  durch  den  sinn  erraten  kann.  So  z.  b.  in  str.  64. 
Endlich  noch  ein  charakteristischer  zug  von  Albrechts  spräche.  Zwei  zusammen- 
gehörige Zeilen  werden  (dies  ist  so  häufig ,  dass  ich  bcispiele  nicht  aufzuführen  brau- 
che) durch  eine  dritte  dazwischengeschobene  getrennt,  welche  eine  folge  jener  beiden 
oder  einen  sie  begleitenden  umstand  erzählt. 

Die  mängel  der  Virginal  werden  dem  publicum  des  dichters  ebenso  wenig 
entgangen  sein  wie  sie  uns  entgehen.  Aber  der  muntere  bänkelsängerischo  ton,  der 
inhalt  und  der  ansprechende  bau  der  strophe  überwogen  zu  gunsten  der  dichtung. 
Es  gab  ja  auch  mittel,  jene  anstösse  fortzuschaffen  oder  wenigstens  zu  verringern. 
Man  versuchte  es  auf  verschiedene  weise.  Die  eine  bestand  in  der  kürzung;  das 
gedieht  wurde  bedeutend  ansprechender,  wenn  jene  unzahl  von  widerholungen  fort- 
fiel. Doch  damit  war  dem  Schlüsse  des  gedichtes  noch  nicht  geholfen.  Da2u  bedurfte 
es  einer  völligen  Umarbeitung.  Eine  solche  ist  auf  uns  gekommen.  Von  ihrer 
ursprünglichen  gestalt  besitzen  wir  allerdings  nur  bruchstücke,  welche  Lexer  im 
13.  bände  der  Zeitschrift  herausgegeben  hat.  Zupitza  nent  sie  f.  Es  sind  die  bei- 
den äusseren  doppelblätter  wahrscheinlich  des  zwölften  quatemionen.  Ich  bemerke 
beiläufig,  dass  bei  Zupitza  s.  XI,  wo  er  diese  reste  bespricht,  hinter  356,  2  —  357, 13 


ÜB.  ALBBBCHT   V.  KBMINATBH  BD.  ZTPITZA  241 

die  zahlen  358,  1 — 12  ausgelassen  sind.  Sprache  und  reime  gestatten  diese  bearhei- 
tung  noch  ins  13.  Jahrhundert  zu  setzen.  Auf  ihr  basiert  sodann  die  Wiener  pia- 
ristenhandschrift,  welche,  wie  bei  den  meisten  in  ihr  enthaltenen  stücken,  so  auch 
hier  in  der  hauptsache  den  Inhalt  nicht  anrührt,  sondern  nur  die  form  soweit  ver- 
ändert als  dies  die  neuen  sprachformen  und  die  neue  silbenzählende  metrik  verlangte. 
Vergleicht  man  diese  handschriffc  (w)  mit  dem  gedichte  Eemenatens,  so  wird  man 
die  meisten  der  oben  gerügten  Unebenheiten  beseitigt  finden;  besonders  ist  aber  der 
schluss  befriedigender  geworden.  Zu  derselben  bearbeitung  gehört  endlich  die  Ver- 
kürzung des  Dresdener  heldenbuches ,  doch  ist  dieselbe  unabhängig  von  w,  wie  dies 
die  namen  Rentwein  und  Macitus  gegenüber  den  entstellungen  in  w,  Rotwein  und 
Madius  beweisen. 

Auf  das  Dresdener  heldenbuch  etwas  genauer  einzugehen  hätte  Zupitza  wie 
hier  so  auch  s.  LI  nahe  gelegen.  Dass  er  es  nicht  getan  hat,  ist  ihm  allerdings 
nicht  in  dem  grade  zum  vorwürfe  zu  machen ,  wie  dass  er  s.  XXXll  über  die  spätere 
recension  des  Sigenot  schweigt  und  uns  mit  den  Worten  abspeist:  „weiter  darauf 
einzugehen  muss  ich  dem  Überlassen ,  der  eine  ausgäbe  der  bearbeitung  liefern  will/' 
Wann  wird  sich  wol  dazu  jemand  finden!  Pflicht  eines  herausgebers  ist  es,  nicht 
nur  das  edierte  denkmal  seiner  ursprünglichen  gestalt  möglichst  nahe  zu  bringen, 
sondern  auch  seine  geschichte  vom  anfange  bis  zum  ende  darzustellen.  Die  spätere 
gestalt  des  Sigenot  hier  zu  besprechen  bin  ich  leider  nicht  im  stände,  da  mir  das 
material  fehlt ,  dem  Dresdener  heldenbuche  will  ich  aber  einige  worte  widmen.  Zamcte 
hat  in  der  Grermania  1,  53  —  63  nachgewiesen,  dass  Kaspar  von  der  Roen,  den  man 
früher  fölschlich  für  den  Verfasser  der  ganzen  samlung  hielt,  nur  einer  der  Schrei- 
ber der  handschrift  gewesen  ist.  Bedürfte  dieser  nachweis  noch  einer  stütze,  so 
liesse  sich  diese  durch  folgende  beobachtung  geben.  In  allen  von  Kaspar  geschrie- 
benen stücken  mit  alleiniger  ausnähme  des  Wunderers ,  nirgends  dagegen  in  den  par- 
tien  der  anderen  band  komt  sporadisch  ein  zeichen  vor,  das  von  der  Hagen  mit  tc 
widergibt.  Wie  es  in  der  handschrift  aussieht,  erkent  man  aus  Zamckes  facsimile. 
Ich  vermute  es  ist  ein  Schnörkel,  den  Kaspar  machte,  wenn  er  im  schreiben  absetzte. 
Darin  bestärkt  mich  der  umstand ,  dass  es  sich  regelmässig  am  Schlüsse  der  gedichte 
findet.  Auch  in  anderen  handschrifen  der  zeit  und  am  ende  von  Urkunden  hftbe  ich 
das  zeichen  einigemal  bemerkt.  Ist  also  Kaspar  nicht  der  Verfasser  der  11  gedichte, 
so  fragt  sich,  ob  ¥rir  einen  oder  mehrere  Verfasser  anzunehmen  haben  und  dann, 
wohin  die  entstehung  der  samlung  zu  setzen  ist.  Ich  versuche  die  zweite  frage 
zuerst  zu  beantworten.  In  allen  stücken  herscht  die  gleiche  spräche  wie  in  den 
Nümbergischen  fjastnachtsspielen.  Einige  gleichartige  ausdrücke  und  redensarten 
stelle  ich  hier  zusammen,  (idern  auszerm  fastnachtsp.  596,  ze%icht  etich  atu  eur 
odtr  0.  219,  aUpot  ll(i  R.  209,  complex  sehr  häufig  Wund.  44,  drus  und  petikn  173, 
178,  539  L.  80,  220,  fortel  1290  L.  232,  gedymd  1198  L.  266,  Wund.  169,  gespei 
sehr  häufig  0.  121,  gloen  1296,  1300  Wund.  182,  zu  hauffen  schlagen  1281  L.  298 
u.  ö.,  fwrp€LS  hauen  240,  haw  hin  1280,  von  hmen  hawen  Yirg.  85,  litze  1485  u.  ö. 
L.  301 ,  pafikhart  67,  68,  Wolfd.  96,  subtü  71,  1173,  Virg.  130,  ungelachsen  301, 
768,  R.  188.  Es  lässt  sich  diese  samlung  noch  bedeutend  vermehren.  Ebenso  zei- 
gen die  reime  viel  übereinstimmendes,  so  tan  für  tuon,  nü  und  nicht  abwechselnd, 
der  inf.  fregen  ==  fragen,  praet.  stand,  luff,  luffen  für  stuont,  lief,  liefen,  part. 
geloffen,  genung  für  genuoc,  werden,  pf erden  mit  ausfall  des  d  im  reime  und  vieles 
andere  mehr.  Auch  in  der  satzfügung  zeigt  sich  mannigfache  Übereinstimmung. 
Alles  weist  dahin,  dass  wir  die  entstej;iung  der  samlung  in  dem  kreise  der  Nümber- 
gischen meistersänger  —  wenn  wir  Rosenplüt  und  Folz  mit  ihren  genossen  diesen 

ZSITSCHR.    F.   DEUTSCHS    PHILOLOGIE.     BD.  UI.  16 


242  STBIMlfETBR 

namen  beilegen  wollen  —  zu  suchen  haben.  Stilistisch  sind  allerdings  diese  pro- 
ducta bedeutend  schlechter  als  Rosenplüts  und  Folzs  gcdichte;  doch  ist  dabei  zu 
bedenken,  dass  hier  keine  freie  selbständige  dichtung  wie  bei  diesen  vorliegt,  son- 
dern Überarbeitungen.  Und  in  schwachen  stunden  konte  auch  Folz  verse  machen, 
die  denen  des  Dresdener  beiden buchs  auf  ein  haar  gleichen,  so  z.  b.  1270:  sprach 
„das  tut  in  gedechtnus  mein,  gib  ins  zu  tranck  tund  speise.''  Gemein  ist  endlich 
auch  den  fastnachtsspielen  und  dem  Dresdener  heldenbuche  die  derbheit  des  tones. 
Wenn  ich  mich  jetzt  zu  der  zweiten  frage  wende ,  so  muss  ich  zuerst  die  von  Zamcke 
a.  a.  0.  58  aufgestellte  meinung  zurückweisen,  dass  die  von  dem  zweiten  Schreiber 
aufgezeichneten  stücke,  welche  sich  ihrer  Verkürzung  rühmen  (Ortney,  Wolfdietrich, 
Virginal) ,  diesem  selbst  ihre  jetzige  verkürzte  gestalt  verdanken ;  er  glaubt  daas  der- 
selbe, um  sich  seine  arbeit  zu  erleichtem,  so  verfahren  sei,  und  bringt  damit  in 
Zusammenhang,  dass  sein  name  den  stücken  nicht  wie  der  Kaspars  zugefügt  sei;  er 
habe  gefehlt,  dass  er  mit  seiner  arbeit  grosse  ehre  nicht  einlegen  könne.  Damit 
steht  aber  der  umstand  in  Widerspruch,  dass  die  postscripta  der  drei  gedichte  sich 
deutlich  ihrer  Verkürzung  rühmen,  und  dass  es  bei  weitem  grössere  mühe  gekostet 
haben  wird,  diese  verkürzte  fassung  herzustellen ,  als  die  ausführlicheren  vorlagen  wort- 
getreu abzuschreiben.  Auch  ist  nicht  zu  leugnen ,  dass  ein  gewisser  takt  in  der  Ver- 
kürzung sich  zu  erkennen  gibt:  wichtiges  ist  kaum  irgendwo  ausgelassen  worden. 
Beim  Ortnit  und  Wolfdietrich  lässt  sich  das  verfahren  controllieren ,  nicht  so  bei  der 
Vltginal ,  weil  uns  die  bei  derselben  benutzte  vorläge  von  408  Strophen  nicht  erhalten 
ist.  Der  verkürzer  bemühte  sich  möglichst  die  reime  des  Originals  zu  benutzen ,  frei- 
lich suchte  er  sich  dieselben  aus  verschiedenen  Strophen  zusammen.  So  oft  im  Ort- 
nit die  form  Ortmt  im  reime  vorkomt,  so  ist  sie  der  vorläge  entnonmien,  der  bear- 
beiter  schrieb  Ortney.  Ebenso  sind  in  Ortnit  imd  Wolfdietrich  fast  sämtliche  reime 
von  niht  und  nicht  aus  dem  originale;  wo  der  verkürzer  ganz  selbständig  verfuhr» 
setzte  er  nü.  Um  zu  zeigen,  wie  die  reime  der  vorläge  und  diese  selbst  —  beiläu- 
fig gesagt,  lag  beim  Ortnit  eine  handschrift  vor,  welche  im  allgemeinen  der  Ambras - 
Wiener  handschrift  entsprach,  die  aber  auch  lesarten  hatte,  wie  sie  der  Monesdie 
text  bietet,  vgl.  192:  und  mich  ert  an  mdm  pet  :==  Mone  405:  er  wü  mich  verirren 
vü  gar  an  minem  gebet,  während  bei  Hagen  391  steht:  „lä  mich  durch  mine  bet"  — 
benutzt  sind,  lasse  ich  einige  beispicle  folgten.  0.  240:  toas  tut  gen,  reiten ,  fairen 
mag  nichs  vor  in  bestee  =  Hagen  494:  so  wten  ich  in  dem  lande  vor  in  iht  da 
beste.  256:  sie  hat  allein  dttrc/i  meines  vatcr  und  muter  verhorn:  ich  weis,  stürb 
unser  eines,  das  ander  wer  verlorn  =  Hagen  525:  diu  vater  unde  muoter  dur^ 
mich  hat  verkam,  ich  weiz  tool,  stirbe  ich  eine  so  st  wir  beide  vlom.  Wolfd.  176  fg. 
die  teufel  er  do  vant  ....  und  schlug  sie  umb  die  want  das  waren  merwunder  «^ 
Hagen  465:  diu  ungefüege  helle  und  die  tiufel  dier  da  vant  die  todm  des  meres 
unde  und  sluogen  an  die  steinwafU.  Wolfd.  201 :  her  reit  ein  reuter  von  feren  ■« 
Hagen  514:  Keinem  riuUere.  Schon  aus  diesen  wenigen  proben  ist  ersichtlich,  dass 
zur  hersteliung  eines  gedichtes  in  dem  falle,  dass  die  vorläge  uns  verloren  ist  (wie 
beim  Schlüsse  des  Wolfdietrich)  diese  Verkürzungen  keine  mittel  an  die  hand  geben. 
Der  Verfasser  des  Ortnit  und  Wolfdietrich  war  ohne  zweifei  derselbe;  auch  für  die 
Virginal  ist  es  mir  wahrscheinlich.  Im  gegensatze  zu  diesen  drei  verkürzten  gedioh- 
ten  stehen  der  Laurin  und  der  Wunderer.  Beide  zeichnen  sich  durch  eine  entseti- 
liche  breite  aus:  man  lese  nur  die  unendliche  Schilderung  von  Laurins  waffen- 
schmuck und  im  Wunderer  die  beschreibung  der  ausfluchte  Etzels  und  der  angst»  die 
die  Jungfrau  ausstehen  muss,  ehe  sie  einen  kämpfer  findet.  Zupitza  meint  allerdings 
s.  LI ,  dass  der  Wunderer  in  der  ursprünglichen  gestalt  uns  erhalten  sei.    Dun  ist 


Ob.  albbbcht  v.  kxmbiatin  bd.  züpitza  248 

dabei  entgangen ,  dass  in  den  fastnachtsspielen  nr.  62  ein  spü  van  dem  Pemer  und 
dem  wundrer  mitgeteilt  ist,  welches  an  einigen  stellen  wörtlich  mit  unserem  gedichte 
übereinstimt  nnd  im  ganzen  dieselbe  grundlage  voraussetzt,  wie  dieses.  Die  ftber- 
einstimmenden  stellen  aber  zeigen  in  dem  „9pü"  eine  reinere  gestalt  als  im  wun- 
derer. So  Wanderer  161:  heU,  wütu  mt  lenger  Uiben  das  du  dein  leben  here  wüi 
umb  eine  pubin  gd>en  9  im  vergleich  mit  spü  550 :  du  junger  narr,  wiUu  dein  leben 
hie  umb  ein  pose  pubin  geben  ?  Ich  kann  mir  jene  breite  im  Laurin  und  wunderer 
nur  dadurch  erklaren,  dass  ich  eine  —  ungeschickte  —  Übertragung  aus  reimpaaren 
in  die  strophenform  annehme.  Für  den  Laurin  hat  bereits  Müllenhoff  (DHB  1, 
293)  wahrscheinlich  gemacht,  das»  seine  quelle  nur  das  alte  gedieht  selbst  sei, 
keine  strophische  bearbeitung  desselben.  Vielleicht  dürfte  auch  in  den  Worten  des 
Laurin  290 :  soli  man  das  als  durchgrynden  ....  als  mans  in  der  Schrift  thut  fin- 
den:  das  vnwd  8u  vü  im  gesanck  dieser  gegen satz  zu  finden  sein;  schriß  als  reim- 
paare,  gesanck  als  strophische  bearbeitung.  Denn  dem  gesange  sollten  diese  Umar- 
beitungen dienen,  darum  muste  eben  die  Umsetzung  in  Strophen  erfolgen.  Vom 
wunderer  hat  sidi  (Kalkf »  erzählungen  aus  altdeutschen  handschriften  1)  ein  aller- 
dings sehr  abweichendes  fragment  in.  reimpaaren  erhalten.  Der  rosengarten  erscheint 
im  Dresdener  heldenbucho  nicht  erheblich,  gekürzt;  was  würde  auch  bei  ihm  geblie- 
ben sein,  wenn  dieselbe  manier  wie  beim  Ortnit  angewant  worden  wärel  Man  mag 
an  den  Zweikämpfen  besonderes  vergnügen  empfhnden  haben,  sonst  würden  sie  ja 
nicht  im  Laurin  so  breit  ausgeführt  worden  sein.  Die  besprochenen  sechs  stücke 
scheinen  von  demselben  Verfasser  herzurühren,  wenigstens  laasrt  sich  nichts  erheb- 
liches beibringen ,  das  dieser  annähme  widerspräche.  Von  den  Übrigen  stückfia  hat 
der  Ecke  eine  Überarbeitung  nicht  erlitten,  er  entspricht  den  gedruckten  exemplareav 
dagegen  liegt  beim  Sigenot  zwar  auch  ein  text  zu  gründe,  wie  wir  ihn  in  den  ver- 
schiedenen fassungen  der  drucke  besitzen ,  er  scheint  aber  überarbeitet  zu  sein.  Dies 
ergibt  sich  aus  den  häufigen  stellen ,  an  denen  durch  Vermischung  zweier  construc- 
tionen  unsinn  entsteht.  Man  vergleiche  str.  11 :  ob  eudi  der  ungefüge  mcM  mii  sig 
gegen  euch  gelungen,  dar  noch  so  wolt  ich  in  bestan  ob  es  mein  ende  wereßko  sprach 
der  so  lobesan  der  edel  Fernere  mit  dem  drucke  (nur  der  von  Schade  herausgege- 
bene steht  mir  7.u  geböte)  und  ob  der  ungefüge  man,  herr,  euch  wurde  eu  schwere, 
darnach  so  wiU  ich  in  bestan  das  es  mein  ende  were,  da  sprach  der  fürst  so  hoch- 
genant {lobesant  in  dem  bruchstücke  eines  Sigenotdruckes  zeitschr.  5 ,  248) ,  86 :  und 
das  ich  van  jm  danne  und  vmrd  ich  den  van  jm  erslagen  mit  ab  ich  van  jm  wurd 
danne  auf  dieser  fteid  zu  tadt  erslagen,  62:  er  weckt  jn  nit  mü  der  hende  und  gab 
jm  mit  dem  fuss  einen  stoss  mit  dem  fuss  in  sein  pruste  mit  er  wöü  in  mU  der 
hande  nicht  wecken  und  gab  jn  einen  stoss  mit  eim  fuss  auff  die  pruste,  endlich  83: 
da^  fauer  das  auss  deinem  munde  gat  ich  weiss  nit,  wer  dich  getragen  halt  mit  von 
fewr  das  omss  deinem  munde  gat,  weiss  nicht,  wers  in  dich  tragen  hat.  Von  der  Ha- 
gen hat  an  diesen  stellen  durch  einklammerungen  meist  richtig  den  von  dem  Über- 
arbeiter beabsichtigten  sinn  hergesteUt.  Die  Vermischung  zweier  constructionen  erkläre 
ich  mir  daraus,  dass  der  Überarbeiter  ein  exemplar  des  Sigenot  vor  sich  hatte  und 
in  dasselbe  seine  änderungen  eintrug.  Er  vergass  vielleicht  manches  nun  nicht  mehr 
passende  auszustreichen,  einiges  war  auch  durch  die  correcturen  unleserlich  gewor- 
den, daher  das  wunderliche  durcheinander  in  Kaspars  reinschrift  Es  ist  möglich, 
dass  auch  bei  den  Verkürzungen  (Ortnit  usw.)  ähnlich  verfahren  wurde,  denn  man- 
che unzuträglichkeiten  fallen  sicher  dem  Schreiber  anheim.  Wie  es  mit  dem  Hilde- 
brandsliede  im  Dresdener  heldenbuche  steht,  weiss  ich  noch  nicht,  das  Meerwunder 
aber  halte  ich   mit  Zupitza  s.  LI  für  ein  originalwerk  des  15.  Jahrhunderts.     Die 

16*      . 


244  8TEINHSTEB>   ÜB.   ALBRBCHT  V.  KEMSRATBN  BD.  ZUPITZA 

fabel  hat  auch  Hans  Sachs ,  s.  Grimms  d.  sagen  nr.  405.  Die  Verkürzung  des  her- 
zog Ernst  ist  eine  wesentlich  andere  als  die  beim  Ortnit  usw.  Sie  beschränkt  sich 
auf  auslassung  ganzer  Strophen  und  lässt  das  gedieht  sonst  unangetastet.  Zu  beach- 
ten ist  dabei,  dass  der  Ernst  und  das  Meer  wunder  erst  nachträglich  eingeheftet  sind. 
Mit  ausnähme  dieser  beiden  und  des  Ecke  und  mit  jener  beschränkung  beim  Sigenot 
glaube  ich  dass  die  übrigen  stücke  von  eiuem  Verfasser  herrühren. 

Ich  kehre  nach  dieser  abschweifung  noch  einmal  zur  Yirginal  zurück.    Die  von 
dem  Schreiber  ausgelassenen  verse  hat  Zupitza  nur  zum  kleinen  teile  ausgef&llt.  Für 
eine  anzahl  derselben  lasse  ich  hier  ergänzungen  folgen  und  füge  zugleich  einige 
besserungsvorschläge  bei.    57,  13  ist  wol  in  für  i/r  zu  schreiben ,   da  vorher  nur  Ton 
den  frauen  der  Yirginal  die  rede  war  und  der  Übergang  auf  diese  selbst  hier  doch 
gar  zu  rapid  erschiene.    265 ,  2  ist  etwa  zu  ergänzen:   {wan  er  ist  vil  sere  wtmt), 
276,  2  dar  üf  die  helde  iiberal,    858,  3  schlage  ich  für  das  handschriftliche  gegen 
den  schmpfe  (:  wazzertrüpfe)  zu  lesen  vor  daz  ist  gein  dem  ein  stüpfe  (mittelhochd. 
wörterb.  2,  2,  659*)   wie  man   sonst  strö,  spriu  zur  Verstärkung  oder  Vertretung 
der  negation  verwendet.    Auf  diesen  ausdruck  führt  auch  w  544  der  mir  kund  freüd 
verstopfen.     379,  12  klingt  erforsche  etwas  aufföllig,    ich  würde  lieber  ervreische 
lesen.    382 ,  2  hat  die  handschrift  tn  manegem  wasse  lac  ein  stein  hi  kern  Dieteriche. 
Die  stelle  ist  vielleicht  so  zu  verbessern:    ame  weisen  lac  ein  mangenstein.    Wollte 
man  dagegen  einwenden,    dass  Dietrich  im  geföngnis  sich  befindet  und  daher  vom 
rasen  nicht  die  rede  sein  könte ,  so  liesse  sich  entgegnen ,   dass  die  jungen  ritter 
nicht  in  Dietrichs  zelle  ihre  gymnastischen  Übungen  anstellen  werden.     Die  zeile 
würde  vielmehr  widerum   für  die  überall  hervortretende   unklare   anschauungsweise 
Albrechts  zeugen.    495,  5  ergänze  ich:    dae  ich  iu  sage  daz  ist  war,   496,  2:   daz 
mich  die  risen  sus  hänt  vlorn  (in  der  vorhergehenden  zeile  muss  doch  wol  für  der  von 
Beme  geschrieben  werden  der  Hemer),  570,  5:  daz  st  salec  miiezen  stn,    608,  3  fg.: 
die  mit  iu  koment  üf  den  plan,  und  weint  vr  wns  ze  Berne  län ,    685 ,  7 :    kumt  ir 
niht  in  den  holen  berc.    721,  7  fgg.  ist  die  interpunction  abzuändern:    der  künec 
muoste  ef^Uden  daz  sich  die  starken  schUde  bugen  {dar  üz  so  vielen  stucke),   dar 
under  si  sich  dicke  smugen.     782,  8  kann-  wol  nur  tirtne  (im  reim  auf  schirme) 
gestanden  haben;  die  handschrift  hat  es  vielleicht  selbst,  denn  arme  und  tirtne  kön- 
nen täuschend  ähnlich  geschrieben  werden.    901,  9  fg.:  vor  einer  höhen  Steines  want 
er  mich  von  in  erlöste,    1047,  2  lese  ich :   krijierten  für  priviertent.    So  hat  in  der 
vorhergehenden  zeile  die  handschrift  für  kriren.     1093,  5:    daz  ir  nmgt  wwnnee- 
liehe  leben. 

BBRUN,   IM  OCTOBER    1870.  ELIAS   8TBINMBTSR. 


Die  romantische  Schule.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  deutschen 
Geistes  von  R.  Uaym.  Berlin,  R.  Gaertner  1870.  XII  und  951s.  gr.  8. 
4  Thlr. 

Jene  bedeutende  geistige  bewegung,  welche  den  klassischen  idealismus  des 
18.  Jahrhunderts  stürzen  und  einen  poetischen  Universalismus  als  herscher  des  lebens 
der  nation  aufstellen  wollte,  hat  bis  vor  wenig  jähren  genauer  geschichtlicher  for- 
schung  entbehrt  Gervinus  und  Julian  Schmidt  hatten  allerdings  mit  viel  geist  und 
grosser  bewältigung  des  pragmatischen  Zusammenhanges  die  romantischen  dichter 
und  ihre  werke  besprochen,  und  Hcttner  in  einer  seiner  ersten  schrii'ten  eine  Studie 


WinVHOLD,    ÜB.   HATM,  BOMANT.   BCHVLB  245 

über  die  schule  gemacht;  aber  die  urkundliche  geschichte  blieb  unversucht.  Selbst 
R.  Eöpkes  treffliches  buch  über  L.  Tieck  stellte  den  gefeierten  dichter  zwar  leben- 
dig, aber  durchaus  nicht  mit  diplomatischer  genauigkeit  dar,  dass  die  arbeit  auch 
nur  für  diesen  einen  als  getan  erklärt  werden  könte. 

Da  gab  Eoberstein  in  dem  unschätzbaren  dritten  bände  seines  grundbau  eher 
als  grundriss  zu  nennenden  Werkes  die  sammelfrüchte  eisernen  fleisses  auch  Über  die 
romantiker  auf  den  markt,  zwar  nicht  bequem  auf  breiter  übersichtlicher  tafel,  aber 
doch  in  vielen  körben  und  nestchen  für  suchende  liebhaber  zum  fund  und  nutzniess 
leicht  genug  verpackt.  Nicht  alle,  welche  Über  jene  männer  schreiben,  werden  so 
dankbar  wie  R.  Haym  Kobersteins  gedenken.  Dass  er  aber  sehr  eifHg  benutzt  wer- 
den wird,  und  von  vielen  als  einzige  quelle,  die  weiteres  graben  unnötig  mache, 
wer  wollte  daran  zweifeln? 

Vor  uns  liegt  nun  Rudolf  Hayms  romantische  schule.  Mit  freuden  begrüssen 
wir  darin  die  erste  wirkliche  geschichte  jener  merkwürdigen  bewegung,  deren  Cha- 
rakter gleich  anfangs  des  herm  Verfassers  gutes  wort  bezeichnet,  dass  der  gegen- 
wärtige sinn  für  das  reale  und  das  einfach  wahrhaftige  auch  der  litteraturwissenschaft 
zu  gute  kommen  müsse. 

Das  werk  erzählt  nicht  die  ganze  geschichte  der  schule,  sondern  ihre  anfange 
und  die  entwickelung  bis  zum  ende  der  blütezeit,  das  durch  Schellings  identitäts- 
system ,  Fr.  Schlegels  Europa  und  W.  Schlegels  Berliner  Vorlesungen  bezeichnet  wird. 

Das  ganze  ist  in  drei  büchcr  verteilt:  das  entstehen  einer  romantischen 
poesie,  das  entstehen  einer  romantischen  kritik  und  theoric,  und  die  blütezeit  der 
romantik. 

Gegenstand  des  ersten  buche»  ist  begreiflich  L.  Tieck ,  dessen  anfange ,  märchen- 
und  komödiendichtung  und  Verbindung  mit  Wackenroder  eingehend  dargestellt  wer- 
den. Der  Stembald,  in  welchem  nach  Fr.  Schlegel  der  romantische  geist  angenehm 
über  sich  selbst  phantasiert,  bewies  nach  der  freunde  urteil,  dass  die  romantische 
poesie  eine  lebendige  macht  sei.  Tieck  hatte  mit  Wackenroders  deutscher  kunstan- 
dacht  seine  überidealistische  behandlung  des  vnrklichen  lebens  hier  verschmolzen,  zu 
der  er  sich  allmählich  aus  teils  nüchternen ,  teils  grellen  anfangen  unter  W.  Meisters 
anleitung  heraufgearbeitet  hatte. 

Das  zweite  buch  beschäftigt  sich  mit  dem  Schlegelschen  bruderpaare  bis  in 
die  Jenenser  zeit  und  in  die  tätigkeit  für  das  Athenaeum.  Friedrich  erscheint  zuletzt 
als  mittelpunkt  des  kreises,  indem  seine  lehre  von  der  Ironie  die  verschiedenen  rich- 
tuiigen  der  genossen  sehr  wol  zusammenhält 

Das  dritte  und  letzte  buch  ist  der  eigentliche  Schwerpunkt  der  Haymschen 
arbeit.  Schon  äusserlich  noch  einmal  so  stark  als  die  beiden  andern  zusammengenom- 
men, tritt  mit  der  ganzen  fülle  der  geschilderten  personen  und  tatsachen  auch  ein 
reicheres  quellenmaterial  hervor ,  das  dem  Verfasser  in  dem  zuerst  durch  Dilthey  geöff-« 
neten  Böckingschen  schätz  des  W.  Schlegelschen  archivs  aufgieng. 

Das  erste  capitel  behandelt  Hölderlin,  dessen  einfügung  unter  die  romantiker 
überraschen  muss.  Der  herr  Verfasser  kann  diese  Verwertung  seiner  studio  über  den 
schwäbischen  dichter  für  das  vorliegende  buch  denn  auch  nur  gewaltsam  rechtfertigen, 
indem  er  Hölderlins  dichterisches  streben  einen  commentar  zu  Fr.  Schlegels  abhand- 
lung  Über  das  studium  der  griechischen  poesie  nent.  Im  übrigen  gibt  er  zu,  dass 
sich  Hölderlin  von  den  romantikem ,  die  fast  keine  notiz  von  ihm  nahmen ,  in  allem 
einzelnen  unterscheidet  und  auch  mit  Wackenroder  und  Novalis  nur  eine  ganz  all- 
gemein poetische  berührung  hat. 


246  WBnmoLD,  üb.  hath,  romant.  schule 

Novalis,  den  einzigen  ¥rirklichen  dichter  der  schule,  führt  das  zweite  capitel 
vor.  An  ihn,  der  zarte  poesie,  tiefe  philosophie  and  klares  lehen  verbindet,  schliesst 
sich  im  dritten  capitel  Schleiermachcr ,  „die  wendang  zur  religion  and  die  ethischen 
anschannngen  der  romantischen  schule,'*  im  vierten  Schelling  nnd  die  natnrphilo- 
sophie,  worauf  wir  im  fünften  zu  den  kritischen  häuptem  Schlegel  zurückkehren  und 
mit  sehr  rascher  übersieht  über  den  poetischen  nachwuchs  und  die  wissenschaftlichen 
ergebnisse  der  schule  an  das  ende  gelangen. 

Dieser  überstürzte ,  wol  durch  äussere  gründe  gegebene  schluss  steht  mit  einem 
mangel  des  ganzen  buches  in  Verbindung,  der  ungleichmässigkeit  des  aufbaues,  den 
der  herr  Verfasser  übrigens  in  der  vorrede  selbst  eingesteht.  Daraus  ergeben  sich 
auch  die  ezcurse,  welche  unter  den  ergänzungen  erscheinen,  und  die  freilich  bei 
mehrjährigen  litterargeschichtlichen  arbeiten,  deren  druck  vor  dem  abschluss  begint, 
sehr  leicht  notwendig  werden.  Solches  verringert  übrigens  den  wert  des  buches  durch- 
aus nicht,  an  dem  ¥rir  solide  arbeit,  gesundes  und  scharfes  urteil,  richtige  Charak- 
teristik und  als  grundlage  eine  vielseitige  wissenschaftliche  tüchtigkeit  zu  rühmen 
haben.  Dass  herr  Haym  weder  mit  Bugeschen  noch  mit  Eichendorffschen  anklängen 
die  romantische  anfangs  -  und  blütezeit  behandeln  werde ,  war  ohne  zweifei.  Er  strebt 
nach  geschichtlicher  gercchtigkeit  auf  grund  der  taten  und  worte,  nicht  geleitet 
durch  irgend  eine  doctrin.  Er  erkent  an,  dass  jene  männer  edle  bildung  in  vielsei- 
tiger anwendung  erwiesen ,  durch  zahlreiche  kanäle  weiter  leiteten ,  gegen  die  gemeine 
menge  und  die  mittelmässigkeit  verteidigten  und  den  geist  der  poesie  in  leben,  sitte 
und  Wissenschaft  hineintrugen,  ünberückt  durch  die  romantische  zaubermacht  spricht 
herr  Haym  es  aus,  dass  nicht  die  dichtung,  sondern  die  Wissenschaft  durch  die  schule 
nachhaltige  bereicherung  und  Vertiefung  erfahren  habe.  Doch  komt  auch  hier  nur 
der  anstoss  von  ihr,  nicht  die  strenge  ausführung  und  die  gewaltige  arbeit. 

Durch  ein  günstiges  geschick  haben  wir  fast  gleichzeitig  zwei  bedeutende 
werke  über  die  romantische  zeit  erhalten;  denn  wenig  wochen  vor  Haym  ist  der  erste 
band  von  W.  Diltheys  Leben  Schleiermachers  vollendet  erschienen.  Beide 
bücher  berühren  sich  an  vielen  selten ;  nicht  blos  in  dem  Schleiermacherschen  capitel» 
sondern  auch  sonst,  namentlich  wo  Friedrich  Schlegel  erscheint.  Es  ist  interessant, 
die  darstellung  des  gleichen  in  beiden  büchem  zusammen  zu  halten ;  man  tue  es  z.  b. 
mit  der  ausführung  über  die  Lucinde  (Haym  493  —  531,  875  fgg. ;  Dilthey  1,  487—508). 
Die  hohe  bedeutung  des  Diltheyschen  buches  hat  herr  Haym  neidlos  anerkant.  Dil- 
they hat  aus  noch  reicheren  quellen  als  er  geschöpft  und  versteht  geistreich  und 
scharfsinnig,  lebendig  und  mit  feinem  gefühl  die  Charaktere  zu  entwickeln,  die 
lebensbeziehungen  darzulegen  und  die  geistigen  arbeiten  genau  und  erschöpfend  nahe 
zu  bringen.  Mögen  beide  bücher,  Hayms  romantische  schule  und  Diltheys  Sohleier- 
macher, nachdem  stille,  ruhige  Zeiten  zurückgekehrt  sein  werden,  zahlreiche  freunde 
um  sich  sammeln,  die  sich  in  geistige  kämpfe  und  in  die  taten  wissenschaftlicher 
und  poetischer  führer  gern  versetzen. 

KIEL.  K.   WEINHOLD. 


Christi  Leben  und  Lehre  besungen  von  Otfrid«  Aus  dem  Althoch- 
deutschen übersetzt  von  Johann  Kelle.  Prag  1870.  Verlag  von  Frie- 
drich Tempsky.    YII  und  512  s.    Klein -8.    2  thlr. 

Der  wünsch,  das  Studium  des  so  schwierigen  Otfrid  zu  erleichtem,   bestimte 
den  Verfasser,  diese  Übersetzung  desselben  ganz  unabhängig  von  seiner  ausgäbe  des 


ZUPITSSA,   ÜB.   OTFBIO,  ÜBBRS.   V.   KBLLB  2^7 

originales  zu  veröffentlichen.  Sie  soll  »^gewissennaasscn  als  ein  fortlaufender  com- 
mentar  das  in  der  grammatik  und  im  glossar  gebotene  ergänzen.''  Da  dieses  ihr 
hanptzweck  sei,  habe  sein  streben  dahin  gehen  müssen,  so  wörtlich,  als  nur  mög- 
lich, zQ  übersetzen:  nur  eine  wortgetreue  Übersetzung  genügte  denen,  die  eine  solche 
aus  sprachlichen  oder  sonst  aus  wissenschaftlichen  gründen  in  die  band  nähmen;  eine 
freie  höchstens  den  freunden  der  poesie  überhaupt.  Man  kann  diese  ansieht  nur 
billigen,  zumal  Otfrids  werk  keineswegs  darnach  angetan  ist,  seine  leser  unter  den 
freunden  der  poesie  zu  suchen. 

Man  sollte  nun  aber  hiernach  denken,  dass  der  Verfasser  eine  einfache  pro- 
saische Übersetzung  bieten  würde:  aber  nein,  er  will  auch  die  form  des  Originals 
wahren ,  er  übersetzt  metrisch ,  wenn  auch  ohne  zu  reimen.  „Vom  reim ,''  erklärt  er, 
„habe  ich  umgang  genommen,  da  er  bei  der  absieht,  eine  wortgetreue  Übersetzung 
zu  liefern,  nicht  durchführbar  ist*':  gewis  richtig,  aber  ist  auch  nur  die  metrische 
form  in  diesem  falle  durchführbar  V  und  welchen  zweck  hat  diese  bei  der  ausgespro- 
chenen bestinmiung  der  Übersetzung? 

Kelle  gibt  je  eine  strophe  durch  vier  iambische  diroeter  Wider,  behält  also  den 
stumpfen  schluss  und  die  hebungen  des  Originals  bei,  füllt  aber  die  Senkungen  aus 
und  lässt  den  (einsilbigen)  auftakt  nie  fehlen.  Ich  habe  aber  drei  Strophen  nur  durch 
je  drei  dimeter  widergegeben  gefunden;  denn  2,  14,  14^  ist 

thdz  si  tJies  gieiloti       thes  wdzares  gtholoti 
übersetzt  mit 

y,um  weisser  sich  zu  holen  hier/' 

So  auch  ebenda  79  und  115.  Es  ist  das  sicher  nicht  absieht,  sondern  nur  versehen. 
Ein  ähnliches  begegnet  dem  Verfasser  in  demselben  stücke,  indem  ihm  ein  vers  zu 
kurz,  ein  anderer  dafür  wider  zu  lang  gerät.  Q^  zi  einemo  gisdze  wird  durch  das 
einen  ganzen  vers  bilden  sollende  „zu  Hnem  ruheplaz,"  dagegen  39*"  niueit  nUnan 
brunnan  durch  „hedierU  der  quille,  die  ich  ninne  mein**  widergegeben. 

Aber  übler,  als  diese  versehen,  ist  etwas  anderes,  wozu  die  metrische  form 
der  Übersetzung  genötigt  hat.  Kelle  bemerkt  s.  V  richtig:  „um  die  erforderliche 
anzahl  von  hebungen, zusammenzubringen,  um  zum  reime  zu  gelangen,  hat  Otfrid 
oft  Überflüssige  Wörter  eingeschoben,  weitläufige  Umschreibungen  gebraucht,  und  sich 
hier  und  da  verwickelter  constructionen  bedient"  usw.  Nun  erwäge  man  aber:  Otfrid 
lässt  oft  die  Senkungen  fehlen,  sein  Übersetzer  füllt  sie  aus;  jener  kann  zu  der 
hebung  am  versschluss  auch  tieftonige,  dieser  ausser  bei  compositb  nur  hochtonige 
Silben  brauchen;  die  althochdeutsche  spräche  hat  volltönende  formen,  die  neuhoch- 
deutsche bedeutend  geschwächte  und  zusammengeschrumpfte  —  man  erwäge  das,  und 
man  wird  sich  von  vornherein  sagen  müssen,  dass  Kelle  zu  den  flickwörtem  und 
Umschreibungen  Otfrids  neue  fügen  und  in  verwickelten  constructionen  es  ihm  nach- 
tun wird. 

Und  das  bestätigt  sich  denn  auch  sofort  bei  einer  vergleichung  der  Übersetzung 
mit  dem  original.  Von  flickwörtem  wimmelt  sogleich  das  erste,  was  wir  bei  Kelle 
lesen ,  was  wunderlicher  weise  das  zweite  kapitel  des  ersten  buches ,  „Otfrids  gebet,'' 


1)  Ich  zahle,  wie  es  bei  Otfrid  ja  allgemein  üblich,  nach  langversen ,  Kellein  der 
Übersetzung  nach  halbversen. 


248  zvpiTZA 

ist.  Es  heisst  da»  indem  ich  die  flickwörter  des  Übersetzers  durch  gesperrte  schrift 
hervorhebe : 

wohlan  denn  nun,  o  du  mein  herr!        ich  bin,  fürwahr,  dein  diener  ja, 

und  sie,  die  arme  muUer  mein,        sie  ist  ja  deine  eigne  magdf 

So  lege  deinen  finget  nun       an  meinen,  deines  diener s,  mund, 

und  strecke  aus  auch  deine  hand       auf  meine  zunge ,  grosser  gott, 

auf  dass  ich  überall  dein  lob        ertönen  lasse  und  verkünd\^ 

wie  einst  geboren  ward  dein  söhn       der  aller  weit  und  mir  gebeui^ 

nsw.  Es  wird  jeder  zugestehen  müssen ,  dass  das  keine  wortgetreue  Übersetzung  ist. 
Oft  braucht  der  Übersetzer  statt  eines  einfachen  wertes  im  original  ein  compositum 
oder  umsclireibungen ,  wodurch  zum  teil  fremde  Yorstellnngen  in  das  werk  hinein- 
getragen werden.    Man  vergleiche  z.  b.  1,  5,  3  fgg. : 

da  kam  ein  böte  unsers  herrn,       ein  engel  aus  dem  himmelszelt, 
und  brachte  diesem  Jammertal       die  höchste  künde,  die  es  gibt 
Er  flog  den  pfad  des  sonnenballs,      er  flog  die  strass^  des  sternenalls,^ 
er  flog  die  weg'  der  wolkenwelt      zur  Jungfrau,  die  dem  herrn  gefällt, 
zw  fr  au,  der  add  wohnet  in ,        zur  Jieüigen  Maria  hin, 

im  original  himile,  worolti,  diuri  ärunti,  stmnün,  sterrönö,  wolkonö,  fröno.  So 
wie  hier,  wird  auch  sonst  sehr  oft  diuri  umschrieben ,  so  gleich  v.  12  diwrero  gamo 
mit  „aus  garn  von  übergrossem  wert,''  wo  auch  der  zweite  halbvers  t?MZ  deda  sin 
io  gh'no  durch  „die  lieblingsarbeit  war  es  ihr''  meiner  ansieht  nach  nicht  besonders 
glücklich  widergegeben  ist.  Ich  greife  sonst  noch  einige  stellen  heraus ,  1,5,2: 
after  rime  „vne  man  zu  zählen  ist  gewohnt;"  32  nmnne,  „jedwedem  der  die  erd" 
bewohnt;**  47  in  himüe  „hoch  über  diesem  erdenraum;"  58  in  beche  „in  tiefetn 
höllenschlund;*'  1,  18,  4  ni  girinnit  mih  thero  wörte  „doch  fehlt  es  mir  an  Wör- 
ter scJiatz**  usw. 

An  sich  kann  man  gegen  die  Übersetzung  dieser  stellen  meist  nichts  einwen- 
den, wol  aber  z.  b.  gegen  den  gebrauch  von  „auch"  in  stellen,  wie  1,  17,  60  „und 
fanden  dort  den  guten  söhn  zugleich  mit  seiner  mutier  auch"  und  2,  14,  96  „er 
möchV  zum  mahle  endlich  doch  sich  nidersetzen,  essen  auch."  „Das  schwerfallige 
und  unbeholfene  liegt"  hier  nicht  „bereits  im  original"  (s.  V);  ebensowenig  1,  17, 
73,  wo  der  vers  sie  wurtun  släfente  fon  ingüon  gimänote  so  zerdehnt  wird:  „die 
magier  befiel  der  schlaf,  die  enget  aber  mahnten  sie.*'  Von  ganz  unerträglichen  Wort- 
stellungen erwähne  ich  1,  17,  13  „sie  fragten  überall  im  land,  wo  er  geboren  wäre 
nur;"  ebenda  69  fg.  „lasst  alle  uns  beachten  wohl,  dass  sie  mit  dieser  wundergeib^ 
in  Wahrheit  nur,  was  glauben  wir,  verkündeten  der  ganzen  weit;"  und  1,  2,  50 
„dass  ich  erfülle  deinen  dienst  und  etwas  andres  wolle  nicht.** 

Sehr  mislungen  ist  dem  Übersetzer  die  widergabe  von  1,  5,  16:  der  engel 
Gabriel  redet  die  Jungfrau  an  mit 

dllero  wibo       gote  zHzosto! 
bei  Kelle: 

„heil  dir,  die  aus  der  frauenweit      als  liebste  sich  der  herr  gewählt" 

• 

1)  8i  lütentaz. 

2)  giburt  tiints  thines,         drühtiftfs  mines. 

3)  Ad  dieser  stelle  ausnahmsweise  reim,  so  auch  ebenda  v.  13  fgg. 


ÜB.  OTFBID,  ÜBEB8.  V.  KELLB  249 

« 

Freilich  ist  es  sehr  schwer  ans  10  althochdeutschen  16  neuhochdeutsche  silben  heraus- 
zubekommen ,  aber  so  sonderbar  hätte  Kelle  doch  nicht  übersetzen  sollen ,  da  man 
„als  liebste**  beim  ersten  lesen  misverstehen  muss. 

Alles  das  wird  allerdings  einen  leser,  der  die  Übersetzung  aus  sprachlichen 
gründen  braucht»  wenig  stören.  Auch  das  wird  nicht  viel  schaden,  wenn  vielleicht 
der  eine  oder  andere  anfanger  im  Studium  des  althochdeutschen,  im  glauben  eine 
wortgetreue  Übersetzung  zu  befragen,  wenn  er  1,  17,  58  im  original  liest: 

mit  sineru  ferti       was  er  iz  zeigonti 
und  bei  Kelle: 

„mit  seinem  licht  am  himmelszelt     wies  er  sie  zu  demselben  hin/* 

oder  2,  14,  5.  6: 

zi  einera  bürg  er  thar  tho  quam 

in  themo  dgileize 

„und  kam  daselbst  zu  einer  Stadt, 

gerade  in  der  mittagszeit'' 

wenn  dieser  meint,  fort  könne  „licht  am  himmelszelt**  und  agileizi  „mittagszeit*' 
heissen. 

Aus  dem  bisher  bemerkten  wird  sich  jedem  ergeben ,  dass  man  die  Übersetzung 
keine  wertgetreue  nennen  kann:  sinngetreu  jedoch  ist  sie  in  der  vollsten  bedeutung 
des  Wortes,  wenn  mir  auch  bei  den  teilen,  die  ich  genau  durchgegangen  bin,  einige 
stellen  aufgestossen  sind,  die  unrichtig  übersetzt  sind.  Bei  einzelnen  ist  eine  bei 
dem  souöt  nur  zu  gründlichen  Verfasser  doppelt  auffallende  flüchtigkeit  daran  schuld. 
Eine  solche  zeigt  sich  z.  b.  1,  1,  87: 

las  iCh  ju  in  alawdr        in  einen  büachon,  ih  weiz  war, 
Kelle : 

j.ich  las  auch  einst  in  einem  buch,      doch  weiss  ich  nimmer,  wo  es  war;** 

es  schwebte  ihm  statt  weiz  neiz  vor.  1,  17,  9  sunnim  fart,  bei  Kelle  „der  steme 
lauf**  könte,  weil  „steme**  folgt,  auch  leicht  unbemerkter  schreib-  oder  druckfehler 
sein;  aber  1.  17,  61: 

fialun  sie  tho  främhald,        thes  guates  wdrun  sie  bald 

und  bei  Kelle  (es  ist  von  den  magiem  die  rede): 

„zur  erde  nieder  fielen  sie       der  göttlichkeit  ganz  überzeugt,** 

das  klingt,  wie  nach  Verwechselung  von  gotes  und  guates?  weiter  2,  14,  88: 

mit  wortan  mir  cd  zilita,         so  waz  sih  mit  wirkon  sitota, 
Kelle:  „mit  Worten  alles  mir  gesagt,      was  ich  mit  werken  je  getan**: 

wer  sieht  nicht,  dass  Kelle  waz  %h  statt  waz  siA  las?  auch  wenn  es  2,  14,  33  vom 
Jakobsbrunnen  heisst: 

er  (Jacob)  wöla  iz  al  bühoMa^-       thaz  er  mit  thiu  nan  wihta 
und  bei  Kelle: 

„sehr  gut  hat  er  ihn  ganz  bedeckt      und  vor  entweihung  so  bewahrt,** 

so  hat  Kelle  für  iz  wol  ina  vorgeschwebt,  sonst  hätte  er  bithahta  (d.  i.  bithähta) 
nicht  von  bithechen,  sondern  von  bithenken  abgeleitet.  Femer  1,  5,  9  fand  sia 
drwrenta  ist   nicht  „und  traf  sie  voller  trauer  an:**    denn  warum  soll  hier  Maria 


250  ZUPITZA,   ÜB.  OIFBID,   ÜBBBS.  V.  KELLE 

beim  psaltcrbeten  und  bei  ihrer  ^^lieblingsarbeit'^  traurig  sein?  sie  schlagt  nur  sitt- 
sam die  äugen  nieder.  Jacob  Grimm  in  Haujits  Zeitschrift  7,  456.  Ebendort  vers  28 
heisst  es  von  dem  Erlöser: 

Got  gibit  imo  wihaj       joh  era  filu  höha, 

drof  ni  zuiuolo  thu  ihes ,        Dauides  sez  ihes  küninges. 

Ich  weiss  nicht,  woran  der  Übersetzer  dachte,  da  er  schrieb: 

„die  weihe  gibt  ihm  gott  der  herr,        und  ehre  auch  im  hohen  maass, 
dess  sei  du  sicher  wnd  gewis,        du  sprössling  du  von  Davids  haus/' 

sez  ist  ja  doch  „thron."    Endlich  sei  noch  1,  1,  79  erwähnt: 

joh  mennisgon  düe,        ther  si  iz  ni  tmtar fälle, 
ih  weiz,  iz  göt  worahta,        dl  6igun  se  iro  forahta 

nach  Kelle: 

„ja  keine  menschenseele  ld)t ,        die  ihnefi  nicht  wird  Untertan, 
so  JkU  es  nämlich  gott  gefügt;        vor  ihnen  hangt  drum  jedes  voOc/' 

Wie  Kelle  den  zweiten  halbvers  construiert  hat ,  um  so  zu  tibersetzen ,  weiss  ich  nicht. 
Was  tmtar  falle  hier  bedeute ,  darüber  lässt  sich  streiten ,  aber  se  meint  sicher  se,  gen. 
sewes,  und  der  satz  ist  condicional:  „wenn  die  see  nicht.*' 

Das  erste  capitel  des  ersten  buches,  dem  das  letzte  beispiel  entlehnt  ist,  bot 
überhaupt  dem  Übersetzer  die  grösten  Schwierigkeiten,  die  mir  nicht  immer  glück- 
lich gelöst  scheinen.  Das  hat  sicher  Kelle  selbst  am  besten  gefühlt,  und  das  war 
vielleicht  auch  der  grund,  weshalb  er  es  ans  ende  vor  die  deutschen'  Widmungen 
stellte:  der  leser  hätte  sonst  gleich  am  anfange  einen  satz  bekommen,  den  er  nicht 
verstanden  hätte;  denn  ich  wenigstens  bin  ausser  stände,  die  ersten  verse  desselben 
bei  Kelle  zu  construieren :  eine  falsche  stärkere  interpunktion  in  der  mitte  statt  am 
ende  des  zweiten  verses  scheint  an  der  Verwirrung,  die  für  mich  das  original  nicht 
hat,  schuld  zu  sein. 

Wenn  nun  also  auch  die  Übersetzung  an  den  stellen,  die  ich  genau  geprüft 
habe,  nicht  immer  so  richtig  ist,  wie  man  sie  von  dem  gegenwärtig  bedeutendsten 
kenner  Otfrids  hätte  erwarten  sollen,  so  wird  doch,  wer  bedenkt,  eine  wie  langwie- 
rige arbeit  sie  bot ,  und  wie  leicht  da  die  aufmerksamkeit  ermatten  konte  und  muste, 
bei  diesen  und  anderen  versehen  über  den  Verfasser  nicht  allzustreng  zu  gericht 
sitzen,  sondern  sich  von  herzen  freuen,  nun  endlich  bei  der  lectüre  des  Otfrid  über 
jede  stelle  eine  gewissenhafte  Übersetzung  von  so  berufener  band  zu  rate  ziehen 
zu  können. 

BBBSLAÜ.  JULIUS  ZUPITZA. 

1)  Die  lateinische  für  die  gcschichte  der  deutschen  litteratur  so  wichtige ,  in  ihrer 
spräche  aber  nicht  eben  leicht  verständliche  widmung  an  Liutbert  hätte  wol  auch  über- 
setzt werden  sollen. 


JESSEN,   ZUR  EDDA  251 

NAOHTBÄaUOHE  BEHEBKÜVQEN  ZÜB  ABHANDLÜNQ  ÜBES  DIE 

EDDALIEDEB. 

4.  (FortBetznng  der  nachträglichen  bemorknng  2  oben  s.  81  —  82).  Worsaaes 
Vortrag  über  bilder  auf  ,,  goldbracteaten**  ist  erschienen,  in  Äarhöger  f.  nordisk 
Oldkyndighed  og  Historie  f.  1870  s.  382  —  419,  mit  tafeln  14—23.  Ich  widerhole 
meine  behaaptiing:  Worsaaes  entdecktin^en  sind  gänzlich  ans  der  Inffc  gegriffen.  In 
den  zu  befolgenden  gnmdsätzen ,  meine  ich ,  ist  Worsaae  ganz  und  gar  nicht  ä  la 
hauteur  de  la  questian;  denn 

a)  Worsaae  will  (s.  400)  auf  einmal  zwei  unvereinbare  thcorien  festhalten: 
erstens,  dass  „die Eddalieder*'  schon  im  „mittleren  elsenalter''  existierten;  zweitens, 
dass  die  spräche,  welche  Buggo  aus  runeninschriften  jener  zelten  herausliest,  älteres 
Stadium  des  „Altnordischen"  sei.  Jede  dieser  beiden  theorien  macht  die  andere 
unmöglich  (vgl.  oben  s.  26). 

b)  Worsaae  meint  (s.  383,  418)  in  diesen  bildem  belege  för  dasein  „der  Edda- 
lieder" im  „mittleren  eisenalter"  haben  zu  können.  Eine  totale  Verschiebung  der 
Probleme  (vgl.  oben  s.  81  note  1).  Eins  ist  alter  einer  sage,  ein  anderes  alter  eines 
gedichts.  Worsaae  würde  den  gewaltigen  fehlschluss  sogleich  bemerken,  wenn  man 
aus  deutschen  bracteaten  dasein  „des  Nibelungenliedes"  im  6. — 7.  Jahrhundert  fol- 
gern wollte  —  (Übrigens  räumt  Worsaae  [s.  400]  ein  ,  die  sage  möchte  „  in  Deutsch- 
land noch  älter "  sein ,  also  dass  die  frage  über  entlehnung  oder  nichtentlehnung  sich 
nicht  mittelst  dieser  bracteatenbilder  entscheiden  liesse). 

c)  Worsaae  verwendet  gleichermaassen  bracteaten ,  die  im  norden  fabriciert  sein 
können,  und  solche,  die  dem  norden  teils  nicht  zu  vindicieren,  teils  entschieden 
fremd  sind.  Nr.  3  auf  tafol  18,  nr.  4  und  7  auf  tafcl  16  sind  bei  Dannenberg  in  Han- 
nover gefunden  (sollten  also  nach  Worsaaes  schlussweisc  dartun,  dass  „die  Eddalie- 
lieder  "  im  „mittleren  eisenalter"  in  Deutschland  existierten).  Nr.  2  und  4  der  tafel  19 
erweisen  sich  durch  lateinische  und  andere  fremde  buchstaben  als  fremd  (oder  frem- 
den fabricaten  mechanisch  nachgebildet).  Sein  verfahren  ist  hierin  um  so  sonderba- 
rer ,  als  er  im  Ätkis  de  VarchSologie  du  naid  und  in  Thomsons  abhandlung  om  Guld- 
bracteaterne  (in  Annaler  f.  nordisk  Oldkyndighed  og  Historie  /*.  1355)  hinlängliche 
anlcitung  hatte.  Im  Atlas  sind  die  beiden  letzten  (daselbst  nr.  15  und  17)  ganz  rich- 
tig unter  die  fremden  gesteUt. 

d)  Worsaae  berücksichtigt  nicht,  was  doch  Thomsen  und  der  Atlas  hinlänglich 
urgiereu^  dass  fremde  münzen  als  Vorbilder  dienten.  —  So  wenn  auf  den  bildchen 
tafel  16  und  18  (=  Atlas  84,  85,  88  usw.)  der  daumen  gegen  kinn  oder  gesiebt  gehal- 
ten wird  (was  Worsaae  auf  tafel  16  dem  Sigurd,  auf  tafel  18  aber  dem  Gunnar  bei- 
legt!), ist  dies  schon  ebenso  der  fall  auf  den  fremden  ^mit  fremden  buchstaben  ver- 
sehenen) nummem  26  und  33  des  Atlas.  —  Der  Atlas  liefert  umsichtig  gewählte  Vor- 
bilder auf  fremden,  zum  teil  römischen  münzen  und  bracteaten;  so  auf  den  beiden 
ersten  tafeln  figuren ,  die  einen  ring  oder  kränz ,  die  eine  kugel ,  die  eine  kleinere  figur 
(Victoria)  em})orhalten ,  oder  gescnmeide  und  Werkzeuge  um  sich  oder  zu  ihren  füssen 
haben  usw.  Somit  fällt  hinweg ,  was  Worsaae  von  solchen  dingen  als  kennzeichen  ger- 
manischer sagen  aufführt.  —  Als  beispiel  der  enormen  willkürlichkeit  möchte  ich  hervor- 
heben, dass  Worsaae  die  in  der  band  emporgehaltene  kugel  seiner  tafel  19  nr.  2  und  3 
(Atlas  15  und  111)  für  einen  ring,  hingegen  auf  seiner  tafel  20  nr.  3  (Atlas  77)  für 
einen  apfel  erklärt. 

e)  Worsaae  berücksichtigt  nicht  hinlänglich  die  natur  der  bracteaten  als  blosser 
Schmucksachen.  Auf  solchen  tst  es  an  und  für  sich  nicht  notwendig ,  bilder  bestimter 
sagenhelden  zu  suchen.  Das  bild  eines  kriegers,  drachentöters ^  Jägers,  tierbezäh- 
mers,  in  der  schlangengruft  gemarterten  usw.,  ganz  im  allgemeinen  ist  schon  hin- 
länglich. (Ich  habe  eine  abhandlung  von  Dietrich  über  diese  bilder  gesehen,  mit 
erklärungen  solcher  allgemeinem  tendenz;  dieselbe  ist  mir  jetzt  nicht  zur  Sand).  [Es  ist 
die  abhandlung  in  Haupts  zeitschr.  f.  deutsch,  alterth.  bd.  13,  Berlin  1867.      Bed.] 

Die  bracteaten,  welche  Worsaae  auf  die  Nibelungensage  beziehen  will,  stehen 
auf  seinen  tafeln  16 — 20,  mit  text  s.  401  — 11.  Besehen  wir  dies  specieller.  (Mit 
dem  übrigen  der  abhandlung  haben  wir  hier  sonst  nichts  weiter  zu  schaffen). 

f)  Worsaae  bezieht  die  bildchen  der  tafeln  16  und  17  (=  Atlas  85 ,  84 ,  86, 
218,  88,  153,  115,  103,  109,  100,  93,  233  usw.)  auf  den  Sigurd.  —  Um  einen  sicheren 
anhält  hiefür,  so  wie  überhaupt  für  anknüpfung  an  die  Nibelungensage  zu  erlangen, 
macht  Worsaae  tafel  16  nr.  1  (=  Atlas  85)  zum  grundstein,  der  alles  übrige  trägt, 
indem  Worsaae  nicht  umhin  kann  zu  fühlen,   dass  all  das  übrige  zu  locker  ist,  um 


252  JESSEN,   ZTJB  EBDA 

eines  solchen  grundsteins  entbehren  zu  können.  Mit  diesem  anhält  schwindet  das 
ganze  aber  in  nichts  zusammen.  Dieses  bildchen  zeigt,  nebst  vogel  und  vierfüssigera 
tier,  einen  mann,  der  den  daumen  dem  offenen  munde  gegenüber  hält;  nach  Wor- 
saae  den  Sigurd ,  der  beim  braten  des  drachenherzens  den  finger  in  den  mund  steckt. 
Aber  die  übrigen  bildchen  der  tafel  16  (==  Atlas  84,  218,  88,  nebst  26  u.  a.)  und  der 
tafell8  beweisen,  dass  kein  stecken  in  den  mund,  sondern  nur  emporhalten  der  band 
mit  vorgestrecktem  daumen  gemeint  ist ;  der  daumen  wird  gegen  oder  unter  das  kinn 
gehalten,  und  hat  sich  nur  auf  jenem  einen  bildchen  dem  goldschmiede  ein  wenig 
emporgeschoben ,  so  dass  in  diesem  einen  falle  (der  von  den  andern  nicht  zu  trennen 
i«t)  die  spitze  des  daumen s  zufällig  dem  munde  gegenüber  steht.  Femer  ist  der  andere 
daumen  gleichfalls  ausgestreckt,  indem  auf  einigen  bildem  die  andere  band  zugleich 
vor  die  geschlechtsteile  gehalten  wird.  Wie  man  unter  solchen  umständen  den  Sigurd 
entdecken  kann,  ist  unbegreiflich.  Dass  überdies  nr.  26  des  Atlas  fremd  ist,  habe 
ich  erwähnt.  Worsaae  meint  auf  seiner  ersten  nummer  ein  pferd  zu  sehen;  das  tier 
hat  aber  gespaltene  füsse !  Auf  nr.  3  (Atlas  8iS)  läuft  dem  manne  ein  tierchen  über 
die  Schulter  und  gähnt  über  den  emporgehaltenen  daumen;  Worsaae  meint,  dies  könne 
sehr  passend  den  drachen  („wurm,"  d.  i.  schlänge)  bezeichnen,  den  Sigurd  erlegte! 
Ich  möchte  wissen,  was  Worsaae  einwenden  würde,  wenn  jemand  in  seinen  drei  ersten 
bildchen  (=  Atlas  85,  84,  86)  gaukler  und  tierzähraer  sähe?  —  Tafel  17  nr.  2—3 
(Atlas  153)  zeigen  ein  vierfüssiges  tier,  über  dessen  hals  etwas  dreiekiges,  und  darüber 
einige  reihen  punkte  stehen.  Worsaae  versichert,  dies  sei  Sigurds  pferd  mit  dem 
schätze.  Was  würde  Worsaae  einwenden ,  falls  jemand  versicherte ,  es  sei  das  pferd, 
welches  steine  für  die  festung  der  götter  holte?  oder  falls  jemand  läugnote,  ein  pferd 
könne  auf  dem  nacken  lasten  tragen,  also  läugnete,  es  sei  eine  vom  pferde  getragene 
last  gemeint?  —  Auf  den  übrigen  bildern  der  tafel  17  (Atlas  115,  103  u.  a.)  sieht 
man  einen  köpf,  einen  vogel  und  ein  vierfüssiges  tier  (gewöhnlich  mit  gespaltenen 
füssen),  und  nichts,  wodurch  wir  irgendwie  in  der  ganzen  grossen  bekanten  und 
unbekanten  sagen  weit  den  köpf  identificieren  könten. 

g)  Die  drei  bracteaten  (nr.  3  —  5)  der  tafel  18  bezeichnen  nach  Worsaae  den 
Gunnar  in  der  schlangengruft.  Nr.  3 ,  ein  mann  von  schlangen  umwunden ,  ist  in 
Hannover  gefunden;  (ue  erwänte  Stellung  der  daumen,  verglichen  mit  andern  bild- 
chen, erlaubt,  ihn  für  einen  schlangenzähmer  zu  halten.  Nr.  4  und  5  haben  keine 
schlangen,  möchten  aber  gleichfalls  gaukler  bezeichnen. 

h)  Die  vier  bracteaten  (nr.  2  —  5)  der  tafel  19  gehören  nach  Worsaae  den  letz- 
ten teilen  der  sage  an.  Nr.  2  und  4  (Atlas  15  und  17)  sind  aber  fremd.  Auf  nr.  2 
und  3  (Atlas  15  und  lll)  will  Worsaae  einen  emporgehaltencn  ring  sehen,  den  er 
sogleich  als  denjenigen  identificiert ,  den  Gudrun  an  ihre  brüder  schickte ;  es  ist  aber 
eine  in  der  band  emporgehaltene  kagel.  Nr.  5  (Atlas  89),  eine  stehende,  vieUeicht 
weibliche  fi^tir,  welche  die  band  einem  ticre  ins  maul  steckt,  meint  Worsaae ,  könne 
sehr  passend  die  Schwanhild  unter  den  pferden  bedeuten! 

i)  Die  fünf  bildchen  (nr.  1  —  5)  der  tafel  20  endlich  bezieht  Worsaae  auf  dio 
Vorgeschichte  der  Welisungc,  aber  mit  so  lobenswertem  zweifei,  dass  es  mir  kaum 
erlaubt  wäre ,  ernsthaft  zu  fragen ,  wie  in  aller  weit  man  im  brustbilde  und  der  klei- 
nen figur  mit  dem  Spielzeuge  aufnr.  1  (Atlas  76)  eben  Sigmund  und  Sin Qötle  erkennen 
kann ;  auf  nr.  2  (Atlas  80)  dieselben  beiden ,  in  der  nakten  figur  eine  fiiehende ,  und  im 
gegenstände  links  eine  garbe;  auf  nr.  3  —  5  (Atlas  77  —  79)  Odin,  eine  Walkyre,  und 
Mimir  (was  hätte  der  da  zu  tun?),  im  ticre  mit  dem  harte  auf  nr.  3,  und  auf  allen 
drei  nummern  mit  gespaltenen  füssen  ein  pferd?  Ganz  unnütze  fragen;  denn  Wor- 
saae erklärt  sich  eben  so  willig,  die  bildchen  auf  den  Sigurd  zu  beziehen. 

(Zu  meiner  note  3  oben  s.  81  ist  noch  zu  notieren,  dass  man  darüber  nicht 
ganz  einig  ist,  das  daselbst  erwähnte  bild  auf  den  Dietrich  zu  beziehen.  G.  Bryn- 
julfson  bezieht  es  auf  eine  sage  von  könig  William  Richardson  von  England.  Es 
wäre  wol  auch  möglich  an  Iwan  den  Löwenritter  zu  denken?) 

5.  Nicht  mit  recht  habe  ich  oben  s.  83  fg.  zugegeben ,  die  form  GjüH  sei  unver- 
dächtig. Im  gegenteil:  gjü  ist  eine  in  der  norrönen  spräche  unerhörte  Verbindung, 
und  die  vocalisation  des  b  (vgl.  Gibich)  sehr  auffällig.  Der  name  Gjiiki  ist  also  den 
oben  s.  16 — 17  besprochenen  linguistischen  indicien  deutechen  Ursprungs  der  sage 
zuzuzählen.  —  Auf  derselben  seite  83,  zeile  12,  sind  die  worte  „mehr  als"  zu  streichen. 

KOPENHAGEN,   28.  JANUAR  1871.  E.  JESSEN. 


Hall«,  Bachdmckerel  d«a  W>ia<nham<>. 


Literarische  Anzeigen. 


In  Ferd.  Dttminler^s  Terlagrsbaolihaiidliuig  (Harrwitz  und  Gossmann)  in 
Berlin  ist  erschienen: 

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JACOB   GRIMM. 

Fünf  Bände.     1864  bis  1870.     Velinpapier,     gr.  8.     15  Thlr. 

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matik. Mit  einer  photolithographischen  Tafel.  1866.  Velinpapier, 
gr.  8.     geh.     3  Thlr. 

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Erster  Theil.     1869.     Velinpapier,    gr.  8.    geh.     3  Thlr. 

Fünfter  Band.  Recensionen  und  vermischte  Aufsätze. 
Zweiter  Theil.     1870.    Velinpapier,    gr.  8.    geh.    3  Thlr.  15  Sgr. 

Die  Auswahl  der  in  die  letzten  beiden  Bände  aufgenonmienen  Stücke  hat  sich 
vor  allem  auf  solche  gerichtet ,  die  für  jeden  Fachgenossen  noch  jetzt  lehrreich ,  erfreu- 
lich und  brauchbar ,  aber  nicht  jedem  gleich  zugänglich  und  erreichbar  sind.  Alle  in 
den  Fachzeitschriften  enthaltenen  Arbeiten  wurden  ausgeschlossen. 


DEUTSCHE  GRAMMATIK 

von 

JACOB  GRIMM. 

Zweite  Ausgabe.    Neuer  vermehrter  Abdruck.    Erster  Theü.    Zweite  Hälfte. 

Preis  3  Thh. 

In  dem  Vorwort  zum  neuen  Abdruck  giebt  der  Herr  Herausgeber  über  densel- 
ben die  nöthigen  Mittheilungen.  Der  Subscriptionspreis  von  zehn  Thalern 
für  das  ganze  Werk  von  zwei  Bänden  (circa  120  Bogen  gr.  8)  erlischt 
nach  Erscheinen  dieses  Halbbandes. 


So  eben  ist  in  Ferd.  Dfimmler^s  Terlagrsbaohliandliuigr  (Harrwitz  und  Goss- 
mann) in  Berlin  erschienen: 

Bopp  (Franz),  Yerglelchende  Grammatik  des  Sanskrit, 

Send,  Armenischen,  Griechischen,  Lateinischen,  Litauischen,  Altslavi- 
schen ,  Gothischen  und  Deutschen.  Dritte  Ausgabe.  Dritter  Band.  Erste 
und  zweite  Hälfte  zu  je  2  Thlr. 

Mit  dem  Erscheinen  dieses  Bandes  liegt  das  berühmte  Werk  vdeder  vollstän- 
dig vor. 

Um  die  AnschafTung  desselben  zu  erleichtem,  haben  wir  einen  Snbscriptions- 
preis  angesetzt,  den  wir  noch  einige  Zeit  bestehen  lassen,  und  diese  dritte  Ausgabe 
in  Halbbänden  ausgegeben. 

Zur  Ergänzung  dieses  Werks  dient  das  folgende: 

Ausführliches  Sach-  und  Wortregister  zur  zweiten  Auf- 

läge  von  Franz  Bopp's  Vergleichender  Grammatik  von  Carl 
Arendt,    gr.  8.    geh.     2  Thlr. 

Dieses  Register  ist  mit  Hülfe  der  jedem  Bande  der  vorliegenden  dritten  Aus- 
gabe angehängten  Vergleichung  der  Seitenzahlen  auch  bei  der  dritten  Ausgabe  zu 
benutzen.  Der  Unterschied  der  Seitenzahlen  beträgt  übrigens  beim  zweiten  Bande 
im  Ganzen  nur  drei  und  ist  beim  dritten  Bande  ganz  imerheblich. 

3m  !SerIage  ber  ^^%ViWn  Oof^ud^^an^lung  in  OonnoUtr  ift  fo  eBen  erf^ienen 
unb  bur^  alle  ^u^^anblungen  au  Bestellen: 

Vorfdiule  nnb  ^nfan$0$rünbe  ber 

bcfcriJJtiöctt  d^comctric- 

©in  Surfu^  für  bie  ©ecunöa  einer  SRealfd^ule  I.  Drbnung. 

Gearbeitet  üon 
$rofeffor  am  (£atl^natin  in  SÜbetf. 

^it  155  Qolafd^nitten.    gr.  8.    ge^.    21  6gr. 


!8eitfabett  jur  alten  ^efdftid^te 

(OrientaHfd^e  Sieid^e  unb  ©ned^eulanb) 
für  btc  unteren  Älaffen  l^ö^erer  Sel^ranflolten  jufammcngeftellt  oon 

Stfta  an  fcer  b(ntf4tn  @4ub  in  IDttiiTg. 
8.    ge^.    6  @gr. 


f)anct'f(^  JBerlagg^anbtung  in  SJcm. 

OEiatfäiet,  (t,^  SMrtöetDmoIofiift^t  Sforff^ungcn  010  iBeitrSgc  5«  einer 
Xopoitomafttl  Der  St^eii.  4  ^fte  in  l  S9b.  8.  1866.  ^i« 
1  a;^lr.  15  Sgr. 


BEITRÄGE   ZVn  DEUTSCHEN   METRIK  255 

verse  4107  —  4134  fehlen.  Entbehrlich  wäre  dieses  stück  allenfalls,  aber 
es  deutet  auch  nichts  auf  interpolation  in  P;  es  honte  durch  versehen 
in  M  ausgefallen  sein.  Wichtiger  ist  ein  anderer  unterschied.  Das 
Mibiche^icr  bruchstiwk  gibt  den  text  in  bairiscJier  mundart,  während  die 
Heidelberger  handschrift  ihn  in  rheinfränkischer  mundart  gibt.  Da  nun 
Haupt  (Zeitschr,  f  d,  a,  VII,  262.)  aus  sachlichen  gründen  wahr- 
scheinlich  gepnacht  hut,  dass  der  Rother,  wenn  auch  von  einem  rhein- 
ländischen  spielmann,  so  doch  in  Baiern  verfasst  und  auf  bairische 
hörer  berechnet  sei,  so  könte  das  wol  einiges  gewicht  für  den  Münchener 
tvxt  in  die  ivagschale  legen.  Dann  hätten  wir  in  der  Heidelberger 
handschrift  die  rheinfränkische  abschrift  eines  bairischen  Originals.  Aus 
der  bescha/fenheit  des  Heidelberger  textes  ist  das  aber  keitieswegs  zu  ent- 
nehmen. Die  betrachtung  der  reime  gibt  wegen  deren  ungenauigkeit  hier- 
bei nicht  das  mindeste  criterium  an  die  hand.  Wo  hin  tmd  wider  ein- 
zelne stellen  eine  oberdeutsche  Urschrift  anzudeuten  scheinen,  überzeugt 
man  sich  doch  bald ,  dass  das  ein  täuschender  sehein  ist ,  der  nur  durch 
das  aus  anderweitigen  gründen  vorgefasste  urteil  erweckt  tvird.  Auch 
im  übrigen  wird  die  betrachtung  des  Heidelberger  textes  von  sieh  aus 
niemals  mit  einiger  Sicherheit  auf  diese  annähme  führen  können.  Das 
wechseln  hochdeutscher  und  niederdeutscher  formell  für  ein  und  dasselbe 
wort  ist  in  den  ühergangsdistrictcn  oberdeutscher  und  niederdeutsclier 
mumlarten  gar  nicht  selten,  tmd  es  wäre  irrig,  daraus  auf  einen  gemisch- 
ten text  schlicssen  zu  ivollen.  Das  gleiche  schwanken  fimlen  tvir  in  fast 
allen  den  fränkischen  dialecten,  die  uns  Mi'dlenhoff  in  der  einleitung 
zu  den  Althochdeutschen  Denkmälern  so  trefflich  charaetcrisiert  hat. 
Namentlich  muss  dieses  schtvanken  bei  einem  ungebildeten  Schreiber ,  der 
sich  auf  keine  feste  tradition  in  der  lautbezeichnung  stützen  konnte, 
scharf  hervortreten,  ivährend  in  der  Münchener  handschrift  der  im  gan- 
zen günstigere  eindruck  zu  einem  grossen  teil  auf  der  consequenteren 
Orthographie  und  auf  der  reinen  darstellung  einer  in  sich  fester  geschlos- 
senen mundart  beruht.  Zur  entscheidung  der  frage  k&nnte  nun  schliess- 
lich noch  der  umstand  Iwrbeigezogen  werden,  dass  der  innere  versbau 
in  M  bis  auf  einige  Meine  Verderbnisse  durchaus  regelrecht  ist.  Wäre 
der  Versbau  in  P  wirklich  durchaus  wild  und  regellos,  so  würde  das 
gewiss  für  die  priorität  des  Münchener  textes  entscheiden.  Wie  ich 
aber  schon  oben  bemerkt  habe,  walten  in  ihm  durchaus  feste  regeln,  die 
auf  klar  erkennbareyi  principien  beruhen.  DaJier  kann  er  jedenfalls 
nicht  als  eine  unwillkürlich  aus  blosser  nachlässigkeit  des  abschreibers 
entstarulene  vergröbermig  angesehen  werden,  und  so  wird  auch  hiermit 
die  frage  noch  nicht  entschieden.  Wären  die  bruchstücke  von  M  etwas 
umfangreicher,  so  würde  sich  aus  der  vergUichung  der  üh'igen  teoddif- 

17* 


256  AMELUN6 

ferenzen  gewiss  ein  sicheres  urteil  ergehen,  auf  welches  wir  jetzt  verzich- 
ten müssen.  Wie  dem  aber  mich  sei,  so  liegt  doch  jedenfalls  in  P  eine 
textgestaltung  vor,  in  der  der  Rother  gleichfalls  verbreitet  und  gelesen 
war,  deren  eigentünüiche  form  also  doch  anerJccnming  uml  geltung  gefun- 
den  haben  muss,  und  die  daher  wol  eitler  gesonderten  betrachtung  wert 
ist.  Die  regeln,  nach  denen  sich  dieser  txrsbau  mit  do^ypelten  Senkun- 
gen gestaltet^  werde  ich  nun  im  folgenden  efUwickeln,  wobei  alle  verse 
des  Rother,  die  ilber  das  gewönliche  mass  hinausgreifen,  zur  beurteilung 
kommen, 

L  Auf  eine  von  natur  hochtonige  hebung  können  zwei  Senkun- 
gen folgen.  Jede  der  beiden  Senkungen  muss  minder  betont  sein, 
als  die  vorangegangene  heJmng,  also  höchstens  tieftonig, 

a)  döhter  gehige  35.  aller  getrfuste  55.  vüoren  vermßzzenliclie  205. 
de  süunen  gesäcli  315.  nümmer  verclägen  477.  485.  der  vünver  vir- 
däge  484.  waren  gehöubitöt  511.  de  herren  virnä'men  544.  diugis 
geda  ht  578.  die  he  rren  begünden  637.  kitenin  geliez  757.  de  nia  neu 
bewünden  863.  deneöt  geta'n  896.  allen  geli'che  900.  ninimir  ne 
möhte  915.  mir  ratin  genüoge  962.  mächten  getrünkin  101:^.  h6dden 
getan  1065.  ünsir  siheinis  1118.  mö'zen  gone zen  1231.  wdzzer  gcnäm 
1251.  mannen  ne  mdg  1277.  sölden  getä'n  1279.  he  rren  geazin  1329. 
warin  gegängin  1632.  uwers  gemo'tis  1676.  aller  gesihte  1741.  h6t- 
tis  gesen  1790.  mö'stin  geväzzit  1892.  herzen  begünde  1912.  niorgin 
genören  2012.  irli'den  nemdc  2125.  vuzen  gesäz  2189.  moter  gewän 
2211.  swärzis  gewsete  2319.  herren  gesazen  2499.  sölvin  bequäm  3035. 
newörde  zo  hänt  3194.  vröuwen  geördiuot  3328.  vörsten  gesche  3977. 
leiden  begünden  4107.  herren  benäm  4161.  vcrmi'den  newolde  4400. 
si'nen  geno'zin  4444.  gfengen  gezögenlichon  4576.  di'nis  gevörtis  4670. 
leides  getan  4700.  hatten  getan  4847.  ünde  Ceciljin  48^^4.  uimmir 
nicheinin  4900.     e'ren  gero'chit  4983.     e'rin  gegän  4996. 

b)  heriste  man  10.  getrü'iste  man  55.  schö'niste  man  294. 
Romesker  6rden  463.  ßldesten  süne  483.  Ifebesten  man  542.  gro ziste 
hörvart  2559.  b^zzistin  göte  ;>742.  hfmiliskcn  köningis  3927.  Rö'miske 
diet  4052.  scö'niste  wi'f  4620.  ßO'mesche  rfche  4754.  truwistin 
man  5083. 

e)  der  mdrcgräve  rü'mt  104.  der  antworte  nfht  262.  söltsaene 
ddz  277.  söltsane  knäpe  649.  stä'line  stänge  650.  wi'gande  zwölfe  671. 
ni'dliche  worin  700.  l^milgere  ri'tin  769.  Dietriches  man  1023.  nie- 
manne vor  1139.  iemanne  mit  1162.  dilncnieme  si'n  1226.  eilenden 
mö'zen  1231.  staline  ringe  1135.  ärmöte  niht  1398.  vro'liche  ddnne 
1450.    stä'line  stdngin  1653.     iemanne  zörn  1671.     inville  wären  1853. 


BEITRAGE  ZUR  DEUTSCHEN  HETRIK  257 

vröwelichor  gdnge  2085.  B^rkere  dorne  2145.  jüncvrouwe  beiz  2545. 
he  rliche  gäre  2630.  heimlichen  männiii  2832.  scärlachin  üüde  3063. 
valandes  mdn  3227.  Lü'polde  mit  3322.  Lupoide  hä'st  3351.  wa tziere 
man  3578.  Lü polde  d^n  3672.  herliche  schäre  4075.  Wi'dolden  öuch 
4292.     :^]rwine  gäf  4840.     vrömichede  iifht  4857. 

d)  sündorlich  schäre  242.  Thfederich  üude  894..  Cönstantin  säz 
908.  waphenroc  trö'ch  1110.  Dieterich  vor  1252.  Cönstantinöpole  67. 
1385.  1585.  2843.  2983.  3635.  3713.  3771.  3809.  4082.  4449.  45:33. 
4535.  fegelich  kämaräre  1590.  Cönstantin  vrä'gete  1705.  vgl  2763. 
3035.  3803.  4563.  hochgezit  wä'ren  1871.  Dieterich  z6'  1993.^  vgl. 
2695.  2710.  2851.  Ymelöt  g^rte  2561.  Jerusalem  sfiit  2570.  Ymelot 
IS  2788.     vgl.  3029.  3038.  3991.     heflichdüm  vor  4141. 

e)  zferheit  gesä'hen  388.  phönninc  gegevcn  669.  ci'rheit  gese  n  824. 
nfeman  nihefue  1576.  neman  irw^nden  2337.  sänctus  Johannes  4069. 
ürlof  genäm  4968. 

IL  Während  als  einfache  Senkung  auch  hochtonige  silhen  zulässig 
sind  (ein  hörzoge  der  hiez  Frfderi'ch  1609)  erscheinen  hei  doppelter  nur 
tieft (ynige  silhen  statthaft.  Daher  ist  hier  der  gebrauch  seihständi- 
ger Worte  als  Senkung  in  viel  ewigere  grenzen  eingeschränkt  als  sonst. 
Neben  den  flcxions-  und  aUeitungssilhen,  den  praefixen,  wozu  auch  die 
negation  ue  zu  rechnen  ist,  die  nur  ausnahmsweise  einen  hochton  tra- 
gen kann,  und  den  zweiten  gliedern  der  composita,  sind  nur  getvisse 
bestirnt  zu  bezeichnende  redeteile  in  der  doppelten  Senkung  zulässig,  welche 
da)m  für  tieftmiig  gelten  müssen.  Es  sind  meist  redeteile,  die  sich  endi- 
tisch  oder  proditisch  mit  eitlem  arideren  worte  verbifiden,  oder  doch 
solclic ,  die  mit  einem  anderen  höher  betonten  redeteil  syntactisch  eng  ver- 
bunden sind,  an  den  sie  sieh  gleichfalls  enditisch  oder  2>^ocUtisch  an- 
schliessen  würden,  wenn  sie  unmittelbar  neben  einander  stünden.  Einige 
von  ihnen  können  jederzeit  tieftoniy  werden,  andere  nur  unter  gewissen 
bedingungen, 

1)  Ohne  jede  weitere  einschränkung  Jcönnen  folgende  reddeile 
ihren  hochton  verlieren: 

a)  der  bestirnte  artikel,  da  er  sich  jederzeit  proditisch  mit 
dem  folgenden  Substantiv  oder  adjectiv  verbinden  kann:  redeten  die  jun- 
gen 19.  erwürbe  daz  m^getin  89.  ümbe  daz  mögctin  110.  werbe 
die  bödcscaft  120.  ümbe  die  mäget  145.  würben  des  he'rren  119. 
vö'ren  die  böten  198.  trüogen  die  h^lede  228.  wä'ren  die  sädilschel- 
len  231.  redete  du  go'te  250.  ümbe  die  bödeschap  334.  giengen  die 
äldtfu  436.     B6rhter  der  aide  466.  520.     waren  die  äldesten  483.    kfe- 


258  AMELUNQ 


sen  den  tö't  588.  Börhter  die  rieseii  G54.  ümbe  daz  sin  668.  vir- 
le  sin  den  (1.  daz)  loben  674.  sprä'clien  die  störmgieren  698.  begdnden 
die  herren  720.  waren  des  küningis  796.  liefin  die  bürgaere  822. 
besagen  den  kiel  841.  vö'rten  die  vreislichen  842.  hiezin  den  vreissa- 
men  852.  waren  de  ixianen  863.  ünde  die  gö'te  898.  Ro'tlier  den 
küninc  934.  ünde  die  si'ne  948.  an  de  gewält  975.  zobr^che  die 
stänge  1005.  giengen  die  kdmeräre  1026.  Mrde  daz  gö't  1119.  vörh- 
ten  die  geste  1137.  vermi'det  den  ünliolden  1157.  waren  die  pörten 
1289.  hätten  die  kl&der  1309.  uzir  der  no'te  1434.  dü'hto  die  rode 
1447.  ä'ne  die  rücken  1494.  moste  die  riese  1505.  ünder  den  vröu- 
wen  1518.  einer  daz  fo'tor  1709.  ümbe  die  schütten  1782.  ta'ten  die 
änderen  1881.  von  der  gewsete  1904.  gedachte  die  rode  1964.  vii'die- 
nit  daz  äfgrunde  1970.  wsenit  der  eilende  1998.  daten  die  änderin  2164. 
namen  die  zwölf  2431.  älse  die  he'rren  2499.  hinder  den  ümmehanc 
2503.  relite  die  vröuwe  2521.  wölde  die  ri'che  2564.  nä'men  die  zwölf 
2623.  giengen  die  rös  2634.  ünder  der  heidenschefte  2681.  ümme  die 
höidenschaft  2711.  hö're  die  vi'ande  2756.  nahet  der  tö't  2776.  in  daz 
gecelt  2798.  sänte  daz  völc  2833.  do  wöinte  de  vröuwe  2847.  ünde 
die  wigande  2849.  ümbe  daz  schone  2922.  ünde  die  jungen  3037. 
bedrü'git  die  söltsaenc  3069.  giengen  die  bürgajre  3113.  duhte  die  bür- 
gere 3119.  einer  die  ciselinge  3123.  wölde  die  köningin  3150.  gebö'- 
zet  der  sölver  3162.  alle  die  länt  3188.  vö'rden  die  Griechen  3226. 
trö'ste  daz  trö'rige  3268.  gewönne  die  hülde  3271.  hilfit  den  öUenden 
3481.  nämen  die  bürgäre  3523.  sprachin  die  bürgäre  3537.  sci'net 
den  Böyeren  3577.  älse  die  helede  3579.  uzer  der  mönie  3614.  lieze 
die  andre  3616.  älse  de  rat  3619.  düzzen  die  segele  3631.  ünder  die 
bömiie  3640.  ünde  die  wöreltliclie  3648.  wörde  die  grüntveste  3651. 
nu  wet  der  hölle  3652.  älse  die  höledo  3653.  säl  die  beze'chenunge  3674. 
slüflfen  die  hölede  3687.  waren  die  vörsten  3719.  rehte  die  stät  3989. 
mo'wit  die  lüde  4000.  vröiskiu  die  lio'ma^re  4003.  Johannes  der  töu- 
fajre  4069.  ünde  die  välewen  4147.  dade  die  gödes  craft  4168.  hor- 
ten die  Orden  4215.  wä'rcn  der  spilemanne  4285.  ünde  die  rös  4328. 
ünde  die  lüfte  4405.  sco'nit  des  äldin  4412.  alle  die  länt  4416.  wör- 
fin  die  stäugin  4446.  waren  die  vörsten  4500.  ünde  die  gü'do  4525. 
quamen  die  zöldaere  inde  die  rös  4579.  waren  die  sädele  4585.  ünder 
den  vröuwen  4590.  lu  hte  daz  Ko'theris  4604.  ünder  den  vröuwin  4627. 
kindin  den  li'f  4629.  rehte  die  köningin  4663.  behördint  die  buch  4701. 
ünde  die  ri'che  4746.  wä're  die  möiste  4807.  virbü'tit  der  wäldindiger 
4910.    hette  dat  älder  5077. 

h)  das  pronomen  personale  nicht  nur  wo  es  endiUsch  hi fiter 
dem  vcrbum  steht,  sondern  auch  wo  es  dem  verbum  vorangesetd  ist  oder 


BBITBAGE  ZUB  DBÜTSCHEN  MISTBIK  ,259 

ganz  von  demselben  getrennt  steht;   auch  nicht  nur  im  nominativ,    son- 
dern in  jedem  casus  und  numerus. 

a)  hinter  dem  verbum:  namen  sie  grö'ze  wäre  243.  wärt  er  irslä- 
gen  476.  sölde  wir  mit  508.  sö'che  wir  sie  514.  quölitmeu  die  helede 
515.  hö'rde  man  mänigen  546.  ne  völgis  du  des  niht  600.  niö'ze  er 
gewinnin  611.  ne  trü'widich  fn  negeineme  lande  924.  den  hanich  iedöch 
984.  ne  käu  icli  nichöirae  1014.  strfbete  her  an  der  1039.  möhtistu 
dise  1064.  gesie  wer  daz  Mste  1112.  begri'fet  her  iemanne  1162. 
begünden  sie  b^hurdieren  1343.  lövete  man  Dfeteriche  1345.  so  helfet 
iz  öuh  1440.  lövetemen  Dieteriche  1509.  höizin  si  Aspriäne  1593.  dar 
bönketer  vli'zeliche  1596.  ingßlden  sie  hü'te  1688.  möhtin  sie  umbe 
1782.  möhten  sie  häven  1783.  laze  wir  däz  1787.  mo'stin  sie  äl  1865. 
wöldistu  aber  1991.  begündin  sie  b^ide  2314.  legete  man  gO't  2492. 
Ifez  man  die  bötin  2524.  h^ten  sie  rös  2601.  lä'zet  man  mir  2670. 
kerte  her  vroliche  2786.  mO'zin  sie  lästerliche  2790.  hä'n  wir  gevän- 
gin  2901.  möhte  si  bäz  2994.  begünde  man  z6'  3091.  wie  biedet  ir 
dät  3116.  wöUit  ir  däz  3124.  bat  her  die  küninginne  3177.  wöldet 
ir  in  3191.  wflle  wir  vären  3218.  würphen  sie  an  3223.  möhte  wir 
sin  3303.  behe'lde  he  trü we  3316.  Isege  du  h^lt  3334.  gezömit  ich 
immer  3338.  setzent  sie  an  3388.  genüzzen  si  dös  3395.  göswi'che  he 
deme  3413.  sä'gen  sie  ünder  3527.  vö'rten  sie  an  3569.  rfeden  sie 
döme  3613.  rfefin  sie  ällenthalven  4109.  möhte  man  wöle  4356.  wöl- 
dis  du  mi'nis  4419.  liezen  sie  Cönstantinople  4449.  dörsten  se  vor 
4496.  inbrseche  her  von  der  4679.  vrömete  man  rös  4756.  le'ch  he 
die  rfchen  4820.  4828.     gäf  he  Ispanien  4840.     löveten  sie  ane  5064. 

/:^)  ausserdem;  nommativ:  eines  zöihnes  her  fme  gedähte  168. 
einen  mäntel  her  (me  gap  210.  wannen  sie  kümen  waeren  254.  trü'- 
rieh  iz  uz  ir  hercen  gienc  380.  sie  sprä'chen,  wir  haben  578.  zwene 
steine  her  (n  de  haut  nam  1040.  dar  ümbe  du  mänegen  1071.  dänne 
wir  alle  quämin  1200.  wänder  irscröcket  1275.  sölve  her  fz  in  wol 
gebot  1291.  wie  lüzzel  her  dös  genesen  liez  1656.  bi  den  hönden  sie 
sich  bevingen  1747.  deme  rocken  sie  fn  daz  ore  sprach  1946.  däz  iz 
irschelle  2006.  mit  vröweden  sie  fn  deme  hove  sint  2108.  älse  du  Crf- 
stin  woUis  sin  2196.  swännen  du  vörist  2243.  sowflchis  künnis  du 
aber  bist  2268.  einen  pälmen  sie  ober  ir  ahslen  nam  2321.  also'  he 
die  mägit  2327.  mö'ter,  er  sült  2330.  ich  wsene  sie  here  wollen  2758. 
ze  vürdirst  her  fn  daz  gecelt  ginc  2798.  herre,  du  sält  3056.  war 
limbe  ich  die  rode  hän  irhaven  3736.  älse  du  sölbe  3808.  eine  köfsin 
her  an  daz  sper  baut  4094.  war  ümbe  wir  hü'te  vehtin  4118.  si  jä'hen, 
iz  dä'de  4168.  wie  gewfs  er  den  mfnin  schilt  hat  4896.  —  Accusa- 
tiv:  dat  hör  ez  gewröche  37.    süln  iz  den  he  rren  500.    künden  iz  gd'tin 


260  AHELUNO 


knehtin  501.  mähtu  dicb  aller  best  582.  irsäg  iz  der  herzöge  693. 
intle'uc  sie  gezögeuliche  901.  möhtin  sie  höben  905.  bü'tit  sich  äu  944. 
düukeut  mich  härte  949.  linde  mich  also  1019.  hö'von  sich  dänne  1043. 
sowös  sie  dich  bseten  106G.  du  zückis  dich  trunkenheit  an  1083.  ho'dit 
üch  alle  1160.  liezis  sie  uz  der  nöte  1203.  trö'ste  mich  an  de  kunin- 
gin  1216.  Ifezen  sie  uz  1290.  lezin  sich  ^re  not  erbarmen  1296. 
brahte  sie  alles  gOdes  eninne  1302.  sie  entfe'ngen  iz  äl  1378.  mächit 
uns  alle  1476.  dü'hte  mich  wi'stüm  1627.  lä'zit  mich  mi'n  gestole  hau 
1628\  hrtten  dich  braht  1668.  woldc  sie  alle  1670.  her  rö'fte  sie 
vräsliche  1716.  warf  her  mich  över  ver  man  1718.  irlä'zin  in  d6s 
1742.  törste  dich  nfeman  1796.  genö'ztin  sich  alle  1900.  mö'wis  mich 
allen  disen  tac  2126.  virh61  mich  der  rWe  2246.  möhte  sie  uf  den 
liph  hän  2294.  törste  sie  d^s  gewern  2380.  lä'ze  mich  göt  3350.  vrö- 
mede  sie  h6im  3624.  vo'rtin  sie  widir  3796.  vö'rte  dich  wfdir  3849. 
ho'vin  sich  gögin  der  dicke  414(\  16'sten  in  von  deme  galgin  4214. 
trü'dis  mich  näht  unde  tach  4481.  le'rdis  mich  go  de  knehte  4485.  vö're 
sie  deme  4527.  zebra  chin  in  älse  ein  hon  4908.  begi  ngin  sich  vröme- 
liche  4988.  wir  münichin  uns,  trü't  herre  mm  5168.  —  Dativ:  nu 
höiz  dir  gewfnnen  124.  däz  er  in  künincliche  gap  148.  wölde  dir  genie 
522.  h^lfe  mir  schädehaftin  537.  swflich  in  intwfchet  666.  kfesit  ü 
öinin  734.  kän  ich  ü  nfet  851.  gfengen  in  an  den  henden  862.  mau 
sägte  mer  fe  911.  ungerne  ich  en  viisägete  965.  swflichin  mir  göt  967. 
gelöubit  mer  herre  1017.  wändiz  mer  noch  1018.  gfvestu  mir  noch 
1186.  du  ne  rietis  mir  niht  1212.  hflfen  tliir  di'ne  1242.  nevölget  mir 
niet  1262.  verbö't  man  en  Cönstantinis  hof  1310.  gab  m  die  vänin 
1342.  ich  völge  dir  görne  1373.  heifit  ü  vrümeliche  1402.  wfl  ich 
ime,  däz  is  war  1445.  wfl  her  ü  rfliten  1733.  gäf  mir  der  h61t  2046. 
ünder  in  allen  2199.  daz  sägih  der,  sprach  2201.  wfl  ich  dir  schiere 
bringin  2*228.  her  bozte  mer  dicke  2233.  wserc  mer  fnnencliche  lieb 
2271.  nu  lö'ne  dir  göt  2605.  wilich  ere  dir  ist  geschein  2804.  dänne 
sich  mänige  3032.  ich  nebr6nge  der  Kö'theres  wif  3076.  hä't  dir  getä'u 
3305.  daz  wane  mer  zörn  3395.  inle'zis  uns  ünder  woge  3944.  drä- 
vetin  in  uz  der  stat  na  4097.  wfl  iz  ü  warliche  sagen  4309.  hotte 
mir  wöl  4514.  got  löne  dir  mänigir  eren  4687.  s6  vfle  he  dir  leides 
getan  hat  4700.  mü'sten  gelo'net  werden  4852.  völge  mer  köninc  5113. 
cöufe  dir  sölve  5145.  völge  mir  trü't  h^rre  5164.  —  Genetiv:  ob  ^r 
is  gevölgic  wolde  sin  577.  ich  ne  geböito  sin  vor  deme  kuninge  niht 
1051.  sclö'gin  ir  öne  michele  craft  4134.  die  ne  gelö'vent  is  ni^t  4850. 
wir  ne  vfudin  sin  nflit  5148. 

c)  das  pronomen  dcmonstrativum;    sdteti,     swännen   diso 
herren  kumen  sint  281.     Rother  sänte  gö'te  kn^htc   in  diz  länt   997. 


BEITBAQE  ZUR  DBT7T8CHEN  IffBTBK  261 

den  du  zörnetis  wfder  dessen  wi'gänt  1079.  wfl  her  ü  rfliten,  daz  fs 
mir  Heb  1733.  älse  daz  Cönstanti'n  vimäm  2785.  störvich  en  dän,  des 
inmach  ich  dan  niht  3458. 

d)  die  praepositionen,  nicht  nur  wo  sie  procUtisch  unmittelbar 
vor  dem  suhstantiv  oder  adjecfiv  stehen.    Belege  finden  sich  für  mit  an 
von   in   üf  zo   bi  nach   vor  under   umbe  üzer  äne  durch,     a)  unmittel- 
bar: stüonden  mit  erin  14.    mit  grözen  zühten  an  sfnem  hove  15.     die 
fst  der  van  allen  93.     fmer  in  dechöine   175.     ünde  von  vröuwen  278. 
Rother  üf  efme  steine  442.    sölde  mit  gro'zen  erin   553.     quä'men  zo 
Rö'me  645.     intfä'   sie   nach  di'nen  eren  661.     ünde  mit  grö'zer  cirheit 
780.     vo'ren   zo  Cönstinopele  802.      mo'zen   mit   gö'ten   810.     gebunden 
vor  si'me  zorne   844.     quam  iz  an  einin  884.     ünde  mit  hörzogen   887. 
ünde  mit  vri'gen   888.     immer  mit  öineme  häre    1080.     daz  du  iz  vor 
vörehtin   tsetes   1067.     Börker   zo  si'me  herren   1356.     wörte  zo  dfsen 
armen  1357.     sfn  under  in  1371.     hfnne  vor  Cönstantinin  1451.     väste 
zo  mote  1486.     wsere  mit  gölde  1574.     qua  min  zo  Cönstantinopole  1585. 
dänne  zo  femanne  1671.     schi're  zo  dische  1808.     dänne  mit  e'ren  2306. 
quseme  mit  si'nen    mannen   2371.     lagen   in   ünkreften   2410.     würden 
von  trö'ste   2511.     bedwüngin  mit  grö'zir   2565.     virlo's  zo  Jerusalem 
2570.    brahter  zo  Cönstantinopole  2843.     quamen  mit  hörescrefte  2868. 
stu  ndiz  an  mfnin  willin  2920.     gövit  umbe  öinin  penninc  3118.     bfddis 
durch  ünsin  trehtin  3208.     älse  vor  vönfcich  jären  3358.     ich  vö're  üzer 
m!  nem  lande  3401.     lü'hten  in  strfte  3555.     vo'rde  van  Töngelinge  3560. 
quä'men   in  sös  wochen  3633.     wä'ren   mit  händin   4040.     hüoven  mit 
gio'zer  4079.     was  her  in  stärker   nöte  4114.     nä'men  von  si'nen  ban- 
den 4157.     hündret  mit  fn  4286.     bit  zühten  an  överbrehte  4362.    16'ste 
mit  sfner   hande  4398.     bfde  in   durch   göt  4529.    würdin  bit  bänden 
4718.     lövete  mit  grö'zin  erin  4721.     den  herren  von  Töngelingin  4862. 
Börker  mit  si'me  Schilde  4886.    ünde  zo  höfe  4916.     der  he'rre  von  Tön- 
gelingin  5024.     brä'hte  von  Körlingin  5034.     dö  röit  er  mit  mänigeme.  — 
ß)  durch  ein  anderes  wort  getrennt:    von   enänder  in   däz  gewant  237. 
sfnt  zo  den  brüsten  662.    göt  an  mir  armen  916.     bäz  in  daz  öuge  1077. 
vo'ren  mit  s6'  getanen  1094.    sie  vröit  sich  in  (r  gemöte  1219.     vär  zo 
den  hörebergen   1230.     vo'r  zo   den  herbergin   1284.    hin  zo  der  wört- 
schefte  1561.    ich  mit  den  öugen  1711.    ge  zo  den  hörbergen  1934.    nä 
mör  zo  den  kömenäten  2114.    wfl  nä  den  scho  eben  2122.     gfnc  zo  den 
rossen  2695.    iht  zo  den  rossen  2752.     daz  völc  zo  des  küninges  vanen 
2833.    öf  si  durch  fre  gode  3161.    glenc  vor  den  herren  3290.    alle  in 
daz  wäl  4241.    säl  vor  die  düre  stän  4384.    böiz  in  die  stängin  4653. 
mir  bi  der  hönde  5130. 


262  AMELUNO 

e)  die  conjunctionen,  Belege  finden  sich  für  wie  daz  ob  dan 
so  ouch  aber  doch  unde;  besondere  einschränkungen  scheinen  nicht  statt 
zti  finden;  unde  nicht  nur  wo  es  einzelne  worte,  sondern  auch  da  wo 
es  ganze  sätze  mit  einander  verhindet.  Zwene  unde  sfbincih  7.  644. 
25&8.  2643.  3763.  eiä',  we  die  segele  duzzen  182.  ich  wsene,  daz  nfe 
so  manic  man  264.  ne  lögitiz  ouh  niergin  nidere  455.  owf,  daz  ich  fe 
geborn  wart  479.  vier  unde  zw&ncic  651.  unde  sägit  mir  ouch  ddz 
her  notic  si  945.  benümen  unde  brä'ht  in  arbeid  1071.  mich  dünldt 
daz  sie  1076.  her  ne  gerögite  doch  nfe  de  vote  1146.  ü'z  unde  fn  1290. 
vr6'  unde  spä'de  1519.  min  dfenist  ob  sie  is  gerochit  2003.  gü't  unde 
hält  2217.  stü'nt  unde  w6in6te  2413.  härter  dan  sine  schönen  kint 
2452.  Ime  unde  si'nin  2814.  bö'ge  unde  ha  rbant  3087.  gölt  unde  p61- 
lin  3115.  trü'we  unde  ere  3316.  mä'ge  unde  man  3429.  under  diso 
unde  sine  man  3851.  nu  vi'ä'get  ouh  einin  andren  man  4318.  die  wi'le 
daz  dfse  werelt  stät  4344.  owi'  daz  ich  ie  geborn  wart  4423.  und 
giw6r  is  och  dir,  of  du  nä'  ime  düst  4562.  zühte  unde  erin  4611.  he 
lach  inde  böiz  in  die  stangen  4653.  nu  wärde,  wie  j6nez  kint  spilit 
4672.  he  cüste  ouch  die  dldin  koningin  4647.  irk^nnis  och  ünsin  treh- 
tin  4693.  g6't  unde  lövesam  4876.  ni't  unde  spöt  4909.  dre  tage  unde 
dri'e  naht  5054.  (2277.  2468.  3059  siehe  unter  IV  1.  a;  3412  unter 
F.  1;  1458.  1770  unter  IV 1.  h) 

f)  die  adverbien  dö  da  dar  dan,  nicht  nur  wo  sie proclitisch  mit 
einem  anderen  adverbium  verbunden  sind ,  sondern  auch  wo  sie  für  sich 
allein  stehen:  besä'zen  da  h6ime  385.  rMete  döBörter  406.  520.  hi'ngen 
dar  an  686.  wie  tümp  wer  d6  wä'ren  1057.  waren  dar  ober  naht  1587. 
3605.  einin  dar  nider  1692.  zo  h6ile  dar  in  1880.  ridede  do  Diethe- 
rich  1957.  2281.  unde  wä'riz  dan  nl  der  werlde  leit  2274.  virhölene 
dar  in  2541.  rMede  d6  Cönstantm  2579.  rftit  da  hßre  2855.  man 
sölden  dar  raide  3141.  des  inmäch  ich  dan  niht  3458.  lü'hte  dar  äno 
3534.  waz  möhte  dar  b^zzeris  sin  gegevin  4126.  sich  hävont  dar  golä'- 
zin  nidere  4391.  ne  wöldin  dar  häme  4904.  der  möhte  dar  gßme  bro- 
der  sin  5167.  (1027.  2299.  4897.  siehe  unter  IIL  here  nur  procli- 
tisch 4707  siehe  unter  III b.) 

g)  selten  die  adverbien  wole  und  ie:  war  gewän  ie  sih^inia 
kuningis  gnöz  663.  of  ime  die  töhter  ie  würde  lief  3457.  firwin  dßr 
sich  ie  vöre  näm  4349.  (2237  unter  Vi.)  gezseme  wole  in  952.  her 
wiste  wole  däz  iz  ir  emest  was  1994.  iz  schi'nit  wole  sprach  die  kunin- 
gin  2053.  desgleichen  das  adverbial  gebraucMe  wsene:  iz  ne  g&t  mich 
niht  wsene  an  den  liph  2401.  und  die  negation  niht:  ne  wiltu  mich  au 
din  dienist  nicht  n^men  932.     du  ne  tä'dis  nicht  übelis  dar  ane. 


BEITBlOE  ZUR  DBDTSCHEN  METRIK  263 

h)  die  auxiiiaren  vorhon  bin  wirde  wil  mac:  wir  sulen  üch 
dlle  sin  ünderdän  143.  swil  üwer  dänne  wil  scät  nemen  190.  dar  fnne 
was  got  gesteine  865.  min  dröwe  ne  wart  nio  von  sinne  getan  1016. 
dise  rücken  sin  alle  riebe  1114.  in  disme  säle  istiz  aber  seiden  getan 
1279.  noch  dän  was  sie  imo  vremide  1913.  der  megede  warten  was 
grozlich  2143.  sin  gemö'te  was  härte  listich  2282.  üf  minen  trö'st  sin 
sie  hie  bestän  3310.  ir  önde  was  go  t  4876.  daz  dinc  nemac  immer 
niht  sin  5118.  (1384  sieho  unter  IILa.) 

2)  Nur  unter  hesonderon  bedingungen  Icönnen  folgofide 
ihren  hochton  verlier m: 

m 

a)  das  pronomen  possessivum  und  das  pronomen  inde- 
fi n itu m  (ein  sichein  nehein  dehein)  wenn  sie  adjectivisch  gehrauclU 
iverden,  und  auch  dann  nur  wenn  sie  unmittdbar  vor  dem  zugehörigen 
noinen stellen,  a) possessiv:  moste  sin  hö'vet  337.  so  mächer  sin  e re  555. 
ir  hübet  minen  he'rren  996.  dö  sprach  siner  ratgeven  ein  872.  sien 
dine  kündicheit  1037.  daz  sie  dine  meistere  sin  1076.  is  din  gebä're 
1081.  wie  ri'ke  sin  he'rre  wäre  1614.  zo  ^me  sine  man  gän  1736. 
dich  nelaze  din  tüginthafter  möt  2397.  doch  wördich  din  bürge  2402. 
waere  din  dienist  3332.  wäre  min  li'f  3357.  älse  min  herre  3791. 
wie  her  sin  6nde  have  genomin  4006.  daz  ime  sine  dinc  4409.  älse 
sin  väter  5059.  intfi'nc  he  sin  rös  5099.  ß)  indefinit:  den  ie  sichein 
Kö'misc  kuninc  gewan  56.  nie  nehein  man  82.  durch  däz  iz  ein  höve- 
spräche  was  640.  tro ch  eine  stäline  stangen  650.  gedahte  eine  wi's- 
heit  805.  troch  eine  briinien  1100.  ich  vö're  eine  hälfelose  diet  1261. 
ir  leides  ein  töil  1330.  väzzen  ein  jä'r  1446.  säzte  einen  tisch  1605. 
dö  was  her  ein  härte  herman  1608.  begreif  eine  staline  stangin  1653. 
greif  einen  üngevogen  stein  2165.  ir  leides  ein  täil  2500.  älser  ein 
herre  wsere  3176.  trö'ch  eine  brünien  3500.  vö'rde  einen  herlicheri 
vanen  3532. 

h)  das  pronomen  relativum,  wenn  es  unmittelbar  hinter  detn- 
jenigen  worte  steht,  auf  weldies  es  sich  bezieht:  ällez  daz  in  den  kielen 
was  1031.  äin  der  iz  wöl  behöte  1033.  sin  holde  der  da'  gebunden 
lach  1097.  allen  die  dös  gerochten  1299.  älliz  dat  indeme  kiele  was 
4757.     (3105  siehe  unter  IV  b). 

c)  die  adverbien  s6  vile  al  zö,  wenn  sie  unmittelbar  vor  dem  adjec- 
tiv  oder  adverb  stehen:  wserin  al  ündertän  25.  töhter  vil  he'r  66.  alle  so 
güot  132.  du  hä's  mir  s6  künincliche  gegeben.  216.  lü'te  s6  wünnencliche 
268.  eime  vil  schö'nen  740.  daz  du  so  gewäldich  927.  minen  he  rren 
z6  swäche  gezalt  996.    ene  erbarmet  zd  härde  daz  göt  1119,    hü'te  vil 


264  AMELUNG 

sere  1688.  öirae  so  stätehaften  1986.  nünmer  so  wöle  1999.  hüte  sd 
mänich  2361.  ünde  vil  mänich  2764.  6iiie  vil  br6ide  2975.  iz  waere 
vil  wöl  4621.  quä'men  vil  mänich  4779.  ähnlich  ist  der  gcnetiv  aller 
in  sin  e're  aller  bözzist  beware  555. 


d)  das  der  directcn  rede  eingesclialtete  sprach,  wenn  es  immit- 
tdhar  vor  einem  eigennanien  steht:  ich  volge  dir  görne,  sprach  Dieterich 
1373.  ich  dätiz  görne,  sprach  Dieterich  2105.  genäde  herre,  sprach 
Cönstantin  3077. 

Wie  man  sieht,  schliesst  der  hierin  her  sehende  gebrauch  sich  ganz 
eng  an  die  grammatisch  richtige  hetonung  der  Satzglieder  an.  Dass  die 
hier  aufgezälten  redeteile  im  betreffenden  fall  den  ihien  ursprünglidi 
zukommenden  hochton  wirJdich  verlieren,  deutet  auch  die  ha'ndschrift 
selbst  an,  indem  sie  sehr  oft  mit  vocalschwächung  men  wer  er  se  de  für 
man  wir  ir  sie  die  setzt.  Es  liegt  diesen  erscheinungen  ein  in  unserer 
spräche  waltendes  gesetz  über  die  normale  betonung  der  Satzglieder  zu 
gründe,  welches  sich  durch  ausgedehntere  beobachtungen  wol  noch  in  eifie 
bestimtere  form  bringen  Hesse.  Zu  beachten  ist  wol,  dass  gerade  die- 
selbcfi  redeteile,  die  hier  ihren  hochton  verlieren  känneti,  es  sind^  tvelche 
in  der  späteren  mittelhochdeutschen  schriftsjyrache  jene  mannichfacJien 
anlehnungen,  verschleifungen  und  wortzusammenziehungen  bilden.  Dass 
sie  aber  nicht  an  sich  tonlos  sind,  sondern  jederzeit  den  hochton  bewah- 
ren können,  bedarf  keines  besonderen  beweises. 

Ich  habe  mich  bei  der  oben  stehenden  auf  Zählung  der  fälle  ^  in 
defien  doppelte  Senkung  erscheint^  streng  an  die  handschriftliclw  Überlie- 
ferung gehalten.  In  vielen  meiner  belegstdlen  Hessen  sich  nun  durch 
blosse  annähme  der  apocope  oder  syncope  eines  tießonigen  e  verse  her- 
stellen,  die  sich  vollkommen  den  sonst  geltenden  regeln  des  hochdeutschen 
Versbaus  fügen.  Ein  solches  verfahrest  wäre  aber  im  einzehien  durchs 
aus  unzulässig^  wo  sich  doch  im  grossen  ganzen  ein  stach  bestirnten 
regeln  normierter  gebrauch  doppelter  Senkungen  nicht  bestreitest  lässt; 
um  so  mehrj  da  ein  allzu  ausgedehnter  gebrauch  der  apocope  dem  Zeit- 
alter und  der  mundart  unseres  gedichtes  wenig  angemessen  erscheint. 
Auch  durch  annahne  schwebender  betonung  Hessen  sich  die  doppelten 
Senkungen  zwar  vermirtdem,  aber  nicht  ausschliessen.  Damit  toäre  aber 
die  anomalie  nur  noch  anstössiger  gemaclit.  Ich  folge  daher  lieber  der 
ftatürlichen  betonung.    Ebenso  bei  vier  Itebungen  mit  kiingendem  scitluss. 

III.  Wir  hohen  im  obigen  nur  diejenigen  fälle  in  das  äuge  gefasst, 
wo  die  hebung  auf  eine  von  Statur  hochbetostte  silhe  fällt.  Zu  cister 
hebusigy  auf  welche  zwei  senkurtgen  folgen  sollen,  taugt  jedoch  audt  eine 


BBITBAGE  ZUB  DEUTSCHEN  METRIK  265 

tief  ton  ige  silhe;  diese  ist  dann  aber  immer  ein  voll  wort  als  zweites 
glied  eines  compositums ,  allenfalls  auch  eine  volltönende  ablei- 
tungssilhe,  niemals  eine  blosse  casus-  oder  personalendung. 

a)  die  sigelriemen  sie  zögin  801.  geäntwärten  zo  r^hte  1015.  die 
ümbehähge  man  fi'f  hienc  1120.  dem  ingesinde  over  äl  1151.  nä  ri'ter- 
li'chen  gebä're  13G6.  sin  fngesinde  was  herlich  1384.  des  äntwärte  d6 
Dietherich  2299.  wie  b'stichlfche  sie  z6'  ime  sprach  2328.  des  änt 
wärde  die  köningin  2987.  swer  so  iht  vrömolfchis  getö't  4376.  ze  wili- 
chin  häntwörke  he  quam  4662.  des  äntwärde  dö  Wi'dolt  4897.  ey  wie 
verm^zzelf  che  her  r^it  4958.  Mit  schwebender  betonung  snelli'che  her 
an  den  rfnc  trat  1006. 

b)  zo«  Lu  pölde  deme  möister  sin  367.  die  mit  Thfederf  che  da 
wa  ren  1027.  vor  Cönstantfne  sie  giengen  1087.^  ir  zöch  zo  Dfeterrche 
die  cräht  1306.  Wi'dölden  den  konen  1737.  Äspriane  zo  eren  18G3. 
Dieterfchis  gewänt  1866.  vor  Cöustantfne  deme  ri'chen  2301.  Cön- 
stanti'nis  gemö'te  3005.  vor  Cönstanti'nen  den  ri'chen  4293.  Cönstan- 
ti'num  den  ri'chen  4463.  zo  Cönstanti'no  deme  ri'chen  4665.  heiz 
Arnolde  here  vöre  gän  4707.  die  vrouwe  Pfppfnis  genas  4758.  Berke'- 
ris  gewält  4883. 

c)  der  vrömigistin  nevölget  mir  niet  1262.  zo  kßmenä'ten  gegan- 
gen 1960.  hie  ist  der  m^rksere  s6  vfle  1995.  den  k^rkenäere  man  uf 
brach  2415.    in  püegrfmis  gewaete  3688.     verwändelo'te  die  sinne  4012. 

Von  selbständigen  loorten  finden  sich  also  in  doppelter  Sen- 
kung nadi  tieftoniger  hebung:  der  artikel,  das  pronomen  perso- 
nale, die  pr  aepositionen,  die  adverbien  da  und  dö,  das  pro^ 
clitische  here  {in  here  vor),  das  hilfsverbum  wesen,  das  ad v erb  so 
vor  vile. 

IV.  Bei  folgender  doppelter  Senkung  gelten  für  die  hebung  ganz 
die  gewönlichen  regeln  über  verschleifung,  elision  und  Unter- 
drückung des  tieftonigen  e  vor  liquiden;  verschleifung :  kitenin 
geliez  757.  rodete  du  go'te  250.  so  nömich  einen  holden  2217  usw.; 
elision:  war  ümbe  ich  die  Hde  hän  irhaven  3736.  vo'rde  einen  he  rlichen 
vanen  3532  usw,;  Unterdrückung  des  tieftonigen  e  vor  liquiden:  16ider 
sie  neheten  vrouwede  niht  347.  zo  deme  er  allen  sinen  rat  nam  453. 
Thiederich  gezögenliche  stünt  909.  Dfetheriche  du  hte  die  rede  got  1447. 
Dietherichis  kömeraere  1729.  Dfetheriche  uf  den  liph  sin  2404.  der 
k^rkenaere  wärt  gerümot  2533.  zo  Dietherichis  h^rbergen  gän  2546. 
pöllin  unde  deine  gewiere  3565.     väzzen  unde  baden  3749. 


266  AMELUNG 

Es  kann  aber  auch  jede  der  beiden  metrisch  und  pluynetisch 
einsilbigen  Senkungen  graphisch  zweisilbig  sein: 

a)  indem  v  er  Schleifung  eintritt.  Dabei  sind  zwei  falle  zu 
unterscheiden,  von  de^ien  der  zweite  sogar  über  die  freiheiten  hinaus 
geht,  welche  in  einfacher  Senkung  gestattet  sind.  Erstens  darf  näm- 
lich die  verschleifung  hier,  wie  atich  in  einfacher  Senkung  gestattet  ist, 
dann  eintreten,  tvenn  die  erste  der  beiden  zu  verschleifenden  süben  tief- 
tonig  ist:  Ungerin  und  Krechen  489.  Eöthere  den  li'ph  933.  mänte- 
lin  sie  sich  1086.  scho'wetin  die  jüngeliuge  1109.  bez&chuote  den 
rfchetüm  1101.  väzzete  sie  mit  gewande  1177.  väzzite  sie  äl  geliche 
1340.  unde  väzziten  sich  vlfzeliche  1572.  in  deme  v6nstere  die  junge 
2169.  lö'nede  den  godin  3049.  völgeden  der  vröuwen  3213.  die 
vröuwe  vrä'gede  den  spilemän  3230.  irbärmote  den  rücken  4111. 
vrä'geten  die  vörsten  alle  4295.  do  crö'nete  man  in  mit  golde  4712. 
unde  mächete  den  holt  jungin  4881.  Hierher  gehört  auch:  unde 
cörzitime  äve  den  stälin  hot  1694.  ich  käfifedene  Undankes  ane  2051. 
Zweitens  aber  tritt  hier  die  verschleifung  auch  dann  ein,  wenn  die 
erste  silbe  hochtonig  ist,  was  sonst  nur  auf  der  hebting  gestattet  ist, 
ivährend  in  der  Senkung  der  Wegfall  des  tonlosen  e  graphisch  ausgedruckt 
werden  muss.  Doch  ist  dabei  tvol  zu  beachten,  dass  diese  freiheit  nur 
in  denjenigen  Worten  stattfindet,  welche,  wie  wir  oben  gezeigt  haben, 
ihren  hochton  nach  bediirfnis  abwerfen  können.  Für  die  formen  des 
artikels  gestattet  es  auch  Otfrit  (Lachmann  zu  Iw,  651),  ü'z  deme  gedf- 
gene  71.  tüot  von  deme  himele  72.  waren  deme  küninge  146.  wöl- 
den  ire  ci'rheit  82  4.  gezseme  wole  in  952.  heizen  ene  üngebajre  1035. 
wände  ene  erbarmet  1119.  sägete  iz  deme  ingesinde  1151.  lä'zitenemit 
gemache  1158.  durch  däz  her  eme  si'ne  spise  nam  1154.  werfit  ine  in  des 
sales  want  1163.  des  livete  vile  mänich  riche  1311.  sie  sint  zo  deme  gür- 
tele  1363.  swer  so  genäde  sö'chit  ane  mich  1374.  unde  vrä'gete  ene 
wie  her  wäre  1418.  B6rk§r  ime  öinen  hof  gab  1482.  s6  mög  wir  ine 
aller  best  gesen  1533.  her  wiste  wole  däz  iz  ir  ernist  was  1994.  iz 
schfnit  wole  sprach  die  kuningin  2053.  Herlint  sprach  zo  deme  he'rren 
2093.  sus  istiz  aber  immir  ungetan  2277.  unde  ne  stu  nt  ime  doch  nie 
so  leide  2468.    ich  bevälch  sie  eme  ü'f  daz  leven  sin   2530.    d6  hüb 

• 

sich  linder  deme  himele  2555.  zo  Cönstantfno  deme  küninge  2558.  in 
was  zo  deme  störme  harte  lieb  2675.  wir  mö'zin  aver  6inin  kiel  havin 
3059.  ir  lieget  deme  du  vele  an  daz  bein  3131.  nu  heiz  die  kint  zo 
deme  sciffe  tragin  3210.  unde  sprach  zo  deme  köninge  h§rl!ch  3291. 
her  gab  sie  ime  äls6  ringe  3733.  Cönstantfne  deme  ri'chen  3757.  in 
was  zo  deme  störme  vile  lief  4181.    sie  wserin  ime  üngeswichin  4369. 


BEITRAOE  ZUR  DEUTSCHEN  METRIK  267 

du  hflfis  ime  stddencliche  4774.  ünde  deme  h^lede  Grimme  4821.  sie 
hatten  ime  wöl  gedienöt  4836.  —  Auf  diese  letzt^^re  beohaclitung  gestützt 
wird  man  in  solchen  föJlen  wie  gewröche  ane  mi'nen  37.  hßlfe  ime 
däz  196.  van  oder  slä'n  1064.  ein  verörloget  man  1385.  in  moz  vile 
we  werden  1690,  die  sehr  häufig  sind,  gar  nicht  doppelte  Senkung 
anzunehmen  brauchen,  sondern  darin  nur  eine  etwas  weif  er  ausgedehnte 
freiheit  im  gdrrauch  der  verscldeifung  sehen. 

b)  indem  synaloephe  eintritt:  wie  törstis  du_an  disen  rät  gän 
561.  war  umme  söldistu_an  sfner  spise  sin  1244.  s6  heizen  sie_in 
göben  daz  selve  wiph  1070.  eya  äime  wie^ich  nü  virstozin  bin  1458. 
bfz  man  sie^ime  ü'z  der  hant  brach  1712.  eya  drme  wie_ich  nü  geho- 
nit  bin  1770.  so  ne  hatten  sie^is  nfht  genozzen  1784.  ein  rfese  sie_im 
uz  der  hant  nam  1678.     vere  (?)  die  he_dnme  städe  väut  3105. 

V.  Wenn  man  die  hier  aufgestellten  regeln  in  anwendung  bringt, 
so  erscheinen,  ohne  dass  deshalb  auch  nur  ein  buchstabe  geändert  zu 
werden  brauchte,  von  den  5180  versen  unseres  gedachtes  etwa  5000  durch- 
aus nach  einer  festen  regel  gebildet.  Einer  so  überwiegenden  mehrzahl 
von  fällen  gegeniWer  wird  es  na>ch  den  grundsätzen  einer  verständigen 
kritik  nicht  nur  gestattet,  sondern  geboten  sein,  die  übrig  bleibende  min- 
der  zahl  für  verderbt  zu  halten,  und  sich  mit  vorsieht  an  eine  emenda- 
tion  zu  wagen.  Eine  nicht  geringe  zahl  derselben  erledigt  sich  durch  die 
beobaehfung  geunsser  stetig  widerkehrender  Verderbnisse. 

1)  Ist  in  einer  ganzen  reihe  von  versen  das  metrum  schon  durch 
annähme  einer  in  der  handschrifl  nicht  angedeuteten  apocope  oder 
syncope  des  tieftonigen  e  hergestellt.  Der  aus  fall  des  tief  tonigen 
e  ist  demnach  anzunehmen  in  einigen  formen  des  pronomen  possessivum: 
und  bädeme  sine  härfen  dar  tragen  167.  des  ist  in  minis  he'rren  hove 
vile  299.  mir  irlöuben  mines  herren  bodescap  304.  die  wi'le  sine  Irfnt 
äzin  2498.  ünder  sinen  armen  2782.  hü'de  sine  grafscaft  3547.  ich 
wsene  dinen  n6ven  not  bestät  4194.  Sodann  in  einigen  verbalformen: 
dar  mite  zi'reter  die  ri'ter  sin  155.  wat  recken  möhte  dar  s6  ri'che  sin 
3001.  diz  dünkit  mich  ein  bö'se  veitstein  3133.  höizet  mir  min  h6v«t 
ave  sclän  3168.  yerlä'zet  s6  iz  fme  an  die  not  gat  3412.  Ferner  in 
einigen  anderen  fällen:  waz  wörbis  umme  i6n  virtrivenen  man  946. 
Cönstantinis  höf  1310.    her  was  mir  ie  genaedich  2237. 

2)  Lassen  sich  mehrere  überfüllte  Zeilen  dadurch  emendieren,  dass 
man  sie  in  zwei  verse  zerlegt:  ünde  wöit  öuch  wöl  |  we  ez  ümbe 
däz  wiph  stä't  94.  däz  si  örme  he rrön  |  ümbe  die  mäget  vö'rön  145. 
do  rödite  ein  alt  vröuwe  |  die  höz  H6rlint  280.    dö  rietin  fme  die  he  r- 


268  AMELUNO 

rfen  I  daz  h^r  ir  also  pflsege  954.  ja  ho'rtich  mi'nen  väter  |  hf  bevören 
sprachen  494.  (Zu  dem  ungenauen  reim  493  :  494  V(jl.  2663  :  2664. 
1659  :  1660  u,  a.).  Wenn  dadurch  gruppen  von  drei  reinizeilen  entste- 
hen, so  hat  das  nichts  hedenhlichcs ,  da  solche  auch  an  anderen  stellen 
des  gedichtes  öfUr  überliefert  sind:  978,  1627.  2547.  3171.  3945.  4027. 
4455.  4923.    Bei  1894  scheint  allerdings  eine  zeile  ausgefallen  zu  sein. 

3)  Erledigen  sich  viele  verderbte  verse  auf  gleiche  weise,  wenn  man 
die  epische  einführung  des  redenden  durch  er  sprach,  sprach  er 
tilgt.  Die  epik  der  spielleute,  welche  für  den  lebendigen  Vortrag  vor 
versammelter  menge  bestirnt  war,  bedurfte  solchen  Überganges  in  die 
directe  rede  nicht  durchaus,  da  eine  blosse  tnodulation  der  stimme  genügte, 
um  jede  undeutlichkeit  eu  verbannen.  Beim  schriftlichen  aufzeichnen 
eines  solchen  gedichtes  war  aber  wol  eine  deutlichere  bezeichnung  für 
das  Verständnis  der  leser  erwünscht;  daher  fügen  die  Schreiber  Jiäufig 
ein  solches  den  vers  überfüllendes  er  sprach  hinzu,  welches  wir,  auch 
wenn  es  im  autograph  des  dichters  stände,  wegzulassen  berechtigt  wären, 
da  es  gleichsam  nur  ein  Vortragszeichen  für  den  Vorleser  ist,  und  wir 
uns  dafür  der  anführungsstriche  bedienen.  Demnaxih  iväre  zu  lesen 
„swil  ü'wer  dänne  wil  scät  nöraen  190.  „du  sält  mir  rä'tin  B6rtlr  456. 
„wer  hä't  irhäben  disin  scäl  696.  „nu  virnfmet  tft'rin  wi'gände  712. 
„owf,  küninc  Cönstantä'n  832.  „er  nemäch  vor  Rö'ther  nfht  genasen  942. 
„man  bü'tit  uns  hie  ünröhte  995.  „nu  warte  wie  jönir  hövemän  1167. 
„ich  wölde  g^rne,  Cönstantfn  1253.  „wöldit  6r  nu,  väter  min  1537. 
„ow8'  waz  hä'n  ich  dir  getan  2124.  „min  herre  mit  den  sinin  2687. 
„got  lone  der,  herre  Dieterfch  2800.  „geselle,  war  z6  wöUit  ir  däz? 
3124.  „nu  scö'ne,  köninc  herö  4455.  ÄJmli^h  ist  818  si  gelobetin  der 
grösseren  deutlichJceit  wegen  vom  Schreiber  hinzugefügt;  doch  zerstört  es 
das  versmass  und  des  sworen  sie  ime  eide,  die  liezin  sie  unmeine,  daz 
sie  hietin  Röthere  Thideric  ist  grammatisch  nicht  anzufexlUen. 

4)  Die  übrigen  lassen  sich  nicht  aus  einem  gemeinsamen  gesichts- 
punkte  emendieren:  vers  63  lies  Lüpölt  sprach  dller  erist;  118  ist  herre 
zu  tilgen;  desgleichen  130  grauen;  142  ist  zu  lesen  daz  ne  verrßdtich 
durch  neheinen  man  und  ebenso  964  ob  siez  aber  verredit  habetin;  165 
van  dem  stade  wolde  der  helit  göt ;  200  gegin  Cönstinöpole  zo  Kre  chöu ; 
217  ich  wil  di'ner  schiffe  mit  triwen  plegen;  289  nu  orlö've  mir  mine 
bodeschap;  319  her  wölde  dine  töhter  zo  küninginne  hä'n;  335  du  no 
bescö'hetis  änderis  nimmer  den  täc,  und  ebenso  3003  kome  ö  immer  gein 
vertriwen  man;  3577  iz  scinit  den  Beyeren  immer  an;  336  wände  mfner 
töhter  nebät  nihein  man;  403  do  sie  von  lande  solden;  492  des  änt- 
wordo  ime  der  getrü'we  man;    729.    1000.   1274  ist  hie  zu  tilgen;    752 


BEITRAGE  ZUR  DEUTSCHEN  METRIK  269 

dar  linder  einiu  rfesiu  vröissäm;  799  her  heiz  daz  lüt  in  gän;  897  inge- 
gin  ine  gingen  de  herzogen  stän;  999  entweder  des  mohte  her  lihte 
untgelden  oder  nach  analogic  der  unter  IL  1,  d.  zusammengestdlten 
fälle  des  möhter  noch  li'hte  untgöldön ;  1058  daz  wer  virsageten  Böthere 
1069  urul  3862  ist  owi  zu  tilgen;  1141  her  t6ten  over  dfsge  gröze  not 
1190  vielleicht?  der  küninc  jach  öiner  no'tö,  daz  h^r  diz  nfene  taetö 
1215  Berter  sprach  zo  deme  herren  sin;  1316.  1317  ir  zoch  ein  gröz 
heris  (^aft  dar  hine  zo  Dietheriche;  1360  sie  ne  tragent  nicht  umbe  die 
lenden;  1575  unde  mohte  daz  Iihte  sin  getan;  1602  dar  in  oder  dar  ane 
lac  got  gesteine;  2086  wie  schire  sie  ober  den  hof  trat;  2101.  2102 
daz  du  ir  den  änderen  schö'ch  g^ves,  ünde  sie  s^lbe  ges^ges;  2239  in 
trüwen,  sprach  die  kuningin;  2377  ob  sie  ieman  so  leve  hette  getan. 
Auch  2145.  2717.  2776  gehört  der  dativ  iemanne  blos  dem  abschreiber 
an;  2650  her  h^rbergete  aller  vürderö'st;  2943  zo  eime  koninge  hän 
gelovet;  3396  so  h^ttich  einin  mfchelen  löuf  verlorn;  3795  sie  stälin  sie 
Röthere.  Für  folge^ide  stellen  bietet  sich  mir  keine  uHirscheinliche  emen- 
dation:  222  :  223.  520  :  521.  970.  1018.  1135.  1557.  2215.  2238.  3839; 
sie  müssen  aber  für  verderbt  gelten. 

VI.  Dasselbe  princip  des  Versbaues,  welches  sich  am  Bother  so 
vollständig  beobachten  lässt,  zeigt  sich  ganz  in  derselben  weise  bei  vielen 
anderen ,  namentlich  erzählenden  gedichten  des  zwölften  Jahrhunderts,  so 
bei  Hartman,  vomgewujjen  (Massmann,  deutsche  gedickte  des  XII.  Jahr- 
hunderts), in  Lamprechts  Alexander  (daselbst),  in  dem  niederrheini- 
sehen  Tundalus  (LachnMnn,  in  den  abhandlungen  der  Berliner  acade- 
mie  1836),  in  den  niederrheinischen  bruchstücken  von  Herzog 
Ernst  (Herzog  Ernst,  herausgegeben  von  Bartsch.  Wien  1869),  im 
Grafen  Rudolf  (herausgegeben  von  W.  Ghrimm.  2.  ausg.  Göttingen 
1844),  und  in  den  bruchstücken  eines  von  Karl  dem  Grossen  und  Gaije 
handelnden  niederrheinischen  gedichtes  (Lachmann  a.  a.  o.  s.  172).  Viel- 
leicht Hessen  sich  noch  andere  anführen.  Leider  aber  sind  mir  hier  am 
orte  nicht  alle  in  betracht  komtnenden  quellen  zugängli<ih. 

Dass  alle  genannten  gedichte  mitteldeutsch  sind,  ist  gewis 
kein  blos  zufälliger  umstand. 

Eine  vollständige  analyse  dieser  gedichte  zu  geben  ist  überflüssig; 
ich  gebe  im  folgenden  nur  beispiele  zu  allen  punkten  nach  dem  obigen 
Schema,  und  zwar  für  die  selteneren  erscheinungen  reichlicher  als  für 
die  ganz  gewönlichen.  Ebenso  tvie  im  Rother  stehen  in  allen  diesen 
gedickten  von  selbständigen  werten  am  häufigsten  artikd  und  pron. 
pers.  in  doppelter  Senkung.  Ob  einige  der  im  Rother  beobachteten  fäUe 
in  diesen  gedichten  nicht  vorkommen^  dagegen  solche  die  im  Rother  nicht 

ZBIT8CHB.   P.  DEUT8CHB  PHILOL.    BD.  lU.  l8 


270  AMELÜNG 

0u  finden  sind,  mll  ich  nicht  entscheiden ,  da  es  sich  hier  ja  nur  um 
die  feststellung  des  gleichen  princips  handelt  und  das  einzelne  doch 
imtner  schwankenderscheinen  7nuss,  tvo  es  nicht  im  Zusammenhang  einer 
durchgreifenden  kritischen  bearbeitung  des  betreffenden  gedichtes  darge- 
stellt werden  kann.  So  wird  denn  manches  mal  au^h  die  beurteilung 
einzelner  stellen,  die  ich  anführe,  zweifelhaft  erscheinen,  da  ein  und 
derselbe  vers  ja  wol  verschiedene  beurteilungen  zulässt ,  je  nachdem  man 
klingende  verse  mit  vier  oder  mit  drei  hebungen  liest,  oder  je  nachdem 
man  dreisilbigen  auftact  anwenden  zu  müssen  glaubt  Im  grossen  gan- 
zen aber  lässt  sich  mit  voller  bestiuHtheit  behaupten,  dass  in  allen  diesen 
gedickten  ganz  dasselbe  metrische  princip  walte,  me  im  Bother.  Für 
die  beurteilung  zweifeüiafter  stellest  dürfte  ich  mich  wol  einigermassen 
auf  die  im  Rother  gemachten  beobachtungen  stützen,  so  dass  freiheiten, 
die  dort  nicht  nachweisbar  waren,  auch  hier  nicht  angenommen  werden 
dürften ,  so  lange  irgend  eifie  andere  auffassung  zulässig  erschien.  Fer- 
ner habe  ich  an  dem  grundsatze  festgehalten,  dass  in  einem  gedickte, 
welches  im  übrigen  ztceifellose  fälle  von  doppelter  Senkung  häufig  auf- 
weist, die  annähme  mehrsilbigen  auftactes  und  schwebender  beto- 
nung  in  allen  solchen  fallen  überflüssig  sei,  wo  sie  durch  die  ar^nakme 
doppelter  Senkung  nach  den  oben  gezeichneten  regeln  zu  vermeiden  ist. 
Für  die  kritische  hersteUung  der  gedichte  des  zwölften  Jahrhunderts  wird 
mit  hilfe  dieser  beobachtungen  noch  viel  zu  gewinnen  sein.  Eine  einge- 
hendere Untersuchung  über  den  specidleren  gebrauch,  der  in  jedem  die- 
ser gedichte  herscht,  wäre  durchaus  notwendig.  Doch  lässt  sich  eine 
solche  natürlich  nur  im  Zusammenhang  mit  der  Übrigen  kritischen  behand- 
lung  des  textes  anstellen,  und  es  toird  daher  die  cndgiltige  feststellung 
der  einzdheiten  den  künftigen  herausgebern  überlassen  bleiben. 

Bei  den  beleystellen  aus  graf  Rudolf  und  herzog  Ernst  kante 
natürlich  nur  auf  das  handschriftlich  überlieferte,  nicht  auf  die  wenn 
auch  noch  so  wahrscheinlichen  ergänzungen  der  herausgeber  rücksidU 
genommen  werden.  Im  herzog  Ernst  sind  vielleicht  die  doppelten  Sen- 
kungen noch  häufiger,  als  es  nach  Bartschens  ausgäbe  ersclieint^  wenn 
nämlich  dessen  anmerkimg  zu  I  2!)  so  zu  verstehen  ist ,  dass  er  überall 
ohne  angäbe  der  lesart  auslautendes  e  mich  bedürfnis  getilgt  Iwbe,  was 
jedoch  nicht  der  fall  zu  sein  sclieint, 

Lamprechts  Alexander  citiere  ich  nach  der  Strassburg-Molsheinwr 
handschrift;  der  abweichende  text  der  Vorauer  handschrift  (Diemer, 
deutsche  gedichte  des  XI,  und  XII.  Jahrhunderts.  Wien  1849)  geigt 
übrigens  die  gleicJie  metrische  eigentümlichkeit. 

Ich  gebe  jetzt  die  Übersicht  mit  belegstellen  aus  den  oben  genanten 
gedichten,  wie  beim  Rother,  wobei  jedoch  die  beispielc  für  doppelte  sen- 


BEITRAGE  ZUB  DEUTSCHEN  ICETRIK  271 

kung  7iach  tieftoniger  hebung  sowie  für  verschleifung  und  synaloephe  in 
doppelter  Senkung  nicht  in  gesonderte  ruhriken  gebracht  sind, 

VIT,  Erstens:  doppelte  Senkung  durch  praefixe,  suffixe  und 
^zweite  glieder  von  compositen  ausgefüllt, 

a)  mir  armen  gene'dich  vom  gdouhen  36.  älliz  gesiet  das.  134. 
dänne  sichöin  das.  139.  würden  gehöilet  das.  171.  die  wi'sen  begiin- 
den  das.  347.  einem  iewelhemo  388.  worden  getro'st  503.  di  martere 
begündistu  1849.  ein  wä'rer  prophe'ta  2166.  in  wflhem  gedänken  Alex. 
21.  den  sßlben  gedänc  das.  34.  geli'chet  nehöin  48.  Alexander  genant 
113.  Alexändris  gebürte  127.  mfi'ter  bestunt  161.  sfnen  gedänc  223. 
mit  y  sine  gebunden  294.  Philippum  geleft  296.  der  röiden  begünde 
Tund.  33.  der  räden  begdn  das.  56.  hfeet  Archämächä  83.  dirrer 
pfnen  gegäde  124.  in  grö'zem  getwänge  148.  inwürden  geve  JErws^  I  24. 
niet  invernära  das,  I  37.  änderis  in  keine  I  30.  intrü'wen  gesöget  I  61. 
in  eine  kapöUe  11  58.  herter  gescug  V  20.  mögten  besta'n  V  56.  wä'ren 
gecümen  gr.  Rud.  ßl,  einen  geßrtin  B  1.  si'nen  gesellen  d^  14.  gre- 
ven  beläp  cJ**  19.  nimmer  getan  C  10.  ällez  virlöru  D''  26.  des  gre'- 
ven  ne  sönde  ich  E**  20.  äbbet  gerlten  H  6.  ü'wer  gemute  J  19.  häd- 
den  gerä'den  Karl  115.  wizzit  virwä'r  293.  kindere  gesprä'chen  396. 
mächet  gewis  454. 

b)  des  israhelischen  lutes  vom  gdouhen  699.  märterinne  tü're 
2257.  dem  mönnischen  döm  ist  das.  2810.  himelischen  herscäft  3679. 
he'riste  man  Alex.  51.  göuchelSres  sün  84.  eiisten  jare  das,  178. 
[unde]  wie  er  si'nen  vi'anden  lä'gen  sölde  241.  güldinen  näph  492. 
irdische  länt  1555.  tu  sinden  wa  ren  2192.  brinninde  väkele  3164.  elfen- 
bfeinine  cräpfen  5963.  lägende  sint  Twnd.  119.  ündersten  cönden  161. 
des  ä'vendis  dö'  Ernst  II  33.  gre'vinnen  also'  gr,  Rud.  a  **  4.  a  bendes 
spä'te  J**  1.    kuniginnen  wärt  J**  29.     scri'ende  mächen  Karl  428. 

c)  mit  götelichen  si'nen  ougen.  vom  gdouhen  135.  ünrehten  nöh 
483.  w6rltlichen  ere  1256.  ärbeites  sl  2082.  sümelichen  zörn  2154. 
herschefte  plagen  Alex.  124.  jüngelinge  steit  172.  vörneme  man  200. 
künicriche  sölde  313.  fröisliche  stimme  333.  zägeliche  dänne  1572. 
höhmutes  widerstiezen  1601.  scäntliche  nemen  1935.  mit  völcwige  rät 
2136.  bit  deme  pälenzgreven  si'me  trüte  Er'nst  n  44.  die  In  den  her- 
bergen  Ugent  erslägen  gr.Rud,  C15.  gezögentliche  sie  G  11.  mit  vrd'- 
liöhem  mute  J**5.    als  werlichen  als  Karl  453. 

d^  legellch  von  vom  gdouhen  332.  ein  legelich  di'  er  412.  in  der 
cristenheit  aller  tagelih  1025.  von  der  crlstenheit  bin  ich  verwäzen  1815. 
der  wünderlih  Alexander.  Alex.  1296.    blö'dicheit  wIrt  1524.    ändirhalb 

18* 


272  AMELUNO 

hfez  er  2264.     ändirhalp  hündiit  5545.    ir  höimelich  kemeraere  gr.  Rud. 
F  11.    ein  nßphelin  da'  er  üz  dranc  HMO. 

e)  unde  wf  er  läntrecht  bescheiden  künde  Alex.  250.  ünde  in 
einen  märstal  betu'n  302.    nfeman  ne  w^rde  gr.  Rud.  J  20. 

Zweitens:  selbständige  worte  in  doppelter  Senkung. 

1)  artiJcel:  ünde  diz  m6re  vom  gel.  116.  ünde  di  sünne  117. 
ünde  di  msenin  118.  alle  di  dinc  219.  alle  di  gewält  230.  '  ällis  des 
väter  241.  höizct  des  väter  277.  ünde  di  lüfte  329.  ünde  di  stünden 
377.  gab  er  deme  tü'vele  1936.  wi  v6rre  diu  sünne  Alex.  216.  alle 
di  cündicheit  221.  Alexander  daz  Mele  kint  228.  ümbe  daz  rös  323. 
ünder  des  küninges  427.  ünde  di  bro  dekeit  Tund,  8.  ü'zer  der  g<5des 
lere  13.  sprichit  des  sünderis  28.  nä'her  den  Sötten  75.  Ibömen  daz 
selbe  80.  hädden  den  selben  103.  vrä'gede  den  ängel  105.  üUe  di 
berge  138.  daz  ho  bet  des  strängen  159.  ällit  dat  ri'che  Ermt  I  6. 
ke  rden  di  heiede  V  35.  stünden  di  degene  V  37.  ümme  die  nö't  gr. 
Rud.  a  4.  äfter  deme  lande  ß  5.  alle  die  länt  y  22.  wfsete  daz  gögen- 
sidele  A  4.  uffe  die  were  d^  10.  üf  siae  trü'we  daz  kindeli'n  F. 9. 
blä'sen  die  trümmen  F**  6.  so  mü'ste  die  wöl  geborne  H  23.  älse  die 
vröwe  J  11.  die  richte  fnde  die  krümbe  Karl  18.  alle  die  länge  nait 
135.  Karle  deme  wäl  geborne  143.  ümme  die  schulde  217.  sprä'chen 
die  kindere  392. 

pronomen  personale:  würde  wir  göte  vom  gd.  9.  wfl  ih  der 
rede  25.  wfl  ih  gedingen  26.  gedenchen  wir  leider  150.  mächete  ans 
redebere  155.  sölde  wir  ime  165.  zo  eineme  lieben  süne  ime  irkörn  194. 
begünden  si  älliz  378.  begünden  sih  öuh  391.  di  heizent  si  li'beräles 
414.  begünde  unsih  alle  852.  daz  säg  ich  iu  ä'ne  lugene  Alex.  118. 
wöldet  ir  alle  125.  wi^  er  sih  füre  nam  181.  stach  ime  die  list  223. 
wä'ren  ime  ällirvare  286.  älser  vernäm  297.  wände  man  s<51de  311. 
lä'zit  mich  nich  337.  stärke  man  warf  1212.  wölden  wir  m6rken  Tund.  4. 
in  können  si  nit  67.  leide  si  über  102.  wöUes  mir  cünden  108.  ward 
is  gewäre  133.  dü'hte  si  wserliche  136.  in  drü  önde  si  hfne  schdz  170. 
durch  die  flamme  man  dlkke  twanc  171.  verdi'net  her  wale  Ernst  I  16. 
so  wä'  hes  bedörfte  1 18.  dät  he  des  küningis  I  31.  sägede  ime  w§'r- 
liche  I  42.  inwöldis  du  dir  I  49.  he  wflle  sig  dfr  I  52.  zwä're  he  mir 
II  7.  ig  nerü'men  iz  ime  niet  II  9.  der  611en  he  wäle  II  26.  W^zzel 
he  zu  ime  U  35.  sägede  he  iemer  II  56.  gingen  si  ä'ne  V  7.  lüzzel 
si  Ire  y  23.  slü'gen  si  alle  V  24.  e  dän  si  se  dru  z  V  30.  inkünclen 
in  änderis  niet  gedün  V  45.  slü  gen  si  bft  den  swerten  V  67.  lüzzil 
man  flites  da  y(irgaz)  gr.  Rud.  A  6.  daz  wir  in  geiezzen  B^  10. .  l^fe- 
ten  sich  nider  d  6.    nänte  man  Ä'gar  d^  15.    nä'men  sie  michMen  d^  19. 


BKlTBlOB  ZÜB  BSÜTSCRBN  MBTRIK  273 

wölde  man  ime  C  4.  hätten  sie  von  den  C  20.  her  gre  v«  wie  Ifden 
C**  19.  gevöUet  sie^ime  wöl  oder  übelfe  D  1.  völgeten  ime  härte  gömfe 
F**  8.  sägete  man  über  al  G**  11.  vil  dicke_her  in  ünmaht  wider  seich 
GM 9.  hätte^er  gevällen  G**20.  (vgl.  KM.  8.  17.).^  wfl  es  ime 
ümber  H**  11.  gäp  her  ime  da  H**  12.  vugete  sich  härte  ebene  J  27. 
vil  Ifebe  sie  ire  dö'  gedähten  K  2.  min  vrowe  ist  müode ,  sine  mäch 
nicht  me  K  22.  begünden  sie  sfg  beröidfen  Karl  12.  hädde  sie  M6'- 
rant  38.  vrä'gede  sie  Inninclfche  79.  wfl  ig  is  mi'den  108.  drd'mede 
eme  züo  den  ziden  150.  reiche  mir  cl6idere  171.  bringet  mir  slven 
hundert  321.    gä'ven  sig  bßide  399. 

pronomen  demonstrativum:  daz  wäzzir  daz  ist  daz  dritte 
vom  gd.  1030.  daz  Opfer  daz  ist  bequeme  1239.  dine  Crfstinen  wöl- 
lent  des  nicht  verzihen  1539.  ime  brä'hten  di  von  Armgnje  Alex,  2001. 
si  naeme  des  mfchil  wunder  2649.  3057.  von  mi'nen  sünden  daz  16ider 
quam  3413.  so  ne  mäch  daz  nehäne  wis  wesen  3723.  nft  ne  vöhte 
dit  üngemäch  Tund,  98.  war  ümbe  dise  seien  alzemäle  109.  zwä're 
he  mir  des  getrü'wfe  Ernst  U  7.  und  rü'men  die  göte  ze  e'rön  gr.  Rud. 
C  8.  und  hiezen  die  äne  tuon  männes  wä't  C  22.  nu  nimet  dirre  rode 
göume  F  15.  nu  warte  wänne  daz  müge  gesehen  G  5.  sägete,  der 
hätte  mit  ime  getragen  H**  9.  wölde  des  göt  geiü'chön  J  1.  Bonthär- 
den  den  wöldich  ri'tön  J  3.  der  grS've  des  inme  slä'fe  üf  spränc  K^'ll. 
h^rre  dat  düon  ig  g^rnfe  Karl  363.    lelzit  dat  si'n  416. 

praepositionen:  begönde  an  ime  mächen  vom  gd»  218.  götin 
den  manschen  657.  däz  er  durch  si'ne  661.  gestochen  in  si'ne  site 
1035.  den  manschen  von  göte  1295.  begünde  in  daz  hu's  2129.  ü'f 
von  der  örden  1357.  ünde  ze  gesflite  1636.  Kriechen  ze  kilnige  Alex.  52. 
wi'  er  zo  den  riteren  243.  bestfi'nt  in  mit  grö'zer  245.  stfz  er  ze  täle 
263.    iz  wärt  vor  den  küninc  296.     schfllit  in  mi'ne  ören  336.    br^itele 

• 

von  gölde  391.  wöldin  mit  ß'rin  968.  hi'z  si  mit  steinen  1083.  was 
mit  bed^cketen  1409.  göt  indfi'  iz  bit  si'ner  cräft  Tund.  11.  stü'nden 
in  grö'zem  getwange  148.  stärk  üzer  mä'zen  165.  gesprochen  bit  säli- 
chen  zuhton  Ernst  I  4.  mänicheme_an  sfme  li'vfe  V  42.  tüon  vor  die 
stät  gr.  Bad.  C  3.  den  li'p  vorlöm  von  der  Crfstenen  diet  C  25.  sänte 
er  nach  si'nen  D  10.  bänt  er  an  ane  F  16.  der  grg've  mit  siner  F  25. 
zwene  durch  sfne  göileit  F''  18.  wider  an  die  mänheit  F*'19.  gröz 
wändel  vor  sine  missetät  G**  24.  näm  her  in  si'nen  H**  7.  begönde  vor 
Hebe  J  12.  llep  äne  Uit  JM8.  die  wöl  gelöbeto  über  äl  daz  länt  K  12. 
ein  rise  in  den  älden  ziden  Karl  36.  Mö'rant  in  sfner  haut  38.  hö'rit 
van  dOn  39.  Inde  mit  löve  43.  Inde  mit  knäpen  44.  van  pellele  Inde 
van  bäldekin  52. 

1)  (2e»  h  hindert  hier  also  die  eUsian  nichi. 


274  AMBLÜNG 

conjunctionen:  sine  Unge  unde  si'ne  wi'tt  vom  gel.  144.  in 
dem  himele  unde  an  der  erden  231.  nih  glöube  daz  er  gecrücegit  wart 
793.  zo  dm  daz  si  ime  Alex.  244.  quä'men  ouh  wäle  1989.  nu  mer- 
ket wi  vile  2031.  ih  hoffe  daz  ih  2076.  Herren  noh  fröwen  2850.  ih 
wä'ne  daz  ö'f  dir  erden  3194.  so  wöldih  daz  mich  3827.  sprä'chen  daz 
da'  4237.  si  wä'ren  als  uns  bedühte  5258.  s6  stürbich  ouh  ä'ne  Unge- 
mach 6436.  von  gelerden  unde  öch  von  leigin  Tund.  35.  sin  geist 
vür  zu  der  hellen  unde  säch  44.  nft'ne  unde  virzik  53.  mflche  unde 
höneges  vol  64.  läng  unde  smäl  127.  in  gebürte  jog  änme  ri'chfe 
Ernst  I  53.  bä'den  dat  ig  dir  I  63.  die  pörten  ind  dör  V  13.  gescäg 
nog  inwärt  V  20.  bewäre  daz  iz  nicht  zu  nähe  si  gr.  Rtid.  B.  5.  die 
wile  daz  ich  B**15.  C  11.  wir  mü'zen  doch  mit  in  stri'tfen  (J**  8.  si 
söhet  in  görne  und  iz  ist  ir  liep  6  7.  unsemo  herren  göt  daz  her 
ie  genas  6*"  20.  mit  ü'g  inde  sfnen  Karl  98.  si'n  inde  geworden  416. 
of  he  gebu  de  we  g^rne  ig  solde  455. 

ad V erb:  tiefer  dän  di  helle  hin  nider  vom  gel.  114.  wi  lange 
di  sunne  dar  inne  dage  389.  ünde  da  mite  pachtet  418.  von  dem 
himele  her  nider  quam  631.  lob  dir  du  da  in  den  himel  bis  1522.  daz 
alle  tö'ne  dar  inne  gihen  Alex.  210.  sölde  dar  an  311.  di  lute  dar  in 
vertrunken  1066.  böume  dar  äbe  1088.  di  wile  d6  Alexandris  here 
1137.  man  möhte  da  scöwen  wündör  1245.  möhte  da  dögene  1285. 
wände  sine  türsten  da  niwit  länger  stä'n  1372.  der  grä'be  dö  ^rz 
gehörte  1861.  wü  ih  her  wider  2231.  wir  mo'sen  dan  von  den  wi'bön 
2680.  du  vindis  hie  niht  ze  nßmen^  4804.  des  wä'ren  dö  öilif  hundert 
jär  Tund.  52.  wände  man  in  da  zo  höve  niet  in  vemäm  Ertist  I  37. 
de  kämerö're  stu  nden  da  vüre  II  49.  ich  waene  da  niht  no  wärt  gespart 
gr.  Rt4d.  y  21.  ich  waen  si  da  höime  niht  onsagen  C  16.  hiez  sie  dö 
süochen  K  1.  daz  wä'ndich  däz  iz  nu  wäre  irgan  K**  25.  we're  da  bi' 
Karl  439. 

wole.  ie.  niht:  er  ne  wölde  niwit  länger  lödich  sitzen  Ahx.  29. 
irin  willen  ie  so'  vollen  bröchtm  62.  der  küninc  ne  wölde  niht  böitftn 
3938.  er  ne  sölde  niht  starben  6ine  4860.  er  kante  wol  si'ne  liste  7054. 
er  wiste  wol  däz  er  söld^  gr.  Rtid.  y  7.  daz  sie  se  nicht  möchten 
gewinnen  cJ**  21.    als  id  nit  wä'r  in  is  Karl  453. 

auxiliare  verben:  Crist  ne  hat  ünsir  nit  verg^zzen  vom  gd. 
927.  bö'se  sint  mi'ne  gedänkö  1791.  so  däz  is  nie  ne  wart  si'n  gelfch 
Alex.  198.  an  einem  küninc  wil  ih  is  beginnen  440.  sin  bränie  was 
hümin  vil  väst  1305.  daz  6r  sich  mir  ze  Eigene  wil  g6ben  1547.  sin 
höubit  was  ime  verschallet  1 797.  da  di  brücke  was  äne  gehangen  2645. 
daz  m^re  ne  mac  nieman  tri^'b^n  4879.    si  s^lbe  was  härte  lüssäm  5851. 


BEITRAGE  ZUB  DEUTSCHEN  METBIK  275 

dl  näht  ne  was  nie  so  tünkfel  5982.  gödes  wunder  sint  mänicfält  Tund.  1. 
döckelächen  was  da'  bereit  gr.  Rud,  a**  2.  die  nacht  newart  nie  sd 
tünkfel  A*"  9.  daz  man  mit  §'ren  mach  schöuwen  C*'4.  ein  Mtte  was 
da  bereitet  J^  11.  deme  gre'ven  was  Uit  ir  üngemäch  K  21.  dat  män- 
lig  blfde  was  inde  vro'  Karl  77. 

2)  possessiv  und  indefinit:  in  dem  nämen  dines  einbörnen 
sünis  voin  gel.  37.  ünde  sin  blü't  1123.  sw^r  ze  missen  sin  öfifer  gibet 
1225.  daz  er  wsere  ein  getüsternissö  1292.  berü'ren  dinen  li'b  2171. 
unde  giu  b  mit  si'nen  nägelen  ein  grab  2312.  dö  h^ter  einen  Sälemö'nis 
mü't  Alex.  20.  daz  quit  iz  ist  älliz  ein  i'telichMt  25.  swi  ime  sine 
dinc  122.  nie  nehein  kint  140.  unde  wier  sinen  vi'ant  sölde  vä'n  238. 
nie  nihein  bözzer  293.  unde  älser  vemäm  sine  gelegenheit  297.  unde 
an  der  hänt  einen  geren  1253.  der  ne  genas  nie  nehein  mü'ter  bärn 
1703.  üflfe  ddz  si  iren  willen  völlebringen  Tund.  121.  den  einen  sah 
si  sin  höubet  wanden  153.  dat  dede  eime  He  nrfche  we  Ernst  I  25. 
öllenclfche  sin  rä'tg^ve  I  27.  dat  ig  si  ä'ne  mine  sciilde  hä'n  verlorn 
II  2.    irhü'ben   einen  stürm  V  18.    nie  inkein   harter  V  20.     nie  iukein 

m 

stürm  V  26.  und  waere  din  schade  gr.  Rud.  D**  24.  grozer  eren  half 
in  sin  dögenhMt  F  25.  min  he  rre  wölde  dine  vröwen  söhen  6  4.  daz 
duhte  in  ein  härte  gü't  gewin  G**  26.  dem  gre'ven  ein  lüzzel  H**  12. 
d6  gewän  sie  ein  vrö'  gemü'te  J  11.  die  greve  sin  n^ve  K  25.  he  rre 
min  grö'z  üngemäch K**  23.  äl  mine  not  K^  27.  mir  hölpet  min  väder 
Gämir  Karl  313. 

pronomeu  relativum:  ubir  älliz  daz  göt  ie  hiez  geworden  vom 
gel.  232.  ein  mü're  di  bfezer  wä'rfe  Alex.  1279.  mit  dem  gölde  daz  ir 
mir  habet  brä'ht  1551.  nu  virn^met  röhte,  waz  ih  iu  säge  5739.  dan 
alle  di  borge  di  si_ie*gesäch  Tund.  138.  det  tön  den  (?)  her  inme  grase 
vant  gr.  Rud.  H  12. 

so.  vile.  al.  also.  z6:  daz  ist  uns  z6'  der  sele  vil  gü't  vom  gel. 
932.  ^ine  vil  gute  minne  1004.  er  sprach,  iz  wsere  in  getrunken  vil 
gu t  1007.  iz  is  ü  z6'  der  sele  vil  gü't  1022.  dem  issiz  z6'  der  sele 
vil  gut  1743.  der  beginnet  vil  dicke  trähten  1754.  er  beginnet  vil 
dicke  weinen  1763.  alsiz  des  kindes  vil  wöl  gewöne  wsere  Alex.  367. 
si  ünderquä'men  vil  härte  2237.  dir  tu  n  allir  tägelfchö  3062.  er  wä're 
so  sco'ne  ünde  so  cla  r  3556.  di  säget  man  däz  si  vil  ri'che  sf  Tund.  85. 
so  dief  ünde  so  ^islich  114.  ind  irhü'ben  einen  stürm  also  grinmiän 
Ernst  V  18.  nie  inkein  stürm  also  fröislig  V  26.  er  wiste  vil  grö'ze 
wizze  gr.  Rud.  D  **  8.  in  nichöineme  strfte  so  herte  F  ^  24.  zuo  6me 
were  s6  zörne  Karl  144. 

Das  der  directen  rede  eingeschaltete  sprach  (siehe  oben  IL  2.  e.) 
haben  diese  gedickte  nirgends  in  doppelter  Senkung. 


276  AMBLUNG 

Nach  dieser  umschau  wird  es  wol  keinem  zweifei  mehr  unterlie- 
gen, dass  die  doppelten  smiJcungen  nicht  auf  zufälligen  schreihereigen- 
tilmlichkeiten  beruhen,  sondern  für  eine  nach  ort  und  zeit  begrenzt  her- 
sehende  weise  des  älteren  deuisclien  versbaiis  anzusehen  seien. 

Von  älteren  gedichten  lässt  wol  auch  der  mitteldeutsche  Fried- 
berger  Kr  ist  (MiUlenhof  und  Scher  er,  Denkmäler  s.  73  ff,)  diese 
weise  erkennen.  Die  beispide  von  versen  mit  überladenem  ersten  fuss, 
auf  die  der  herausgeber  anm,  zu  E^  14  aufmerksam  macht,  lassen  sich 
sänülicli  auf  die  von  uns  beobachtete  regd  über  doppdte  seyikung  zurück- 
ßhren:  D**  6.  si  da  den  imo  mänec  idewfz.  9  si  hi'zeu  in  nfder  sti'gän. 
E**  14  s6  6ngeslich  ward  iz  ünder  in.  P'  26  da  fiinden  si  däz  südä'- 
riüni.  P  **  65  d6  gi'nc  er  in  rftthe  bft  in ;  an  zwei  anderen  stdlen  des 
gedichtes,  wo  der  herausgeber  aus  metrischen  gründen  geändert  hat, 
würde  sich  das  handschriftlich  überlieferte  unserer  regd  über  die  dop- 
pdte Senkung  ganz  wd  fügen:  D*  9  euch  sprach  er  er  w§'re  gödes  sün. 
F  *  14  den  st^in  gewflcet  vän  demo  grabe.  Wenn  letzteres  im  versschluss 
vielleicht  bedenklich  erscheifien  sollte,  so  ist  zu  beachten,  dass  die  gedickte 
mit  doppdten  Senkungen  in  dieser  hinsieht  nirgends  eine  bevorzugung 
gerade  des  versschlusses  zeigen.  Wird  die  gdtung  doppdter  Senkungen 
für  die  erwähnten  stellen  zugestanden,  so  wäre  wol  auch  in  folgenden 
versen  die  betonung  eine  ungezumngenere ,  wenn  man  sie  mit  Zulassung 
doppdter  Senkung  lesen  wollte:  D**  7  si  nä'men  gällun  unde  ezzlch. 
E*22  däz  man  imo  den  liTiamun  gab.  G*  93  er  frageda  obe  si^iewet 
hettin.  G**  134  daz  si  alle  dise  näth  weren.  142  vi'ngen  si  dö'  in  rft- 
thö.  Dodi  bleibt  die  entscheidung  über  diese  fragen,  die  doch  in  die 
zusaminenhängende  kritik  des  ganzen  eingreifen,  wol  füglich  dein  urteil 
des  herausgebers  anheim gestellt. 

VIII.  Man  könnte  gegen  das  im  obigen  erkannte  nwtrische  prin- 
dp  einwenden,  dass  es  einen  zu  weiten  spidraum  lasse  um  überlmupi 
noch  für  ein  princip  zu  gelten;  dass  bei  so  ausgeddmlen  freiheiten 
schliesdich  jedes  der  bisher  für  metrisch  formlos  gehaltenen  gedichte  die- 
ser scheinbaren  regd  zu  unterwerfen  sei.  Alan  mirde  sich  aber  dodi 
irren.  So  weit  ausgedehnt  auch  die  freiheiten  im  vergleich  gegen  den 
strengeren  althochdeutschen  und  mittdhochdentsclien  versbau  sind,  so 
haben  sie  doch  ihre  festen  schranken  und  es  gibt  gedichte,  die  sich  die- 
ser beschränkung  nicht  fügen  ^  die  nach  wie  vor  für  unrhythmisch  gdten 
müssen.  So  urä^  den  mittddeutschen  der  Anno,  die  kaiscrchronik,  das 
Rolandslied  des  pfaffen  Kuonrat,  die  tugefidlehre  des  Wernher  von 
Elmendorf  (Haupts  zeiischr.  IV  284,)  und  das  erste  der  von  Lachmann 
veröffentlichten  niederrheinischefi  bruchstücke  (a.  a,  o.  s,  163).    Auf  diese 


BBITRÄOB  ZUR  DBÜTSCHBN  MBTBIK  277 

gedickte  finden  die  oben  entwickelten  regeln  keine  anwendung.  Wenn 
sich  auch  etwa  im  Rolandsliede  die  niehrzahl  der  verse  unseren  regeln 
fügen  toürde,  so  sind  doch  immer  noch  die  überfiUUen  Zeilen,  die  sich 
auf  keine  weise  in  einen  dactylischen  rhythmus  hineinzwängen  Hessen, 
zu  häufig,  als  dass  man  an  emendätion  denken  dürfte.  Ferner  finden 
sich  darin  verszeilen,  die,  auch  ohne  überfüllt  zu  sein,  in  ihren  natür- 
liehen  accentverhältnissen  durchaus  keinen  festen  rhythmus  zeigen.  In 
den  oben  herbeigezogenen  gedickten  sind  dagegen  solche  formlose  zeüen 
so  selten ,  dass  man  sie  nur  auf  die  schuld  eines  nachlässigen  abschrei- 
bers  bringen  kann.  Unter  den  oberdeutschen  gedichten  des  12.  Jahrhun- 
derts wüste  ich  kein  einziges  zu  nennen,  in  welchem  sich  versbau  mit 
doppelten  Senkungen  erkennen  Hesse.  Sie  sind,  wo  sie  nicht  das  stren- 
gere princip  der  Otfridischen  metrik  befolgen,  metrisch  formlos,  wie  z.b. 
die  gedichte  Heinrichs  von  Melk,  denen  der  neueste  herausgeber  (Richard 
Heinzd.  Berlin  1867.  Bei  Weidmann)  mit  recht  jeden  beabsichtigten 
rhythmus  abspricht  (seile  14).  Da  nun  hinwider  kein  einziges  mittel- 
deutsches gedieht  vor  dem  ende  des  12.  Jahrhunderts  anzuführen  ist, 
welches  die  einsilbigkeit  der  Senkungen  nach  Otfridischer  reget  streng 
festhielte,  so  werden  wir  wol  den  versbau  mit  doppelten  Senkungen  als 
ein  besonderes  kennzeichen  mitteldeutscher  poesie  ansehen  können.  Dass 
ettva  der  versbau  mit  doppelten  Senkungen  den  alhnäJdichen  Übergang  aus 
jenen  unrhythmischen  reimwerken  der  älteren  zeit,  der  sogenanten  reim- 
prosa,  in  die  strengere  mittelhochdeutsche  metrik  bildete,  lässt  sich  kei- 
nesweges  dartun.  Die  mitteldeutsche  und  oberdeutsche  weise  rhythmischen 
bau^s  stehen  sich  selbständig  gegenüber,  und  neben  beiden  zieht  sich  die 
reimprosa  seit  dem  ende  des  elften  Jahrhunderts  beinahe  durch  das  ganze 
zwölfte  hindurch.  Die  form  dieser  unrhythmischen  reimwerke  kann  man 
daher  auch  wol  nicht  als  bloss  aus  individuellem  Unvermögen  mislungene 
metrische  versuche  ansehen,  sondern  als  eine  für  sich  bestehende  freiere 
kunstform,  die  von  dem  geschmack  gewisser  kreise  gebilligt  war,  wenn 
sie  auch  nicht  in  don  maasse,  wie  Wackernagel  annahm,  ein  ganzes 
Zeitalter  beherschte.  Dass  die  reimprosa  vornehmlich  von  geistlichen  aus- 
gieng,  die  rhythmischen  dichtungen  aber  vornehmlich  von  laien,  die  an 
dem  volksgesange  ihren  formensinn  kräftigen  konnten,  wird  im  allgemein 
nen  wol  zutreffend  sein. 

Ist  der  bau  mit  doppelten  Senkungen  die  einzige  rhythmische  form, 
die  sich  an  mitteldeutschen  gedichten  aus  der  mitte  des  zwölften 
Jahrhunderts  nachweisen  lässt,  so  ist  doch  deutlich  zu  verfolgen,  wie 
auch  hier  gegen  ende  des  Jahrhunderts  der  versbau  nach  hochdeut- 
schem princip  eingang  findet.    Schon  der  Pilatus  liat  sich  von  der  eigent^ 


278  AMELUNQ 

lieh  mitteldeutschen  weise  vollständig  frei  gemacht;  ob  au^h  der  Aegi- 
diiis,  kann  ich  nicht  entscheiden,  da  mirHofmanns  fundgruben  (1246) 
nicht  zur  hand  sind,  W.  Grimm  sagt  in  der  einleitung  zu  graf  Rudolf 
s.  IS:  „bei  den  dichtem  des  Prophilias,  des  Pilatus,  des  Aegidius,  bei 
Eilhart  von  Oberge  und  Heinrich  von  VddeJce  kommen  keine  überlangen 
Zeilen  vor,*^  doch  meint  er  wol  nur  die  völlig  formlose  sübenhäufung, 
wie  sie  sich  in  versen  des  Anno ,  der  Kaiserchronik  und  des  Rolandslie- 
des  findet,  da  er  s.  14  auch  Lamprechts  Alexander  die  überlangen  zei- 
len  abspricht.  In  den  bruchstiicken  von  Karl  und  Galie  zeigen  sich  die 
doppelten  Senkungen  schon  in  der  abnähme  begriffen,  und  man  wird 
daher  dem  dichter  vielleicht  wol  die  absieht  zuschreiben  dürfen,  mög- 
liehst  auf  einsübigkeit  der  Senkungen  auszugehen,  wenn  es  ihm  auch 
noch  nicht  gelungen  ist,  sich  von  der  älteren  mitteldeutschen  weise  wirk- 
lich frei  zu  machen.  Im  dreizehnten  Jahrhundert  hat  die  allgemein 
her  sehende  regel  des  Versbaues  mit  einsilbigen  Senkungen  auch  in  die 
mitteldeutschen  dichtungen  vollständig  eingang  gefunden,  wol  namentlich 
auf  den  Vorgang  Heinrichs  von  Vddeke.  So  im  Athis  und  Prophüia^, 
bei  Herbort  von  Fritslar,  bei  Bertolt  von  Holle,  in  detn  gedieht  von 
Marien  himmelfahrt  in  Haupts  Zeitschrift  V,  515,  in  den  von  Bartsch 
herausgegebenen  mitteldeutschen  gedichten  (Bibliothek  des  litterarischen 
Vereins  in  Stuttgart.  Bd.  LIII),  imPassional,  wenn  sich  auch  nameni- 
lieh  im  anfang  häufig  metrische  incorrectheiten  finden,  die  auf  jene  ältere 
mitteldeutsche  verskunst  zurückdeuten.^ 

In  späterer  zeit  finden  urir  wider  verse  mit  doppelten  Sen- 
kungen im  neueren  deutschen  volksliede.  Während  in  den  kunstmäs- 
sigen  dichtungen  des  16,  Jahrhunderts  das  princip  der  Uossen  silben- 
Zählung  bereits  zur  herschaft  gelangt  ist,  erhält  sich  im  volksliede  inso- 
fern wenigstens  noch  das  princip  des  mittelhochdeutschen  Versbaues,  als 

1)  Jetzt  glaube  ich  auch  die  frage  nach  der  Priorität  des  Münchener  oder 
Heidelberger  textes  entscheiden  zu  kömun.  Wer  an  den  hodideutschen  vershau  mit 
streng  ei/nsilbigen  Senkungen  gewönt  tcar,  dem  musten  doppelte  Senkungen  anstösaig 
sein;  umgekehrt  konte  der,  dem  die  doppelten  Senkungen  geläufig  waren,  anderem- 
fachheit  der  Senkungen,  die  auch  dort  nicht  ausgeschlossen  war,  durdwus  keinen 
anstoss  nehmen.  Daher  glaube  ich  in  dem  hairischen  text  eine  Überarbeitung  de$ 
rheinfränkischen  sehen  zu  müssen.  Alle  Überarbeitungen  älterer  deutscher  gedickte 
in  jener  zeit  gehen  auf  formelle  Verfeinerung  und  glättung  aus ,  und  den  versbau  mU 
doppelten  Senkungen  seheti  wir  gegen  ende  des  Jahrhunderts  im  zurückweifhen  begrif- 
fen. Verse  mit  doppelten  Senkungen  lassen  sich  durch  kleine  ^Veränderungen  leidit 
auf  das  strengere  maass  zurück  führen  ^  und  so  können  die  ahweichungen  des  Mün^ 
chener  textes  wol  atis  dieser  absieht  erklärt  werden.  Wir  müssen  daher  trotz  des 
aufgefundenen  bairischen  textes  bei  Haupts  annähme  stehen  bleiben ,  dass  der  Sother 
von  einem  Wieinländer  in  Baiern  verfasst  sei. 


BBITRÄGB  ZUB  DBUTSCHBN  MBTBIK  279 

hier  imfner  ein  bestirnter  rhythmus  festgehalten  wird,  der  durch  die 
anzahl  der  hebmigen  bestirnt  ist,  während  die  Senkungen  fehlen  dürfen. 
Das  unterscheidende  ist  aher,  dass  jetzt  zwischen  zwei  hebungen  nach 
belieben  eine  oder  mehrere  Senkungen  stehen  dürfen.  Die  Verwendung 
selbständiger  redeteUe  in  auf  einander  folgenden  Senkungen  ist  dabei  sehr 
frei  und  wird  sich  schwerlich  auf  feste  regeln  zurückfiHiren  lassen.  Es 
lässt  sich  nur  ganz  im  allgemeinen  benwrken,  dass  redeteUe,  die  in  der 
naJtürlichen  betonung  des  satzes  eine  hervorragende  Stellung  einnehmen, 
weniger  geeignet  erscheinen  in  die  Senkung  zu  fallen,  obgleicli  auch  diese 
anforderung  oft  genug  verletzt  mrd. 

Will  man  sich  darüber  rechenscJiaft  geben,  wie  diese  methode  des 
Versbaues  sich  aus  der  mittelhochdeutschen  historisch  entunckelt  hohe,  so 
möchte  ^fnan  dabei  zunächst  wol  die  almählich  eingetretene  dehnung  aller 
stamsilben  in  anschlag  bringen.  Infolge  dieser  dehnung  halte  man  über- 
all da,  wo  na^ch  mittelhochdeutscher  reget  verschleifung  eintreten  konte, 
sogleich  mehrfaclie  Senkung,  d,  h,  aus  den  früher  bloss  graphisch  mehr- 
silbigen wurden  dadurch  wirklich  mehrsilbige  Senkungen,  Doch  glaube 
ich  bezweifeln  zu  müssen,  dass  sich  diese  erscheinungen  überhaupt  auf 
die  mittelhochdeutsche  metrik  zurückführen  lassen.  Es  scheifü  in  dieser 
entwickdung  keine  vollkommene  historische  continuität  nachweisbar,  viel- 
mehr  eine  einwirkung  von  aussen  auf  den  hochdeutschen  versbau  statt- 
gefunden zu  haben.  Wir  finden  nänüich  dasselbe  princip,  das  ich  eben 
dem  volksliede  des  16,  Jahrhunderts  zuschrieb,  ganz  charakteristisch  aus- 
geprägt auch  im  niederdeutschen  Tteinke  de  Vos  (}i<irausgegeben  von 
Lübben,  Oldenburg  1867)  und  von  hier  aus  lässt  es  sich  in  niederdeut- 
schen gedichten  bis  gegen  das  dreizehnte  Jahrhundert  rückwärts  verfol- 
gen. Man  vergleiche  die  niederdeutschen  stücke  no.  16,  21.  23,  24,  48, 
56  usw,  bei  Liliencron,  historische  Volkslieder  der  Deutschen,  lieber  all 
finden  unr  hier  den  gebrauch  melirfacher  Senkungen,  im  gegensatz  zur 
hochdeutschen  verskunst  des  14,  und  15.  Jahrhunderts ,  die,  wo  sie  noch 
nicht  silbenzählend  ist,  die  werte  durch  sehr  harte  kür  Zungen  und  zusam- 
menziehungen oder  durch  rücksichtslose  Verletzung  des  grammatischen 
accents  in  das  metrische  Schema  presst,  aber  doch  immer  die  einsilbig- 
keit  der  Senkung  festzuhalten  sucht.  Ich  glaube  daher  wol  annehmen  zu 
können,  dass  sich  das  neuere  Jwchdeutsche  Volkslied  unter  dem  einfluss 
der  niederdeutschen  poesie  des  14.  und  15.  jahrhwnderts  entwickelt 
habe.  Diese  steht  aber  wol  in  unmittelbarem  historischem  zusammenhange 
mit  jenem  oben  geschilderten  mitteldeutschen  versbau.  Der  versbau  im 
Reinke  de  Vos  zeigt  uns  ganz  dasselbe  princip ,  une  die  mitteldeutschen 
gedickte  des  12.  Jahrhunderts,  nur  dass  die  Verwendung  selbständiger 
redeteUe  in  doppelter  Senkung  weitere  ausdehnvmg  gewonnen  hol;  doch 


280  AMBLUNG 

finden  sich  darin  auch  seitenlange  partien,  die  nirgends  über  die  ßum 
Rother  statuierten  freiheiten  hinaus  gehen.  Leider  fehlt  uns  aUes  fmUe- 
rial,  um  die  entwickdimg  der  niederdeutschen  verskunst  im  12.  und 
18,  Jahrhundert  zu  verfolgen.  Es  lässt  sich  aber  aus  dem  obigen  weil 
annehmen,  dass  sich  hier  jener  ältere  mitteldeutsche  versbau  in  seiner 
eigentümlichkeit  fort  erhielt,  während  die  mitteldeutschen  gedickte  des 
13,  Jahrhunderts  in  ihrem  dialect  der  herschenden  Schriftsprache  weniger 
fernstellend  von  der  allgemeinen  Strömung  der  liiteratur  ergriffen  umr- 
den  und  sich  der  eigentlich  hochdeutschen  weise  fügten. 

Wie  der  versbau  mit  beliebig  fehlenden,  einfacJien  oder  mehrfachen 
Senkungen  in  den  siebziger  jähren  des  vorigel^  Jahrhunderts  vornehmlich 
aus  dem  volksliede  widerum  eingang  in  die  moderne  verskunst  fand, 
hat  Koberstein  §  272  dargestellt. 

Der  im  obigen  vermutete  historische  zusammcnliang  zwischen  dem, 
mitteldeutschen  und  dem  niederdeutschen  'öersbau  mit  doppelten  senkufi- 
gen,  wird  aber  dadurch  über  allen  zweifd  erhöben,  dass  sich  der  gemein^ 
same  Ursprung  beider  in  der  altsächsischen  verskunst  aufweisen 
lässt.  Wir  werden  in  ihm  eines  der  hauptkennzeichen  einer  speeifisch 
niederdeutschen  verskunst  im  gegensatz  zur  hochdetdschen  erblicken.  Eine 
eingehendere  darlegung  der  metrischen  Verhältnisse  des  Hdand  wird  das 
begründen. 

n. 

I.  Die  verse  des  Heland  gelten  für  ziemlich  wild  und  regellos, 
und  mit  den  principien  althochdeutscher  metrik  ist  ihnen  nicht  beieu^ 
kommen ;  eine  kritische  her  Stellung  aus  diesem  gesichtspunkte  könnte  kat^m 
eine  zeüe  der  Überlieferung  unangetastet  lassen.  Schneller  „  Über  den 
versbau  in  der  aUitterierefiden  poesie  besonders  der  ÄÜsachsen^'  (Abhandr 
lungen  der  bayrischen  academie  1844)  ist  der  ansieht,  dass  die  alUttera" 
tion  das  einzig  fest  geregelte  darin  sei,  und  bezweifelt  s.  216  sogar,  ob 
man  „diese  gliederungen  verse  nenfien  oder  gar  sie  als  solcl^  darstd^ 
lefi"  dürfe.  Zwar  findet  er  im  allgemeinen  ein  viergliedriges  rhythmi^ 
sches  Schema  her  seilend,  aber  verzichtet  durchaus  darauf,  das  princip 
darzulegen,  nach  welchem  die  einzelnen  tactglieder  gebaut  sind.  Und 
doch  wird  man  sich  immer  wider  versucht  fühlen,  auch  hierin  einer 
festeren  reget  nachzuspüren,  denn  die  annähme,  dass  hier  wirUich  in 
keiner  weise  ein  festes  rhythmisch -metrisches  princip  vorliege,  hol  bei 
einem  in  so  echt  volksmässigem  altepischem  stil  gehaltenen  werke  etwas 
durchaus  widerstrebendes.  Gerade  den  ursprünglichsteti  äusserungen 
volkstümlicher  poesie  gut  das  rhythmische  dement  der  rede  am  höchsten. 


BSITRÄOE  ZUR  DBUT8CHEN  MSTBIK  281 

SO  dass  in  manchen  ereeugnissen  unmittdha/rer  volJcspoesie  alles ,  was  sie 
als  poesie  kensseichnet,  einzig  in  der  rhythmisch  gebundenen  form  liegt. 
Was  sonst  noch  hinzu  komt,  ihnen  den  Charakter  eines  gedicktes  zu  ver- 
leihen, die  episdi  formelhafte  ausdrucksweise,  ist  der  spräche  eines  noch  in 
ziemlicher  urwüchsigkeit  verharrenden  Volkes  auch  da  eigen,  wo  es  nicht  zu 
dichten,  sondern  schlicht  zu  reden  meint.  Gedichte  ohne  jeglichen  festen 
rhythmus  sind  daher  vorwiegend  in  Zeiten  höchstgesteigerter  cultur  anzu- 
treffen, am  allerwenigsten  aber  in  volksmässiger  poesie  zu  erwarten:  kin- 
der  und  volk  pflegen  dergleichen  litteraturprodukte  gar  nicht  als  poesie 
anzuerkennen.  So  bleibt ,  wenn  man  nicht  annehmen  will,  dass  der 
ursprüngliche  text  des  Hela0kl  in  der  liandschriftlichen  überliefertmg  bis 
zur  unkentlichkeit  corrumpiert  sei,  und  darauf  deutet  doch  im  übri- 
gen der  zustand  des  gedichtes  nicht  gerade  hin,  nur  übrig,  von  der 
überlieferten  gestalt  auszugehen  und  in  den  vorliegenden  tatsachen  selbst 
ihr  eigenes  gesetz  zu  ermitteln,  ohne  von  vornherein  zu  erwarten,  dass 
es  mit  dem  übereinstimme,  was  wir  bisher  an  hochdeutschen  gedickten 
beobachtet  haben.  Das  aber  wird  man  von  jedem  derartigen  versüß 
t erlangen  dürfen,  dass  er  mit  dem  bei  allen  germanischen  stammen  gleich- 
massig  herschenden  grundgesetz  über  die  wortbetonung  nicht  nur  in  ein- 
klang  bleibe ,  sondern  auch,  dass  das  eigentümliche  princip  des  Versbaues 
sich  als  eine  möglichst  einfache  consequenz  aus  jenen  betonungsgesetzen 
der  Sprache  darstelle. 

Fassen  unr  also  die  allitterierenden  zeüen  des  Hdand  als  rhyth- 
misch gebaute  verse  auf,  so  finden  unr  im  allgemeinen  dasselbe  grund- 
schema,  tvdches  der  epische  vers  bei  allen  germanischen  stammen  auf- 
weist: zwei  durch  allitteration  zu  einer  langzeile  verbundene  halbverse, 
deren  jeder  vier  rhythmische  tacte  enthält.  Das  erste  glied  jedes  tades 
muss  durch  den  grammatischen  accent  über  die  folgenden  hervorgehoben 
sein.  Bis  soweit  stimt  alles  mit  dem  althochdeutschen  versbau  überein. 
Im  bau  des  einzdnen  aus  hebung  und  Senkung  bestehenden  tades  tritt 
aber  der  unterschied  hervor.  Einer  von  den  unterscheidenden  punkten 
ist  eben  die  Zulassung  doppdter  Senkungen.  Dass  es  im  Hdand  verse 
gibt,  die  nicht  ohne  die  annähme  doppdter  Senkungen  als  ein  viertadi- 
ges  gd)ilde  aufgefasst  werden  könnten,  wie  z.  b.  I  12^  sia  uürdun  gicö- 
ranä  te  thfiL     18   s6  uuä'run  thia  man  hetäna.      20   uuirdiga  ti  them 

1)  Ich  citiere  n<ich  Müllenhoff  t.  Altdeutsche  sprachprohen.  Berlin  1864"  und 
Jcann  mich  avuih  in  der  ganzen  folgenden  Untersuchung  nur  an  die  daselbst  ausgeho- 
henen  stücke  I.  III.  V.  VI.  VII.  IX  — XII  halUn,  da  es  leider  noch  immer  an 
einer  vollständigen  ausgäbe  mangelt,  die  sich  auf  den  älteren  und  besseren  codex 
Cottonianus  stützt.  Doch  sind  die  angeführten  stücke  umfangreich  genug,  um  an 
ihnen  das  wesen  dieser  verskunst  zu  erläutern. 


282  AMELÜNG 


giuufrkie.  147  sithor  ik  s^a  mi  te  brüdi  gicos.  367  thär  gifrän  ik 
thät  sia  thiu  b^rehtun  giscäpu.  437  so  huat  so'  siu  gihö'rda  thia  man 
spr^can  usw,  bedürfte  wegen  der  häufigkeit  dieser  erscheinung  nicht  erst 
eines  besonderen  nachweises.  Wol  aber  erfordert  der  umstand ,  dass 
dabei  ganz  dieselben  regeln  gelten,  die  ich  schon  aus  den  mitteldeutschen 
gedichten  des  zwölften  Jahrhunderts  herleiten  kohlte,  eine  vollständige  dar- 
legufig  des  beweisenden  materials.  Damit  ist  aber  das  eigentümliche  der 
altsächsischen  metrik  noch  nicht  erschöpft.  Es  ist  'noch  ein  anderer 
umstand  zu  erörtern,  der  als  grundlegendes  princip  den  ganzen  aUsäch" 
sischen  versbau  durchdringt  und  aus  dem  alle  besoiideren  regeln  über 
die  metrischen  Verhältnisse  der  einzelnen  tact§Lieder  herzuleiten  sind.  Wir 
werden  auf  die  erkentnis  dieses  princips  durch  die  folgenden  beoba^Ji^ 
tungen  hingeführt. 

IL  Ich  gehe  von  der  er  wägung  solcher  verse  aus  wie  I  11  hS'lägna 
gest.  39  uuäldänd  gispräk.  154  Ifk  gidrüsinöt.  233  uuördgimörkiön 
und  ähnlichen,  die  nur  drei  hehungen  zu  hohen  scheinen,  da  man  dod^ 
unmöglich  die  tonlosen  präfixe  und  suffixe  für  hebung  ohne  folgende 
Senkung  wird  gelten  lassen.  Au^ch  wäre  diese  annähme  gar  nicht  ein- 
mal zur  erUärung  genügend,  da  sich  sogar  verse  finden,  die  unrklich 
nur  aus  drei  silben  bestehen,  wie  XII  63  sfttiän  thä'r.  65  all  uuürthün. 
Um  aber  eine  textverderbnis  anzunehmen,  ist  diese  erscheinung  zu  häu- 
fig. Wenn  man  nun  in  diesen  versen  nicht  eine  unbegreifliche  anomalie 
bestehen  lassen  will,  so  wird  man  sie  kaum  anders  beurteilen  können, 
als  dass  man  die  eine  hochtonige  und  lange  silbe  für  den  träger  zweier 
auf  einander  folgender  hebungen  nimt,  also  iTk  gidrüsinöt,  h§1ägna 
gest,  oder,  was  dasselbe  wäre,  für  eine  zerdehnung  inli'-fk,  gS'-6^st, 
wie  sie  im  gesange  überall  stattJmft  ist.  Ohne  die  natürlichefi  quanii^ 
tätsverhältnisse  zu  verletzen,  ist  das  aber  nur  bei  langen  vocalen  mag- 
lieh,  nicht  bei  kurzen.  Unmöglich  ist  uuäldänd  gisprä-äk,  uh>1  aber  ist 
uuVldänd  gispräk,  uuordgim^rkiön  statthaft,  da  die  consonanten  r  und 
1  nach  ihrer  physiologischen  beschaffenheit  ebenso  une  die  langen  vocale 
einer  beliebigen  dauer  fähig  sind.  Und  wirklich  zeigt  sich  in  allen  den 
fällen^  wo  tmr  scheinbar  nur  drei  hebungen  finden^  eine  hochtonige 
lange  silbe,  die  entweder  einen  langen  vocal  enthält,  wie  1 11.  21. 
335  helägna  gest,  154  ITk  gidnisinöt,  230  br'fef  giunlrkeän,^  VII  33 
m'öM  gihuörbän,  IX  1  th'uo  nä'hida,  XI  101  l'i^k  tesämnö,  XU  13  m'6r 
gim^nid,  63  sittiäu  th'ä'r,  oder  1,  r  mit  folgendem  consonanten:  1282 

1)  Der  natur  der  detUacJien  diphthongen  ist  es  tool  angemessener,  wenn  man 
sie  in  bri'-i'ef,  thü'-ü*o  als  in  bri-^f,  thü-ö  zerdehnt,  denn  streng  phonetisch  wider-' 
gegeben  spricht  man  brief^  thüo. 


BEITBAOB  ZUR  DBÜTBCHBN  METRIK  283 

'all  gihuörbän,  427  'all  giwi'sW,  Xn  5  'tfll  getufflid,  66  'a'U  uuürth&n, 
69  'all  bicÜDSÜ,  139  uu'a'ldäud  gispräk,  90.  179  uu'a'ldändes  g^ld, 
191  g'eld  gile'stid,  277.  1X35  uu'a'ldändes  cräft,  X  24  uutfldändie 
Crist,  158  h'elmgitrö'steön,  *233  uu'o'rdgim^rkiön ,  V  29  uuäldändes 
uuVrd,  V  7.  18  neri^ndi  Crfst  (=  nerjendi),  XII  72  n'erifendon  Crist, 
X  3  bVrn  dröhtines.  At4ch  1 166  und  XII 56  wird  man  wol  hesser  'erl 
äfüodit,  s'ä'n  üpp  ähled  betonen^  obgleich  auch  ^rl  ä'füodit,  säu  üpp 
ä'hlß'd  nicht  schlechterdings  zu  verwerfen  ist  tvie  XI 89  man  adögiän 
und  99  uufht  ä'uu6rdiän  lehren.  Nur  einmal  findet  die  zerdehnung  vor 
nd  VII  62  kTnd  gidrüogi,  ein  anderes  nial  vor  nn  statt:  I  381  lüttilna 
m'a'iin.  Obgleich  nun  die  resonanten  oder  nasale  keinesweges  continuae 
sind,  so  ist  doch  auch  das  leicht  erklärlich,  tvenn  man  sich  der  neigung 
des  altsächsischen  dialectes  dabei  erinnert,  die  vocale  vor  n  zu  nasalie- 
ren  und  in  folge  dessen  zu  dehnen.  Da  nun  also  der  ausfall  einer 
licbung  immer  nur  nach  solchen  sUben  stattfindet,  die  ihrer  naiur  tuich 
deJinhar  sind,  niemals  nadi  undelmbaren  wie  h'u'ggiän,  s'fttiän,  so  ist 
meine  aniiahnui  einer  zerdehnung  wol  mehr  als  wahrsclieinlich. 

Aber  auch  die  auffassung,  als  enthielten  diese  verse  nur  drei 
hebungen,  wäre  in  einem  gewissen  sinne  dennodi  zidäs^g,  wenn  nmn 
nur  die  regd  in  folgender  weise  ausdrückte: 

jedet'  halbvers  besteht  aus  zwei  haupthebungen ,   die  mit  zwei  neben- 
hebungen  abwechseln;   von  den  letzteren  darf  die  eine  fehlen,   wenn 
die  vorangegangene  haupthebung  eine  hochtonige  silbe  ist,   die  durch 
langen  (auch  nasalierten)  vocal  oder  durch  1,  r  +  consonant  gebil- 
det wird. 
Es  widerholte   sich   hier   also  zwisclien  haupt-   und   nebenhebung   ein 
ganz  ähnliclies  verluiUnis,   wie  es  ztvischen  hebung  ufid  Senkung  besteht. 
Dass  diese  auffassung  mit  jener  dem  wesen  der  saclie  nach  eigentlich 
identisch,  nur  in  der  formtdierung  verschieden  sei,  brauche  ich  wol  nur 
zu  bemerken.    Dass  aber  die  beiden  formuliermigen  zum  gründe  liegende 
beurteilung  des  Sachverhaltes  die  allein  richtige  und  zulässige  sei,  wird 
'noch  durch  andere  erwägungen,  die  sich  daran  schliessen,  bekräftigt. 

Wenn  nämlich  die  nebenhebuf^  unter  umständen  ganz  fehlen  darf, 
so  wird  notwendig  die  im  altgermanischen  verse  überall  zu  tage  tretende 
Unterscheidung  von  haupt-  und  nebenhebung  hier  im  Altsächsischen  ganz 
besonders  stark  und  deutlich  hervorgehoben  sein  müssen.  Man  hätte 
also  zu  erwarten,  dass  die  vier  hebungen  des  verses  in  ihrer  aufeinan- 
derfolge einen  deutlich  markierten  Wechsel  einer  stärker  und  einer  min- 
der   stark    betonten   hebung   vernehmen   Hessen;    also    }  f  f  f  f  f  f  f 

im  gegensalz  zum  althochdeutschen  verse ,   derßffßfmm^  zu  notie- 


284  AHBLÜNG 

ren  wäre.  Soll  nun  aber  immer  die  erste  und  dritte  hebung  des  ver- 
ses  für  die  Jiaupthebung  gelten?  Dann  allerdings  wäre  der  unter- 
schied zwischen  haupt  -  und  nebenhelnmg  im  altsächsischen  versbau  nicht 
zum  besten  beobachM,  da  verse  wie  uuid  dörn^ro  duälm.  an  ländö 
gihuäm  durchaus  nicht  selten  sind.  Ich  denke  aber  die  allitteration 
kann  aUein  entscheiden;  sie  muss  immer  auf  die  haupthebung  fal- 
len. Im  allgemeinen  unrd  das  auch  für  das  angemessenste  gehalten, 
aber  es  ist  doch  meines  unssens  noch  nicht  als  die  feste  reget  hingestellt 
worden,  als  die  ich  es  auffasse.  Stdlt  man  aber  diese  reget  auf,  so  ist 
die  notwendige  consequenz  daraus  die,  dass  niemals  zwei  liedstähe 
unmittelbar  neben  einander  stehen  dü/rfen;  es  müsten  immer  eine  aUit- 
terierende  und  eine  nicht  allitterierende  hebung  mit  einander  wechseln, 
ausgenominen  natürlich  solche  verse,  die  überhaupt  nur  drei  hebungen 
enthalten.  So  dürfien  denn  endlich,  wo  zwei  liedstäbe  vorhanden  sind, 
diese  nur  entweder  die  erste  und  dritte,  oder  die  zweite  und  vierte  vers- 
stelle  einnehmen,  nie  die  erste  und  zweite,  die  zweite  und  dritte,  dritte 
und  vierte ,  erste  und  vierte.  Mag  man  das  jedoch  nicht  so  selbstver- 
ständlich und  zwingend  finden,  da  doch  in  versen  wie  1 197.  313  und 
anderen  ähnlichem,  die  betonung  thät  uui'b  uürdigiscäpo.  sui'tho  güod 
gümö  natürlicher  erscheint,  als  that  uufb  uürdigiscäpo.  suitho  gVod 
gümö,  so  lasse  man  es  wenigstens  als  hypothese  gelten^  und  als  solche 
ist  es  jedenfalls  zulässig.  Zeigt  sich  in  den  weiteren  fcl-gerungen,  die 
sich  daraus  ergeben,  alles  in  bester  Ordnung,  führen  diese  nirgends  auf 
widerspräche,  tragen  sie  sogar  dazu  bei,  sonst  uncrMärlicIhes  zu  erJdä" 
ren,  so  wird  man  sich  gegen  die  richtigheit  meiner  annähme  nicM  ver- 
schliessen  können.  Nun  zeigt  eine  wnbefangene  beobachtung  der  tat- 
Sachen,  dass  die  beiden  liedstäbe  fast  immer  auf  die  erste  und  dritte 
liebung  fallen:  3.  5.  6  (liudo  hämo  löbön)  9.  11.  12.  15  (he lag  hfmilisc 
uuörd)  16.  20  (uuirdiga  tf  them  giuufrkife)  21  (them  helithon  an  fro  hör- 
tän)  22.  24  (that  sea  scöldi'n  ähöbbeän.  Zwei-,  ja  dreisilbiger  auftact 
findet  auch  sonst  häufig  statt.)  25.  26.  27.  28.  29.  31  (ddälördfrümo. 
Kurze  stamsilbe  für  hebung  ohne  folgende  Senkung  ist  notwendig  afum- 
nehmen  nidit  nur  im  versschluss  wie  6*.  17*.  111'.  136*.  167*.  2bO\ 
252*  usw.,  sondern  auch  an  anderen  versstdlen:  31^  85*.  105^  128*. 
132\  206'.  218\  231'.  245^  usw.  Ich  komme  später  auf  diese  erschei- 
nung  zurück).  32.  33.  36.  37.  40,  41.  42.  43.  45.  47  (ffrio  bärnun 
biförän)  48.  52  (firio  bärnun  ti  frümön)  54.  55  (häbda  th^m  h^risclpie. 
Klingender  versschluss  ist  25\  38'.  41\  56\  121' \  188\  190^  206** 
usw.  unvermeidlich).  60.  62.  64.  65.  66.  69.  71.  78.  85.  91.  95,  98. 
99.  100  usw.  Viel  seltener  nehmen  die  beiden  liedstäbe  die  zweite  und 
vierte  hebung  ein:  I  8  scrfbau  b^rehtlf  co  an  büok  (scriban  ist  aus  dem 


BEITRAGE  ZUB  DEUTSCHEN  METRIK  285 

vorhergehenden  verse  herüber  zu  nehmen;  es  iiber füllt  dort  deti  vers  und 
stellt  hier  die  eben  besprochene  regd  her).  23  so  manag  uui'sirk  uuörd. 
53  uufd  dörnero  duälm.  97  thä'r  ti  Jörüsalera.  102  ümbi  that  he'läga 
hu's.  195  smtho  gödcünd  gümo.  199  an  Ifudeö'  lioht.  235  thuo  näm 
hfe  thia  büoc  an  band.  253  uuäs  iro  tbiornä  githfgan.  268  th^s  uui'- 
don  ri'kies  giuuänd.  338  ällero  bärnö  botst  {tieftonige  kurze  sähe  als 
hebung  ohne  folgende  Senkung  unrd  auch  sonst  häußg  zugelassen,  I  1*. 
40  ^  63  \  67  •\  187  \  269  \  289**  usw.)  404  an  ßöthleembürg.  433 
öbar  thia  bßrehtün  bürg.  III  11  ällero  bärnö  b^st.  V  14  uuänn  uuind 
endi  uuäter.  22  biet  thät  sia  im  uu^dar^s  giuuin.  27  ge  t^  them  se'uua 
so  sölf.  33  that  im  so'  thie  uuind  6ndi  thie  uuag.  VI  10  anthät  müt- 
sp^lles  mögin.  VU  19  is  brüothär  bärn.  IX  32  ümbi  Jerusalem,  37  an 
thia  b^rehtün  bürg.  X  42  jac  dn  thero  sünnun  so'  sämo.  97  uuid  thes 
flüodes  färm.  XI  36  s6'  niu(Urco  an  näht.  68  sui'tho  thrfstmüod  th^gan. 
84  uuid  thfeses  uuörodfes  giuufnn.  97  hie  suöltid  im  oft.  130  fän  them 
bergö  te  bürg.  XII  80  tha  r  is  li  chämo  lag.  Nirgends  aber  ist  man 
zu  der  annaJime,  dass  die  beiden  liedstäbe  auf  die  erste  und  ziveite, 
zweite  wnd  dritte,  dritte  uiid  vierte,  erste  und  v^ierte  hebung  fallen, 
unbedingt  genötigt.  In  den  verhältnismässig  seltenen  fäUen,  wo  das 
scheinbar  geschieht^  ist  entweder  eine  andere  betonung  möglich,  mit  zer- 
detmung:  I  197  that  uu'fb  uürdigiscäpo.  200  uuas  im  f'e'll  fägär. 
240  h'ard  häramscära.  313  suitho  güöd  gümö  (was  auch  der  natür- 
lichen betonung  der  Satzglieder  mehr  angemessen  ist).  V  12  'u  st  up 
sti'gan  {bei  Müllenhoff  üpstigan).  VI  20  h'6'  himiles  lioht.  39  h'o  h 
h^banrrid.  VII  54  is  uuo rd  uuöndiän.  72  diurli'can  dr'ö'm.  X  10  h'e'r 
höbancüning.  44  hui't  höbantünglas.  79  mina  uuVrd  giuua  röd,  XI  64 
sn'e'll  suördthegan.  116  h^ttändero  h'ö'p.  XII  55  ITf  längerun  hui'l; 
mit  mehrsilbigem  auftuet:  I  70  suitho  unuuändä  uui'ni.  124.  166  fan 
thinera  äldära  Idis.  136  an  thesero  uufdün  uu^röld.  349.  387  ober 
thesa  uui'dün  uu^röld.  XI 124  an  thena  uui'dön  uuelön.  XII  10  obar 
them  grabe  gö'miän.  67  te  themo  gräve  gängän.  Oder  man  wird  nur 
einen  einzigen  liedstab  annehmen;  der  andere  brauet  ebensowenig  mit 
zu  zählen  als  irgend  ein  anlautender  gleichklang  in  den  Senkungen,  der 
sich  ja  wol  manchmal  ungesudU  einstellen  kann,  aber  doch  niemals  für 
einen  liedstab  gelten  darf  Ich  rechne  dahin  das  gumo  I  133.  er  144. 
gilithan  154.  frägon  228.  baram  232.  hohen  266.  selbe  293.  uuar- 
don  321.  all  345.  suang  V  13.  beuuo  VI  14.  hüs  VE  8.  fargaf  X  26. 
forth  81.  bigetan  XI  42.  dädi  57.  brast  77.  biti  80.  Wenn  man 
erwägt,  wie  diese  fälle  verhältnismässig  selten  sind ,  und  wie  Mufig  ande- 
rerseits sich  in  einem  hcdhverse  drei  allitterierende  worte  beisammen  fin- 
den, von  denen  doch  auch  nur  zwei  für  liedstäbe  gelten,   so  hat  auch 

ZBITBOHH.    F.   DBUTSCUX  PHILOL.    BD.  lU.  19 


286  AMELUNG 

diese  annähme  durchaus  nichts  tviUkürliches  oder  gewaltsames.  Dass 
übrigens  diese  allitterationen  auch  an  ihrem  oHe  zu  dem  wolklang  des 
Verses  noch  das  ihrige  beitragen,  soll  gar  nicht  bestritten  werden;  nur 
für  li^stäbe  dürfen  sie  nicht  gelten. 

So  steht  also  meiner  annähme,  dass  liedstab  und  haupfhehung 
immer  zusammen  fallen,  insofern  wenigstens  nichts  entgegen,  als  auch 
die  beideyi  liedstäbe  immer  durch  eine  hebung  und  zwar  nur  durch  eine 
hebung  von  einander  getrennt  sind,  indem  auf  eine  aTlitterierende  hebung 
immer  eine  nicht  allitterierende  folgt.  Sind  auf  diese  weise  in  halb- 
versen  mit  zwei  liedstäben  die  stellen,  welche  beide  haupthebungen  einneh- 
men, durch  die  allitteration  deutlich  bezeichnet,  so  ist  auch  in  halbver- 
sen  mit  nur  einem  liedstäbe  durch  die  stelle  der  einen  haupfhehung  die 
der  anderen  zugleich  gegeben.  Hat  jene  die  erste  stelle,  so  diese  die 
dritte;  hat  jene  die  zweite,  so  diese  die  vierte;  jene  die  dritte,  diese  die 
erste ;  jene  die  vierte ,  diese  die  zweite.  Auch  hier  zeigt  sich  taider,  dass 
die  beiden  haupthebungen  fast  immer  die  erste  und  dritte  stelle  einneh- 
men; seltener  die  zweite  mid  vierte;  im  ersten  halbt^erse:  4.  13.  14.  59. 
Gl.  70.  84.  88.  159.  162.  195.  222.  243.  244,  250.  257.  372.  416  M5tr.; 
m  ziveiten:  12.  15.  16.  18.  22.  28.  33.  43.  47.  49.  52.  54.  59.  73.  78. 
128.  198.  202.  208.  210.  212.  225.  232.  248.  255.  257.  272.  279.  294. 
295.  322.  376.  390.  407.  428.  432.  435  usw. 

Wir  können  die  verse  danach  als  steigeyide  und  sinkende 
unterscheiden,  und  wie  mun  sieht  brauchen  die  beiden  zu  einer  langeeile 
verbundenen  halbverse  in  diesem  stucke  nicht  übereinzustimmen.  Ein 
steigender  halbims  kann  mit  einem  sinkenden  verbunden  sein,  wie  z,  6. 
vers  23  so  manag  uui'slfk  uuörd  |  6iidi  giuuit  mikil  u.  a.;  ein  sinkender 
mit  einem  steigenden,  wie  vers  12  cräft  fön  Crfst^^  |  sia  uürdun  gicöranä 
te  thfo  u,  a.  Der  acutus  bezeichnet  hier  und  im  folgenden  die  haupt- 
hebung,  der  gravis  die  nebenhebung. 

Wenn  tvir  die  tactart  des  altsächsischen  verses  als  eifie  vierteilige 
auffassen ,  so  darf  streng  genommen  die  haupthebung  nur  auf  die  erste 
und  dritte  versstelle  fallen.  Die  sinkenden  verse  bieten  daher  den  eigent- 
lich normalen  typus  dar,  während  die  steigenden  sich  jener  freiheit  ver- 
gleicheyi  lassen,  die  vmi  den  musiktheoretikern  als  accentverrückung 
bezeichnet  wird,  und  die  massig  angewant  zu  einem  kunstmittd  van 
überaus  rmmutiger  Wirkung  wird, 

III,  Doch  ich  komme  jetzt  zu  der  hauptsache,  die  »ich  ai4S  dem 
vorhergehenden  ergibt.  Wenn  wirklich  auf  die  deutliche  Unterscheidung 
der  haupt  -  und  nebenhebung  hier  in  der  altsäch^ischen  verskunst  ein  so 


BEITRÄGE  ZUR  DEUTSCHEN  METRIK  287 

grosses  gewicht  fallen  soll,  so  müste  wenigstens  als  regd  gelten,  dass 
die  nebenhebung  grammatisch  nicht  stärker  betont  sei, 
als  die  vorangegangene  haupthebung.  Die  vergleichung  des 
vorliegenden  taibestandes  mit  dieser  notwendigen  forderung  diene  denn 
auch  zur  prüfung  der  richtigkeit  meiner  annähme,  dass  die  haupthebung 
als  solche  immer  durch  die  allitteration  bezeichnet  sei.  Nun  lehrt  die 
beobachtung ,  dass  wirklich  weitaus  in  den  meisten  versen  nicht  nur 
die  vorangegangene,  sondern  auch  die  nachfolgende  haupt- 
hebung von  natur  stärker  betont  ist,  als  die  nebenhebung: 
mänegä  uaä'rün,  fästö  bifölhän.  uuid  d^rnko  duälm.  an  ländö  gihu^m ; 
allenfalls  auch  gleich  stark:  thät  sia  bigünnön.  Ifudo  bärno  löbön.  sia 
ne  müosta  h^litho  thän  mer.  öndi  gifrfmid  äfter  thfu.  Durchaus 
unstatthaft  wären  daher  folgende  im  althochdeutschen  meist  nicht  anstös- 
sige  betonungen:  I  4.  84.  244  ündar  mäncünneä.  13  that  sie  than  e  van- 
gMiiim.  14  an  büok  scn  bän.  36  uündärli'cas  filo.  48  sälfglfco  cüman. 
54  farliuuan  ri'keö  mestä.  71  fendi  ra  d  bürd^.  162  stf  älajüngän.  196 
be'd  äfter  thiu.  225  thie  tliär  Consta  f[lo  mähleän.  257  bi  nämen  selbö. 
296  is  müod  giuuörrid.  343  he'rasitt^ndiön.  428  thät  sea  tüo  im  shl- 
bön.  432  fendi  uui'do  cuthdün.  III  12  Johannas  düot.  17  sä'n  äft^r 
thiu.  VI  13  thän  teförit  erthä.  38  äldärlängan  trr.  VII  36  länduuisä 
gidrüog.  41  thiodcüningö.  73  iippö'däs  hem.  IX  4  endi  im  biföran 
stroidün.  27  örlägi^s  uuörd.  X  44  fendi  hrisid  erthä.  47  ^rthbu  ^ndeön. 
57  mänsterbö'no  mest.  62  mötigedo'no  me'st.  71  endi  blädu  to'giät. 
74  ^ndi  uuMer  sco'ni.  101  bötan  Lö'th  e  nö.  XI  5  grämhügdfg  mann. 
8  brinnändi  fän  bürg.  46  fölc  Jüdeonö.  77  blüod  äfter  sprang.  120 
thfodärabe'des.  XII  34  scre  d  förthuuärdfes.  36  gümcünni^s  uufb.  42 
thiu  uui'b  söragödun.  82  uulltiscö'ni  uufb.  Es  kann  nur  betont  wer- 
den: ündär  mäncünneä.  thät  sia  than  e  vangelium.  an  büök  scri'bän. 
uündarlfcas  filö.  sä'liglfco  cümän.  farliuuan  rfkeo  me  sta.  endi  rad 
bürde,  so  äläjüngän.  b'e  d  äfter  thiu.  thie  thär  cönsta  filo  mählean. 
bi  nämen  s^lbö.  is  müöd  giuuörrid.  h'e  msitt^ndion.  that  sea  tüo  im 
sölbön.  endi  uufdö  cü'thdün.  Johannes  düöt.  s'ä'n  äfter  thiu.  than 
teförit  örthä.  äldarlängan  tTr,  länduufsa  gidrüög.  thiödcüninge.  üp- 
po'dash'em.  öndi  im  biföran  strö'idun.  örlägies  uuo'rd.  endi  hrfsid 
^rthä.  'e'rthbü'fendion.  mänsterböno  m'est.  mutige  dono  m'e'st.  endi 
blädü  to'giät.  endi  uu^der  sco  ni.  bötän  Lö'th  §'no.  grämhügdig  m'a  nn. 
brinnändi  fan  b'u  rg  {mit  schwebender  betonung).  f'o'lc  Jüdeö'no.  blüöd 
äfter  sprang,  thiödärabedes.  scr'e d  förthuuärdes.  gümcünnies  uufb. 
thiu  uui'b  söragödun.  uulitisco'ni  uuTb.  Dennoch  führt  das  Verhältnis 
der  haupthebung  zur  nebenhebung,  wie  ja  nicht  anders  zu  erwarten, 
auch  einigen  tvider streit  zwischen  wort-  und  versaccent  mit  sich,  was, 

19* 


288  AMBLUNO 

durch  schtvehende  hetonung  ausgeglichen ,  den  vers  nodi  nicht  übel- 
klingend macht  I}ie  hauptregel  kunn  ja  durch  solche  ausnahmen, 
wenn  sie  sich  auf  gewisse  allgetYieinere  gesichtspunkte  redtwieren  lassen, 
nur  bestärkt  werden.  Die  falle,  in  denen  schwebende  betonung  eiivtreten 
muss,  sind  daher  näher  ins  äuge  zu  fassen,  und  die  grenze  zu  zieJhen, 
innerhalb  welcher  solche  freiJieit  zidässig  erscheint. 

Der  leichteste  fall  ist  der,  wenn  eine  nebenhebung  gram- 
matisch stärker  betont  ist,  als  die  folgende,  aber  doch  nicht 
stärker,  als  die  vora^igegangene  hauptheb ung;  dieser  fall  tritt  vor- 
iviegend  in  steigenden  versen  ein,  und  zwar  fast  immer  nur  am  schluss 
des  Verses,  wo  auf  die  hauptliebung  keitie  nebenhebung  mehr  folgt:  I  18  sö 
uuä'run  thia  man  hetäna.  94  the  thä'r  gitäld  häbdün.  248  äl  Ifud- 
stämnä.  232  endi  bäd  gernö.  295  thüo  uuarth  hügi  Jo'sepes.  412 
^ndi  filu  spra  Clin.  V  28  sia  giböd  le  stün.  IX  15  &ndi  bü'  Jüdeo  no.  X  59 
iro  däg  endiöt.  87  an  suefrästü.  XI  32  ünder  thit  cünni  Jüdeö'no.  In 
sinkenden  versen,  wo  die  angegebene  bedingung  nicht  stattfinden  kann, 
ist  dieser  fall  daher  äusserst  selten;  nur  zweimal:  I  245  göd  älmähti. 
IX  3  uu^l  hüggiändes.  Wie  man  sieht,  tvird  in  allen  diesen  fällen  die 
helcantc  regel  streng  eingehalten,  dass  der  hochton  eines  Wortes  nur  dann 
auf  die  zweite  silbe  verschoben  werden  darf^  ivenn  die  erste  lang  ist; 
oder  anders  ausgedrückt,  wobei  der  tiefer  liegende  grund  deutli<iher  her- 
vorgehoben  wird,  dass  der  hochton  eines  Wortes  wol  auf  eine  eigentlich 
tieftonige,  al)er  nicht  auf  eine  eigentlich  unbetonte  silbe  verschoben  wer- 
den darf  Unstatthaft  wäre  daher  die  betonung:  I  17  thüru  cräftgödäs. 
128.  368  endi  mäht  gödäs.  172  uuärd  äld  gümö.  352  an  brfef  scri- 
bün.  362  an  erdägön.  373  fendi  bocno  filö.  III 18  güod  uuörd  angfe- 
gin.  VII  4  an  lioht  cümdn.  58  thes  thiödgumön.  IX  22  thia  uürdgi- 
scäpii.  X  79  nöh  giuuänd  cümid.  93  ü,n  fürndägön.  Es  muss  heissen: 
thürü  cräfb  gödas.  <5ndi  mäht  gödas.  uuard  'a'ld  gümö.  an  brlef  scri- 
bün.  an  'erdägön.  öndi  bo'cno  filo.  güöd  uuörd  angegin..  an  Höht 
cümän.  thes  thiödgümen,  thia  uuurdgiscäpü.  noh  giuuand  cümid. 
an  f'u  rndägön.  Es  kmnt  also  zu  dem  iyi  rede  stehenden  fall  nodi  die 
?veitere  beschränkung  hinzu,  dass  die  nebenhebung,  welche  von  fmtur 
stärker  betont  ist  als  die  folgende  haupthebung,  notwendig  lang  sein 
muss.  Jetzt  fitidet  auch  die  friüicr  erwähnte  anonudie  in  der  betonung 
gödäs  löbön  usw.  erst  ihre  bcgründwng  und  rechtfertigung  zugleich  mit 
einer  notwendigen  einschränlctmg.  Wo  diese  betonung  stattfindet  j  ufid 
sie  ist  sehr  häufig,  da  trägt  doch  immer  die  erste  silbe  eine  haupthebung, 
die  zweite  eine  blosse  nebenhebung.  Es  bleibt  also  das  Verhältnis  der 
accentuation  beider  silben  relativ  ganz  dasselbe,   wie  es  das   detUsche 


BEITBÄGE  ZUR  DBÜT8CHBN  METRIK  .289 

Wortbetonungsgesetz  erfordert.  Im  hochdeutschen  vershau ,  wo  die  accente 
aller  vier  hebungen  für  vollkommen  gleichwertig  gelten,  toürde  dagegen 
die  betonung  götfes ,  loben  auf  das  härteste  gegen  das  grundgesetjs,  Ver- 
stössen; bei  Otfrit  wird  diese  betonung  auch  nur  durch  reimnot  veran- 
lasst im  versschluss  zugelassen.  Dass  aber  solclie  worte  hier  bald  als 
haupt-  und  nebenhebung,  bald  bloss  als  hebung  und  Senkung  gebraucht 
werden ,  ist  keine  grössere  inconsequenz ,  als  wenn  in  Iwchdeutscher  vers- 
kunst  solche  worte  nach  belieben  für  hebung  und  Senkung,  oder  auch 
für  eine  blosse  liebung  gelten  können:  der  kü'nec  stüont  oder  der  kü'nec 
verstüont 

Der  zweite  härtere  fall  findet  da  statt,  wo  eine  nebenhebung 
von  natur  stärker  betont  ist  als  die  vorangegangene  haupt- 
heb ung.  Dieser  fall  tritt  vorhersehend  bei  fremdländisclien  eigennamen 
ein:  I  60  '^^rö'des  uuäs.  198  J'ohännes  quam.  444  Gäbrfel  gispräk; 
doch  auch  in  melirsilbigen  deutschen  werten:  I  39  uualdänd  gispräk. 
V  36  h'o humid  skip.    IX  35  uu aldändes  craft. 

Der  dritte  härteste  fall  ist  der,  wenn  eine  haupthebung 
von  natur  schwächer  nicht  nur  als  die  vorangegan- 
gene sondern  auch  als  die  folgende  nebenhebung  betont  ist: 
I  188  gödcündeäs  hvät.  332  uuäldändös  giböd.  416  älmähtigna  göd 
X  26  güodli  cö  fargäf.  XI  85  mähti'gnä  göd.  Wie  fnan  sieht  kmnmt 
das  nur  in  drei-  und  mehrsilbigen  werten  vor,  wo  denn  der  solchen 
werten  von  nalur  zukommende  absteigende  tonfall  sich  dem  in  gleichen 
abständen  steigenden  und  sinkenden  rhythmus,  den  der  vers  erfordert, 
schwer  fügen  kann.  Doch  ist  diese  Verwendung  mehrsilbiger  worte,  die  bei 
Otfrit  ganz  gewönlich  ist,  hier  nur  eine  ausnähme,  zum  deutlichen  beweise, 
dass  es  hier  in  der  regel  auf  eine  strenge  markierung  der  haupt - 
und  nebenhebung  abgesehen  ist,  wie  sie  die  hochdeutsche  metrik  nicht 
kennt. 

Mehrere  andere  fälle,  in  denen  sonst  auch  widerstreit  zwischen  wort- 
und  versaccent  staM  finden  würde,  fallen  weg,  da  ihnen  allen  auf  einmal 
geholfen  ist,  wenn  wir  annehmen,  dass  vor  st  zerdehnung  eintreten  könne; 
und  physiologisch  steht  dem  nichts  entgegen.  Es  sind  folgende  stellen: 
heländero  b'e st  I  50.  nörifendi  Cr i st  V  7.  IX  1.  äJouuäldo  Cr fst  X  25. 
nöriendon  Cr'ist  XII  72.  f  a'st  förthuuärdes  X  81.  bönuündun  br  a  st  XI  77, 
Damit  fallen  auch  alle  beispide  von  zerdehnung  vor  rj ,  die  ohnehin  etwas 
hart  klingen,  ganz  hinweg.  In  den  beiden  letzten  beispielen  kommt 
damit  auch  die  aUitteralion  tvider  zwr  geltung,  wärend  wir  sie  vorhin 
unter  den  allitterierenden  werten  aufzälen  musten,  die  nicht  für  einen 
liedstab  gelten  können,  weil  sie  nicht  in  der  haupthebung  stehen.      In 


290  AJfELUNG 

jswei  mideren  fällen  ist  die  ungrammatische  hetonung  zu  vermeiden, 
wenn  m>an  I  176  löfsä'lig  m'an.  IX  24  sli'dmüoddia  m'a'n  sserdehnung  vor 
einfachem  n  eintreten  lässt  Da  wir  bereits  zweimal  I  381  und  XI  5 
zerdehnung  in  m'a'nn  angetroffen  haben,  da  die  orthographische  ver- 
schiedenheit  in  mann  und  man  ganz  zufällig  und  willkürlich  ist,  da  ferner 
die  einzige  physiologische  begründung ,  die  wir  dieser  tatsache  geben  kann- 
ten,  bei  einfachem  n  gerade  ebenso  stichhaltig  ist,  wie  bei  n  +  conso- 
nant,  so  ist  dagegen  nichts  einzuwenden.  Dann  wird  man  aber  auch 
XI  89  nicht  man  ä'dögiän  zu  betonen  brauchen,  sondern  m'a'n  ädögiän. 
Einem  anderen  vorschlage  zur  beseitigung  noch  zweier  der  oben  ange- 
fürten  anomalien  will  ich  aber  sogleich  vorbeugen,  da  dies  zu  einigen 
nicht  unwichtigen  bemerkungen  anlass  gibt.  Man  könnte  nänüich  darauf 
verfallen,  in  godcundeas  huat  und  in  mahtigna  god  auf  der  zweiten 
silbe  zerdehnung  anzunehmen.  Das  ist  aber  durcJiaus  untunlich.  Denn 
tvollte  man  godcundeas  huät  mäht' i'gna  göd  betonen,  so  wäre  nicht  die 
^lebenhebung  hinter  der  la'ngvocalischen ,  sondern  hinter  der  kurzvoca- 
lischen  haupthebung  ausgefallen;  es  kann  daher  eine  zerdehnte  silbe  immer 
nur  für  haupthebung  U7id  folgende  nebenhebung,  niemals  für  nebenhebung 
und  folgemle  haupthebung  stehen.  Die  betonuyig  gödc  u  ndeas  huät.  mäh- 
t'fgna  göd  ist  aber  schon  darum  unmöglicJi ,  weil  dann  die  aUitteration 
in  die  'nebenhebung  fallen  tvürde.  In  beiden  fällen  aber  wäre  bloss  eine 
anomalic  der  betonung  an  die  stelle  der  anderen  gesetzt.  Aus  diesem 
gründe  begreift  man  denn  die  gleich  zu  anfang  aufgestellte  reget,  dass 
zerdehnung  nur  in  hochtonigen,  nicM  auch  in  tieftmiigen  silben 
stattfinden  dürfe.  Eine  ausnähme  erleidet  diese  reget  dennoch:  zerdeh^ 
nung  kann  nämlich  auch  in  einer  tteftonigen  silbe  statt  finden^ 
wenn  diese  das  zweite  glied  eines  nominalcompositums  hil- 
det,  dessen  erstes  glicd  mehrsilbig  ist:  üppoMash'em  VII  73. 
Der  tiefere  grund  ivird  weiter  unten  ersichtlich  werden. 

IV.  Bringen  wir  alle  einzelnen  bisher  entwickelte  regeln  beim 
lesen  der  verse  in  amvendung,  so  wird  bei  erneuerter  betradUung  sich 
das  ganze  in  ausserordentlich  einfache  uyid  strefig  waltende  regeln  zusam- 
men  fassen  lassen.  Die  haupthebung  kunn,  abgesehen  von  den  oben 
angeführten  fällen,  in  doien  schwebende  betonu7ig  eintreten  muss,  nur 
dann  auf  eine  tief  tonige  silbv  fallen,  wenn  diese  das  zweite  glied 
e i n e s  n o m i nal c o mp osit u m s  bildet,  dessen  erstes  gl ied  von  natur 
oder  durch  zerdehnung  mehrsilbig  ist:  I  31  ädalördfrumo.  älomähtig 
54  Ko  mäuolfudiou.  58  h'e  Imgitro  steon.  03.  67  fön  RiVmubürg.  65  ^dili- 
gibürdi.  68  hfldiscälcos.  69  ölleanrüova,  82.  91.  130.  278  h^bancüninge. 
97.  IX  32.   XI  40  XII  33.   74  Jüdeoliudiö.    104  ifibreolfudi.    151  fllean- 


BBITRIGB  zur  DBÜT8CHBN  MBTBIK  291 

dä'di.  155  ö'darlfcron.  162  sö  älajüngan.  233  uu  o'rdgimörkioii.  250.  V  4. 
IX  46.  XI  42.  XII  91.  an  GälU§aländ.  257.  IX  47.  XI  43.  XII  72  an 
Näzarethbürg.  275.  325.  411.  434.  VII  66  fan  Wbanuuänge.  343  h'ö'n)- 
sittendion.  362  an  'e  rdägon.  ädalcüninges.  404  an  B^thleembürg.  HI  36 
an  liudecünne.  VI  24  an  höbenri'kie.  VII  41  thiödcüninge.  45  firiuuit- 
lico.  58  thes  thiödgümen.  73  üppödashem.  IX  20  hriuuiglfco.  22  u'urd- 
giscäpu.  X  20  thüru  uuölcanscöon.  47  'e  rthbü'endeon.  88  an  firinuu^rcon. 
93  an  f'urndägon.  99  ümbi  Södomaländ.  XI  22  be  d  m^tudgiscäpu. 
86.  123  an  hfmilnkie.  102  hobiduündun.  120  thiödärabedes.  128  an 
lithoböndion.  XII  75  sündilö'aan.  Niemals  aber  kann  die  hauptl^bung 
auf  eine  blosse  ableitunyssilbe  fallen:  IX  1  nicht  thüo  n  a  hida  sondern 
thüö  nä'hida;  X  22  nicht  te  äd'eliänne  sondern  U  adeliänne;  XI  99 
nicht  uuiht  äuu  e  rdiän  sondern  uuiht  ä'uu6rdiän,  daher  kann  auch  XII  83 
te  gih'oriänne  nicht  richtig  sein;  that  im  muss  zum  ersten  halbverse 
gezogen  werden:  te  gihö'riänne  thät  im  fän  iro  harren  sägda.  Die  nid- 
silbigen  fremdländischen  eigennamen  werden  wie  cmnposita  behandelt, 
daher  I  61.  IX  32  an  Jerusalem.  I  340  O'ctäviä'nes.  I  88  thä>  an  Jöru- 
sale  m.  I  97  thä'r  ti  Jörusale  m. 

Beachten  wir  nun  aber,  auf  diese  Wahrnehmungen  gestiäzt ,  die  be- 
handlung  und  metrische  Verwendung  der  mehrsilbigen  Wörter  überhaupt, 
so  tvird  sich  uns  darin  eine  bedeutende  principielle  Verschiedenheit  des  alt- 
sächsichen  und  althochdeutschen  offenbahren.  Im  althochdeutschen  kann 
bekanntlich  in  m^rsilbigen  Wörtern,  wenn  die  sübe,  welche  den  tieftmi  hat, 
lang  ist,  die  nächste  sübe  auch  noch  einen  accent  erhalten,  und  ist  im 
zusammenhange  des  verses  für  eine  hebung,  jedoch,  ausser  im  versschlusse, 
nicht  ohne  folgende  Senkung ,  ausreichend.  Das  gilt  nicht  nur  für  com- 
posita  wie  mänagfältü  u.  a.  sondern  auch  für  nicht  componierte  Wörter 
wie  swi'genti.  mämmünti.  däwalö'nti  etc.  Nicht  so  im  altsächsischen. 
Hier  bleibt  in  nicht  componierten  Wörtern  die  silbe,  welche 
hinter  der  tieftonigen  steht,  immer  unbetont  und  ist  zur 
hebung  völlig  untauglich.  Also  niemals  uuäldändJis.  he'lägnä.  brfnnändi. 
Der  grund  dieser  ausscMiessung  ist  aus  dem  vorangegangenen  deutlich. 
Der  altsächsiche  vers  verlangt  den  Wechsel  von  haupt  -  und  nebenhebung : 
dann  sind  aber  solche  worte  mit  dreifachem  accent  unmöglich  zu  ver- 
wenden. Denn  man  mag  helägnä  oder  helägnä  betonen,  so  ist  immer 
das  natürliche  Verhältnis  der  accentuation  gestört.  Nur  wo  wie  im 
hochdeutschen  alle  vier  hebungen  des  verses  für  gleichwertig  gelten,  sind 
solche  Worte  für  drei  hebungen  verwendbar.  Etwas  anderes  ist  es  mit 
den  zusammengesetzten  Wörtern;  diese  können  auch  hier  mehr  als 
zwei  betonte  silben  haben:  ^Ueänruovä.  Ifudstämnä.      Doch  fügen  atich 


292  AMELimo 

diese  sich  nur  dann  dem  wechsd  von  haupt-  und  nebenhebung,  wenn 
tvie  hier  die  erste  mehrsilbig  oder  dehnbar  ist;  nicht  so  in  g6d- 
cündeäs.  gümscipife.  In  jenen  aber  gilt  für  die  erste  silbe  des  zweiten 
bestandteils  ganz  dasselbe,  was  für  hochtonige  silben  gilt:  es  darf  ein 
tiefton  folgeil,  aber  auch  nur  einer,  nicht  zwei;  also  nicht  thiod-ära- 
bedes,  6rth  -  bu  endiön ,  he  m  -  sittendiön ,  firi-uultircö,  was  im  ahd.  wöl 
zulässig  wäre,  sondern  nur  thföd-ärabedes,  'e'rth-bü'öndion,  h'S^m- 
sittfendion,  firi-uuftlfco.  Wenn  aber  auch  in  dieser  hinsieht  der  zuleite 
teil  eines  compositums  von  anderen  tieftonigen  silben  unterschieden  und 
den  hochtonigen  gleich  geschätzt  wird,  so  zeigt  sich  doch  in  aUem  Hbri- 
gen,  dass  er  nichtsdestoweniger  dem  hochton  immer  noch  untergeordnet 
bleibt,  da  doch  betonungen  wie  uiindärli'cas  lilo  nicht  zugelassen  werden. 
Nennen  wir  diese  silben  also  mitteltonige,  so  lässt  sich  das  ganze 
resultat  dieser  beöbachtungen  in  eine  einfache  reget  zusammen  fassen,  ohne 
dass  man  nötig  hätte  ausnahmen  hin  zu  stellen:  auf  eine  hoch^ 
tonige  oder  mitteltonige  silbe,  kann  nur  eine  einzige  tief- 
tonige  folgen,  alle  weiteren  sind  unbetont. 

lieber  die  verbalcompositionen  ist  im  allgemeinen  nur  zu 
sagen,  dass  die  praefixe  eine  nebenhebung  tragen  können,  wenn 
sie  mehrsilbig  sind:  I  29  strfd  uuiderstände.  XI  47  uürthun  ündarbä- 
dodä  etc.  Von  den  einsilbigen  sind  die  kurzen  gi-  bi-  te-  af-  far- 
immer  unbetont,  also  nur  in  der  Senkung  zu  verwenden;  die  langen  ä- 
und  ant-  werden  auch  als  nebenJiebung  gebraucht:  erster  es  nur  zweimal 
(XI  99  uuiht  ä'uuördiän.  X  22  t6  ä'de'liänne),  letzteres  nur  einmal  (X  72 
16'b  äntlu  kit.).  Ob  sich  melleicht  in  den  übrigen  teilen  des  Heland  auch 
far-  und  af-,  wenn  sie positionslänge  haben,  als  iiebenlieb^'ng  nachweisen 
lassen,  entscheide  ich  nicht. 

Die  oben  entwickelten  regeln  über  die  Unterscheidung  tw*  haupt- 
und  nebenhebung  haben  gezeigt,  wie  zerdehnung  nicht  nur  in  den  gleich 
anfangs  aufgefürten  stellen,  die  anders  gar  nicht  lesbar  wären,  statt 
findet.  Jetzt  erst  können  wir  alle  fälle,  in  denen  zerdehnung  eintritt, 
übersichtlich  zusammenfassen,  und  der  regel  einen  praeeiseren  ausdruck 
geben.  Zerdehnung  kann  also  nur  auf  einer  hochtonigen  oder 
mitteltonigen,  nie  auf  einer  tieftonigen  silbe  eintreten;  und  zwar 
muss  die  silbe  dehnbar  sein.  Für  dehnbar  aber  müssen  auf  die  bislier 
gewonnenen  beispile  gestützt  gelten:  Erstens,  silben  die  einen  langen 
vocal  oder  einen  diphthongen  enthalten;  von  solchen  finden  sich 
folgende:  ft:  I  71.  HI  17.  XH  56.  63;  1:  I  154.  196.  297.  III  24.  VI  38. 
IX  24.  X  44.  XI  101.  XII  36.  42.  55.  83.  ü:  V  12;  d:  I  11.  21.  60. 
196.   237.  335.   343.  362.  VII  73.   X  10.  57.  62.   XII  13.  34;  d:  I  198. 


BRITRAOE  ZUB  DEUTSCHEN  HETbIK  ^ä 

VI  20.  39.  VII  33.  72.  XI  116.  uo:  I  296.  313.  III  12.  18.  Vü  36.  IX  1. 
XI 77;  io:  V  4.  41.  58.  :^  120;  le:  I  230.  352.  Zweitens,  silben  mit 
nasaliertem  vocal;  vor  n:  1176.  1X24.  XI  89;  nii:  1381.  XI  5; 
nd:  VII  62.  X  79.  Drittens,  süben  die  auf  l  oder  r  +  consonant 
auslatäen;  II:  1282.  427.  XI  64.  XII  5.  65.  69;  Ic:  XI  46;  Id:  139. 
90.  172.  179.  191.  277.  IX  35.  X  24;  If:  V  24;  Im:  I  58;  rd:  I  233. 
240.  V  29.  V  54.  1X^2.  27.  X  79;  rth:  X  47;  rg:  XI  8;  m:  X  3.  93; 
rl:  I  196.  Viertens,  silben  die  auf  st  auslauten:  I  50.  V  7.  IX  1. 
X  25.  81.  XI  77.  XII  72.  Uebersehauen  wir  aber  die  gesanimtJieit  aller 
fäUe,  so  lässt  sich  darin  noch  eine  besondere  einschränkung  wahrnehmen: 
zerdehnung  tritt  nämlich  immer  nur  in  sinkenden  verscn  ein,  niemals 
in  steigenden.  Das  ist  ganz  erMärlich,  wenn  ivir  uns  des  oben  gesagten 
erinnern,  dass  nämlich  die  steigenden  verse  eigentlich  eine  Verschiebung 
des  natürlichen  versaccentes  entlialten. 

Jetzt  lassest  sich  auch  die  regdn  über  das  Verhältnis  der  haupt- 
hebung  zur  folgenden  nebenhebung  in  eine  allgemeine  Übersicht 
bringen. 

Die  haupthebung  muss  immer  eine  von  natur  hochtonige  oder  mit- 
tdtonige  silbe  sein;  sie  kann  übrigens  aus  einer  langen,  aus  zwei  ver- 
schleif  baren ,  oder  aus  einer  kurzen  silbe  bestehen. 

1)  Auf  eine  hochtonige  langsilbige  haupthebung  kann  folgen: 

a,  gar  Jceine  fiebenhebung ;  dann  muss  die  haupthebung  dehnbar  sein: 
be'd  äfter  thiu.  s^lf  üpp  äraes.  härd  häramscära.  fast  förthuuär- 
des.   noh  giuuänd  cümid. 

b,  eine  von  natur  gleichfalls  hochbetonte  nebenhebung:  Ifudo  bärno 
löbon.  uui'sa  man  mid  uuördun.  e  nig  männes  simo.  hlü'd  stemna 
ähäban. 

c.  eine  mitteltonige  nebenhebung:  gödsp^U  that  güoda.  uündarlfcas 
filo.  ündar  mdiicünnoa.  ni  müosta  im  ^rbiuuärd.  nfudsämana 
nämoü.   te  sülicon  ämbahtscipie. 

d.  eine  tief  tonige  nebenhebung:  fästd  bifölhan.  uui'döst  giuuäldan. 
früramiäii  firiho  barn.  le'rä  Crfstes.  sui'thö  thiulico.  mid  enü 
uuördo.   g^rnö  suftho.   sufthö  uuörthlico. 

2)  Auf  eine   hochtonige   aus   zwei  silben  verschUffene  haupthe- 
bung kami  folgen: 

a.  eine  von  natur  gleichfalls  hochbetonte  nebenhebung:  firiho  bärno 
frümmian.  ägison  an  them  älahe.  uu^rodes  ät  them  umhe. 
uuäralita  äfter  is  uuüleon.  h^rod  an  is  gibödscepe.  cüman  fan 
iro  cnüosle.    thuo  hie  e  rist  thesa  uu^rold  giscüop.    thär  gifrä'n 


294  AMELUNQ 

ik  that  sia  thiu  b^rehtun  giscäpu.  than  uuäs  thär  en  gigämalod 
mann,  thfe  iro  gäduling  uuäs.   gümOno  sülica  gämbra. 
h,  eine  mitteltonige  nehenhebung:  scülun  iro  röginogiscäpu. 

3)  Auf  eine  hochtonige  hurzsilhige  haupthebung  kann  fdgen: 

a.  eine  von  natur  gleichfalls  hochhetonte  nehenhebung:  thät  io  uuäl- 
dand  mer.  an  iro  jüguthedi.  thät  ina  törohtlico.  mld  is  rö'kfaton. 
dn  is  e'nes  craft.  fk  is  6ngil  biura.  fs  ünca  lud  gilithan.  it  fs 
ünc  äl  ti  lat.  uuäs  im  nfud  mikil;  bfmil  endi  ^rtha.  huflic  thän 
liudscepi.  tügin  tbüru  tröuua. 

b.  eine  mitteltonige  nebenhebung:  ffrinuuerk  föUie.  uußderuufsa  uu^ 
ros.  thät  ina  törohtlfco.  frümida  förehtlfco.  änduuard  for  tliem 
älouuälden.  müod  endi  m^gincräft.  ni  drägu  ik  eni  drügithlng. 
grüotta  g^ginuuärdi. 

c.  eine  tieftonige  nebenhebung:  Miligibürdi.  that  thü  sülicä  githä'ht 
habes.  cüningö  gihuilicon.  gibithf  g  uuörthan.  mänagön  ti  h61- 
pun.  uuäruhtän  löf  goda.  mänegä  uuä'ron.  früroidä  f^rehtlico. 
ävarön  fsraheles.  gfbidi  uu^rthan. 

d.  eine  von  mUur  unbetonte  ^nebenhebung :  sülfc  16'n  nimat.  an 
theser 0  uuf  dun  uuöröld.  allaro  männo  gibuilfc.  thürü  cräft  godas. 
gicörän  to  küninge.  h^bäncüninge.  gödes  jüngerscepi.  m^töd 
gimärcod.  gödes  selbes,    ne  säcä  ne  sdndea.    bidün  ällan  dag. 

4)  Auf  eine  mitteltonige  haupthebung  kann  folgen: 

a.  gar  keine  nebenhebung;  dann  muss  die  haupthebung  dehnbar  sein: 
üppodashem. 

b.  eine  tieftonige  nebenhebung:  ädalördfriimo.  firiuuftlfco.  thiodära- 
bedes.  hemsitt^ndion.  ärthbuendion.   ^Ueanrüoyä.   liudecünii^. 

e.  eine  von  natur  unbetonte  neb'enh^bung :  uürdgiscäpü.  §rdägöiL 
fürndägön.  thfodgümen. 

Damit  ist  die  der  altsächsischen  verskunst  eigene  regd  über  dos 
verhültnis  der  haupt-  und  nebenhehmig  erschöjyft.  Ueber  das  Verhältnis 
der  hd)img  zur  Senkung  ist  nur  weniges  zu  sagen.  Es  ist  im  wesent- 
lichen dasselbe  wie  in  der  hochdeutschen  metrik,  nur  da^s  hier  die  sen- 
kung  sotvol  hinter  der  hauptlicbung  als  hinter  der  nebenhebutig  immer 
fehlen  darf,  mag  jene  lang  oder  kurz  sein:  also  aucJi  bidim.  fäd^r.  dägö; 
ui^äs  imo.  mid  is.  thät  ina;  lerä  lestin.  gdodö  gödes  suno;  mänegä 
uuä'ron.  gfbidi  uu^rthan;  gödc^s  arunti.  fäder  älomahtig.  Das  gut  nicht 
nur  für  sinkende  sondern  auch  für  steigende  verse:  fön  Rü'mübürg 
1  63.  67.  allere  bärnö  b^tst  I  338.  III  11.  ön  männö  Iloht  I  372.  ümbi 
Södomäländ  X  99. 


BEITRÄGE  ZUR   DEUTSCHEN  METRIK  295 

V.  Wenden  toir  uns  nach  erörterung  der  obigen  regeln  jetzt  zur 
betrachtung  der  doppelten  Senkungen,  so  werden  wir  solclie  häufig 
auch  da  finden,  wo  wir  ohne  kenntnis  jener  gesetze  anders  betonen  wür- 
den; so  umrde  nhan  z.  b.  I  47  firio  bärnün  biföran  lesen;  aber  dem  gesetz 
der  haupthebungen  können  wir  nur  genügen,  wenn  ivir  firio  bdrnun  bifö- 
ran mit  doppelter  Senkung  hinter  der  zweiten  h^bung  lesen.  So  erhalten 
wir  erst  durch  beobachtung  jener  regeln  das  vollständige  material  zur 
beurieilmig  der  vorliegenden  frage.  Eine  geordnete  Vorführung  desselben 
zeigt,  dass  die  doppelte  Senkung  hier  durchaus  nach  demselben 
prineip  gehandhaht  wird,  wie  in  den  mitteldeutschen  ge- 
dieh ten  des  zwölf ten  Jahrhunderts.  Im  einzelnen  gelten  hier  noch  stren- 
gere regeln  als  dort. 

Zu  einer  hebung,  auf  tvelche  zwei  Senkungen  folgen  sollen ,  reicht 
in  der  regd  nur  eine  von  natur  hochtonige  silbe  aus,  selten 
eine  mitteltonige:  I  133  Jd'hännes  te  nämän.  X  57  mänsterbono 
me'st  X  62  mutige  dono  mest.  XI  49  uufderuuärdes  that  uu^röd;  nie 
eine  tieftonige  silbe.  Ein  unterschied  zwischen  haupfhebung  und 
fiebenhebung  bestellt  in  hinsieht  auf  die  doppelte  Senkung  nicht;  was 
hinter  jener,  ist  auch  hinter  dieser  zulässig. 

In  doppelter  Senkung  werden  hier  wie  in  den  mitteldeutschen 
gedieh  ten  des  zwölften  Jahrhunderts  zunächst  praefixe  und  ablei- 
tungssilben  verwant;  die  ztveiten  glieder  der  composita,  die 
dort  zulässig  sind,  erscheinen  hier  jedoch  ausgeschlossen,  und  von 
den  praefixen  werden  nur  die  einsilbigen  gi  bi  te  ä  an  far  zu- 
gelassen; an  diese  schliesst  sich  die  negation  ni,  obgleich  ihr  encliti- 
scjies  oder  proditisches  Verhältnis  nicht  graphisch  ausgedrückt  wird. 

a.  I  12  sia  uürdun  gicörana.  47'  bärnun  biföran.  47^  uuä'run  ägän- 
gan.  64  sibbeon  bildng.  135  Cristes  gesi'th.  140  dadiö  bigän.  143.  158. 
uuördon  gisprfkis.  147  te  brü'di  gicö's.  178  thögno  ni  d^da.  198  ja  res 
gitäl.  268  ri'kies  giuuänd.  272  männes  ni  uuärth.  292  breoston  farstiiod. 
367  b^rehtun  giscdpu.  383  müodor  biföran.  III  7  tuelifio  angegin.  37  uuü- 
liat  äla  tan.  V  15  männo  nige'n.  VII  58  thfornun  fargäb.  64  th^gnes  ni 
uuarth.  X  12  afständan  ni  scäl.  15  uuöroldes  giscäpu.  31  te  uuaren  ni 
cünnun.  39  te  can  biföran.  43  uuörthend  bifängan.  65  te  uuä'ren  forstän- 
dan.  78  uuirdit  gefüllid.  82  liudion  gispricu.  92  Ifudi  ni  uuitun.  XI  27 
mid  uuördon  gebiet.  98  da  dion  ni  scülun.  XII  59  dä'dion  gelfc.  65  6gison 
tegegnes.   71  im  ne  andre'din. 

b.  I  18  Mätheus  ^ndi  Marcus.  20  uufrdiga  ti  them.  107  ältari 
gieng.  203  uündrodun  thes.  300  uuäldandes  thüo  (noch  ist  zum  folgenden 


296  AMELUNO 

vers  ßu  ziehen),  401  Dä'vides  bürg.  432  uuäldande  infd  iro.  III  10  te 
giuuirkeanne  thi  naii.  VII  2  Jüdeono  cüiiiuges.  X  57  mänstörbono  mS'st. 
62  mötigedöno  niest.  88  fä'rungo  nö  bifä'hfe.  XI  44  nßriendo  Crist- 
50  stri'diga  man.  53  nöriendon  Crfst.  121  te  uufnnianne  süUc.  XII  2 
Jüdeono  uudrth. 

Von  seihständigen  Worten  werden  folgende  ohne  einschrän" 
kung  in  doppelter  Senkung  zugelassen: 

a,  der  bestimmte  artikel:  1  18  uuä'run  thia  man.  20  ti  ihem 
giuuirkie.  103  an  thena  umh.  104  ümbi  thana  älah.  107  äfter  them 
dlabe.  145  qaämi  that  uuib.  192  san  äfter  thiu  mäht.  312  ünder  tiiem 
uuörode.  330  äfter  them  uuördon.  350  füorun  thia  bödon.  437  gihö'rda 
thia  man.  III  2  ümbi  thena  gddes  suno.  38  6ndi  thero  sündiöno.  V  33 
6ndi  thie  uuag.  VI  20.  23  ^ndi  thia  6'dra.  VII  38  äfter  them'  hü'se. 
52  gihö'rdun  thia  mägat.  IX  18  möhta  that  h§'laga.  X  6  ümbi  that  gödes 
hüs.  11  uuirdit  thiu  ti'd.  XI  2  äfter  them  uuördon.  16  üppan  them  borge. 
17  ünder  thia  liudi.  49  uufderuuärdes  that  uu^röd.  XU  86  söggian  th6m 
fs  gisithon. 

h,  das  pronomen  personale:  178  äfter  is  uuflleön.  90  scülda 
hie  ät.  121  thät  hie  mi  an  is.  122  biet  hie  mi  an  thesan.  123  thät  ik 
thi  tböh.  146  uuarun  uuit  niY.  190  häbda  hie  uses.  201  uuä'run  im 
uuli'tiga.  205  thät  it  giböd.  263  ni  förohti  thü  thi'nou.  286  uu6rthe 
mi  äfter.  301  uuölda  sia  im.  303  huo'  hie  sia  thüo.  318  minneon  sia  an 
is.  323*  la't  thü  sea  thf.  323**  ünder  iru  Ifthion.  367  thät  sia  thiu  böreh- 
tun.  437  s6  huat  s6'  siu  giho'rda.  III  20  s6'  ik  iu  le  riu.  V  22  thät  sia 
im  uu^dares.  41  le  rda  sia  fro.  VI  8  äfter  is  uufUeon.  VII  21  grüotta 
sia  för  them.  25  6f  thü  mi  thöro.  47  uui'sda  siu  äfter  iro  uuflleön.  X  4 
mfd  is  gisi'thon.  77  s6ggio  ik  iu.  XI  14  cüssiu  ina  6ndi.  85  mänode  ik 
thöna.  110  lediat  mi  fuuuera.  XII  11  thät  hie  äständen.  20  ündar  iro 
bördon. 

c.  die  praepositionen;  belege  finden  sich  für  mid.  ti.  an. 
uuid.  after.  undar.  uppan:  15  öndi  mid  uußreuD.  7  6udi  mid  fro. 
52  bärnun  ti  frümon.  133  Jö'hännes  te  näman.  150  fiiodan  an  üncon. 
157  uuä'run  an  th^saro.  277  uuörthan  an  thösaro.  298  bäm  under  fru. 
374  giuuörthan  an  thösaro.  V  17  uu^kidun  mid  fro.  VI  12  geripod  an 
th^son.  VII  10  Jüdeon  an  thöna.  34  hügi  after  fro.  52  mannen  an  fro. 
IX  5  öndi  mid  uuürtion.  X  31  giuufrthid  an  th^saro.  34  te  uuä'ren  mid 
fro.  40  thän  hie  an  th^sa.  41  err  an  themo  mä'nen.  60  füllead  mid  fro. 
65  giuu^rthan  an  th^saro.  82  gile  stid  an  thöson  XI  8  thft'r  sia  an  th^na. 
30  fölku  te  mi'.  32  farcO'pos  mid  thi'nu.  51  üpp  an  them  hölme. 
95  uurethian  uuid  fro.  110  Ic'thes  an  thöson.  XII  15  giuuftun  im  mid  fro. 


BEITRAOB  ZUK  DEUTSCHEN  METRIK  297 

26  bärnon  te  frumu.    47  befülhun  an  thömo.    57  ste'n  fan  them  grabe. 
65  thiu  vmh  uppan  th^m. 

d.  die  conjunction  that:  I  213  so  ik  uuä'niu  that  fna.  248  te 
thfu  that  hie  hier.  298  hie  afsüof  that  siu  häbda.  345  biet  man  that 
äU.  V  18  badun  that  fm.  XI  12  te  thiu  that  sia  n6  farfengin.  XII  69 
qudt  that  hie  fro.  71  ik  uuet  that  gi  fuuuan.  78  ik  uuet  that  is  lu. 

e.  die  adverbien  thär,  thuo,  than,  hier;  eft,  6c,  gio: 
I  184  hie  ne  möhta  thuo  enig  uuord  gisprecan.  203  bihfu  it  io  mähti 
giuuerthan  s6.  302  ac  bigän  im  thuo  an  is  hugie  thenkean.  356  thuo 
giuue  t  im  6c  mid  is  hiuuiskie.  VII  43  siu  uuölde  thuo  ira  geba  egan. 
44  ge'ng  thuo  uuid  iro  muoder  sprecan.  X  4  sät  im  thär  mid  is  gisithon. 
41  that  uulrthit  hier  err  an  themo  mänen  sein.  XI  2  uuäcodun  thuo 
äfter  them  uuordon.  51  ähliepun  eft  üpp  an  them  höhne.  89  iro  ni 
stüodi  gio  sülik  megin  samad.  100  geng  im  thuo  ti  them  uundon  man. 
XII  11  endi  söggiän  than  thät  hie  ästanden  si. 

f.  auxiliarverben:  I  118  thiu  thronest  is  im  an  thanke.  239  that 
uui'ti  uuas  thuo  ägangan.  VI  1  ik  sölbo  biun  thät  thär  säiu.  XI  66  s6 
härm  uuarth  im  an  is  horten. 

Folgende  werden  nur  unter  besonderen  bedingungen  in  dop- 
pelter Senkung  zugelassen: 

a.  das  pronomen  demonstrativum,  wenn  es  unmittelbar  vor 
dem  nom^n  steht:  XI  30  bihui  cümis  thü  so'  mid  thius  fölku  te  mf. 
32  linder  thit  cünni  Jude6no. 

b.  das  pronomen  relativum,  wenn  es  unmittelbar  hinter  dem 
nomen  steht,  auf  welches  es  sich  bezieht:  VI  16  Ifudi  thia  lo  thit  Hobt 
gisähun. 

c.  die  adverbien  s6  und  ti,  wenn  sie  unmittelbar  vor  einem 
adjectiv  oder  adverb  stehen:  I  14  ^ndi  s6  manag.  131  tfreas  s6  fflo. 
310  fehmea  s6  güod.  III  10  uuördo  s6  s61f.  15  jüngron  s6  seif.  VI  6 
liudeo  s6  fiio.    XH  8  güo  bid  te  fflo.     61  6ndi  s6  blfthi. 

Verschleif ung  zweier  Silben  in  der  hebung  vor  doppelter  Sen- 
kung ist  in  den  obigen  beispiden  öfter  enthalten,  z.  b,:  börehtun  giscäpu 
u.  dgL;  auch  elisiofi  findet  statt:  I  64  sätta_undar  thät  gisithi.  VII  26 
than  uuflliu_ik  it  hier  te  uuäron  quethan. 

VerschUifung  zweier  silben  in  doppelter  Senkung  ist  hier  ebenso 
wie  in  den  mitteldeu/tschen  gedichten  nicht  nur  gestattet  hinter  einer  tief- 
tonigen,  wie  VI  11  äccaro  gihuflic,  sondern  auch  hinter  einer  von  natur 
hochtonigen  silbe,  mit  derselben  einschränkung  une  dort:  I  104  umbi 
thana  älah.  219  hügie  ni  gidär.  323  ündcr  iru  lithion.  III  2  ümbi 
thena  gödes  suno.     38  6ndi  thero  sündiöno.     VII  47  äfter  iro  uuflleon. 


298  AMELUKO 

X  5   limbi   thena  uui'h.     XI  14   cüssiu   ina   öndi.     XII  20   ündar   iro 

•  •  • 

bördon. 

Synaloephe  in  doppelter  senJcung  findet  staM:  1334  bisörogoda 
sia_än  is  gisitha.     263  ni  quam  ic  thi  te^enigon  freson  herod. 

Syncope  ist  zweimal  in  enigan  I  25.  VII  67  und  einmal  in  thi- 
non  I  286  anzunehmen. 

Schon  im  hisherigen  sah  ich  mich  ein  paar  mal  genötigt,  Meine 
emendationen  vorzunehmen.  Auch  folgende  verse  bedürfen  der  bes- 
serung:  I  345  ist  man,  XI  96  uuil  zum  zweiten  halbverse  zu  ziehen; 
I  141.  226.  259.  III  9.  V  23.  IX  21.  XI  13.  83.  104  ist  quat  hie, 
I  271.  283  quath  siu,  X  17.  XI  58  quathun  sia  zu  streichen;  XII  7.  66 
hat  MüUenhoff  schon  die  nötige  ausscheidung  bezeich^net;  I  81  ist  far, 
113  after  tliiu,  VII  31  thoh  giduon  ik,  X  5  im  oder  thuo,  XI  31  so, 
33  te  zu  streichen;  XII  60  weiss  ich  nicht  zu  helfen. 

• 

VI.  Fassen  wir  die  characteristische  eigenheit  des  alt^ 
sächsischen  verses  im  gegensatz  zum  hochdeutschen  kurz  zusam- 
men y  so  erscheint  am  wichtigsten  der  umsta}id,  dass  hier  die  halbeeüe 
aus  zwei  vierteiligen  tacten,  dort  aus  vier  zweiteiligen  bestehe. 
Dass  beide  schliesslich  auf  gemeinsamer  historischer  tradition  ruJien  und 
nur  besondere  locale  gestaltungen  des  allen  Germanen  gemeinsamen  epp- 
sehen  verses  sind,  ist  Mar.  Welche  von  beiden  gestaltungen  die  relativ 
ältere  ursprünglichere  sei ,  ist  mir  nicht  zweifelhaft.  Die  entstehung  der 
vier  zweiteiligen  tacte  aus  den  zwei  vierteiligen  lässt  sich  leidU  und 
ungezwungen   aus   einer   Schwächung  der  accentuation  erMären.     Der 

vierteilige  tact  f  f  f  f  verwendet  drei  unterschiedene  stufen  der  betonung 
für  liaupthebwng  nebenJiebung  und  senhung,  der  zweiteilige  f  f  nur  ewei 

für  hebiing  und  Senkung.  Jener  setzt  daher  eine  kräftigere  und  deut-- 
lichere  accentuation  voraus.  Die  umwandelung  der  zwei  vierteiligen 
tacte  in  vier  zweiteilige  scheint  mir  aber  ausserdem  auch  in  innerem 
Zusammenhang  zu  stehen  mit  dem  aufgeben  der  allitteration.  Die  vier^ 
teilige  tactart  bedurfte  der  allitteration  zur  deutlicheren  auszeichnung 
der  haupthebiingen;  denn  die  natürlichen  accentverhäUnisse  der  spräche 
waren  für  sich  nicht  ausreichend,  .dieses  compliciertere  Verhältnis  einer 
dop2)elten  unterordnmig  scharf  und  uyizyoeideutig  auszudrücken.  Mit 
dem  aufgeben  der  allittsratimh  muste  notwetulig  die  Unterscheidung  van 
haupt'  und  nebenhebung  unsicher  und  schwaiikend  werden,  und  so  lösten 
sich  denn  die  beiden  vierteiligen  tacte  in  vier  zweiteilige  auf.  Für  den 
ursprünglicheren  cluxra^er  der  vierteiligen  tactaH  im  epischen  verse  der 


BBITRAOB  ZTTB  BBÜTSCHSN  METBIK  299 

Germanen  scheinen  mir  auch  die  beiden  ältesten  nordischen  versar- 
ten zu  zeugen,  der  fornyrdalag  und  liodahättr.  Zwar  tmrd  es 
in  den  meisten  fällen  zweifelhaft  erscheinen,  ob  hier  der  halbvers  als 
zweitactige  oder  viertadige  rhythmische  periode  aufzufassen  sei,   denn 

verse  wie 

hliods  bid  ek  ällar        hö'Igar  kindir, 

m6iri  ok  mfnni        mö'go  Höimdallar; 

vfldo  at  ek  Välßdur        ve  1  framtflja, 

förnspiöll  fi'ra,        |)au  er  frömst  um  man. 

lassen  sich  zwar  wie  hier  ungezwungen  als  zweitactige  perioden  auffas- 
sen ,  aber  ebenso  gut  auch  als  viertactige.  Für  das  erstere  spricht  jedoch 
der  umstand,  dass  auch  halbverse  mit  bloss  drei,  ja  zwei  hebungen  vor- 
kommen: 

d6yr  fe'      döyia  frsendr.    (Hävamäl  76.    Dietr.  altn.  leseb.) 
61dr  er  böztr      med  ^'ta  sönom 
ok  sö'lar  s^'n.        (Häväm.  68)  u.  a. 

Zur  völligen  entscheidung  kante  diese  frage  gebracht  werden ,  wenn 
man  untersuchte,  ob  sich  Mer  ebenso  wie  im  Altsächsischen  in  allen  ver- 
sen  ein  auf  die  grammatische  betonung  gegründetes  und  fest  geregeltes 
Verhältnis  zwischen  haupthebung  und  nebenhebung  nachweisen  lasse.  Die 
oben  angeführte  eingangsstrophe  der  Völu  spä  wäre  vollständig  in  ein- 
klang  mit  allen  am  Hei  and  entwickelten  regeln  für  das  Verhältnis  von 
haupt--  und  nebenhebung.  Sollte  sich  dabei  etwa  herausstellen,  dass  das 
fefden  einer  nebenhebung  nicht  auf  den  fall  eingeschränkt  wäre,  wo  die 
vorangegangene  haupthebung  ihrer  natur  nach  dehnbar  ist,  so  wäre  das 
nur  ein  zeichen  dafür,  dass  hier  die  einmal  eingeschlagene  richtung  noch 
weiter  dahin  geführt  habe^  die  nebe^iJiebungen  ganz  ausser  acht  zu  las- 
sen, so  dass  sie  unter  allen  umständen  fehlen  dürften.  Die  frage,  ob 
der  epische  vers  der  Angelsachsen  als  zwei-  oder  viertactiger  anzU" 
sehen  sei,  ist  in  dr.  Schuberts  dissertalion  de  Anglosaxonum  arte 
metrica  nicht  aufgeworfen  worden;  doch  scheinen  mir  mderum  seine 
versus  ternarii  und  binarii  für  ein  zweitactiges  grundschema  zu  sprechen. 
Ich  glaube  nicht,  dass  man  bei  der  blossen  anerkennung  des  factums, 
dass  hier  verse  von  drei  hebungen  mit  solchen  von  vier  hebungen  abwech- 
sein,  stehen  bleiben  darf.  Man  wird  sich  darüber  entscheiden  müssen, 
ob  diese  verse  von  drei  hebungen  tdrklich  als  dreitägige  rhythmische 
Perioden  anzusehen  sind,  oder  als  zweitactige,  bestehend  aus  zwei  haupt- 

hebungen  und  einer  nebenhebung:    ^  P  ^  oder  auch  ^  f  f^    Dass  ein  im 

ganzen  herschender  zweiteiliger  rhythmus  von  zeit  zu  zeit  plötzlich  durch 
einen  verhältnismässig  selten  eintretende  dreiteiligen  unterbrochen  würde^ 


300  AMELtJKÖ 

scheint  mir  aber  doch  eine  incongrtisnz ,  die  jedes  fii/r  rhythmische  Ver- 
hältnisse empfängliche  ohr  empfindlich  verletzen  müste.  Wenn  man 
sich  die  frage  überhaupt  vorlegt ,  wird  man  daJier  wol  nickt  anders  hon- 
nen,  als  sich  für  die  zweiteüigkeit  dieser  verse  mit  drei  hebungen  aus- 
spreclien.  In  welcher  weise  nun  der  ausfall  einer  nebenhebung  normiert, 
auf  welche  bedingungeti  eingeschränkt  wäre,  das  müste  nodi  untersucht 
werden;  es  wäre  aber  kein  einwand  gegen  die  annähme,  wenn  sich  dabei 
herausstellte^  dass  hierin  eine  grössere  licenz  herschte  als  im  AUsäch- 
sischen.  So  viel  ich  aus  den  von  dr.  Schubert  beigebrachten  cito- 
ten  vorläufig  ersehe,  ist  fast  ausnahmslos  die  eine  der  drei  hebungen 
ihrer  natur  nach  dehnbar. 

Nächst  dem  hier  besprochenen  unterschiede  zwischen  dem  attsäch- 
sischen  und  althochdeutschen  verse  scheint  mir  die  tiefgreifendste  eigen- 
heit  des  ersteren  in  der  Zulassung  doppelter  Senkungen  zu  liegen. 
Um  die  berechtigung  derartiger  rhythmiscJier  büdungen  zu  begreifen, 
wird  man  sich  an  den  begriff  der  triolen  halten  müssen.  Ein  vers  wie 
uulrdiga  ti  them  giuuirkie  wäre  demnach  folgendertnaassen  zu  notieren: 

ifß  f  f  •   •    ^    Mätheus  fendi  Markus:   }yp  P^   i  ^   mid   naördun 

endi  mid  uu^rcün:    •  *   ff  f   i   ß.     Nimt  man  noch  hinzu,    dass  hier 

Jdingender  versschluss  zugelassen  wird,  tvährend  das  althochdeidscke  nur 
stumpfen  kent,  dass  also  zu  den  im  Althochdeutschen  geltenden  schluss- 

formen  ff  tf  \_f  \  ^*^  tf  tf  f  f  ^"^^*  ^^^*  f  f  t  f  f  T  ^  T 
hinzukomt,  so  sind  die  rhythmischen  g^-uppierungen  im  aUsächsischen 
verse  ausserordentlich  viel  mannichfaltiger  als  dort,  Folgende  iibcrsicki, 
bei  der  die  anwendung  von  triolen  nicht  einmal  in  anschlag  gebrockt  ist, 
wird  davon  eine  anschauung  geben: 

1)  ^  J   ;    'all  uürthüu  XII  65. 

2)  R  J#   ;    s'ä^n  üpp  ahle d  XII  56. 

3)  h  i   ;  #   'tfst  Ü'p  strgan  V  12. 

4)  ^  imJ0   h'o  hßbannki  VI  39. 

5)  J   ;   ^    sfttian  th'ä^r  XII  63. 

III 

6)  j  #  ;  p  1 
u  'I  r 

1)  Dass  sich  in  den  teilen  des  Heland,  welche  ich  untersucht  habe ,  gerade  für 
diese  combination  kein  beispiel  bietet,  ist  ein  zufälliger  umstand. 


BEITRAGE  ZUR  DEUTSCHEN  METRIK  301 


7)  i   #•   ji       helägna  ge st    I  11. 

%)  immm   h      äldarlängan  tTr  VI  38. 
9)  i   m   i   0       drölitin  dfuriö   I  27. 

10)  ?^    p   i   ji  gfbithrg  uuörthän   I  80. 

11)  #    i  #   j5   ^  stnd  uuiderständö  I  29. 

12)  J   i   J  *    i  thfe  thös  mS'ster  uuäs   I  30. 

13)  i    ji   j5   ji  *  sui'thö  thiutf  CO  I  99. 

14)  j5  ji  #   #  #  #  so   tfe  giuufnnäniie  I  143. 

15)  jj  #  i   #  #  #  ^ndi  uuid  sölban  spräk  I  139. 
IQ)  i  0  0   i0  0  müod  endi  m^gincräft  I  156. 

17)  i  ^  ji    ifp   engil  th^s  äluuälden  I  274. 

18)  S  ^  ji  p   |>  i   uündron  thko  uuördö  I  141. 

19)  i  ji   ffff    grüottä  g^ginuuärdi   I  258. 

20)  ?  ^  ^  ^   ?  f  f    huänd  uuit  häbdun  äldres  er  I  144. 
2i)i^ji#   0  0  0    thät  sea  tf ses  uuäldändes  I  186. 

22)  |J  *  i    }  f}  \      so'  mi  thes  uüiidur  thünkit  I  157. 

23)  *  i  *   f  f  ff    heläga  hßbanuuärdos  VI  18. 

24)  ^  0  0  ^  ß  ßß^  eftho  huä'r  thiu  uuörold  äldar  I  45. 

Rechnet  man  nun  noch  hinzu  dass  für  jedes  tactgliedy  mit  aus- 
mihme  des  letzten,  nach  belieben  auch  eine  triole,  d.  h.  hebung  mit  zwei 
folgenden  Senkungen,  eintreten  kann,  unterscheidet  man  ferner  die  aus 
zwei  Silben  verseht i/fenen  hcbungen  und   Senkungen,    die  durch  ^  zu 

bezeichnen  tvären,   so  geht  die  masse  der  möglichen  combinationen  ins 
unabsehbare. 

Mit  diesem  reichtum  innerer  gliederung  verglichen  muss  der  alt- 
hochdeutsche  vers  monoton  erscheinen,   denn  von  allen  hier  ange- 
führten combinationen  sind  dort  nur  9  — 12.  15.  16.  18.  20  zulässig,    - 
und  alle  weiteren  combinationen ,   welche  triclen  enthalten,  fallen  ganz 

ZBITSCHR.    P.   DEUTSCHE  PHILOL.    BD.  III.  20 


302  AMELUNO 

weg.  Steht  der  althoehdeutscJie  vers  somit  an  reichtum  und  abwechsdung 
der  rhythmischen  (fliederung  gegen  den  alt  sächsischen  zurück,  so  über- 
trifft er  ihn  doch  tveit  an  strenge  und  ebenmaass  der  metri- 
schen Verhältnisse,  Man  tvird  es  vielleicht  unangemessen  finden, 
tveym  ich  üherhmqit  von  metrischen  Verhältnissen  im  deutschen  verse 
spreche,  aber  wenn  man  den  deutschen  vers  eilten  accentuierenden  nent, 
und  ihm.  die  silbenmessung  abspricht,  so  ist  das  doch  nur  in  einem 
gewissen  bedingten  sinne  richtig:  es  kann  nur  heissen,  da>ss  die  Zeit- 
dauer, die  einer  silbe  im  verse  zugemessen  wird,  sich  mit  der  dauer, 
die  ihr  grammatisch  und  etymologisch  zukomt,  nicht  in  Übereinstimmung 
befinde;  aber  unter  allen  umständen  wird  ihr  doch  eine  ganz  bestirnte 
Zeitdauer  zugemessen ,  denn  jeder  rhythmus  beruht  ja  eben  auf  der  ste- 
tigen widerkehr  relativ  stärker  accentuierter  glieder  in  gleichen  zeitab- 
ständen. Wenn  wir  den  vers  filder  älomähtig  tactfest  recitieren,  so  ver- 
leihen tvir  jeder  der  beiden  kurzen  silhen  in  fader  genau  dicsdbe  Zeitdauer 
wie  den  beiden  kurzen  silben  zusamme^n  in  alomahtig.  Eine  soMve  abwei- 
ch ung  von  der  grammatischen  Silbenquantität  ist  immer  nur  ein  fwt- 
behelf,  und  es  lassen  sich  die  grenzen  bestimmen,  innerhalb  deren  sie 
zulässig  ist.  Diese  grenzen  sind  im  Althochdetäschen  nicht  dieselben, 
ivie  im  Allsächsischen,  und  es  ist  nicht  uninteressant,  die  bekanten 
gesetze  des  (ütlwchdeutschen  Versbaues  einmal  wnter  diesem  gesichtspunkte 
zu  betrachten.  Da  die  spräche  selbst  zu  ihren  eignen  zwecken,  die  doch 
andere  als  lediglich  musikalisch -ästhetische  sind,  Zeitdauer  und  tonstürkc 
der  silben  bereits  als  mittel  verivendet  hat,  so  tritt  in  jeder  verskunst 
immer  die  schwierige  aufgäbe  ein,  di<i  ivorte  so  an  einaiider  zu  reihen, 
dass  die  natürlichen  quantitäts-  und  accentverhältnisse  der  silben  in  ilirer 
aufeinanderfolge  einen  stetigen  rhythmus  ergeben.  In  voller  reifüieit  kann 
das  äusserst  selten  gelingen.  Es  wird  daher  immer  einiges  dem  zwecke 
geopfert  werden  müssen,  entweder  der  grammaiisdie  accent  oder  die 
grammatische  Silbenquantität.  Jede  verskunst  neigt  sidi  vorwiegend  ent- 
tveder  dem-  einen  oder  dem  anderen  mittel  zu;  die  deutsche  etitschicden 
dem  letzteren.  Es  ist  ihr  die  haiqdsaclie,  dass  die  gramm<itiscJien  accente 
mit  den  metrischen  accenten,  welche  immer  auf  dem  erstefi  fuctglicdc 
ruhen,  zusammenfallen,  und  sie  muss  diesem  zwecke  meist  die  ^latilrliche 
Silbenquantität  opfern.  Die  antike  metrik  hat  den  entgegengesetzten  tvcg 
eingescMagen,  Dass  die  natürliche  silbenquantität  auch  im  deutschen 
verse  nicht  ganz  si7inlos  und  tvillkürlich  verkehrt  tverden  dürfe,  ist  detn- 
nach  selbstverständlich.  Die  althochdeutsche  verskunst  ist  darin 
strenger  als  die  altsächsische. 

Es  gilt  in  ihr  als  erste  regel,  dass  eine  siUßc,   die  einen  gangen 
tact  auszufüllen  lutt,  notwendig  Inng  sein  muss: 


BEITRÄGE  ZUK  DEUTSCHEN  METRIK  803 

s^lp  SO  bälphäntes  b^in.  si'naz  körn  r^inö't. 

Lj  r  Cj*  r         LT  r   r  r 

Bilden  zwei  silben  zusammen  einen  tact,  so  ist  zwar  iibertviegend 
der  fall,  dass  beide  gleiche  dauer  hohen,  aber  während  es  in  einem 
tacte  zwei  lange  silben,  sind  es  im  anderen  zwei  kurze: 

jöh  sd  filu  slöhtäz.  mit  r^gulü  bithuüngän. 

U  CT 

Aber  auch  das  ist  niclit  selten,    dass  innerhalb  eines  tactes  die 
eine  sübe  kurz,  die  andere  lang  ist: 
sih  s^lbon  missihäbeti. 

Bilden  drei  silben  zusammen  einen  tact,   so  müssen,  da  derselbe 
immer  zweiteilig  ist,   zwei  von  ihnen  zusammen  dieselbe  Zeitdauer  erhal- 
ten,   une  die  dritte  aUein.    Hierbei  giU  im  allgemeinen  die  regel,   dass 
die  beiden  silben ^  welche  zusammen  nur  ein  tactglied  bilden ,  kurz  seien: 
tbaz  sülaba  m  ni  uu^nkit.  in  tb^mo  firstäntnisse. 

Allenfalls  kann  auch  die  erste  kurz,  die  zweite  lang  sein,  aber 
niemals  umgekehrt: 

Ib  sägen  tbir  tbdz  ni  hflob  thib.       tbie  b^tötun  bfar  in  b^rgön. 

Die  dritte  silbe  aber,  die  für  sich  allein  das  andere  tactglied  bil- 
det ,  muss  notwendig  lang  sein ,  wenn  sie  das  erste  tactglied  bildet.  Bil- 
det sie  das  zweite  tactglied,  so  darf  sie  auch  kurz  seinf 

uuir  füarun  tbänana  n6'ti\  job  filo  giuuäralfcbö. 

p  P  p  f 


Bilden  vier  silben  zusammen  einen  tact,  so  kommen  je  zwei  auf 

ein  tactglied;  in  der  regel  sind  dann  alle  vier  kurz: 

in  mänagemo  dgalMze. 
f  P  P   P 

Doch  dürfte  auch  hier  dieser  sie  silbe  eines  tactgliedes  kurz,  die 
zweite  lang  sein;  ich  finde  eben  kein  passendes  bcisjnel  dafür;  ein  fin- 
giertes tväre: 

in  nu^licbemo  dgalMze. 


^£n' 


Das  Altsächsische  ist  noch  freier  in  der  Silbenmessung. 
Denn  bei  einer  so  complicierten  tactart,  wie  die  vierteilige,  ist  es  natür- 

20* 


304  AMELUNO 

lieh  viel  schtvieriger,  der  grammatischen  Silbenquantität  gerecht  jsu  wer- 
den. Zwar  die  erste  regel,  dass  wo  eine  einzige  silbe  den  ganzen  vier- 
teilidcn  tact  aussufüllen  habe,  diese  notwendig  dehnbar  sein  müsse: 

he'lägna  g'est 

ru  r 

ist  analog  der  im  Althochdeutschen  gelte'nden.  Da  aber  hier  weiter  für 
jede  tacthälfte  dasselbe  gilt,  was  im  ÄWiochdeutsehen  für  den  ganzen 
tact,  so  widerholen  sich  auch  aUe  die  freiheiten,  die  für  das  Verhältnis 
der  beiden  tacthcUften  zu  einander  gelten ,  nochmals  in  der  weiteren  teil- 
gliederung  jeder  tacthälfte.  Dadurch  werden  die  metrischen  incongruen- 
zen  derart  gehäuft,  dass,  während  schon  im  ÄltJioelideutschen  zwei  kurze 
Silben  entweder  für  einen  ganzen  tact  fflu  oder  auch  für  einen  halben 

sillaba  stehen  können,  sie  hier  sogar  dreierlei  verschiedene  metrische  gel- 

IM 

tung  erhalten:  1)  bfdün  ällan  däg 

(^  u  r 

2)  gibithrg  uuertliän 

3)  firiho  bärno  frümmiän 

üir  L/  r  r 

Eine  noch  weiter  gehende  metrische- incongruenz  tritt  aber  hinzu 
durch  die  doppelten  Senkungen,  Fassen  wir  eine  hebu/ng  mit  zwei 
folgenden  Senkungen  metrisch  als  triole  auf,  so  könrhen  hier  molosse, 
anfibacchii  und  cretici  ganz  die  gleiche  metrische  geltung  erJudten: 

sä'ii  äfter  thiu  mäht  gödes. 


v^  firio  bärnuQ  biföräii. 


—  ^^  —  scölda  liie  ät  thein  uufhe. 

V 

Wie  mnn  sieht  mrd  die  grammutische  silbenquantität  hier  wie  im 
Althochdeutschen  verhältnismässig  am  strengsten  beobachtet  in  der  ober- 
sten gliederung  des  ganzen  verses.  Je  mehr  wir  zu  den  weiteren  teil- 
gliederuwßm  herabsteigen^  desto  mehr  häufen  sich  die  metrischen  incan- 
gruetize^i.  Und  so  ist  der  althochlcuische  vers  im  vorteil,  da  er  in  der 
inneren  gliederung  des  tactes  nicht  so  weit  geht,   wie  der  alisächsische. 


BEITKIOB  ZUK   deutschen  METRIK  305 

Was   er   dadurch  an    mannichfaltigkeit    einbüsst,    das   gewint   er   an 
ebenniaass. 

Eine  andere  folge  des  verschiedenen  grundprincips  der  althoch- 
deutschen und  altsächsischen  verskunst  fällt  dagegen  underum  zu 
gunste^i  des  letzteren  aus:  ich  fneine  den  einklang  zwischen  wort- 
accent  und  versaccent.  Wenn  es  für  den  vershau  aller  Germanen 
characteristisch  ist,  den  natürlichen  wortaccent  im  verse  zu  voller  gel- 
tung  zu  bringen,  so  doch  vor  allem  für  den  vershau  der  alten  Sachsen. 
Da  hier  dreierlei  wnterschiedene  tonstärke  für  haupthehung,  nehenhehung 
und  Senkung  verwendet  und  gegen  einander  wol  abgewogen  werden  muss, 
so  ist  die  altsächsische  verskunst  weit  empfindlicher  gegen  jede  Verletzung 
des  grammatischen  accentes  als  die  althochdeutsche.  Da  hier  schon  jede 
Vieldeutigkeit  in  den  accentverhältnissen  zwischen  haupt-  und  neben- 
hehung  als  Störung  empfunden  wird,  die  erst  durch  schwebende  betonung 
ausgeglichen  werden  muss,  so  kann  um  so  weniger  in  dem  Verhältnis 
von  hebung  und  Senkung  eine  anomalie  geduldet  werden.  Die  haupt- 
hehung soll  sich  zur  nehenhehung  verhalten  wie  die  nehenhehung  zur  Sen- 
kung; wenn  nun  schon  in  dem  einen  dieser  beiden  Verhältnisse  manch- 
maJ>  Unsicherheit  eintritt ,  so  darf  das  nicht  zugleich  auch  in  dem  ande- 
ren der  fall  sein,  wenn  Glicht  das  ganze  gebilde  allen  sicheren  halt  ver- 
lieren soll.  Daher  ist  schwebende  betonung  zmschen  hebung  und  Sen- 
kung hier  äusserst  selten,  nur  I  96  Zächariäs  bisöhän.  VII  6  Jüdeönö 
mid  gömön.  XI  8  briunandi  fan  b'tfrg.  132  drü  voiidi  te  dälfe.  XII  18 
Jüdeönö  fargängän.  Wie  man  sieht  nur  in  der  leichtesten  form,  die 
überhaupt  im  deutschen  vorkamt. 

Hiemit  schlicsse  ich  meine  betrachttmgen.  Wie  man  aus  einer 
mehrheit  nahe  vertvanter,  aber  doch  deutlich  geschiedener  dialecte  durch 
vergleichung  ihren  gemeinsamen  urtypus  reconstruiert ,  so  Hesse  sich  wol 
durch  eine  vergleic/iung  der  besonderen  gestaltungen ,  die  der  epische  vers 
bei  den  verschiedenen  stammen  der  Germanen  angenommen  hat,  ein  bild 
von  der  ursprünglichsten  gestalt  dieses  verses  bei  dem  gemeingermani- 
schen urstamme  entwerfen.  Der  nächste  schritt  dazu  ist  die  möglichst 
sorgfältige  erforschung  der  uns  zugänglichen  localen  gestaltungen. 

DORPAT.  ARTHUR  *AMELÜNG. 


LIES:  2(50,  30  ere  261,  3  inmäch  261,  14  warte  262,  5  we  262,  8  1072 
267,  87  wo'  267,  38  daz  268,  15  überfallende  270,  12  durfte  271,  33  wider- 
stiezen  273,  6  siejre  287,  37  brinnandi  292,  8  firi  -  uuitli  co  294,  7  imca 
296,  16  uuideruuärdes  *  298,  18  besteht      300,  28  ähle  d 


306 

ZU  REINKE  VOS. 

V.  1062.  Do  sprank  Hinze  int  deme  htise.  Dies  dUm  doeei. 

Dazu  habe  ich  bemerkt:  „Ist  wol  ein  druckfehler,  es  wäre  sonst 
eine  ganz  ungewöhnliche  zusammenziehung  von  in  to"  Dies  halte  ich 
jetzt  für  keinen  druckfehler  mehr,  indem  ich  bis  jetzt  drei  stellen  gefun- 
den habe ,  in  denen  ebenso  das  in  to  in  int  zusammengezogen  ist.  Bothos 
Chron.  fol.  212\  We  de  nicht  enwech  Jconde  honten,  de  sprangk  int 
der  Ftiser  unte  vordrangk.  J.  Grimms  Weist.  3,  30.  Dar  twe  naber 
bey  einander  want  und  des  einen  velt  vor  des  anderen  have  hengeit  und 
des  nmnnes  hamer  dem  andern  schaden  doit,  so  mag  hei  stiegen  op 
den  tun  und  keren  dat  angesichte  int  deme  Imve.  Daselbst  3,  45.  He 
sali  den  payll  so  verne  int  der  Buyr  slagen,  als  hey  myt  der  gemelten 
slage  langen  kan,  Dass  dies  int  aber  eine  contraction  aus  into  ist ,  geht 
hervor  aus  einer  stelle  bei  Detmar,  bd.  1  s.  302.  He  was  der  heidene 
leidesman  uppe  de  cristenen  inte  creme  lande  unde  weder  ut;  aus  dem 
into  ward  ein  inte,  dann  ein  int. 

V.  925.  um^ne  minen  willen  men  en  dot  efte  lät. 

Diese  formel  ohne  beigefügtes  object  findet  sich  vielfach  in  Urkun- 
den, z.  b.  Cassel,  Samlung  ungedruckter  Urkunden  (Bremen  1768)  s.  34. 
Urk.  V.  1455.  welke  privilegia  wi  bestedigen,  vorbedende  gestrenglikcn 
allen  unnsen  amptluden,  vogeden  und  ghenieinliken  allen  den  ghenen, 
dede  unib  unscti  willen  doen  unde  taten  tvillen  unde  schütten  etc.; 
daselbst  s.  252.  Urk.  v.  1406.  de  Bremer  scholen  uns  Wurster  vorbid^ 
den  mule  vordeghedingen  vor  alle  de  ghenne,  de  umme  eren  willen  den 
unde  lathen  willen.  Cassel,  Breraensia  (2  bde.  Bremen  1766).  Bd.  1, 
s.  492.  Urk.  v.  1409.  vor  my  unde  myncn  sone  unde  vor  alle,  de 
umtne  myncn  willen  doen  unde  taten  willct  unde  mit  rechte  doen  unde 
taten  schullet.  Vgl.  noch  daselbst  1,  281.  281).  294.  Luneborger 
urkundenbuch  15.  abth.  (herausg.  v.  Hodenberg  1859)  s.  175.  Urk.  v.  1416. 
dat  unj  vnde  alle  de  vmme  vnsen  willen  don  unde  taten  unUen  eic. 
Dithmarsische  urkundenb.  (herausg.  v.  Michelsen  1834).  Heft  in  den 
tiden  vnse  ohem  van  Sassen  en  schaden  bybracht,  dar  hebben  $e  billiken 
vmme  to  schuMigcnde  de  van  syner  vnde  der  synen  weghen  darto  ant^ 
worden  scholen  vnde  nicht  nnse  vorcvaren  edder  ims,  went  he  mid  den 
synen  in  den  tiden  vmme  vnser  vorcvaren  unde  der  vnsen  willen  wocÄ 
doen  edder  taten  wolde.  Detm.  2,  255.  Urk.  v.  1462.  Unde  dar  ane 
scholen  de  van  Luncborch  noch  dejen'^ien,  de  umme  eren  unUen  don  edder 
taten  willen  unde  schollen,  sc  nicht  hynderen. 

OLDENBURG,  MÄRZ  1869.  A.  LOBBEN. 


307 


DER  HANDSCHRIFTLICHE   TEXT   DES  LUDWIGSLIEDES 

NACH  NEUER  ABSCHRIFT  DES  HERRN  DR.  W.  ARNDT. 

Im  ersten  bände  dieser  Zeitschrift  s.  247  hatte  ich  bei  besprechung 
von  Pischons  Leitfaden  zur  Geschichte  der  deutschen  Litteratur  die  rieh- 
tigkeit  der  form  jdh  in  der  56.  zeile  des  Lud^vigsliedes  bezweifelt.  Dar- 
nach ö.  473  flg.  hatte  ich  diesen  zweifei  des  näheren  begründet  und  hatte 
gezeigt,  dass  die  form  ^'aÄ  zuerst  1830  in  den  Hoflftnannschen  Fundgru- 
ben als  conjectur  aufgetaucht,  und  wahrscheinlich  von  da  aus  1837  als 
vermeintlich  auch  durch  dife  handschrift  selbst  bestätigte  lesart  in  den 
urkundlichen  text  der  ersten  ausgäbe  der  Elnonensia  gelangt  sei.  Die 
conjectur  jah  aber  hatte  ich  für  eine  von  Hoffmann  ausgegangene  gehal- 
ten, weil  sie  ohne  nennung  ihres  Urhebers  in  einem  Hoffmannschen  werke 
veröffentlicht  und  überdies  von  Willems  in  der  ersten  ausgäbe  der  Elnonen- 
sia s.  12  ausdrücklich  als  eine  von  Hoffmann  aufgestellte  bezeichnet  wor- 
den war.  Bald  darauf  schrieb  mir  W.  Wackernagel:  „Der  aufsatz  über 
den  Ludwigsieich  hat  mich  sehr  gefreut,  und  ich  stimme  Ihrer  klaren, 

scharfen  erörterung  stück  für  stück  bei Ich  meines  teils  kehre  nun 

wider  zu  Lachmanns  gab  zurück.  Nicht  ohne  ein  sündenbekentnis:  das 
iah  der  Fundgr.  1,  345,  wie  beinah  all  die  „berichtigungen"  dort,  auch 
die  übrigen  zum  Ludwigsleiche ,  rührt  von  mir  her.  Thanc  jehan  ist 
also  falsch,  thanc  geban  selber  zwar  sonst  nirgends  zu  belegen,  aber 
dennoch  sicher  richtig:  es  wird  schon  durch  das  gegenüber  liegende 
thanc  haben  (Graff  V,  167.    Mhd.  wb.  1,  353)   gefordert,   und  Walther 

sagt  wenigstens  habedanc  geben  47,  6 Das  plötzliche  präsens  sihit 

könte  allenfalls  ein  späterer  dichter,  wie  der  des  Athis,  auf  sein  gewis- 
sen nehmen,  ein  althochdeutscher  allerdings  nicht.  Was  meinen  Sie  zu 
einer  änderung,  die  ich  mir  schon  vor  längerer  zeit  an  den  rand  des 
lesebuchs  geschrieben,  sah  i^?"  Ich  setze  diese  zeilen  her,  weil  sie 
widerum  Wackernagels  offenen  und  edlen  character,  sein  lediglich  auf 
erforschung  der  Wahrheit  gerichtetes  streben  bekunden.  Weit  entfernt 
von  kleinlicher  empfindlichkeit  verletzter  eitelkeit,  bekent  er  sich  viel- 
mehr unaufgefordert  sofort  freiwillig  als  Urheber  der  verunglückten  con- 
jectur, und  nimt  sie  gern  und  sogar  freudig  zurück,  sobald  ihre  unhalt- 
barkeit  dargetan  worden  ist.  Das  ist  das  verfahren,  wie  es  bekennern 
und  pflegern  der  Wissenschaft  ziemt,  und  der  Wissenschaft  selber  zum 
segen  gereicht 

Um  eine  zuverlässige  neue  abschrift  des  Ludwigsliedes  zu  erlan- 
gen, wante  ich  mich  an  den  uns  leider  so  früh  entrissenen  dr.  Julius 
Brakelmann  in  Paris.    In  folge  seiner  Vermittlung  hatte  herr  dr.  Wil- 


308  J'   ZACHER 

heim  Arndt  die  gute,  sich  dieser  aufgäbe  zu  unterziehen;  und 
einen  besseren  gewährsmann  hätte  ich  mir  nicht  wünschen  können,  als 
diesen  in  langjähriger  tätigkeit  für  die  Monumenta  Germaniae  historica 
ausgebildeten  und  erprobten  handschriftenkenner. 

Die  aus  der  abtei  S.  Amand  stammende  handschiift  des  Ludwigs- 
liedes liegt  seit  1791  in  der  bibliothek  zu  Valenciennes /  wo  Hoff- 
mann von  Faller  sieben  sich  im  jähre  1837  das  grosse  verdienst 
erwarb,  sie  wider  zu  entdecken,  nachdem  sie  über  hundert  jähre  gänz- 
lich verschollen  gewesen  war.  Verzeichnet  und  beschrieben  sind  die 
handschriften  von  Valenciennes  im  Catalogue  descriptif  et  raisonne  des 
manuscrits  de  la  hiUiotheque  de  Valencimnes  par  J.  Mangeart^ 
hibliothecaire  ete.  A  Paris  1860.  Die  des  Ludwigsliedes  ist  dort  auf- 
geführt und  besprochen  auf  s.  124  — 126  unter  nr.  143  (B.  5.  15).  Sie 
ist  in  noch  behaartes  leJer  mit  rotem  maroquinvorstoss  gebunden,  und 
besteht  aus  143  quartblättern  dicken  pergamentes,  welche  mit  dem  grif- 
fel  gezogene  linien ,  und  auf  jeder  seite  in  schriftzügen  des  neunten  Jahr- 
hunderts 24  langzeilen  zeigen. 

Nach  voraufgegaugenen  zehn  distichen  des  pabstes  Gregor  begin- 
nen auf  der  rückseite  des  ersten  blattes  „libri  octo  Gre-garii  Nasa^^cfii 
episcopi"  (mit  der  randschrift:  „ Gregor ius  Nasazetius  per  Ruffinum 
tranlatus")  und  reichen  bis  auf  das  140.  blatt.  Dann  folgen  auf  den 
letzten  vier  blättern  fünf  kleine  stücke,  und  zwar: 

1)  fd.  140  verso  —  141  recto,  von  einer  zweiten  gleichzeitigen  band, 
ein  kleines  lateinisches  gedieht,  beginnend:  Dns  eelirex  dt  cotidi- 
tor.    Maris  &  terrefomes  &  auetor,     Omne  iussU  creatura  su&- 

1)  Valenciennes  avait,  dan»  son  enceiutc  on  non  loin  de  ses  murs»  diverses 
abba3'es  dont  les  livres  sont  veniis  en  1701  lui  fornier  a  j»en  de  frais  une  biblioth^uo, 
nioins  riclio  pent-ctrc  que  Celles  de  Lille,  de  Donai  et  de  Canibrai,  mais  tres-digne 
encore  de  Tattention  des  liommes  Icttres.  —  11  y  avoit  dans  les  collections  de  livres 
provenant  des  comnmnautes  religieuscs  ou  conlisqaos  sur  les  euiigros ,  de  qaoi  foniicr 
une  bibliotlieque  non  moins  considerable  que  celles  des  villes  voisines;  mais  il  |uirait 
que  les  artilleurs  charges  de  la  defense  de  la  place  eurent  perniission  de  s'en  servir 
pour  faire  des  gargousses.  „Dien  scul  sait  le  nömbre  d'ouvrages  precieux  qui  fureut 
alors  lances  contre  Tarmee  combinee  qui  investissait  cettc  ville,"  dit  M.  lo  inairc 
dans  une  lettre  du  IG  juillet  1830.  —  La  bibliotheque  aciuellc  de  ValencicnncB  iio 
renferme  gucre  qu'environ  13,(K)0  voluiues.  —  Les  manuscrits  qui  eurichissent  la 
bibliotheque  publique  de  Valenciennes  sont  au  nombrc  de  Ö05;  ils  provicnnent  de 
plusieurs  sources.  Les  plus  ancicns,  les  plus  curieux,  les  plns  considerablos  boub  Ic 
rapport  de  Texccution ,  de  la  matiöre  et  des  autenrs ,  tirent  leur  originc  de  la  celebre 
et  antique  abbaye  de  Saint -Amand  sur  la  Scarpe.  —  Aujourd'hui  encore  [25  decem- 
bre  1859],  comme  cn  1840  et  en  1850,  cos  manuscrits  sont  confondus  avecles  inipri- 
mes.  Mangeart  f  catalogue  des  manuscrits  de  la  bibl.  de  Valenciennes.  FfxrislSßO. 
Fr^face. 


LÜBWIGSLIED  309 

cmisona.     Obßeruare  legem  pacis  arnionia.   usw.   abgedruckt  bei 
Mangeart  s.  124. 

2)  fd,  141  recto,  von  einer  dritten  gleichzeitigen  band  in  fortlau- 
fenden Zeilen  ohne  absetzung  der  verse  geschrieben,  ein  lateini- 
sches gedieht  auf  die  heilige  Eulalia,  beginnend:  Cantka  uirgi- 
nis  eulalie,  Concine*  suauissona  cithara,  gedruckt  mit  abgesetz- 
ten versen  in  den  Elnonensia. 

3)  fol,  141  verso,  von  einer  vierten  gleichzeitigen  band  in  langver- 
sen  geschrieben ,  ein  französisches  gedieht  auf  die  heilige  Eulalia, 
beginnend :  Buona  pulcella  fut  eidalia.  Bei  auret  corpf  hellczour 
aninui,  gedruckt  mit  abgesetzten  kurzen  versen  in  den  Elno- 
nensia. 

4)  fol,  141  verso  —  143  recto,  von  derselben  vierten  band  ebenfalls 
in  lang  versen  geschrieben,  das  deutsche  Ludwigslied,  in  lang- 
versen  gedruckt  in  den  Elnonensia.  Facsimile  der  ersten  laug- 
zeile  des  französischen  Eulalia  -  und  der  ersten  langzeile  des  deut- 
schen Ludwigsliedes  in  den  Elnonensia. 

5)  fol.  143  rectOy  von  einer  fünften  gleichzeitigen  hand,  fünfzehn 
lateinische  distichen,  beginnend  (nicht,  wie  HofiFmann  angibt  Lis, 
sondern)  Vis  fidci  tanta  est  qtuie  genuine  prodit  amoris  Ut  fadat 
gratum  niente  ctMle  deo,  gedruckt  bei  Mangeart  s.  125. 

Endlich  folgt  hinter  diesen  distichen,  am  Schlüsse  des  gan- 
zen bandes,  die  Unterschrift:  Liber  sancti  Aniandi. 

In  abgesetzten  lang  versen  also  ist  das  Ludwigslied  geschrieben, 
nicht  aber  sind  die  Strophen  abgesetzt.  Die  beiden  kurzen  verse,  in 
welche  jeder  langvers  zerfällt,  werden  jedesmal  durch  einen  punkt  und 
einen  kleinen  freigelassenen  räum  auseinandergehalten.  An  den  enden  der 
langverse  stehen  keine  punkte.  Die  versanßlnge,  sowol  zu  anfange  als 
in  der  mitte  der  langzeile,  sind  durch  initialen  ausgezeichnet.  Innerhalb 
der  zeile  begint  v.  10  jung  mit  einem  grossen  initialen  I,  dessen  gestalt 
von  der  eines  1  nicht  zu  unterscheiden  ist.  In  v.  28  vor  urankon  zeigt 
sich  eine  kleine  rasur,  und  ebenso  erscheint  in  v.  33  gib(o)d  zwischen 
b  und  d  eine  rasur  statt  des  vocales.  In  v.  45  gereda  sind  die  buch- 
staben  red  nur  unsicher  zu  lesen  ^  und  das  c  in  shancta  v.  53  sieht  einem 
e  zum  vei*wechseln  ähnlich,  ausserdem  fehlt  in  dem  letzten  werte  des- 
selben verses  53  fian(ton)  die  letzte  silbe.  Vor  den  schlusssilben  des 
57.  verses  — salig  sind  etwa  drei  buchstaben  unlesbar  geworden. 

Das  letzte  blatt,  143,  ist  oben  am  inneren  rande  verletzt.  Es  ist 
ein  schmales  Stückchen  abgerissen,  wodurch  die  57.  und  58.  zeile  zu 
anfange  etwa  je  2  buchstaben  verloren  haben.  Auch  die  erste  zeile  dieses 
blattes ,  V.  56 ,  könte  ebendadurch  zu  anfange  ebensoviel  buchstaben  ver- 


310  J.    ZACHER 

loren  haben ;  doch  begint  sie  mit  einem  initialen  I,  was,  obschon  allerdings 
nicht  mit  völliger  Sicherheit,  doch  auf  einen  versanfang  schliessen  lässt. 
Das  erste  wort,  welches  die  handschrift  auf  blatt  143  recto,  in  vers  56, 
darbietet,  ist  nach  dr.  Arndts  Versicherung  unzweifelhaft  zu  lesen  loh. 
Diese  Versicherung  dr.  Arndts  stimt  genau  überein  mit  der  kürzlich  von 
Holtzmann  in  seiner  Altdeutschen  grammatik  (Leipzig  1870)  s.  XIII  ver- 
öffentlichten angäbe,  dass  nach  einer  in  seinem  besitze  befindlichen 
genauen  abschrift  „ weder  ^We  noch  gab  zu  lesen  ist,  sondern  Joä."  Übri- 
gens darf  ich  nach  einer  mir  vorliegenden  notiz  vermuten,  dasß  das  ini- 
tiale I  dieses  loh  ein  wenig  oben  nach  rechts  und  unten  nach  links 
abgebogen  oder  ausgeschweift  sei,  so  dass  sich  aus  dieser  gestalt  dessel- 
ben wol  begreifen  liesse,  wie  es  in  der  Mabillonschen  abschrift  in  S  ver- 
lesen werden  konte.  Begreiflich  bleibt  auch  die  möglichkeit  einer  Ver- 
wechslung von  h  mit  b,  wenn  man  im  facsimile  der  Elnonensia  das  b 
von  hdlezour  mit  dem  h  von  hhuluig  vergleicht.  Dagegen  unterschei- 
den sich  in  demselben  facsimile  die  o  von  den  zwei  gestalten  des  a  (von 
a  und  a)  so  klar  und  bestimt,  dass  man  nicht  absieht,  wie  das  o  des 
loh  der  handschrift  in  das  a  des  Sab  der  Mabillonschen  abschrift  verlesen 
werden  konte. 

Durch  das  doppelte  zeugnis  der  Arndtschen  und  der  in  Holtzmanns 
besitz  befindlich  gewesenen  abschrift  wird  also  tatsächlich  und  zweifellos 
bewiesen,  dass  die  form^aA  nur  durch  conjectur  in  die  56.  zeile  gelangt 
ist,  und  in  der  handschrift  selbst  keine  bestätigung  findet,  und  wird 
zugleich  bewiesen,  wie  sehr  Lachmann  recht  hatte,  wenn  er  auch  nach 
dem  erscheinen  der  Elnonensia  fortfuhr  sich  ungläubig  und  ablehnend 
gegen  dieses  jah,  trotz  seiner  angeblichen  auffindung  in  der  handschrift, 
zu  verhalten.  Freilich  wird  damit  zugleich  auch  Lachmanns  emendation 
gab  hinfallig,  aber  getadelt  zu  werden  verdient  sie  deshalb  doch  nicht; 
im  gegenteil  ist  und  bleibt  sie  die  beste,  welche  aus  dem  damals  vor- 
liegenden material  gezogen  werden  konte,  da  mau  nicht  berechtigt  war 
anzunehmen,  dtoss  ein  so  vorzüglicher  handschriftenkenner  wie  Mabillon 
alle  drei  buchstaben,  aus  denen  das  wort  besteht,  verlesen  haben  sollte, 
oder  dass  bei  dem  nochmaligen  abschreiben  für  Schilter  alle  drei  buch- 
staben der  Mabillonschen  abschrift  falsqli  gelesen  und  widergegeben  wor- 
den wären. 

Vergleicht  man  nun  die  ganze  Arndtsche  abschrift  mit  dem  HoflF- 
mannschen  drucke  in  beiden  ausgaben  der  Elnonensia,  so  zeigt  sich, 
dass  Hoffmann,  wie  es  auch  von  einem  so  geübten  handschriften- 
leser  und  herausgeber  nicht  anders  zu  erwarten  war,  die  freilich 
auch  deutlich  geschriebene  handschrift  im  allgemeinen  recht  gut  und 
richtig   gelesen   und   widergegeben   hat.      Nur   an    sehr   wenigen   stel- 


LUDWI08LISD  311 

len  weichen  die   beiden  lesungen  wirklich   von  einander  ab.     Es  liest 
nämlich 

z.  6  Hofifmann  stual  Arndt  stuol 

38  Uuüi  her  Uuil  her 

56  Iah  loh 

57  Kuning  uu. ,.  Kunige  ui. . , 

Was  nun  noch  an  anstössigen  und  bedenklichen  stellen  übrig  bleibt, 
wie  z.  b.  die  ungewöhnliche  accusativische  construction  z.  40  ih  gdonön 
itno^,  neben  der  üblichen  genitivischen  z.  2  ih  wei^  her  inios  lonöt,  die 
unübliche  genitivische  construction  z.  21  thoh  erbarrnedes  got,  oder  z.  45 
das  präsens  sihit,  föUt  also  der  handschrift  selbst,  und  nicht  der  abschrift 
zur  last,  und  ein  so  sorgsamer  kritiker  und  erklärer,  wie  Lachmann  war, 
der  seinen  zuhöreru  möglichst  nützlich  werden  wollte,  verabsäumte  denn 
auch  nicht,  sie  auf  solche  stellen  aufmerksam  zu  machen,  und  ihnen  das 
zur  richtigen  auffassung  derselben  erforderliche  an  die  band  zu  geben. 

Es  folgt  nun  die  abschrift  des  herm  dr.  Arndt  in  genauem  abdrucke. 
Die  abweichungen  der  ersten  (1837)  und  zweiten  (1845)  ausgäbe  der 
Elnonensia  (E  1  und  2)  habe  ich  unter  dem  texte  angemerkt.  Die  zahl- 
reichen falschen  Wortabteilungen  der  handschrift  sind  hier  nach  der 
Arndtschen  abschrifb  genau  beibehalten  und  widergegeben  worden,  im 
abdrucke  der  Elnonensia  dagegen  sind  sie  überall  stillschweigend  ver- 
bessert ,  was  eben  nur  im  allgemeinen  bemerkt  zu  werden  brauchte,  ohne 
dass  eine  besondere  anmerkung  für  jeden  einzelnen  fall  erforderlich  wäre. 

f.  141  ^«"«• 

RITHMUS   TEUTONICÜS   DE  PIAE  MEMOBIAE   HLÜDÜICO  REGE 

FILIO    HLÜDÜICI  AEQÜE'    REGIS. 

Einan  kuning  uueiz  ih.      Heiz  sit  her  hluduig 
Ther  gemo  gode  thionot.      Ih  uueiz  her  imos  lonot 
Kind  uuarth  her  faterlos.      Thes  uuarth  imo  sar  buoz 
Holoda  inan  truhtin.      Magaczogo  uuarth  hersin 
5  Gab  her  imo  dugidi.      Fronisc  githigini 
Stuol  hier  in  urankon.      So  bruche  her  es  lange 
Thaz  gi  deilder  thanne,      Sar  mit  Karlemanne 

f.  142  "*^'**- 

Bruoder  sinemo.  Thia  czala  uuunniono 

So  thaz  uuarth  al  gendiot      Koron  uuolda  sin  god 

10  Ob  her  arbeidi.  So  lung  tholon  mahti 

1)  AEQ;  E  1.  H. 
6  Stual  £  1.  2. 


312  J.    ZACUER 

Lietz  her  heidine  man.      Obar  seo  lidan 
Thiot  urancono.      Manon  sun  diono 
Sume  sar  uerlorane.       Vuurdun  sumer  korane 
Haranskara  tholota.     Ther  er  misse  lebeta 

15  Ther  ther  thanne  thiob  uuas.      Inder  thanana  ginas 
Nam  sina  uaston.      Sidh  uuarth  her  guot  man 
Sum  uuas  luginari,      Sum  skachari 
Sum  foUoses.      Inder  gi  buozta  sih  thes 
Kuning  uuas  er  uirrit.       Tliaz  richi  al  girrit 

20  Uuas  er  bolgan  krist.    Leidhor  thes  ingaldiz 
Thoh  er  barmedes  got.      üuuisser  alla  thia  not 
Hiez  her  hluduigan.      Tharot  sar  ritan 
Hluduig  kuning  min.      Hilph  minan  liutin 
Heigun  sa  northman.      Harte  bi  duuuugan 

25  Thanne  sprah  hluduig.       Herro  so  duon  ih 
Dot  ni  rette  mir  iz.       al  thaz  thu  gibiudist 
Tho  nam  her  godes  urlub.      Huob  her  gundfanon  uf 
Reit  her  thara  in  urankon.      Ingagan  north  mannen 
Gode  than  codun.      The  sin  beidodun 

30  Quadhun  al  fromin.       So  lange  beiden  uuirthin 
Thanne  sprah  luto.      Hluduig  ther  guoto 

f.  142  ^<5"«- 

Tröstet  hin  gi  sellion.      Mine  not  stallen 
Hera  santa  mih  god.       loh  mir  selbe  gib:d 
Ob  hin  rat  thuhti.      Thaz  ih  hier  ge  uuhti 

35  Mih  selben  ni  sparoti.       ün  cih  hin  gineriti 
Nu  uuillih  thaz  mir  uolgon.      Alle  godes  holden 
Gi  skerit  ist  thiu  hier  uuist.      So  lango  so  uuili  krist 
üuil  her  unsa  hina  uarth.      Thero  habet  her  giuualt 
So  uuer  so  hier  in  ellian.      Gi  duot  godes  uuillion 

40  Quimit  he  gi  sund  uz.      Ili  gi  lonon  imoz 
Bilibit  her  thar  inne.      Sinemo  kunnie 
Tho  nam  her  skild  indi  sper.      Ellian  licho  reit  her 
Uuolder  uuar  er  rahehon.      Sina  uuidar  sahchon 
Tho  niuuas  iz  buro  lang.      Fand  her  thia  northman 

45  Gode  lob  sageda.      Her  sihit  thes  her  gereda 


28  vor  urankon  kleine  rasur  in  der  hs. 

33  Ztüischen  b  und  d  rasur  in  der  Jhs.  gibod  E  1.  2. 

38  Uuili  E  1.  2. 

45  red  in  gereda  ist  zweifelhaft  zu  lesen. 


LÜDWIGSLIED  313 

Ther  kuning  reit  kuono.      Sang  lioth  frano 
loh  alle  saman  sungun.      Kyrrie  leison 
Sang  uuas  gi  sungan.      Uuig  uuas  bigunnan 
Bluot  skein  in  uuangon.      Spilodun  ther  urankon 

50  Thar  uaht  thegeno  gelih.      Nichein  soso  hluduig 
Snel  in  di  kuoni.       Thaz  uuas  inio  gekunni 
Suman  thuruh  skluogher.      Suman  thuruh  stah  her 
Her  skancta  cehanton.      Sinan  fian 
Bitteres  lides.      So  uue  hin  hio  thes  libes 

55  Gilobot  si  thiu  godes  kraft.      Hluduig  uuarth  sigi  haft 

f.  143  '««^'o- 

loh  allen  heiligon  thanc.      Sin  uuarth  ther  sigi  kamf 
uolar  abur  hluduig.      Eunige  ui[      Jsalig 
garo  so  ser  hio  uuas.       So  uuar  soses  thurft  uuas 
Gi  halde  inan  truhtin.      Bi  sinan  ergrehtin. 

HALLE.  J.   ZACHER. 

49  Spilod  unther  £  1. 

53  c  in  skancta  zweifelhaft,    iiantou  E  1.  2. 

55  uuarth  ther  ßgihaft  E  2. 

56  lab  E  1.  2. 

57  kuning  uu  E  1.     Kuning  uu  £  2. 


ÜBER   DIE    HEIMAT    UND    DAS    ALTER    EINES 
NORDISCHEN   SAGENKREISES. 

Bei  meinem  letzten  aufenthalte  in  Kopenhagen  machte  mich  der 
bekante  isländische  gelehrte  Gisli  Brynjülfsson  aufmerksam  auf  einen  von 
ihm  in  einer  sitzung  der  königlichen  gesellschaft  für  nordische  altertums- 
kunde  am  19.  april  1870  gehaltenen  vertrag  und  bat  mich,  ein  inDags- 
telegrafen,  in  der  nummer  vom  25.  april  1870  enthaltenes  referat  über 
denselben  dem  inhalte  nach  hier  zu  veröffentlichen.  Ich  tue  dies ,  jedoch 
mit  der  ausdrücklichen  bemerkuug,  dass  in  einem  so  kurzen  referat 
natürlich  eine  ausführliche  begründung  der  aufgestellten  behauptung  nicht 
gegeben  werden  kann ,  eine  begiündung ,  wie  sie  herr  Brynjülfsson  in 
seinem  langen  vortrage  mit  der  ihm  eigenen  gründlichkeit  und  genauig- 
keit  geliefert  hat. 


314  KÖLBING 

Es  handelte  sich  in  der  erwähnten  Sitzung  um  eine  im  altnordischen 
museum  in  Kopenliagen  aufbewahrte  kirchentur  von  Valthjöfstad  im  öst- 
lichen teil  von  Island.  Die  in  zwei  felder  geteilte  tür  enthält  auf  bei- 
den eine  in  holz  sehr  kunstfertig  eingeschnittene  darstellung  von  der 
bekanteu  und  in  verschiedenen  Variationen  widerkehrenden  sage  von  einem 
ritter,  der  einen  löwen  aus  den  klauen  eines  drachen  befreit,  indem  er 
letzteren  tötet.  Der  löwe  begleitet  ihn  dann  aus  daukbarkeit  auf  seinen 
weiteren  zügen  und  unterstützt  ihn  in  seinen  kämpfen.^  Der  vortragende, 
kapitain  Blom ,  nahm  in  Übereinstimmung  mit  herrn  docent  S.  Grundtvig 
an,  dass  die  darstellung  auf  dieser  türe  sich  der  hauptsache  nach  gründe 
auf  die  alte  sage  von  dem  kämpfe  Dietrichs  von  Bern  mit  dem  drachen. 
Er  kam  zu  dem  resultat,  dass  die  türe  etwa  aus  der  zeit  zwischen  1100 
und  1130  stamme. 

Dagegen  bemerkte  nun  herr  Brynjülfsson,  dass,  da  es  sich  mit 
historischer  Sicherheit  nachweisen  lasse,  dass  die  kirche  in  Valthjöfstad 
c.  1186  —  90  neu  aufgebaut  worden  sei,  als  der  häuptling  Sigmundr 
Ormsson  dort  wohnte,  doch  entschieden  die  Wahrscheinlichkeit  dafür 
spreche,  dass  auch  die  tür  aus  derselben  zeit  stamme,  um  so  mehr,  da 
kein  grund  sei,  anzunehmen,  dass  jede  Veränderung  in  der  form  der 
europäischen  kriegswafFen  (auf  welche  sich  Blom  bei  der  Zeitbestimmung 
vor  allem  gestützt  hatte)  sogleich  auch  in  Island  adoptiert  worden  sei, 
namentlich  wenn  es  sich  um  die  darstellung  einer  alten  sage  handele. 
Das  entscheidende  und  merkwürdige  aber  ist,  dass  man  gleich  von  der 
besiedeluug  Islands  an  angeben  kann,  welche  häuptlinge  —  stets  von 
derselben  familie  —  in  Valthjöfstad  gewohnt  haben;  und  indem  herr 
Brynjülfsson  diese  namen  aufzählte,  machte  er  darauf  aufmerksam,  dass 
dieselben  so  nah  verbunden  und  beschwägert  gewesen  seien  mit  dem 
geschlechte  des  bischofs  Gizurr  und  der  Haukdaelir  im  Süden  der  insel  — 
einem  geschlechte,  dem  wir  die  besten  nachrichten  über  die  bedeuten- 
den geschichtlichen  Vorgänge  im  norden  verdanken  —  dass  die  alte  kir- 
chentur nun  anlass  dazu  gebe,  einem  nicht  unwichtigen,  aber  bisher 
wenig  beachteten  litterarhistorischen  factum  weiter  nachzugehen.  Der 
vortragende  wies  nun  nach,   dass  es  eine  ganze  reihe  alter  isländischer, 

1)  In  bczug  auf  parallelen  aus  romanischen  litteraturen  verweise  ich  auf  Hol- 
land: Li  romans  dou  Chevalier  aulyon.  Hannover  1862  p.  133  fgg.  und  "auf  desselben 
gelehrten  werk  über  Crcstien  von  Troies.  Tübingen  1854  p.  IGl  fgg.  In  nordischen 
sagas  finden  wir  denselben  zug  ausser  in  der  später  noch  zu  berührenden  YiUgälms 
saga  BJods  in  der  Konrade  saga  keisarasouar  er  for  til  Ormalands  (ed.  G.  pördar- 
son ,  Kaupm.  1859  p.  25  fgg.) ,  ferner  in  der  Hektors  saga  (A.  M.  perg.  152  fol.)  and 
in  der  Sigurdar  saga  I)ögla  (ebenda».).  E.  E. 


EIN  NORDISCHER  BAOENKREIS  315 

aber  wenig  bekanter  erzähluDgen  gebe,  von  denen  nicht  wenige  uns  in 
pergamenthandschriften  aufbewahrt  seien,  und  dass  die  darstellung  auf 
der  türe  genau  stimme  mit  der  erzählung  in  einer  derselben,  der  Vil- 
hjjllms  Saga  Sjöds.  In  dieser  saga  *  wird  nämlich  erzählt ,  wie  einem 
prinzen  Vilhjälmr,  dem  söhne  des  königs  Kikardr  von  England,  sein 
begleiter,  ein  löwe,  den  er  aus  den  klauen  eines  drachen  befreit  hat,  in 
einer  Schlacht  getötet  wird.  Vilhjälmr  lässt  das  edle  tier  in  einen  stei- 
nernen sarg  legen  und  mit  goldenen  buchstaben  darauf  schreiben,  wer 
darin  begraben  liege.  Aus  der  haut  des  löwen  lässt  er  sich  einen  raan- 
tel  machen  und  das  herz  gibt  er  einem  feigen  manne,  namens  Sjöd,  zu 
essen,  wodurch  dieser  für  die  Zukunft  löwenmut  bekomt.  Den  drachen- 
kampf  Dietrichs  von  Bern  hätten  nur  die  herbeiziehen  können ,  die  keine 
andere  sage  ähnlicher  art  kenten  und  überhaupt  keine  klare  Vorstellung 
von  der  sagengeschichte  in  ihrer  gesamtheit  besässen.  Die  erwähnte 
reihe  von  sagas  angehend,  bemerkte  Brynjülfsson,  dass  sie  alte,  sagen- 
hafte berichte  von  den  stamvätern  der  grossen  sächsischen  kaiser  (Hein- 
richs des  Voglers  und  derOttonen)  und  fränkischen  kaiser  enthielten.  Da 
es  nun  bekant  sei,  dass  sowol  bischof  Gizurr  wie  sein  vater  Isleifr  im 
elften  Jahrhundert  in  Herford  in  Westfalen  studiert  haben,  in  der  nähe 
von  Wittekinds  alter  residenz,  so  könne  es  nun  als  erwiesen  angesehen 
werden,  dass  jene  sagen  ursprünglich  von  diesen  nach  Island  gebracht 
worden  seien,  da,  wie  man  sehe,  ihre  verwanten  ein  so  grosses  gewicht 
auf  dieselben  legten,  dass  sie  danach  das  schnitzwerk  auf  der  kirchen- 
tür  von  Valthjöfstad  anbringen  liessen.  Die  besprochenen  sagas  bekämen 
hierdurch  eine  ganz  andere  bedeutung  als  bisher,  indem  es  sich  nun 
zeige,  dass  sie  —  im  allgemeinen  sehr  gut  und  sagamässig  erzählt  — 
direkt  stammen  aus  dem  Zeitalter  der  sächsischen  kaiser,  das  selbst  noch 
bedeutend  gewesen  sei  und  darum  auch  die  sagen  in  einer  achteren  und 
ursprünglicheren  form  bewahrt  haben  möge,  als  dies  in  einer  späteren 
zeit  der  fall  gewesen  sei,  wo  dichtungen,  wie  das  Nibelungenlied ,  Wolf- 
dietrich und  ähnliche  verfasst. worden  seien.  Die  deutschen  litterarhisto- 
riker  täten  eigentlich  unrecht,  wenn  sie  auf  die  hohenstaufische  zeit  so 
viel  gewicht  legten  mit  ihrer  sogenanten  höfischen  poesie.  Denn  diese 
sei  durchaus  nicht  bedeutend:  es  sei  dies  nur  eine  zeit  des  herabsinkens 
und  der  Verderbnis  der  ursprünglichen  stoflfe,  in  welcher  schon,  in  folge 
des  alle  mannheit  und  tapferkeit  untergrabenden  einflusses  der  hierarchie, 
der  schlechte  geschmack  für  charakterlose  legenden  und  abgeschmackten 
minnegesang  herschte ,  und  die  fähigkeit ,  wirklich  grosse  Charaktere  auf- 
zufassen und  zu  schildern,  sich  nicht  mehr  vorfand. 

1)  Volständig  erhalten  u.  a.  in  A.  M.  perg.  548 ,  4**. 


316  A.   V.   KELLER,   CONSOMANTENANGLEICHUNQ 

So  weit  herr  Brynjülfsson.  Mögen  wir  mit  seiner  ansieht  über 
die  erste  blütenperiode  unserer  deutschen  poesie  im  mittelalter  Qbereiü- 
stimmen  oder  nicht ,  jedenfalls  ist  das ,  was  er  über  den  mehrfach  erwähn- 
ten „Sagenkreis"  berichtet,  sehr  beachtenswert,  um  so  mehr,  da  derselbe 
bis  jetzt  in  Deutschland  so  gut  wie  gänzlich  unbekant  ist.  Eine  nähere 
beleuchtung  desselben,  vor  allem  natürlich  eine  kurze  analyse  der  hier- 
hergehörigen sagas ,  die  man  leider  mit  wenigen  ausnahmen  bis  jetzt  nur 
nach  den  geschriebenen  quellen  kennen  lernen  kann,  ebenso  wie  eine 
angäbe  der  momente ,  die  uns  berechtigen ,  diesen  sagas  in  ihrer  gesamt- 
heit  die  bezeichnung  eines  „Sagenkreises"  zu  geben,  behalte  ich  mir  selbst 
für  eine  andere  gelegenheit  vor. 

DRESDEN.  EUGEN  KÖLBING. 


DIE    CONFLUENZ    DER    CONSÜNANTEN    UND   DIE 

SÜDDEUTSCUEN   PHILOLOGEN. 

In  der  Zeitschrift  für  deutsche  philologie  von  Höpfner  und  Zacher 
2,  251  fg.  hat  Hildebrand  eine  erscheinung  des  süddeutschen  conso- 
nantismus  besprochen,  welche  schon  darum,  weil  sie  auch  zuweilen  in 
die  Schriftsprache  eindringt,  beachtung  verdient;  es  ist  die  angleichung 
auslautender  dentalen  an  folgende  consonanten,  z.  b.  schwäbisch  wih- 
her  statt  wittwer,  neuhochdeutsch  empfehlen  statt  enffehlen.  Diese  erschei- 
nung beschrankt  sich  aber  nicht  auf  auslautende  dentalen;  im  schwäbi- 
schen tverrtiuj  statt  tverUag  tritt  ähnliches  bei  der  gutturalis  ein.  Die 
feine ,  mit  reicher  exemplification  ausgestattete  ausführung  dieser  beobach- 
tung  verdient  die  vollste  anerkennung.  Wenn  aber  2,  255  gesagt  wird: 
„Man  ist  sich  gegenwärtig  in  Süddeutschland  dieses  sprachgesetxes 
nicht  bewust.  Das  darf  oder  nmss  ich  annehmen,  so  lange  nicht  etwa 
ein  süddeutscher  philologe  gegründeten  einspruch  erhebt,"  so  fühle  ich 
mich  verpflichtet,  zu  widersprechen,  und  glaube,  diesen  einspruch  durch 
Verweisung  auf  Moriz  Kapps  Versuch  einer  physiologie  der  spräche  (Stutt- 
gart bei  Cotta  183G)  1,  131  bis  131  begründen  zu  können.  Das  genante 
buch,  das  einst  Schmellers  lebhafte  teilnähme  erweckt  und  ihn  zu  ein- 
gehenden und  anerkennenden  anzeigen  desselben  veranlasst  hat,  ist  über- 
haupt heutzutage  über  gebühr  vergessen. 

TÜHINOKN.  A.    V.   KEFXER. 


317 


A  L  T  V  I  L. 

Staatsrath  dr.  Leverkus  hatte  es  übernommen  den  artikel  altvil 
für  das  niederdeutsche  Wörterbuch  auszuarbeiten.  Da  ihm  aber  derselbe 
unter  der  band  an  ausdehnung  gewann  und  für  das  Wörterbuch  zu 
gioss  wurde,  war  es  seine  absieht  ihn  besonders  in  einer  Zeitschrift  zu 
veröflfentlichen.  Seine  krankheit  und  sein  darauf  im  november  1870 
erfolgter  tod  Hessen  ihn  den  artikel  nicht  vollenden.  Wenn  ich  jetzt 
aus  seinen  hinterlassenen  papieren  das  fragment  zum  abdrucke  bringe, 
so  bitte  ich  es  mit  den  umständen  zu  entschuldigen,  wenn  der  artikel 
nicht  die  einheit,  geschlossenheit  und  bündigkeit  hat,  die  ihm  mein  ver- 
storbener freund  sicherlich  gegeben  hätte,  wenn  ihm  ein  längeres  leben 
vergönnt  gewesen  wäre.  a.  lübben. 


Ai^Tvn.  (altwil).  Dies  viel  erörterte  seltene  wort  erscheint  nur 
pluralisch  cUtvüe  und  zwar  zuerst  im  Sachsenspiegel  I,  4  an  einer  gereim- 
ten stelle,  deren  anfang  nach  Homeyers  ausgäbe  lautet:  Uppe  cUtvile 
unde  uppe  dwerge  ne  erstirß  weder  len  noch  erve,  noch  uppe  kropdkint 
Für  dwerge  wird  man  hier,  wie  das  reim  wort  anzeigt,  ursprünglich  wol 
dtverve  gesagt  haben;  vergl.  Brem.  wb.  I,  281.  s.  v.  dwarf.  Es  sind 
insbesondere  bucklichte  und  andere  schief  gewachsene  Menschen  (dwerch 
=  transversus)  darunter  zu  verstehen  und  nicht  etwa  bloss  winzig  kleine 
(dwerch  =  nanus).  Nach  der  kleinen  gestalt  ohne  irgend  ein  bestirntes 
maass  würde  keine  entscheidung  über  die  erbunfähigkeit  eines  menschen 
möglich  gewesen  sein,  und  auch  ebenso  wenig  nach  dem  unrichtigen 
wuchs.  Indessen  erhellt  aus  dem  zusammenhange  klar,  dass  niemand 
erben  soll,  der  wegen  dauernder  Schwachheit  oder  gebrechlichkeit  nicht 
selber  sich  zu  helfen  im  stände,  sondern  lebenslang  auf  die  pflege  der 
seinigen  angewiesen  ist.  Dieser  rechtsgrundsatz ,  einfach  und  bestirnt 
genug  für  die  anwendung,  beruht  auf  dem  erfordernis  der  wehrtüchtig- 
keit  jedes  erben,  und  weist  also  zurück  in  sehr  alte  zeiten.  Er  hat  sich 
am  längsten  erhalten  im  lehnrecht,  obwol  schon  von  dem  feudisten 
(U.  F.  36)  seine  giltigkeit  bestritten  wird.  In  dem  Originaltexte  des 
Sachsenspiegels  hat  aber  jener  reimspruch  gefehlt  und  ist  von  späterer 
band  (gegen  ende  des  13.  Jahrhunderts)  offenbar  nur  deswegen  eingescho- 
ben, um  einige  den  Inhalt  wesentlich  ändernde  bemerkungen  daran  zu 
reihen.  Denn  es  wird  hinzugesetzt,  dass,  wer  ohne  band  oder  ohne 
fuss,  oder  stumm  oder  blind  geboren  sei,  nach  lehnrecht  allerdings 
nicht  erbe,  wol  aber  nach  landrecht.    Ein  gleiches  ist  von  den  dwergen 

SSIT8CHB.    F.  DBUT80HB    PHILOLOOIK.     BD.  UI.  21  ^ 


318  LÜBBEN 

aujffallender  weise  nicht  bemerkt.  Dagegen  wird  neben  den  drei  bezeich- 
neten kategorieen  der  erbunfaliigen  eine  vierte  (früher  nicht  allgemein 
anerkante)  noch  hervorgehoben,  die  der  aussätzigen  oder  mesdseken, 
welche  weder  Im  noch  erve  empfangen. 

Qanz  diesen  bemerkungen  entsprechend  heisst  es  dann  im  Bicht- 
steige  lehnrechts  bei  Homeyer  IL  520:  sint  [=  sint  de]  Uinden  stum- 
men lamen  niaselsuchtigen  altvile  unde  dwerge  nicht  lenerven  en  situ 
Hier  vertreten  die  blinden  and  stummen  und  lahmen  die  kategorie  der 
kropele,  welche  nicht  besonders  genant  werden,  und  unter  ihneu  stehen 
die  lahmen  den  handelos  oder  votdos  gebornen  menschen  des  Sachsen- 
spiegels I,  4  gleich. 

Unklar  bleibt  uns  demnach  allein  die  kategorie  der  aUvile,  so  lange 
wir  die  eigentliche  bedeutung  des  wortes  nicht  mit  Sicherheit  verstehen. 
Zwar  ist  die  ganze  stelle  des  Sachsenspiegels  ausführlich  auch  in  den 
Goslarer  Statuten,  bei  Göschen  s.  10,  zu  gründe  gelegt,  und  wortgetreu 
noch  im  Berliner  stadtbuche,  bei  Fidicm  s.  10,  widergegeben,  aber  diese 
rechtsbücher  gewähren  zur  aufkläning  über  die  aUvile  (so  lesen  beide) 
gar  nichts.  Dass  das  überhaupt  in  keinen  anderen  mittelniederdeutschen 
quellen  vorkommende  wort  schon  im  mittelaltcr  hie  und  da  nicht  ver- 
' standen  worden  ist,  zeigen  die  verschiedenen  lesarten  bei  Homeyer: 
(neben  (dtvile^  aliimle)  cdiveile,  alt  weile,  alwile,  antvüe,  altifile,  aldefilf 
denen  manche  andere  noch  hinzugehen.  Sogar  alczuvil  lesen  mehrere 
handschrifben  des  15.  Jahrhunderts,  in  demselben  sinne  wie  eine  rand- 
bemerkung  der  handschrift  nr.  434  altuvoie  (vole  ist  eine  mittelnieder- 
deutsche nebenform  fiir  vele),  und  diese  angeblichen  „allzuviele"  werden 
von  einigen  glossatoren  erfinderisch  gedeutet  als  menschen,  welchen  all- 
zuviel angeboren  ist,  nämlich  zers  und  futt  oder  heider  kunne  tnechie. 

Wirklich  hat  man,  einer  so  ungeheuerlichen  deutung  folgend,  bis- 
her die  altvile  meist  für  hermapliroditen  gehalten.  Als  ob  nur  die  her- 
leitung „ganz  unwahrscheinlich/'  aber  der  sinn  des  wortes  richtig  ange- 
geben wäre,  versucht  es  Grimm  R.  A.  409  fgg.,  eine  herloitung  vom 
althochdeutschen  tvideUo  =  hermajihroditus  zu  begründen.  Später  hat 
er  sich  jedoch  in  der  Geschichte  der  deutschen  spräche  947  den  glossa- 
toren wieder  genähert,  und  vil  =  muUns  als  zweiten  teil  der  Zusam- 
mensetzung angesehen,  weil  er  ein  althochdeutsches  alta  -»  membrum 
gefunden  zu  haben  meint,  „ein  sonst  unerhörtes  worf  Auch  ihm  sind 
also  die  altviU  menschen,  die  „mehr  als  ein  glied^'  haben  und  MfiUer 
im  Mittelhochdeutschen  wörterb.  III,  814  ist  bereit,  ihnen  ebenfalls  „ein 
glied  zu  viel"  beizulegen,  „wenn  alt  glied  bedeutet."  Es  hätte  wol  in 
betracht  kommen  dürfen ,  dass  eu  viei  mittelniederdeutsch  nie  anders  als 
to  vde  oder  auch  to  {tu)  vole  heisst    Aber  darüber  kann  man  hinw^- 


ALTVIL  819 

seheu  bei  dem  wunderlichen  zuschnitt,  welchen  das  woi*t  ohnehin  erfah- 
ren haben  müste,  nach  dieser  dentung  Qrinims  und  Müllers  nicht  min- 
der als  nach  jener  der  glossatoren.  Gewis  hat  ihm  Homeyer  einen  viel 
geringeren  zwang  angetan,  um  den  begriff  zwitter  hineinzubringen ,  wel- 
chen er  zum  voraus  „  annimt.  '^  Sachsensp.  bd.  IT ,  s.  560.  Mit  recht 
geht  er  davon  aus,  dass  ttrU  als  der  zweite  teil  der  Zusammensetzung 
betrachtet  werden  darf,  da  der  buchstabe  v  an  solcher  stelle  sehr  häu- 
fig in  handschriften  des  13:  und  14.  Jahrhunderts  für  w  verwant  wird, 
und  erkent  als  den  ersten  teil  cd  »  omnino.  Schlimm  ist  es  indessen 
schon,  dass  er  auf  diese  weise  den  vorausgesetzten  begriff  zwitter  in 
dem  alleinigen  werte  ttoil  finden  muss  und  al  in  der  Zusammensetzung 
nicht  blos  überflüssig  wird,  sondern  geradezu  sinlos  erscheint.  Schlim- 
mer freilich  noch,  dass  ein  mittelniederdeutsches  Substantiv  ttoil  «  her- 
maphroditus  nirgends  nachzuweisen  und  als  „  eines  der  zahlreichen  deri- 
vata  von  zwei'*  nur  ein  mittelniederdeutsches  Substantiv  ttoil  (mittelhoch- 
deutsch czweyly  das  ist  zwü^  Diefenb.  nov.  gl.  s.  313  und  gloss.  483)  =^ 
ramus  bekant  ist  Weil  jeder  neue  schössling  am  stamme  oder  ast  eine 
zweiung  oder  Spaltung  und  also  Verdoppelung  darstellt ,  so  bedeutet  mit- 
telniederdeutsch twiUen  (mittelhochdeutsch  gunlhen)  spalten,  verdoppeln. 
Auch  wird  ein  stamm  oder  ast  mittelniederdeutsch  twiUet  (en  twiUede 
böm)  genant,  wenn  er  in  gabelform  gewachsen  ist  (Vgl.  ene  twillede 
beke;  dat  twillede  stucke  landes,  in  oldenburgischen  Urkunden  vom  jähre 
1523  und  1479.)  Endlich  kann  sogar  alles ,  was  gabelförmig  auseinan- 
dergeht, nach  dem  voc.  theotonicalis  durch  das  mittelniederdeutsche 
adjectiv  ttvde  bezeichnet  werden.  Aber  deswegen  sind  wir  doch  nicht 
berechtigt,  auf  ein  mittelniederdeutsches  adjectiv  twil  „mit  dem  sinne 
zweigliedrig"  zu  schliessen,  wie  Homeyer  es  verlangt,  um  den  sinn 
zweigeschlechtig  zu  erhalten. 

Seine  herleitung  des  wertes  cdtvil  oder  altwil,  so  scharfsinnig  sie 
ist,  wird  granmoatisch  dadurch  hinfällig,  dass  dieses  wort  auch  in  mit- 
telhochdeutschen quellen  vorkomt,  und  zwar  ebenso  wie  mittelniederdeutsch 
mit  t  gebildet,  nicht  mit  e.  Die  mittelhochdeutsche  Übersetzung  vom 
Richtsteig  lehnrechts  bei  Homeyer  H,  520  liest  an  der  oben  citierten 
stelle  buchstäblich  aUuile,  und  man  darf  nicht  sagen,  dass  der  Über- 
setzer den  sinn  des  wertes  in  der  mittelniederdeutschen  Urschrift  etwa 
nicht  verstanden  habe.  Denn  dasselbe  findet  sich  am  ende  des  12.  Jahr- 
hunderts schon  als  beiname  eines  bairischen  adeligen  Marquart  Altvil 
in  M.  B.  Vn,  450,  Marchwart  Altfil  in  M.  B.  H,  344  und  VII,  428, 
und  femer  begegnet  es  auch  mit  der  adjectivendung  -isch  etliche  male 
bei  Pischart;  siehe  Grimms  wörterb.  I,  275  s.  v.  altwilisch.  Ein  derivat 
von  ^,zwei"  lässt  sich  also  keinesweges  in  diesem  werte  finden.    Über- 

21* 


320  LÜBB£N 

haupt  aber  muss  man  es  aufgeben ,  in  ihm  den  sinn  zu  suchen ,  welchen 
die  glossatoren  des  Sachsenspiegels  herausgeklügelt  haben.  Es  Z¥ringen 
dazu  nicht  bloss  sprachliche  gründe. 

Der  Zwitter  ist  als  eine  misgeburt ,  in  welcher  mann  und  weib  ver- 
einigt sein  sollen,   aus  der  griechischen   fabel  zwar  genugsam  bekanti 
jedoch  in  der  Wirklichkeit  ein  so   seltenes  wunder,  dass  unser  alteitum 
nicht  einmal  eine  bezeichnung  dafür  gehabt  zu  haben  scheint    Denn  das 
deutsche  wort  „zwitter^*  bezeichnet  ursprünglich  nicht  einen  hermaphro- 
diten ,  sondern  einen  mischling  aus  zwei  verschiedenen  arten  oder  unglei- 
chen ständen,   einen  bastard.     Auch  althochdeutsch  undeUo  bezeichnet 
nicht  ein  wesen,   welches  beider  kunne  mechtc  zugleich  besitzt,  sondern 
umgekehrt  ein  solches,    das  von  beiderlei  gemachten  weder  das  eine, 
noch  das  andere  hat,  nämlich   einen  verschnittenen.    Die  Schlettstädter 
glosse  bei  Haupt,  zeitschr.  Y,  357  sagt  ausdrücklich:  widdy  gut  iesticu* 
los  non  habet.    Es  gilt  in  übertragener  bedeutuug  dieses  wort  fßr  jeden 
unmännlichen  wicht  oder  weibischen  mann  (moUis,  effemin(Uu8,  s.  Graff  I, 
653  und  777),   und  ausserdem  ebenso  wie  alt-  und  mittelhochdeutsch 
zwitarn  fQr  alle  halbschlächtigen  geschöpfe,  welclie  durch  ihre  abstam- 
mung  in  der  mitte  zwischen   zweien  arten  stehen,   also  keiner  von  bei- 
den ganz  angehören;  s.  Haupt  a.  a.  o  3G7.  s.  v.  hibrida  und  Schmellerl, 
396  (zuitham,   hibris).     Das  eine  wie  das  andere  woi*t  hat  in  solchem 
sinne  auch  angewendet  werden  können  auf  das  griechische  phantom,  wel- 
ches nach  der  fabel  bei  Ovid.  Met.  lY,  379  in  seiner  Zusammensetzung 
keines  von  beiden  geschlechtem  und  gleichwol  von  beiden  jedes  —  naf- 
trumque  et  utrtimque  —  zur  erscheinung  bringt.    Aber  erst  im  späteren 
mittelalter    und  nur   in   vocabularien    wird    mittelhochdeutsch    etaeiam, 
zwidorn,  switor   zur  Übersetzung  von  hermapf^roditus   gebraucht,    und 
wol  nicht  ohne  den  einfluss  des  klassischen  altertums  ist  seitdem  dieser 
ursprünglich  dem  werte  ganz  fremde  begriff  allmählich  der  herschende 
geworden.     Heutzutage   werden  daher  auch  ältere  quellen,  in  welchen 
von    Zwittern   die    rede,  ist,    leicht    unrichtig    aufgefasst,    und    selbst 
Grimm  R.  A.  410  hat  übersehen,   dass  in  der  von  ihm  citierten  quelle 
des  16.  Jahrhunderts  die  ztcift^ne  nichts  als  bastarde  sind. 

Über  hermaphroditen  handelt  keines  unserer  alten  rechtsbflcher 
irgendwo.  Dass  aber  diese  höchst  seltenen  (von  der  plastik  der  Grie- 
chen phantastisch  veredelten)  misgeburten  in  der  gereimten  rechtsparS- 
mie  des  Sachsensp.  1,4  als  eine  der  drei  kategorien  von  erbunfthigen 
und  zwar  an  erster  stelle  sollten  aufgeführt  worden  sein ,  ist  um  so  weni- 
ger denkbar,  weil  alsdann  eine  sehr  zahh*eiche  kategorie  vergessen  sein 
würde ,  welche  gerade  ihrer  Wichtigkeit  wegen  vor  jeder  anderen  genant 
werden  muste,   die  der  geistesschwachen.    Eine  bestätigung  dafür,    dass 


ALTYIL  321 

in  dem  reimspruch  unter  den  einer  dauernden  pflege  bedürftigen  und 
eben  deswegen  erbunf&higen  menschen  an  erster  stelle  die  irrsinnigen 
oder  unklugen  gemeint  und  bezeichnet  worden  seien ,  gewähren  uns  die 
Übersetzungen.  In  der  von  Hattema  zu  Leeuwarden  1834  und  1835  her- 
ausgegebenen Jurisprudentia  Frisica,  einem  Sammelwerk  aus  dem  15.  Jahr- 
hundert, ist  II,  222  der  ganze  artikel  des  Sachsenspiegels  übersetzt,  des- 
sen anfang  hier  in  friesischer  mundart  lautete :  Op  derten  lyaed  (törichte, 
d.  h.  verrückte  leute)  ende  dtoirgen  enmey  neen  leen  ner  neen  erwa 
bystera  (besterben).  Auch  die  Haager  handschrift  nr.  292  von  1451  über- 
trägt aUvüCj  welches  also  dem  holländischen  abschreiber  kein  geläufiges 
wort  muss  gewesen  sein,  durch  dämmen  luden.  Insbesondere  sind  aber 
die  lateinischen  Übersetzungen  des  Sachsenspiegels  zu  beachten ,  deren  es 
nach  Homeyer  wenigstens  drei  verschiedene  gibt.  Weil  die  für  aUvüe 
und  für  dwerge  von  ihnen  gebrauchten  ausdrücke  gewöhnlich  nicht  strenge 
genug  auseinander  gehalten  werden ,  so  stellen  wir  für  jede  dieser  bei- 
den kategorien  der  erbunföhigen  die  dreifachen  lateUiischen  bezeichnun- 
gen  so  neben  einander,  wie  sie  sich  ergeben  aus  Homeyers  Deutschen 
rechtsb.  s.  14  und  seiner  dritten  ausgäbe  des  Sachsenspiegels  s.  160. 
Die  von  ihm  verglichenen  handschriften  verwenden,  was  wol  hervorge- 
hoben werden  darf,  das  wort  hermaphroditus  überhaupt  nicht.  Sie 
gebrauchen  vielmehr  an  erster  stelle  die  ausdrücke  Ls.  n^unias  oder 
Lz.  vtmus  (denn  nanos  ist  hier  ohne  zweifei  uanos  zu  lesen,  während 
die  lesart  Lb.  gnauos  aus  ignauos,  vgl.  Diefenbach  Nov.  gl.  209  ignavas, 
did,  und  Qloss.  285  geck,  thum^  unweysz;  2  Voc.  Wolfenb.  ignavus^ 
unwettich;  Yoc.  Loccumensis:  ignarus,  vnwetende  vd  est  stultus;  ignauus, 
idetn,  vnweytende;  ignauia,  ignorantia,  entstanden  sein  mag)  oder  Lv. 
fatuus.  Irrtümlich  wird  also  homunciones,  d.  i.  dwerge  von  Grimm 
B.  A.  410  und  sogar  von  Homeyer  selbst,  dritte  ausgäbe  s.  395,  auf 
altvile  bezogen.  In  folge  davon ,  und  zugleich  wegen  der  falschen  lesart 
nanos  fQr  uanos  ist  von  dem  letzteren  auch  das  wort  nq>tunius  irrig 
verstanden  worden ,  Deutsche  rechtsb.  a.  a.  o.  Der  altvil  hat  nicht  ein 
„  zwerghaftes  ^'  wesen,  wol  aber  ist  sein  wesen  nach  niederdeutschem 
Sprachgebrauch  dmsch,  woför  mit.  neptunius  (Diefenbach  Gloss.  378 
neptunus,  necker)  treffend  gesagt  werden  kann.  Denn  der  fatuus  oder 
vanus  und  ignavus  ist  nach  dem  glauben  alter  zeiten  durch  berührung 
der  dve  geistesschwach,  d.  h.  dvisch  geworden.  (VgL  Kosegarten  nd. 
wörterb.  226  und  Schambach,  56.)  Die  Übersetzungen  alle,  nicht  bloss 
die  lateinischen,  fordern  demnach  übereinstimmend  eine  solche  deutung 
des  reimspruchs  im  Sachsensp.  I^  4,  wie  sie  etwa  die  goldene  bulle  kai- 
sers  Karl  lY.  von  1356  durch  ihre  bestimmung  über  die  fahigkeit  zur 
regierungserbfolge  gibt,   c.  XXV.  §3:    IVimogenüus  ßim  succedat  in 


322  LÜBBEN 

eis  (principatibtis) ,  nisi  forsitan  mmite  captus,  fatuus  seu  aUerius  famosi 
ac  notabUis  defedus  existeret,  propter  quem  non  deberet  seu  posset  hamir- 
nibus  prüidpari. 

Es  wird  nunmehr  darauf  ankommen,  ob  ein  den  übersetzufigen 
entsprechender  begriff  in  dem  werte  altvü  auch  etymologisch  darzulegen 
ist  Haupt ,  welcher  in  seiner  Zeitschrift  VI ,  400  zuerst  auf  den  beina- 
men  des  bairischen  adeligen  Marquart  Altvil  oder  Altfil  aufiuerkaam 
gemacht  hat,  erachtet  es  durch  die  letztere  Schreibart  als  erwiesen ,  dass 
aU  =^  vetus  der  erste  teil  der  Zusammensetzung  sei,  ohne  jedoch  für  vü 
eine  erklärung  zu  finden.  Indem  er  aus  den  lateinischen  Übersetzungen 
des  Sachsenspiegels  irrig  homuncio  als  mit  altvil  gleichbedeutend  heran- 
zieht, erinnert  er  an  das  „greisenhafte  aussehen  der  zwerge,  die  in  den 
sagen  und  märchen  immer  alt  erscheinen/*  Es  ist  freilich  nicht  einzu- 
sehen, wodurch  alsdann  die  altpUe  und  die  dwerge  des  reimspruchs  von 
einander  sich  unterscheiden  sollten.  Sachsse  versucht  indessen  in  der 
Zeitschrift  für  deutsches  recht  XIY.  6  fgg.  den  gedanken  Haupts  weiter 
zu  entwickeln ,  und  findet  in  altvil  auf  drei  verschiedenen  wegen ,  deren 
einer  den  andern  an  kühnheit  übertrifft,  inmier  die  bedeutung  „wechsel- 
balg.**  An  der  meinung,  dass  eine  Zusammensetzung  mit  aU  vorliege, 
hält  auch  Höfer  fest,  welcher  dem  werte  kürzlich  eine  besondere  Schrift 
gewidmet  hat:  Altvile  im  Sachsenspiegel,  Halle,  1870.^  Es  scheint  ihm 
die  lateinische  bezeichnung  neptunius,  weil  er  sie  gerade  so  wieHomeyer 
versteht,  wirklich  die  bedeutung  wechselbalg  zu  ergeben.  Nur  sieht  er 
darin  ein  misverständnis  von  selten  des  Übersetzers,  und  erklärt  allein  die 
von  einem  andern  Übersetzer  gewählte  lateinische  bezeichnung  fatuus  ffir 
die  richtige.  Er  behauptet  mit  recht,  es  könne  der  reimspruch  an  erster 
stelle  nur  „geistige  krüppel"  verstanden  haben  im  gegensatze  zu  den 
mit  körperlichem  fehl  behafteten.  Überraschend  aber  ist  seine  wori- 
erklärung,  welche  diesen  sinn  ergeben  soll.  Denn  er  gelangt  zu  der  Über- 
zeugung, dass  das  wort  aUvUe  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  „ftlt- 
feile,  alte  feile**  besage  und  eigentlich  eine  schelte  müsse  gewesen  sein, 
wiewol  er  s.  26  sich  selbst  nicht  verhehlt,  dass  das  „unglaublich  aus- 
sieht.'' Ernsthaft  einer  solchen  etymologie  zu  widersprechen  erscheint 
unmöglich,  und  nur  die  bemerkung  sei  gestattet,  dass  aUvile  keine  sin- 
gularform ist.  Das  bestreben  dieses  wort  von  aU  herzuleiten ,  f&hrt  offen- 
bar zur  Verzweiflung  über  den  zweiten  teil  der  Zusammensetzung.  Wir 
halten  dagegen  die  von  Homeyer  vorgeschlagene  trennung  der  beiden 
bestandteile  (in  al  und  twil)  für  die  richtige.    Sicher  würde  dem  berfihm- 

1)  Dazu  als  ergänzender  nnd  bestätigender  nachtrag :  „  AUf}%U  im  Saehsenspie* 
gel''  in  Germania,  herausg.  von  K.Bartsch.    Wien  1870.    15,  417  —  419.       Red. 


ALTYIL  823 

ten  herausgeber  des  Sachsenspiegels  auch  die  nahe  liegende  deutong  nicht 
entgangen  sein,  wenn  ihm  die  anlautende  tenuis  in  twil  nicht  verführt 
hätte,  darin  ein  derivatum  von  „zwei"  zu  suchen.  Denn  gewöhnlich 
hat  allerdings  der  mittelniederdeutschen  form  für  althochdeutsch  ttvelan 
und  mittelhochdeutsch  twdn  ein  anlautendes  d,  ganz  der  regel  gemäss, 
gebührt  Allein  diese  regelmässige  mittelniederdeutsche  form  dwden 
oder  dwalen  ist  doch  nicht  die  einzige. 

OLDENBÜBG  1870.  LEVERKUS. 

Bis  soweit  reicht  das  manuscript  meines  verstorbenen  freundes. 
Nach  den  anliegenden  notizen  und  nach  den  besprechungen,  die  ich  so 
häufig  wegen  dieses  wertes  mit  ihm  gehabt  habe ,  möge  es  mir  gestattet 
sein,  folgendes  hinzuzufügen. 

Nach  dem  gesetze  der  lautverschiebung  muss  das  gotische  wort 
dvcds  mit  seinen  ableitungen  und  Zusammensetzungen,  dvcUavaurdei, 
dvalitha,  dvalmon  bei  dem  übertritt  ins  Hochdeutsche  mit  t  anlauten, 
nicht  mit  0;  im  Niederdeutschen  dagegen,  das  mit  dem  Gotischen  auf 
derselben  lautstufe  der  consonanten  steht,  muss  das  d  bleiben.  Danach 
kann  also  aUvü,  vorausgesetzt  dass  es  von  der  ivurzel  dwdan  herkomt, 
im  Hochdeutschen  nur  cd-tunl  geheissen  haben;  ist  (ütvü  dagegen  eine 
composition  mit  tvai  (zwei),  so  muss  es  hochdeutsch  in  cd-zuM  über- 
gehen. Nur  in  dem  falle  wäre  für  die  erstere  ableitung  ein  zw  statt 
tw  statthaft ,  wenn  man  annehmen  wollte ,  dass  der  Ursprung  des  wertes 
schon  AnQh  in  eine  solche  Verdunkelung  geraten  sei,  dass  man  dasselbe 
als  ein  ursprünglich  mit  tw  statt  mit  dw  anlautendes  angesehen  und 
dann  dem  gesetze  gemäss  in  zw  verwandelt  habe.  Der  älteren  zeit  aber, 
der  dwdan  doch  kein  ungebräuchliches  wort  war,  eine  solche  Unwissen- 
heit beizulegen ,  ist  mislich.  Etwas  anderes  ist  es  in  der  neueren  zeit 
des  Hochdeutschen ,  der  das  wort  twden  allmählich  ganz  abhanden  gekom- 
men ist,  abgesehen  davon,  dass  im  Neuhochdeutschen  jedes  dw  oder  ^tc; 
in  zw  übergeht.  Daher  ist  es  nicht  auffallend,  wenn  wir  bei  Schmel- 
1er  IV,  304  die  bairische  form  gezwölen  (=  betäubt ,  verwirrt ,  irre  redend) 
finden.  Indes  ist  zu  bemerken,  dass  die  consonantengruppe  tv,  tw  (dv, 
dw)  sich  nicht  streng  an  die  regel  gebunden  hat,  sondern  dw  und  tw 
promiscue  gebraucht  worden  sind.  Siehe  Grimm,  Gr.  1,  419  und  Mit- 
telhochd.  Wörterbuch  unter  tw.  So  wechseln  dmngen  und  twingen,  dwa- 
Ken  und  twagen.  Auch  im  Niederdeutschen  sind  dw  und  tw  nicht  immer 
auseinander  gehalten,  sondern  manchmal  mit  einander  vertauscht  wor- 
den. So  heisst  es  in  den  Bremer  Statuten  (von  1303),  ed.  Oelrichs 
s.  33 :  Wdde  se  oc  ere  claghe  vurswigen  over  twere  nacht;  s.  61 :  So  we 
oc  anderen  mes  let  uppe  tl^  strate  bringen  ^  the  sal  ene  weck  bringhen 


324  LÜBBEN 

laten  umme  (he  thwernachftj.  Ebenso  findet  sich  ttüertMcM  im  L&bedcer 
recht  ed.  Hach  (s.  328)  in  der  handschrift  D. ,  während  die  übliche  form 
dwernacM  ist.  Ferner:  Unde  twinget  den  duud  to  aUer  stunt,  Theo- 
phil. .1,  y.  416  (von  Hoffniann);  Nu  twing  gy  uns  mit  juwer  UdkheU, 
das.  578;  van  twangettes  (=»  dwandes)  wegene,  Bothos  Ghron.  foL  88. 
Namentlich  findet  sich  in  der  halberstädtischen  niederdeutschen  bibel- 
übersetzung  von  1522  —  also  in  der  Harzgegend ,  wohin  auch  der  Sach- 
senspiegel zu  setzen  ist  —  häufig  dw  und  tw  ohne  unterschied  neben 
einander  gebraucht,  z.  b.  twenge  (angustia)  Hieb  36,  15;  ein  hantvat 
to  twtigene,  2.  Mos.  30,  18;  twagevat,  2.  Mos.  31j  d;  he  dwoch,  2.  Mos. 
40,  8;  tuH)ch,  2.  Sam.  11,  2;  twelinge  (error),  Jes.  26,  3,  se  twdeden 
in  der  wütenisse,  Jes.  16,  8;  dagegen:  Ein  iewdik,  de  dar  dwdet  nan 
dem  wege  der  lere,  Sprichw.  Sal.  21^  16  und  so  häufiger.  Auch  gibt 
das  Brem.  wörterb.  1,  280  und  5,  135  an,  dass  statt  dwaien  im  Han- 
noverschen twcden  gesagt  werde.  Es  kann  daher  aus  dem  anlaute  tw 
kein  gegengrund  hergenonunen  werden ,  dass  altvil  nicht  von  dvoden  her- 
zuleiten seL 

Dieses  verbum,  althochdeutsch  ttmUm,  twaiian,  twelian,  angelsäch- 
sisch dvelian,  altfr.  (dwda)  dwHa,  mittelhochdeutsch  twden,  niederdeutsch 
dwelen,  dwaien  (dolen,  doelen,  dalen,  dailen)y^  gotisch  dvalmon  (daraus 
talmen),  bedeutet  wol  ursprünglich:  sich  im  kreise  herumdrehen,  sich 
herumwirbeln,  eircumagi,  volvi,  verti.  Diese  bedeutung  ist  freilich 
nicht  mehr  unmittelbar,  zu  erweisen ,  sie  ist  aber  aus  einigen  spuren 
ersichtlich.  Es  zeigt  sich  z.  b.  in  dwadinge,  dwadinghe  int  water,  vor* 
texj  Eilian  Dufflseus;  in  dol,  das  einen  kreisel  (kuseT)  bedeutet;  dop,  toi, 
troperiUus,  trochus,  Teuthon;  dol,  top,  turbo,  trochus,  volübUe  buxum 
bei  Kil.  s.  v.  ^^  der  hinzusetzt:  a  to^)pefi,  circumverti,  sicut  dol  sit» 
toi  a  dolen  i,  e.  ah  errando  sive  vagando,  dum  scutiea  agitatur.  Daher 
toUen,  ludere  trocho;  in  dolle,  scalmus,  lignum  teres,  eui  struppis  oKi- 
gantur  remi,  der  runde  (gedrechselte)  ruderpflock.  Eil.;  doUf,  kaul- 
kopf;  cottus  gobiOj  der  fisch  mit  dem  dicken  kugelförmigen  köpfe,  siehe 
unten  dolf;  dole,  holländisch  dod,  die  Scheibe,  nach  der  geschossen  wird; 
dol-,  dulwitt,  der  weisse  punkt  in  der  Scheibe;  dole  in  dukdallon  oder 
dükdollen  Stürenb.  s.  42 ,  die  mit  seitenstreben  versehenen  pfähle  in  den 
häfen.    Überhaupt  scheint  dd,  dole  alles  das  zu  bezeichnen,  was  durch 

1)  Das  niederdeutsche  dwelen  wird  übrigens  sowol  stark  als  schwach  coiga* 
giert:  dwöl,  dwolen  und  dwelede;  gedwolen  und  gedweU.  Yn  dUen  deuen  äyngen 
diooell  dat  hovet  der  kercken,  MOnst.  ehr.  1,  136;  vele,  de  dwolen  das.  144;  he 
dwelede  van  der  kantnisse  der  warheit  Brief  d.  Cirillus  (Mscr.)  s.  105 ;  De  mens^en 
hd)ben  gedtoolen^in  desser  wostenye  Brief  d.  Eusebius  (Mscr.)  s.  10;  idt  fryn  ejjfn 
ßcKap ,  dat  gedweU  heft  das.  s.  42. 


YVSViL  325 

eine  drehung  entstanden  ist  oder  entstanden  gedacht  werden  kann,  also 
rund ,  sei  es  scheibenrund  oder  kugelrund,  erscheint  S.  Grimms  wörterb. 
2,  1227.  Vgl.  dcllfusz,  klumpfuss;  doUschmkel;  döUeisen,  ein  länglich- 
rund spitz  zulaufendes  Werkzeug  zum  f&lteln  der  wasche;  dölsch  und 
dölschichi  geschwollen.  Siehe  diese  Wörter  in  Grimms  Wörterbuch.  — 
Ferner  in  tollen,  Z.  b.  Overst  ist  . .  dcU  gy  goddes  willen  tho  lernen 
ackUos  Uiven^  so  urirt  ito  ock  die  verslant  seines  unUens  alle  tu  ver- 
deckt  sin,  und  moten,  wo  die  Uinden  hei  tage  thun,  gaen  tasten  unde 
toUen,  Münsi  Chr.  2,  302,  wo  es  doch  nicht  insanire,  ddira/re  heissen 
kann,  sondern,  ¥rie  aus  dem  beigesetzten  tasten  und  aus  der  sache  selbst 
hervorgeht,  herumfühlen,  sich  drehen  und  wenden  nach  art  der  blinden, 
bezeichnen  muss.  Ebenso  ist  yielleicht  in  der  Magdeburger  Schöppen- 
chronik ,  ed.  Janicke  s.  207 :  In  demsulven  jare  (1349)  begunnen  ichtes- 
welke  megede  unde  vruwen  in  dem  lande  to  iMsitze  to  duilen  unde  to 
dangen  und  jubüeren  vor  unser  leven  vruwen  hdde  das  duUen  von  einem 
herumspringen ,  tanzen  zu  verstehen ,  obwol  es  hier  auch  natürlich  toll, 
unsinnig  sein  und  sich  so  geberden  heissen  kann.  Auch  in  der  allitte- 
rierenden  Verbindung  „toben  und  tollen ,^^  das  wir  namentlich  vom  wil- 
den spiel  der  kinder  gebrauchen,  klingt  noch  die  alte  bedeutung  durch, 
indem  wir  dabei  weniger  an  den  lerm,  als  an  die  raschen,  wirbelnden 
bewegungen  denken,  in  denen  die  kinder  sich  herumjagen.  Auch  das 
althochdeutsche  dawalön  bei  Otfried  III,  2^  7:  Quad,  er  io  bi  noti  lagi 
(der  filius  reguli)  dautuUonti,  joh  uuari  in  fheru  sukti  mit  groeeru 
unmahti,  was  mit  „dahinsterben"  (Wackernagel  im  Gl.)  erklärt  wird, 
ist  vielleicht  nichts  anderes  als  das  dwcdön,  das  zucken,  das  palpitare 
der  sterbenden  {pcdpitat  et  positas  aspergit  sanguine  mensas,  Ovid.  Met. 
5,  40),  wenn  es  anders  nicht  in  übertragener  bedeutung  „irre  reden, 
phantasieren,"  wie  es  die  im  todeskampfe  liegenden  zu  tun  pflegen, 
gebraucht  ist.^  Vergleiche  auch  dauein,  dauddn  »  dcden  im  Brem. 
wörterb.  5 ,  346  und  Grimms  wörterb.  2 ,  646.  Auch  ist  wol  hierher  zu 
ziehen  das  mittelhochdeutsche  getwel.  Din  ufi^en  arm  getwd.  Ls.  3, 
Ö74,  deine  runden  (gleichsam  gedrechselten)  arme ,  vgl.  Farziv.  258,  28. 

• 

1)  Maassgebenden  anhält  för  die  beurteilnng  des  Otfriedischen  «/ral  leyoficvov 
damuüänti  gewährt  der  wortlant  der  benutzten  quelle.  In  der  erzählnng  yon  dem 
haaptmann  zu  Eapemaam  ist  Otfried  nicht,  wie  die  Verfasser  des  Tatian  und  des 
Heliand ,  dem  berichte  des  Matthaens  (cap.  8) ,  sondern  dem  des  Johannes  gefolgt. 
Dort  aber  heisst  es  in  der  entsprechenden  stelle  (4,  47):  et  rogabat  eum,  ut  descen- 
deret  et  sanaret  fUmm  ejus;  incipiebat  enim  mori.  Hiemach  ist  dawalön  als 
abgeleitetes  verbom  zu  steUen  neben  got  *divan,  prset.  dau,  sterben,  af-dau^an, 
abquälen,  abmatten,  ahd.  totojan,  Uman  (vgl.  Muspilli  v.  1)  sterben,  vor  welchem 
letzteren  Grimm  schon  1822   (Gramm.  I>,  142)  ein  älteres  *daw«n  vermutete,   was 


326  LÜBBBN 

Jane  wart  nie  drtehsd  so  snel,  der  si  (die  brüste)  gedrtßt  hete  hae. 
Bedenkt  man  ferner,  dass  dw,  tw  mit  qu,  w  wechselt,  so  möchte  wol 
auch  qudan  (torqttere)  und  quillen,  wcUen  (buMire  und  nauseare  s.  Die- 
fenbach  s.  y.)  wdle  (unda,  fons  und  die  cylinderf5rmige  walze,  occiüm^ 
lum,  een  weile,  daermen  die  grote  dut&n  niede  hrect  Diefenb.  nov.  gloBS. 
s.  y.  so  wie  die  drehwelle  am  bi-unnen),  das  adjectiy  wd,  rund,  und 
andere  hieher  gehörige  Wörter  unter  diese  wurzel  dwdo/n  zu  bringen  sein, 
und  die  im  Mittelhochdeutschen  wörterb.  3,  470  und  672  gemutmaasste 
y erlerne  wurzel  wü,  wal  möchte  yielleicht  in  dwdan  widergefunden  sein.^ 
Aus  dem  „sich  drehen ^^  entwickelt  sich  naturgemäss  der  b^riff 
des  sich  herumtreibens ,  sich  auf  derselben  stelle  bewegens,  des  sich  aaf- 
haltens  (ygl.  das  lat  versari)  und  dwde^i  komt  fast  dem  waMn  gleich. 
Wenn  in  den  Loccumer  biblischen  erzählungen  (mscr.)  der  erzvater 
Jacob  sagt:  Drittich  iar  wnde  hundert  hdube  ik  gedwden  in  desser  toerlt 
(foL  25*"),  so  ist  das  dwden  ganz  gleich  dem  wallon  im  Hildebrauds- 
liede,  wo  Hildebrand  sagt:  Ih  walldta  stmiard  eftti  wintro  sdhstic.  VgL 
auch  dde,  fenmia  vagabunda.  Grimms  wörterb.  s.  y.  Dieser  begriff  ent- 
wickelt sich  nun  in  den  yerschiedenen  mundarten  nach  yerschiedenen  sel- 
ten hin.  Im  Englischen  to  dwdl  hat  der  begriff  des  sich  aufhaltens  die 
ausgeprägteste  gestalt  erhalten,  so  dass  jede  andere  bedeutung  gegen 
die  des  „  wohnens "  zurückgetreten  ist.  Im  Altsächsischen  —  soweit  wir 
wenigstens  kentnis  dayon  haben  ^  nur  einmal  findet  sich  duehnt,  errant 
(Gl.  Lips.  bei  M.  Heyne ,  kleinere  altnd.  denkm.  s.  45) ,  —  herscht  der 
begriff  des  nicht  yom  flecke  kommens  —  denn  der  sich  herumdrehende 
bewegt  sich  freilich  genug,  komt  aber  trotzdem  nicht  yorwärts,  sondern 
kehrt  immer  zu  dem  anfangspunkte  wider  zurück  —  des  zögems,  sän- 
mens  so  wie  transitiy  (dwdian)  des  aufhaltens,  hinderns,  henrniens  vor. 
Habda  thuo  farmerrid  (y ersäumt)  thia  moragan  stunda,  thcs  dagwerkes 
fordwolan,  Heliand  3467;  Ihan  sJcal  Judeono  filu,  theses  rikeas  8uni, 
berobode  weräan  bedudida  (so  der  cod.  cott.,  bedelida  cod.  monac.) 
sultkorö  diuräö  (ehren)  2140;  wid  fiundo  nit,  wiä  demero  dtvalm  (hin- 
derung)  53.  Ebenso  im  Althochdeutschen  s.  Graff  V,  548  ff.,  und  im 
Mittelhochdeutschen,  siehe  Mittelhochd.  wörterb.  unter  twde^i.  Im  Nie- 
derdeutscheu, das  uns  hier  besonders  angeht,  hat  die  wurzel  nach  der 
Seite  sprossen  getrieben,  dass  duxüen  dwelen  yorzugsweise  „in  der  irre 

seitdem  bestätigt  worden  ist  durch  das  ga-tauuen,  tnortem  (pati)  des  fragmentes  de 
voeatione  gentium,  Fragm.  theot.  cd.  2*  Viennae  1841.  s.  15  (22).  MüUenhoff  und 
Schercr,  denkmäler  deutscher  pocsic  u.  prosa  s.  164  (3,  8).  Über  die  etymologie  von 
divan  und  &vi^(fxeiv  vgl.  Ourtius,  grundzüge  d.  griecli.  etym.  2.a.  Leipzig  1866. 
s.  479.  Z. 

1)  Vgl.  Curtius  a.  a.  o.  nr.  527  s.  822.  Z. 


AJJKYJL  327 

umhergehen,  umherirren^'  bedeutet,  bystren,  dtoden,  dwaleuj  dcien, 
dcUen^  wütlopen,  Teuthon.  und  Eil.,  so  wie  die  Yocabularien  unter 
errare,  aberrare,  deviare,  vagari  usw.  „dwcUjen  (in  Stade)  allenthalben 
herum  laufen ,  ohne  sich  daran  zu  kehren ,  ob  der  weg  gebahnt  oder  tief 
und  kotig  ist.  Darum  nent  man  daselbst  ein  kind,  das  durch  dreck 
und  pfutzen  läuft ,  een  dretMwalger,"  Brem.  wörterb.  5 ,  359.  Hierher 
gehört:  dtodlecJU,  irrlicht,  Kichey  Id.;  dwelwech,  devium,  Yoc.  Engelh.; 
dolhof,  labyrinthus,  Kil.;  dwdgarfdejn ,  Stürenb.  s.  43.  Im  übertrage- 
nen sinne  wird  es  gern,  ausser  in  der  bedeutung  von  aufruhr,  yerwir- 
ruDg,  wirrsal  (De  van  Bostock  teeren  gekamen  in  eyne  dwalerie  unde 
afsetten  oren  rat,  Bothos  chron.  fol.  280)  von  der  abirrung  von  dem 
wege  der  Wahrheit,  vom  rechten  glauben  »  ketzerei  gebraucht,  wie  auch 
althochdeutsch  gcUwola ,  hsresis^  Graff  Y,  652.  Dwedre  van  der  her- 
sten  gelaveti,  hereticus;  stUke  dwdyng  heit  heresis,  Teuthon.;  mesters  der 
dtoeUingej  Dialog.  Greg,  (mscr.)  fol.  246;  de  gruwsame  dwdlonge,  ver- 
doempte  secte  unde  lere  der  wedderdoep,  Munst.  chron.  2,  217;  Dar  (im 
glauben)  wart  Hus  unrecM  inne  vunden  unde  dwdhaftich.  Lüb.  chron. 
2,  487. 

Auf  geistige  tätigkeit  bezogen  heisst  dwden  mit  seinen  gedanken 
herumirren,  irrsinnig  und  wirrsinnig,  verdummt,  betäubt  sein,  und 
bezeichnet  jede  art  von  geistesstörung  von  der  stumpfsinnigkeit  an  bis 
zur  raserei.  Setzte  man,  wie  es  im  Mittelhochd.  wdrterb.  (3,  159^) 
geschehen  ist,  nach  den  althochdeutschen  glossen  bei  Graff  Y,  548  tor- 
pere,  starr  sein,  als  grundbedeutung  an,  so  könte  nie  daraus  die  sinn- 
liche bedeutung  des  herumirrens  hervorgehen,  noch  würden  sich  alle 
unterschiede  des  irrsinns  darunter  begreifen  lassen,  denn  ein  toller 
mensch,  furiosus,  furibundus  ist  doch  nicht  ein  hämo  torpidus,  wol 
aber  sind  beide  dwelende.  Die  althochdeutschen  glossen,  die  nach  glos- 
senart  nur  eine  bestimte  stelle  ins  äuge  fassen,  geben  nur  die  eine 
Seite  des  dwdens  an ,  die  besinnungslosigkeit ,  betäubung ,  lethargie ;  denn 
auch  diese  gehört  zur  „tobsucht'';  vgl.  Diefenb.  s.  v.  letargia,  licargia, 
tobende  sucht  . . .  teer  sy  hat^  der  ist  iemerieicJi  mit  cztigetan  ougen  also 
ob  er  slafe; . .  den  tobensuchtigen ,  dy  do  di  äugen  czu  tun,  alsi  slaffen. 
Die  im  Mittelhochdeutschen  Wörterbuch  unter  erttvü  angeführten  stellen 
(die  ertrunken  und  erttvälen  . .  si  erstickten  und  erttoälen)  sind  deshalb 
meiner  meinung  nach  richtiger  zu  übersetzen:  sie  ertranken  (erstickten) 
imd  verloren  die  besinnung.  Es  fragt  sich  aber,  ob  nicht  vielleicht 
beide  stellen  besser  unter  erquü  =  sterbe  anzusetzen  sind. 

In  den  resten  der  gotischen  spräche  ist  diese  Wortfamilie  nur  noch 
in  dieser  abgeleiteten  oder  übertragenen  bedeutung  zu  finden  und  zwar 
sowol  im  sinne  von  raserei  ftavia  (unhtdthon  habaith  jah  dwalmoth, 


828  LÜBBEN 

fialverai,  Job.  10,  20)  als  von  Stupidität  und  dummheit  juoi^/a  (thata 
vaurd  gcdgins  thaini  fralusnandam  dvalitha  (jiioqia)  ist,  l.Gor.  1,  18). 
Im  Alt-  und  Mittelhochdeutschen  sind  die  verbalen  formen  in  dieser 
bedeutung  nicht  gebräuchlich;  nur  das  Substantiv  twalm  (qualm,  dclm) 
findet  sich  so,  das  aber  nicht  mit  Grimm,  wörterb.  2,  1776  als  „drack 
auf  das  gehirn''  zu  deuten,  sondern  vielmehr  mit  „taumel,  wirbel, 
Schwindel,  betäubung,  vertigo '^  zu  erklären  ist  VgL  Graff  V,  552: 
twalm,  lethargus,  somnus,  excessus  (d.  i.  exaTaaig,  sowol  geistesver- 
zückung^  als  tiefe  Ohnmacht),  j)avor,  und  Diefenb.  s.  v.  abducUo:  quando 
quis  pro  nimio  dolore  äbalienaturj  twalm;  extasis,  excessfAS  mentis,  pro-' 
prie  beswyfnet.  cod.  Luneb.  v.  j.  1488  (mscr.).  Im  Niederdeutschen  ist 
das  wort  in  dieser  bedeutung  sowol  in  verbal-  als  nominalformen  viel- 
fach verbreitet:  hystereyi,  dwelen  (dwalen),  hasen,  desipere^  Teuthon.; 
dw  allen,  vcuj/ari,  mente  captum  se  praebere.  He  dwaUt  so  wat  herum- 
fner  her,  Manzel,  Bützow.  ruhest.  3,  33;  dwalen,  sich  im  urteilen 
betrügen,  unvernünftig  handeln,  törichte  Sachen  vorbringen,  verdwaiet 
snakken,  unvernünftiges,  albernes  geschwätz  vorbringen.  Brem.  wörterb. 
1,  280;  „Daher  braucht  man  in  einigen  gegenden  Englands  du^aüle  für 
die  verrückung  des  Verstandes  im  fieber,  das  irrereden  der  kinder," 
das.  5,  359.  BedwooU,  verwirrt,  verirret,  Strodtm.  osnabr.  id.  s.  22; 
een  verdwden  herl,  einer  der  nicht  richtig  im  köpfe  ist;  das.  b.  46; 
talmen,  {dalmen,  Grimms  Wörterbuch  unter  dahlen),  manisare,  Voc 
Engelh.;  Doren,  wan  de  begynnen  to  schympen,  so  talmen  de  hoven 
gana  gerne,  Koker  1304;  vgl.  Brem.  wörterb.  5,  15;  Stürenb.  s.  v. 
Strodtm.  gibt  dem  werte  talmen  s.  241  auch  die  bedeutung:  heftig  bit- 
ten,  betteln.  He  steiht  un  talmet  un  thronet  assen  beedler.  Dies  ist 
unrichtig;  schon  das  Brem.  Wörterbuch  bemerkt,  dass  diese  bedeutung 
in  Bremen  unbekannt  sei.  Wol  aber  heisst  es  (wie  twden)  zaudern ,  wie 
auch  Strodtm.  selbst  als  zweite  bedeutung  ansetzt:  an  eine  sache  nicht 
wollen,  au&chub  suchen.  In  dem  angeführten  beispiele  heisst  es  auch 
nichts  anderes  als  „zaudern,  nicht  weg  wollen,**  wie  es  die  art  unver- 
schämter, zudringlicher  bottler  ist,  die  ihren  weg  nicht  rasch  ans  der 
tür  finden  können,  sondern  stehen  bleiben  und  von  neuem  ihre  bitten 
erheben,  dalen,  dallen,  kindisch  reden,  Grimms  wörterb.  s.  v.  und 
Fronunann,  mundarten  2,  41. 

Für  den  zweck  gegenwärtiger  Untersuchung  sind  uns  besonders  die 
nominalformen  von  Wichtigkeit,  deren  es  eine  ganze  menge  gibt  An 
der  spitze  steht  das  gotische  dvals,  stupidus;  eyn  dwal,  quidam  fatuus, 
Oldenb.  chronikens.  II ,  513  (mscr.);  dwal  er,  narr,  dummkopf,  klotz, 
Stieler  354;  dwal-ieht,  ein  dwalichter  mensch,  das.;  dwal-lich, 
He  iss  gantz  dwaUich,  item  duHÜsch,  Manzel  3,  33;  dwäl-sk^  dumm^ 


ÄLTVtL  329 

albern,  Richey,  Idiot;  dwäl-ke,  eine  alberne  irauensperson ,  Brem. 
wörterb.  1,  281;  dwallies,  ddirus,  Chytrcteus  nomend.  sax.;  dwel, 
dul  vd  dwd,  ignarus.  Voc.  Lamberti  Swarten  a.  1419  (mscr.);  dwel-sch, 
dat  dwelsche  tvif,  mulier  fantastica,  Münst.  ehr.  1 ,  154;  dwälsk,  när- 
risch, albern,  Strodtm.  s.  45;  dwel-ich,  erronews,  Voc.  Wolfenb.  (mscr.). 
Dies  adjectiv  steckt  vielleicht  in  dem  althochdeutschen  mamtduüiger 
(und  manothwüino) ,  lutuUicus,  mondsüchtiger,  der  durch  den  vermeint- 
lichen einiluss  des  mondes  dwdich,  dtmUich,  irrig  im  köpfe  geworden 
ist,  GraflFI,  829;  dwil-sk,  schwindlig,  Brem.  wörterb.  1,  284;  dwilsk 
in  de  kapp,  wirr,  z.  b.  im  fieber,  schwindlig,  Stürenb.  s.  44;  twilsch, 
twelich,  twalsch^  bei  Schambach,  im  sinne  von  „widerspenstig,"  eigentlich 
wol  wirrköpfig.'  —  doli  oder  dull,  dumvd  dul,  [hjebes,  grossus,  Voc. 
Engelh.  Dahin  gehören  die  Zusammensetzungen  mit  doli:  ddl-apfd, 
doU'bime,  doll-kirsche  {atropa  hdladonnd),  doll-kor^  Qolium  temu- 
lentum,  taumellolch,  auch  twalch,  dulch  genant,  Brem.  wörterb.  5,  135), 
doU-wurz  (aconitum),  doli -trank,  doll-wasser  u.  a.,  alles  Schwindel, 
taumel,  betäubung  erregendes  bezeichnend,  dulms,  dolms,'  stupidus, 
stolidus.  Grimm,  wörterb.  2,  1509;  dolm-trank,  Grimm,  wörterb.  2,  1232; 
mittelhochdeutsch  twalnUrank,  walmwurz  (d.  i.  dwcdm-,  ddmumre)  loUum, 
Diefenb.  s.  v.;  talmiger,  fatuus,  Diefenb.s.v.;  talmhaftich,  langsam,  zau- 
derhaftig;  talmke,  „ein  faules,  plauderhaftiges  weih,  das  nichts  beschicket," 
Brem.  wörterb.  5, 16;  dalmerig,  bei  Schambach;  ferner  da22mann^  ham- 
pelmann,  nugigertdus,  ludio;  dälposse,  tändelndes  geschwätz.  Grimm 
s.v.  —  dölp,  dölpel,  niederdeutsch  dolf,  delf  (ygl.tolf,  turbo,  kreisel, 
Graif  5,  423),  kolbe,  knüttel  und  der  grossköpfige  fisch,  capiio,  quabbe.  — 
„Eyn  ddf  dicitur  homo  adidtus  piger,  Morhof,  unterr.  p.  35.  ita:  VetC" 
ribus  dalivus ,  sttdtus.  Dies  wort  kennen  auch  die  bauern  in  Mecklenburg, 
wenn  sie  einen  dummen  menschen  einen  delff  nennen."  Manzel  15,  29; 
Tis  ein  rechten  dolfken,  ein  abgeschmackter  mensch.  Strodtm.  s.  45.  — 
dil,  tu.    Hier  ist  zu  erinnern  an  die  namen  „Wilhelm  Teil":  were  ich 

1)  Diese  form  mit  dem  vcrstarkeDden  a^  gibt  {al-twilsk),  al- tunlisch  ...  seit- 
zame  liechistöckf  nemlich  neun  wolmäszige,  wie  sag  ich  wolmäszige?  ja,  wolfuderige 
altwilische  flaschen ,  das  fuder  nach  der  alten  Bastatter  . .  masz  zu  rechnen.  Fischart, 
Gargantua  1594,  82^  (bei  Grimm  s.  v.). . .  nach  rechter  altwilischer  canzeliischer  teu- 
tischer  schriftartlichkeit,  das.  Es  scheint  in  beiden  fallen  in  dem  sinne  von  ,,  alt- 
fränkisch^ altvaterisch,  jetzt  abgekommen^  altmodisch'*  za  stehen,  nnd  Fischart  mag 
es  auch  vielleicht  so  verstanden  wissen  wollen,  es  bedeutet  aber  wol  ursprünglich: 
ganz  verrückt,  seltsam.  Denn  an  eine  entlehnung^  resp.  Verunstaltung  des  nieder- 
deutschen olwelsk,  altmodisch,  der  alten  weit  angehörend  (Brem.  wörterb.  3,  264) 
oler-wetsk;  bei  Stürenb.  s.  168:  „older  todsk  (richtiger  older  weldsk**)  ist  doch  wol 
nicht  im  ernste  zu  denken.  Eine  ähnliche  Verstärkung  mit  fü  steckt  Tielleicht  in 
älwatisch,  albern,  Brenv.  wörterb.  5,  324,  das  vermutlich  für  al-dwatsk  steht. 


390  LüBnor,  altvil 

witzig,   so  hiesse  ich  anders  dan  der  TdH.    Etterlin,   Schweiz,  cfaron., 
und  darnach  Schiller:    War'  ich   besonnen,    hiess   ich  nicht  der   Teil. 
Till  Eulenspiegel;  Tilkappe  »  narrenkappe,  name  eines  bfirgers  m  Han- 
nover im  jähre  1297,  Grotef.  urkb.  d.  stadt  Hannover  I,  nr.  64;    DU" 
mann,  Tilmann,  „ein  alberner,   törichter  mensch,  ein  gancL^  Grimiii, 
wörterb.  s.  v.    Du  stast  wie  ein  Motz,  ölgötz^  Tilmann.  Sebast.  Frank, 
Sprich w.    dilledelle,  alberner,  läppischer  mensch,  davon:  diUendeUen 
bei  Luther:  albern  reden.     Auch  die  pflanze  diu  (Anelhum  gravedens L,), 
duUdille,    tollkraut,    hyoscyamus  niger,   Nenmich  2,  196,    mi^  wegen 
ihres  starken,   narkotischen  geruchs  daher  ihren  namen  ffihren.    Aach 
der  Schierling,   besonders  der  gartenschierling  und  der  gefleckte  Schier- 
ling, heisst  düUkrut,  düUwurteL   StQrenb.  s.  40.  —    dildap,  diOedap, 
diltap,  tiltap,  iners,  ignavus,  et  stultus,  stupidus,    von  Grimm  2,  1151 
so  erklärt:    „Ein  diltap  ist  ein  roher  und  ungeschlachter  mensch,    der 
auf  der  flur  springt  und  tobt.*'    Das  wort  hat  aber  gewis  nichts  mit 
„diele**  (niederdeutsch  dde)  und  „tappen,  dappen'*  zu  tun,  noch  nach 
dem  Mittelhochdeutschen  wörterb.  3,  14  mit  tape,  pfote,  sondern  diUap 
wird  wol  dasselbe  sein  wie  diltop   (der  Wechsel  zwischen  a  und  o  ist 
gleich   wie  in  doUmunn  und  dailntann,    tolpatsch  und  talpatsch)  ^    das 
Grimm  an  derselben  stelle  für  einen  „kleinen  kreisel  erklärt,   den  die 
kinder  auf  der  diele,  auf  einem  brett  oder  tisch  herumdrehen  und  tan- 
zen lassen.**    Wenn  auch  hier,  wie  es  scheint,  Grimm  du  mit  „diele'* 
zusammenbringt,  so  dürfte  das  wol  ein  irrtum  sein,    diltap  ist  eine  art 
tautologischer  Zusammensetzung,   ein  kreisel,   der  sich  herumdreht,    ein 
drehkreisel.    Ganz  ähnlich  ist  die  Zusammensetzung  tirreUop  bei  Stflren- 
berg:  (tirrdn,  sich  drehen,  top,  kreisel),  „kleiner  kreisel  ohne  aushOh- 
lung  und  öfiiiung,  oft  bloss  aus  einem  fiefga^tjeden  (funflöcherigen)  hnoof} 
(s.  g.  twernf reter ,   zwimfresser)   bestehend.**    Dem  entspricht  ganz  eine 
andere   niederdeutsche   bezeichnung  dudddop,    Brem.  wörterb.  1,  264; 
dtulen-dop,  Chytraous  col.  808,   denn  dop  bezeichnet  ja  ebenfalls  einen 
kreisel.    Wie  dies  dudddop  einen  einfältigen  menschen,  einen  tropf  bedeu- 
tet, so  wird  auch  diltap  einen  menschen  bezeichnen,  dem  sich  alles  im 
köpfe  im  kreise  dreht  und  wirbelt ,  der  irr  und  wirr  in  seinen  gedanken, 
und  darum  ein  ineptus,  insulsus,   eine  Schlafmütze  ist,    der,   entgegen 
dem  hastekop,   welcher  sich  überstürzt,    immer  wie  in  betäubung,    im 
schlafe  ist,  und  niemals,  oder  doch  nur  sehr  langsam  sich  besinnen  und 
sein  denken  zum  richtigen  stehen  bringen  kan.  # 

So  wird  auch  altwü  {altvil),  um  das  resultat  dieser  Untersuchung 
zusanmienzufassen ,  einen  bezeichnen ,  der  dauernd  und  für  immer  —  denn 
das  liegt  in  der  zufügung  von  at  —  irrsinnig  und  deshalb  erbunfahig  ist 

OLDENBUKÜ,    DEC^EMBER   1870.  A.  LOBBEN. 


ROOHHOLZ,  OBBTINBM  331 

Die  vorstehende  reichhaltige  und  anregende  erörtemng  hat  mich 
veranlasst ,  den  herrn  professor  £.  L.  Rochholz  in  Aarau  um  eine  abhand- 
Inng  über  die  auf  die  cretinen  bezüglichen  Volksüberlieferungen  zu  ersu- 
chen. Obschon  durch  ein  körperliches  leiden  bedrängt,  ist  er  doch  so 
gütig  gewesen,  meiner  bitte  alsbald  in  einer  weise  zu  entsprechen,  wie 
es  nur  derjenige  vermag,  der  über  eine  so  seltene  fülle  des  reichtums 
gebietet,  wofar  ich  ihm  zum  grösten  danke  verbunden  bin.  Ich  lasse 
seine  abhandlung  hier  unmittelbar  folgen.  Weiter  aber  habe  ich  selbst, 
in  folge  dieser  erhaltenen  anregung ,  die  schwierige  frage  einer  eingehen- 
den Untersuchung  unterzogen,  und  bin  dadurch  zu  ergebnissen  geführt 
worden,  welche  von  den  verschiedenen  bis  jetzt  aufgestellten  erklärun- 
gen  mehr  oder  minder  erheblich  abweichen.  Sobald  es  geschehen  kann 
beabsichtige  ich  diese  Untersuchung  zu  veröffentlichen  und  der  prüfung 
der  kenner  vorzulegen.  J.  zacher. 


MUNDARTLICHE  NAMEN  DES  CRETINISMUS. 

Die  in  den  oberdeutschen  mundarten  allgemein  giltigen  benennun- 
gen  des  absoluten,  angebornen  blödsinnes  sind  cretin  und  fex.  Beide 
namen  gehören  dem  rhäto- romanischen  Sprachgebiete  an,  hier  hat  der 
cretinismus  zugleich  seinen  hauptsitz.  Das  wort  cretin  ist  ursprünglich 
einheimisch  gewesen  im  schweizerischen  Unterwallis  und  dem  angrenzen- 
den Hochsavoyen,  galt  dorten  als  eine  ableitung  vom  romanischen  ere- 
tira  {creaiwra)  und  war  wol  eine  blosse  verglimpfungs-  und  bemitlei- 
dungsformel,  die  etwa  unserem  „armer  tropfe*  entspricht.  Das  wort  fex 
nimt  ein  grösseres  Sprachgebiet  ein  und  veranlasst  eine  umständlichere 
auseinandersetzung.  Seine  heimat  sind  die  romanischen  und  rhätischen 
Hochalpen  der  Schweiz,  Tirols,  Steiermarks  und  Kärnthens;  aus  dem 
idiom  dieser  landstriche  ist  das  wort  zuerst  von  der  medizinischen  ter- 
minologie  recipiert  worden,  wie  aus  dem  titel  der  akademischen  schriffc 
des  Salzburger  arztes  dr.  Maffei  erhellt:  Dissertatio  de  Fexismo^  specie 
Cretinismi.  Landshut  1819.  Während  dies  wort  nun  schon  längst  ein 
genus  commune  geworden  ist,  wird  es  im  Salzburger  Unter -Innthal  noch 
nach  beiden  geschlechtern  unterschieden:  der  Fecks,  die  Feghin:  das 
blödsinnige  weib.  Die  beiden  Sprachforscher  Schmeller  (Baier.  wörterb. 
1,  510)  und  J.  Grimm  (Gramm.  3,  338)  haben  sich  dahin  entschieden, 
dass  fex  eine  entwicklung  aus  fem.  fegkin  sei^  wie  fuchs  aus  föhin,  lapps 
aus  lappin.  Der  Berner  dichter  Albrecht  von  Haller  hat  diesem  mund- 
artlichen feminin  eine  hochdeutsche  form  zu  geben  gesucht,  und  bringt 
dasselbß  zugleich  mit  dem  feenwesen  in  Verbindung,  welches  im  roma- 
nischen Volksglauben  als  veranlasser  des  cretinenzustandes  gilt.    Haller 


S32  R0CHH0L2 

hat  nämlich    in  den  Göttinger  gelehrten   anzeigen   einen   bericht  über 
Leasings  Laokoon  geliefert  und  sich  bei  dieser  gelegenheit  Ober  die  poe- 
tischen gemälde  verbreitet;  in  diesem  zusammenhange  gibt  er  dann  fol- 
gendes beispiel:    „und  von  dieser  art  ist  die  perle  [thauperle],  die  von 
einer  fexe  (elfe)  an  das  ohr  einer  jeden  Schlüsselblume  angehängt  wird." 
(Lessings  leben  und  werke  von   Danzel  und  Guhrauer.    Bd.  2.  Abt.  2. 
Hinter  s.  372  folgend:  beilagen  zum  3.  bis  5.  buche,  s.  1.).    Jeder  leser 
sieht,   dass  mit  diesem  feminin  nicht  mehr  die  blödsinnige,   sondern  die 
zauberische  nymphe   gemeint  ist,    die   dem    romanischen   Sprachgebiete 
ausschliesslich  angehörende  fee.    Aus  eben  diesem  gebiete  wird  Haller 
seine  auffallende  wortform  entlehnt  haben  ^  sie  ist  ihm  durch  das  patois 
des  Waatlandes  und  des  ans  Unterwallis  angrenzenden  Freiburgerlandes 
vermittelt  zugekommen,   in  diesen  damals  noch  unter  Bern  stehenden 
landesteilen  hatte  er  seineu  öfteren  aufenthalt  genommen,   später  seine 
amtliche  Stellung  gefunden.     Hier  hat   bis   heute   der   feenglaube   aus- 
gedauert in  zahlreichen  lokalsagen,  welche  in  Vuillemin's  schrift  „Can- 
ton  Waat"  und  in  Heinr.  Runges  monographie  „Die  feen  in  der  Schweiz" 
gesammelt  stehen.    Das  Waatländer  und  Genfer  patois  benent  die   fee 
noch  nach  altfranzösischer  form  Fäye  (lat.  fatua),  und  dieselbe  namens- 
form setzt  sich  auf  dem  angrenzenden  rhätischen  gebiete  fort:    fa^er 
heissen  dem  Glarner  alle  waldgespenster ,   dem  Graubündner  alle  erd- 
männchen  und  waldzwerge.    Von   den   feen  lässt   der   Volksglaube  der 
Waat  und  Savoyens  genau  dieselben   holden   und  unholden  Wirkungen 
ausgehen,  welche  die  deutsche  mythologie  den  höhlenzwergen  und  hans- 
elben  zuschreibt;  der  noch  tiefer  stehende  glaube  der  Savoyer  schaafliir- 
ten  sieht  nicht  bloss  in  den  feen,    sondern  auch  in  den  idiotischen  kin- 
dern,  deren  zustand  eben  durch  die  feen  veranlasst  ist,  beidei*seits  schntz- 
geister  des  hauses.    Man  nimt  weissstrahlende  au,  aber  auch  mohrisch - 
schwarze;    diese   letzteren  schädigen  menschen  und   tier,    schlagen  mit 
krankheit,  rauben  gesunde  Säuglinge  und  schieben  dafür  ihre  verkrüppel- 
ten unter.    Ein  solcher  wechselbalg  haust  z.  b.  in  dem  eine  stunde  von 
Lausanne  entfernten  walde  Le  Mont  und  ist  unter  dem  namen  Le  Plio- 
rant  bekant,  der  heuler  und  kreischer.    Aargauer  sagen  1,  s.  345.   Hie- 
mit  ist  nun  freilich  noch  nicht  nachgewiesen^   dass  und  wie  romanisch 
Faye,  mittelhochdeutsch  Feie,  zu  Feghin  und  Feks  geföhrt  habe,  jedoch 
die  hierüber  aufklärung  bietende  tatsache  steht  bereits  fest,    dass  der 
lebenden  Volkssprache  Fee  und  veic  (zum  tode  reif)  als  synonyma  gelten. 
In  der  bergisch  -  rheinischen  mundart  hat  feig  sein  die  mittelhochdeut- 
sche Wortbedeutung:  dem  tode  verfallen  sein^  und  drückt  den  rettungfs- 
losen  zustand  eines  menschen  aus,  welchem  „durch  die  erscheinung  einer 
fee''  ein  vorfrühes  ende  angekündigt  ist;  von  einem  solchen  sagt  man: 


CRBTINBN  333 

feig  beste ^  ach  mich  rodt:  todt  bist  du  lebend  schon,  ach,  mich  schau- 
dert! Frommann,  die  deutschen  mundarten  3,  46.  Dieses  hier  von  der 
fee  ausgehende  feigsein  gleicht  genau  der  altnordischen  heerfessel ,  jenem 
von  der  valkyrie  HerQötr  verhängten  zustande  plötzlicher  geistesverwir- 
rung  und  gliederlähmung ,  welche  den  krieger  unfähig  macht,  dem  tode 
der  Schlacht  zu  entrinnen.  Und  genau  so,  wie  in  der  nordischen  sage 
solcherlei  magisches  geschlagensein  auf  den  einfluss  der  feindseligen  val- 
kyrie zurückgeführt  wird  (Konr.  Maurer  hat  in  Wolflfs  zeitschr.  f.  myth. 
II,  341  hiefur  den  nachweis  aus  den  1847  zu  Kopenhagen  erschienenen 
Islendinga  Sögur  gegeben),  und  wie  derselbe  zustand  im  Bergischen 
von  einer  zur  unzeit  erscheinenden  fee  ausgeht,  ebenso  schreibt  der 
Volksglaube  in  Wallis,  Savoyen  und  Tirol  erlahmung  und  Stupor  der 
begegnung  einer  mohrischen  fee  oder  eines  wilden  fräuleins  zu,  und  übt, 
um  den  schaden  abzuwehren,  verschiedenerlei  brauche.  Kinder  und 
erwachsene ,  welche  zum  ersten  male  auf  die  Zernetzer  alpe  (Tirol)  gehen, 
heben  dort  erst  steine  auf,  spucken  sie  an,  werfen  sie  zu  andern  auf 
einen  bestimten  platz,  welcher  zu  den  wilden  fräulein  heisst,  und  spre- 
chen: „Ich  opfere,  ich  opfere  den  wilden  fräulein!"  ohne  sich  grosser 
gefahr  auszusetzen,  darf  man  dies  nicht  imterlassen.  Zingerle,  Tirol. 
Sitten,  no.  956. 

Von  hier  weg  begint  eine  aufzählung  der  uns  bekant  gewordenen 
landschaftlichen  Sonderbenennungen  des  cretinenzustandes ;  ausgeschlossen 
bleiben  dabei  alle  ausserdeutschen  (die  Pazzi  in  Piemont;  die  Capot, 
Caffo  und  Cagot  in  den  Nordpyrenäen),  und  ungenant  die  hierüber  bereits 
in  Schmellers  Wörterbuch  enthaltenen  namen.  Unsere  quellen  sind  über- 
all gewissenhaft  beigesetzt. 

Bairischer  Spessart.  Über  den  hier  endemischen  cretinismus, 
welcher  aus  dem  einen  Spessartdorfe  Membris  die  meisten  der  auf  den 
Jahrmärkten  zur  schau  gestellten  zwerge  liefert,  handeln:  Kudolf  Virchow, 
Die  not  im  Spessart,  Würzburg  1852.  —  v.  Hermann,  Beiträge  zur 
Statistik  des  königreichs  Bayern.  —  Bavaria,  Landes-  und  Volkskunde 
des  königreichs  Bayern,  bd.  IV,  abtl.  2,  212.  Die  mundartlichen  benen- 
nungen  sind  die  allgemeinen:  fecks,  tolpd,  wechselbalg,  wechselbuUe. 
Nur  dieser  letztere  name  ist  insofern  von  belang,  als  er  zeigt,  wie  weit 
die  niederdeutsche  wortform  nach  Oberdeutschland  heraufreicht,  nämlich 
bis  in  den  Obermainkreis  und  ostwärts  in  die  Oberpfalz ;  von  da  südwärts 
begint  die  wortform  butz:  ein  verlarvt  erscheinender  hauskobold  und  ein 
zwergigtes  kind;  butzelkuh,  der  tannenzapfen ;  schweizerisch  btulerli,  ein 
im  Wachstum  ungewöhnlich  verhindertes  kind;  buderwinzig ,  zwergen- 
klein.    Stalder  1 ,  238. 

SBITSCHR.    F.   DEUTSCHE    PHILOLOOIR.      BD.  UI.  22 


334  BOCHHOLZ 

W^ürtemberg.  Die  einzelnameii ,  die  hier  ohne  beigesetzte  quelle 
folgen,  stehen  bei:  dr.  Maffei,  der  cretinismus  in  den  Norischen  alpen; 
und  dr.  Rösch,  neue  Untersuchungen  über  den  cretinismus.  Beides: 
Erlangen  1844. 

Fach,  feck:  fresser,  breiwanst.  Schmidt,  Schwab,  wörterb,  175.  — 
Dackel,  fem.  einföltige  person,  ibid.  118.  —  Däledapp.,  ibid.  126,  — 
Dippel,  dippdbeinig,  blödsinnig,  ibid.  125.  —  Dilledäile,  traUe,  traUe^ 
watsch  (plumpe  langsamkeit).  —  Kralle  (grollen  bezeichnet  das  geräa- 
sche  im  Schlünde  beim  hastigen  genusse  fetter  speisen:  Schmid,  ibid. 
241).  —  Lappe,  lalle,  tropf,  tender  (dänisch:  sinnbetäubt),  Aombel  (glie- 
derlahm; hampeln,  gebeugt  einhergehen;  Birlinger,  Schwab. - Augsbur- 
gisches  wörterb.  218).  —  Dante -maute,  es  vergleicht  sich  dem  tiroL 
stuta-muta;  Birlinger,  wörterbüchl.  zum  volkstümlichen  aus  Schwa- 
ben. 1863.  s.  65. 

Salzburger  Alpen.  Quelle:  Jos.  und  Karl  Wenzel:  Über  den 
cretinismus.    Wien  1802,  s.  24. 

DrutscJiel:  aufgedunsener.     Gack:  linkischer.    Teppek:  täppischer. 

Kärnthen.    Quelle:  dr.  Maflfei's  bereits  citierte  schritt. 

Fax  und  fax,  der  irrsinnige;  faxenmacher:  spassmacher,  possen- 
reisser.  Frommann,  mundarten  2,  341.  —  Dost,  fem.  dostd;  in  Press- 
burg TcLost:  der  blödsinnige,  (Frommann,  mundarten  6,  130),  ableitong 
von  duseln,  halbschlafen;  daher  Schweiz.:  döscti,  traurig,  niedergeschla- 
gen. Stalder  1 ,  291.  —  Dogger;  vgl.  Schweiz.  Doggeli,  alp,  incubus.  — 
Armes  härscherle:  armes  Schmerzenskind,  steht  zu  haischen,  hilfe  fordern. 

Steiermark  zählt  nach  einer  in  den  vierziger  jähren  aufgenom- 
menen Volkszählung  6000  cretinen  des  höheren  grades.  Guggenbühl,  die 
cretinen-heilanstalt  Abendberg,  Bern  1853,  s.  46.  Quelle:  dr.  Maf- 
fei's  citierte  schritt. 

Depp,  der  tapps.  Dost,  dostel,  drutschel,  lümmd,  tclpd;  troddd: 
unsicheren  ganges;  doch  fragt  sich  hiebei,  ob  nicht  das  die  kinder  im 
schlafe  tretende  gespenst  die  Trut  hier  namengebend  ist.  „Gegen  die 
nacht 'trotten^  trutten,  kreidet  man  den  frottenfuss  (pentagranun)  an  die 
kinderwiegen ,  trotten  heisst  noch  izt  so  viel  als  pressen,  drucken.^ 
M.  Ernst  ürban  Keller,  Würtemb.  Superintendent:  Gegen  den  aberglau- 
ben.  Stuttgart  1786,  159.  „Dahero  noch  heutiges  tages  die  schreiner 
solche  drutenfüss  an  die  wiegen  und  kindsbettlädlein  zu  machen  pflegen, 
zum  zeichen  alles  glucks  und  heils.^'  Chorion ,  Teutscher  Sprach  Ehren- 
krantz.    Strassburg  1644,  s.  59. 

Deutsche  und  welsche  Schweiz.  Allgemeine  quelle :  dr.  prof. 
Hermann  Demme ,  rector  der  hochschule  zu  Bern :  Über  endemischen  cre- 
tinismus.   Akadem.  rede,  gehalten  am  14.  nov.  1840.  (Bern  bei  Fischer). 


CEBTINBN  335 

Kanton  Zürich.  Die  amtliche  benennung  der  Idioten  war  hier 
im  vorigen  Jahrhundert :  thorenbuben,  vulgo  letjsköpfe;  sie  ist  verwant 
der  ausdrucksweise  des  Schwabenspiegels ,  welcher  zu  den  unzurechnungs- 
fähigen jene  toren  stellt,  die  nüt  witze  hant, 

Kanton  Glarus.  Tschörgen,  der  schief  und  schlarfend  gehende; 
vgl.  tscharggen,  Stalder  1,  318. 

Kanton  Bern.  Tschatäi,  tschätielj  tscholi:  straubhaar,  Struwel- 
peter, vei-wilderter  einfaltspinsel.  —  Tschaüte,  tschäudi,  tschäudeli, 
feminina,  einfältige  Weibspersonen.  Stalder  1,  318.  —  Tsckante;  müs- 
sig umherstreunen  ist  tirolisch  tschandern;  Frommann,  mundarten  4, 
452.  —  Tschalf,  tschalpi,  träger,  tölpelhaft  unachtsamer  mensch.  Stal- 
der 1,  316.  Schmidt,  Idioticon  Bernense  in  Frommanns  mundarten  4, 
18.  19.  —  Tschumi,  träll,  tschör ^  Schmidt,  1.  c.  für  tschör  vgl.  Glar- 
nerisch  ischörgen.  Im  Kärnthner  Lesachtale  ist  tschörper  der  cretin, 
tschörperte  ein  mitleidsname.     Frommann,  mimdarten  6,  204. 

Kanton  Wallis.  Die  erhebungen,  welche  Napoleon  1811  im 
kanten  Wallis,  damals  döpartement  du  Simplen,  über  die  Ursachen  des 
dort  herschenden  cretinismus  machen  liess,  wiesen  das  Vorhandensein 
von  3000  Cretinen  nach;  die  akten  hierüber  befinden  sich  in  den  Pari- 
ser archiven.  Guggenbühl,  die  cretinen  -  heilanstalt  Abendberg ,  1853. — 
Namen:  tschengg,  tschingge,  schiefgang;  tirolisch  tschinggelen ,  brum- 
mend umhergehen;  tschinggele,  ein  unansehnlich  Mnd.  Frommann,  mund- 
arten 6,  201.  —  Tscholi,  fem.  tschdina,  s.  tschauli,  strobelkopf.  — 
TschejeUe,  tschegeUa;  tirol.  tscheggen,  grätschen,  d.  i.  schieg  =  schief, 
mit  krumbeinen  schreiten.  Frommann ,  mundarten  4 ,  453.  —  Tschaag, 
tölpelhafter,  zweckloser  umherstreuner.  Stalder  1,  316.  —  Triffd,  vgl. 
nachfolgend  aargauisch  tribel.  —  Tarrar,  von  taren,  im  sprechen  und 
tun  überaus  langsam.  —  Nollen,  dick-  und  schwollkopf;  namen  der 
obersten  breiten  bergkuppe  des  Titlis;  vgl.  aargauisch  nell.  —  Goich, 
gauch,  bankert:  suln  tvir  gouche  ziehen?  (Nib.  Lachmann  810.)  „Der 
erste  glückwunsch  der  wehmutter  an  die  Walliser  Wöchnerin  lautet:  Gott 
sei  gelobt,  das  kind  wird  kein  gauch  werden!"  Jos.  Simler,  Valesiae 
descriptio.  Tiguri  1574.  —  Im  welschen  Unterwallis  heisst  der  idiot 
allgemein  marron,  der  unausgebackene  teigklumpen  im  brode,  dasselbe 
was  die  schweizerische  schelte  dotsch  besagt. 

Kanton  Aargau.  6föZ,  jeder  fex;  gölig,  albern.  GlöcMigöl,  der 
mit  der  kinden-assel  sich  hörbar  machende  bettelnde  stumme ;  der  rölldi  - 
feerli,  der  rollebutz,  ein  schellennarr.  Frommann,  mundarten  6,  458. 
Aberglaubenssatz :  eitern  sollen  nicht  selbst  klappern  für  ihre  kinder  kau- 
fen, sondern  von  andern  ihnen  schenken  lassen,  sonst  lernen  sie  schwer 
reden.    Das  buch  vom  aberglauben,  misbrauch  und  falschem  wahn.  Ober- 

22* 


336  ROCHHOLZ 

deutschland  (Weissenburg  in  Baiern)  1790,  s.  217.  —  Löl,  löli,  laffe 
und  lalli:  mit  dem  merkzeichen  der  heraushängenden  zunge.  Compo- 
sita  gaiöU,  galö/fd.  —  Talpi,  talpach:  der  mit  den  ffissen  als  mit 
tatzen  auftretende;  dallpatsch,  der  mit  dem  dollfusse,  dem  klumpfasse 
behaftete.  —  Troll,  traUe,  tr allpatsch ,  trallewatsch:  der  gelenklos 
plumpe.  Schmid,  Schwab,  wörterb.  135.  —  Ton,  töni,  tönerinn,  von 
tönen,  langweilig  reden;  eintönig  ist  eigensinnig  (Stalder  1,  258), 
tonlos  ist  abgeschmackt:  Schmid,  Schwab,  wörterb.  133.  —  Tribd, 
der  murrkopf;  eigentlich  das  gemengsei  zum  schweinefdtter,  mithin  die 
trebern.  Hiezu  wallisisch  triff el.  —  Algrind,  grosskopf ,  dickschädel.  — 
Dubd,  idiote;  eigentlich  der  verschnittene  bullochse;  dubdgrind,  der 
setzkopf  mit  boshafter  Stetigkeit,  also  ochsenkopf.  —  Doggd,  erwach- 
sener dummian;  doggeli,  das  torenkind,  zugleich  der  kinderdrückende 
alp ;  vgl.  kärnthisch  dogger,  —  Poppd,  adj.  dumm.  Stalder  1 ,  204.  — 
tarer,  taderer,  Stotterer;  wallisisch  tarrar.  —  Nol,  nolgg,  im  kanten  Uri 
nell.  Hierüber  schreibt  Ant.  Henne  in  seiner  ausgäbe  der  Elingenberger 
Chronik,  pag.  45:  ^^Ndl,  noll  bezeichnet  bei  uns  einen  cretin,  wie  mß 
in  der  gaunersprache ;  daher  das  nölldMrlein  in  Luzem,  gleichwie  die 
taUespforte  zu  Utrecht :  das  tor  beim  toUhause."  Berggipfel  ist  althoch- 
deutsch hnol,  schweizerisch  naolen  und  ^zollen,  der  knöpf  althochdeutsch 
hnd;  daher  bezeichnen  vorerwähnte  namen  den  verschrobenen  dickkopf, 
nielenkopf  ist  schelte  für  hohlkbpf. 

Verglimpfungsnamen  des  cretinenzustandes  sind  armes  geschöpßi 
(vgl.  crdira),  arme  unschuldige,  geistli^  betrübte.  Der  letztere  name 
wird  sogar  auf  die  den  krankheitszustand  angeblich  veranlassenden  elbe 
übertragen:  „Wenn  sich  ein  kind  des  morgens  nicht  wäscht,  so  kom- 
men die  betrübten  und  zerreissen  es."  Zingerle,  tiroler  sitten  nr.  21. 
Das  unerklärbare  wird  einer  rohen  bevölkerung  identisch  mit  dem  über- 
irdischen; um  Sitten  in  Wallis  hält  man  die  zur  äusserlichen  gebets- 
fiinction  dressierten  blödsinnigen  für  heilige  (von  einem  solchen  cretin  zu 
Seedorf  in  üri,  der  das  vaterunser  zum  zweck  des  strassenbettels  erlernt 
hatte ,  erzählt  mit  widerwärtigem  gerührttun  dr.  Guggenbühl  (der  Abend- 
berg, s.  11),  und  in  andern  alpentälern  sehen  die  eitern  in  ihren  idio- 
tischen kindern  sogar  schutzgeister  des  hauses.  J.  B.  Friedreich,  ana- 
lekten  zur  natur-  und  heilkunde.  Würzburg  1831,  s.  31.  —  Daher 
kann  es  nicht  befremden,  sondern  ist  um  so  mehr  ein  zeugnis  für  die 
uralte  herkömlichkeit  dieser  eben  besprochenen  Volksmeinungen,  wenn 
der  hausgeist,  der  serbling  und  der  idiote  gemeinsam  sich  in  dieselben 
namen  teilen:  alb,  dwe,  dbst;  drut,  trott&nkopf,  trottd;  hampdnuinn 
und  tatermann;  trull  und  troll;  Id,  loll  und  lalle;  butte,  bütz  und  piÜB; 
$chratt,   schrätzlein,   schief iz.     Der  Niederdeutsche  sagt  von  dem  beses- 


OBETINEN  337 

senen,  der  hat  die  elwen,  dar  sin  die  dwen  ane  (Kuhn,  Westfälische 
sag.  2,  19);  der  Oberdeutsche  in  dem  gleichen  sinne:  den  hat  das  tog- 
gdi  geritten,  das  schräUdi  gedrückt,  das  strägdi  geholt.^ 

Nirgend  rechnet  die  bevölkerung,  wenn  sie  vom  entstehen  dieses 
unter  ihr  herschenden  Übels  erzählt,  dasselbe  unter  die  übrigen  plagen 
der  neuzeit,  denn  sichtbar  nimt  mit  der  örtlich  zunehmenden  kultur  der 
örtliche  cretinismus  ab;  dagegen  stimt  alle  sage,  legende  und  ortskunde 
in  den  verschiedenartigsten  landschaften  darin  überein ,  dass  der  in  ihnen 
endemische  cretinismus  schon  zu  Urzeiten  hier  in  derselben  weise  vor- 
handen gewesen  sei.  Es  gehört  mit  zur  Untersuchung  des  alters  der 
deutschen  tölpelnamen,  dass  wir  hier  solche  volkstraditionen  mehrfach 
anführen  und  dabei  vom  anekdotenhaften  bis  zum  kirchengeschichtlichen 
aufsteigen.  Von  den  leuten  im  Frickthaler  dorfe  Kaisten,  einer  unge- 
mischt katholischen  gemeinde ,  in  welcher  satthals  und  kröpf  stationär 
sind,  sagt  der  nachbarspott ,  sie  seien  die  allerstärksten ,  weil  bei  ihnen 
die  waden  unmittelbar  unter  dem  kinn  anzufangen  scheinen.  Die  Kaist- 
ner  stellen  das  übel  selbst  nicht  in  abrede,  schieben  aber  den  grund 
desselben  auf  die  misgestalt  der  alten  altai'bilder  in  ihrer  vormaligen 
kirche,  an  denen  die  weiber  sich  versehen  hätten.  Es  herscht  mithin 
hier  der  schaden  schon  seit  der  alten  kirche,  unter  dieser  aber  ist  bei 
den  in  rede  stehenden  katholiken  nicht  etwa  eine  vorprotestantische 
gemeint,  sondern  geradezu  die  heidnische.  Dies  ergeben  folgende  legen- 
den. Die  bewohner  von  Trinmiis  in  Graubünden  erzählen  nach  dem 
berichte  ihres  frühesten  Chronisten  Ulrich  Campell,  sie  hätten  den  heili- 
gen Lucius,  als  er  im  zweiten  Jahrhundert  bei  ihnen  predigte,  verhöhnt 
und  dafür  habe  er  ihnen  den  bleibenden  kröpf  an  den  hals  gewünscht. 
Seitdem  die  bauern  von  elsassisch  Ammersweiher  den  heiligen  Deodat, 
der  sich  im  jähre  680  bei  ihnen  angesiedelt  hatte,  aus  seinem  besitztum 
vertrieben,  bringen  ihre  weiber  nur  kropfige  kinder  zur  weit;  sie  bege- 
ben sich  daher  kurz  vor  der  niederkunft  jenseits  des  dorfbaches,  d.  h. 
ausserhalb  jener  Deodat'schen  besitzgrenze,  und  gebären  hier  makellose 
kinder.    Kettberg,   kirchengesch.  1,  525.     Die  kirche  selbst  hatte  sich 

1)  Einige  namen  dieser  heidengeister  nent  der  Tiroler  Vintler  in  seinem  spruch- 
gedichte:  Blume  der  tagend,  verfasst  im  jähre  1411: 

*  vnd  eicleich  glauben, 

der  alpe  minne  dii  leute, 

80  sag  tauch  maniger, 

er  hob  den  elben  gesechen, 

ettleich  die  jehen, 

das  schrattl  sei  ein  chleines;  chind 

vnd  sei  ein  verzweivelter  geist. 


338  ROCHHOLZ 

schon  in  Mhester  zeit  mit  cretinen  zu  befassen  gehabt;  für  zwölfe  die- 
ser gattung  besteht  eine  „alte  Stiftung"  im  kloster  Admont,  Gnggen- 
bühl  1.  c.  s.  2.  Zu  ähnlichen  resultaten  gelangten  auch  die  von  &rzten 
und  geschichtsforschern  im  vorigen  Jahrhundert  begonnenen  Untersuchun- 
gen; den  cretinismus  in  den  Pyrenäen  leitete  Eamond  de  Carbonoi^res 
(Reisen  durch  die  höchsten  spanischen  und  französischen  Pyrenäen.  Strass- 
burg  1780.)  von  den  Überbleibseln  des  untergegangenen  Alanenstammes 
ab,  die  durch  herabwürdigung  zu  cretinen  entarteten  (dr.  Demme,  aka- 
demische rede  1.  c.  36).  Ähnlich  urteilte  der  domherr  Gall  über  die 
cretinen  in  Val  d' Aosta ,  sie  seien  entstanden  seit  der  invasion  der  Lan- 
gobarden im  sechsten  Jahrhundert,  denn  diese  hätten  die  römischen  Was- 
serleitungen und  andere  culturwerke  zerstört  und  damit  die  verkrüppe- 
lung  der  Eingeborenen  vorbereitet.  Nicht  diese  behauptungen  wollen 
wir  betonen,  sondern  darum  werden  sie  hier  angeführt,  weil  sie  in  der 
berechnung  des  alters  übereinstimmen,  das  sie  für  das  übel  anzusetzen 
suchen;  letzteres  aber  wird  in  Wahrheit  noch  um  ein  bedeutendes  Älter 
durch  das  allbekante  märchen ,  wonach  man  den  wechselbalg  sich  dadurch 
vom  halse  schafft,  dass  man  eierschalen  scheinbar  als  speise  für  ihn  sie- 
det und  ihn  dabei  zum  selbstgeständnisse  über  seine  herkunft  nötigt.  Die 
gleichmässigkeit ,  mit  welcher  der  altbaierische  bauer  (Bavaria  3,  307) 
und  der  keltische  Irländer  (Grimm,  irische  elfenmärchen  no.  6  und  7) 
diese  selbe  mythe  bis  jetzt  forterzählt  hat ,  setzt  in  erstaunen  und  erweist, 
dass  sie  schon  von  frühester  zeit  an  in  Europa  verbreitet  gewesen  ist 
Grimm ,  myth.  437.  Denselben  nachweis  werden  wir  am  Schlüsse  dieser 
mitteilung  auch  sprachgeschichtlich  liefern,  zuvor  aber  noch  über  die 
Stellung  berichten,  welche  dem  cretin  im  bürgerlichen  rechte  einge- 
räumt ist. 

Vorhandene  Urkunden  des  klosterarchivs  Muri  (jetzt  im  Aargauer 
Staatsarchiv)  erweisen,  dass  im  17.  Jahrhundert  die  schweizerischen  land- 
vögte  in  den  damaligen  gemeinen  herschaften  ehebündnisse  zwischen  blöd- 
sinnigen genehmigten,  freilich  unter  besonderer  sportel-erhebung.  Man 
hat  hierunter  nicht  vollständige  „gäuche"  zu  denken,  denn  eben  zwi- 
schen solchen  sind  eine  physische,  mithin  auch  politische  Unmöglichkeit. 
Jedoch  eine  wolhabende  bauerntochter  wii'd  trotz  ihres  cretinösen  zustan- 
des  wol  heutigen  tages  noch  einen  freier  unter  ihrer  ländlichen  nachbar- 
schaft  finden  können,  und  auch  der  betreifende  gemeinderat,  in  dessen 
entscheiden  der  geldpunkt  vorwiegt,  wird  seine  Zustimmung  erteilen, 
überzeugt,  dass  der  blödsinn  der  einen  ehehälfte  durch  den  bausverstand 
der  andern  compensiert  wird.  Da  überdies  solcherlei  eben  entweder  kin- 
derlos bleiben  oder  fehlgeburten  und  lebensunfähige  liefern  —  nach  dem 
Volksglauben  muss  ein  wechselbalg  nach  7  jähren  sterben  — ,  so  befürch- 


CRBTINBN  8d9 

tet  auch  die  gemeinde  nicht ,  einen  weitern  Zuwachs  an  cretinen  zu  bekom- 
men. Wahr  ist  es,  dass  durch  diese  gefügigkeit  der  gemeindebehörden 
mancher  orten  ein  neuer  volksaberglauben  über  die  allgemeine  Unschäd- 
lichkeit der  cretinenehen  gepflanzt ,  ja  sogar  von  ärzten  befürwortet  wor- 
den ist  So  ist  z.  b.  dr.  Guggenbühl  (Abendberg  1.  c.  s.  60)  der  für  einen 
fachmann  unverantwortlichen  meinung,  der  cretinismus  der  mutter  sei 
ohne  allen  belang  füi*  den  geisteszustand  des  von  ihr  zu  gebärenden  kin- 
des,  denn  des  kindes  anläge  gehe  vom  vater  aus,  die  mutter  gebe  nur 
den  boden  her.  Dies  unterstützt  Guggenbühl  mit  einer  tatsache  aus  Ober- 
wallis vom  jähre  1853,  woselbst  „^e  völlig  sprach-  und  verstandlose ^^ 
Katharina  Willna  von  Leuk  mit  einem  kräftigen  bauern  aus  dem  nach- 
bardorfe  Varren  verehelicht  ist  und  ihm  mehrere  ganz*  gesunde ,  sogar 
„intelligente"  kinder  geboren  haben  soll.  In  einem  lande,  in  welchem 
noch  im  jähre  1834  ein  misgestalteter  halbcretin  katholischer  dorfpfarrer 
gewesen  ist,  braucht  man  das  eben  erwähnte  ehebündnis  nicht  im  min- 
desten zu  bezweifeln,  wol  aber  das  behauptete  glückliche  ergebnis  des- 
selben. Der  wolbegründete  wünsch  aller  einsichtsvollen  ist  auch  hier 
gegen  solcherlei  eben,  aber  bisher  scheitert  er  noch  an  dem  gleissne- 
rischen  einspruche  der  bauemdemokratie ,  dass  damit  zugleich  die  per- 
sönliche freiheit  aller  gefährdet  würde,  und  man  beschwichtigt  die  geg- 
ner  durch  hinweis  auf  das  den  gefahren  vorbeugende  gesetz.  Letzteres 
stellt  den  in  die  ehe  tretenden  männlichen  cretinen  unter  seinen  ursprüng- 
lichen vogt  zurück;  das  eheweib,  ob  gesunden  oder  schwachen  geistes, 
war  nach  den  statutarrechten  der  deutschen  Schweiz  ohnedies  halb- 
unzurechnungsföhig  und  lebenslänglich  unter  vogtschaft  gestellt  gewesen, 
eine  teilweise  gleichstellung  hat  erst  seit  neuester  zeit  begonnen.  Somit 
sind  alle  cretinen,  gleich  andern  geistesschwachen,  vor  dem  gesetze  zwar 
erbfähige,  aber  nur  durch  ihren  vogt  mittelbar  verfügungsberechtigte 
personen,  und  eben  dadurch  wird  nun  die  frage  nahe  gelegt,  ob  jener 
name  der  altvile  im  Sachsenspiegel,  welche  dorten  unter  dasselbe  rechts- 
verhältnis  gestellt  sind,  nicht  gleichfalls  eine  altdeutsche  bezeichnung 
des  cretinismus  gewesen  ist.  Die  bezügliche  stelle  1 ,  4  lautet:  uppe 
altvile  unde  uppe  tverge  ne  irstirft  weder  Un  noch  erve ;  körpergebrechen, 
besagt  sie,  schliesst  von  der  erbfähigkeit  aus;  doch  unmittelbar  ist  bei- 
gefügt: Wird  ein  kind  geboren  stumm,  oder  handlos,  oder  fusslos,  oder 
blind,  das  ist  wol  erbe  zu  landrecht,  aber  nicht  zu  lehenrecht. 

Schon  J.  Grimm,  rechtsaltert.  40  hat  die  lesung  al^lvüe  veran- 
lasst, indem  er  damit  auf  Dänisch  tve-tulle  (zweigeschlechtig)  hinweist 
und  dieses  zu  althochdeutsch  tmdülo,  herniaphroditus  stellt.  Es  bleibt 
somit  der  wortstamm  tiHl  und  tu,  begleitet  mit  dem  verstärkenden  cd, 
ganz,    und  damit  ständen  wir  vor  den  beiden  mythischen  Schalksnarren 


340  ROCHHOLZ 

Teil  und  Till,  die  unter  der  maske  des  blödsinns  ihre  groben  streiche 
ungestraft  zu  verüben  suchen.  Unter  den  hiebei  nur  zu  reichlich  sich 
darbietenden  belegen  sei  liier  in  kürze  das  nächstverwante  angegeben. 

In  Etterlins  chronik  sagt  Teil:  were  ich  witzig,  so  Messe  ich 
anders  dann  der  Teil.  Der  herausgeber  J.  J.  Spreng  (Basel  1752)  bemerkt 
hiezu:  „Auf  seinen  narrennamen  sich  stützend,  habe  TeU  Verrücktheit 
vorgeschützt;  Gessler  habe  jedoch  diesen  simulierten  blödsinn  erkant  und 
eben  darum  den  falschen  narren  ungewöhnlich  scharf  bestrafen  wollen 
dadurch,  dass  er  ihn  verurteilte,  auf  das  eigne  kind  zu  schiessen.  Denn 
tälly  oder  wie  einige  noch  sagen,  teile,  heisst  nach  dem  buchstaben  ein 
einfältiger,  von  talen,  einfaltig  und  kindisch  tun."  —  So  Spreng.  Ähn- 
lich urteilt  sein  Zeitgenosse,  der  geschieh tsforscher  Zurlauben  aus  Zug. 
Dieser  hat  in  seiner  handschriftlichen  Stemmatographia  Helvet.  bd.  21 
den  entwurf  hinterlassen  zu  seiner  dann  um  vieles  verkürzten  druckschrift 
Guillaume  Teil.  Paris  1767,  und  erklärt  darin:  Teil  etoit  oriffinaire- 
ment  un  sohriqiiet;  on  appeUoit  ainsi  en  Ällemayid  un  homme 
balourd,  peu  sense,  le  fol,  Vimjfrudent,  Wir  veranschaulichen  diese 
behauptung  nun  durch  beispiele.  dalon,  fallen,  lallend  und  läppisch 
reden ,  führt  zu  talisch  und  fälsch ,  verrückt,  talen  ist  mit  althochdeutsch 
tivalon,  betäubt,  schlaflF  sein,  zu  verbinden,  mittelhochdeutsch  ttcalm, 
baierisch  dehn.  Weinhold,  Schles.  wörterb.  1855,  s.  96.  „Eh  ich  nicht 
weiss,  warum  wir  Schlesier  eselsfresser  sind,  geb  ich  mich  nicht  zufrie- 
den und  sollt'  ich  tadsch  darüber  werden."  Holteis  roman:  die  esels- 
fresser I,  heft  2,  s.  196.  Der  faUsack  ist  schlesisch  der  alberne,  zugleich 
eine  aus  senmielteig  gebackne  mansfigur ;  der  dallmann  ein  hampelmann. 
Eine  den  dummkopf  bezeichnende  Breslauer  spottformel  lautet:  der  tiMll- 
taU  hat  hölzel  feil.  Unter  dem  namen  doli  und  Uli  schleppte  man  im 
hochstifte  Eichstädt  bis  auf  unsere  zeit  zur  fastnacht  einen  Strohmann 
durch  die  gassen ,  gab  ihm  alle  ungereimten  streiche  der  einwohner  schuld 
und  liess  ihn  dafür  nach  der  gefilUten  sentenz  verbrennen.  Bavaria  III, 
1,  297.  Talpi,  tölpel,  f ollpatsch ,  daletvafscJi ,  dalap^  dalk  führen  zu 
dal  fern,  dalJcen,  dolken,  didkezen,  falschen,  folfen,  und  zu  den  weiteren 
ablautenden  verbalfoimen :  tillen,  tillazen,  dilleddlen.  „TiUem-iallem, 
häusel  bauen,"  fängt  ein  kinderreim  an;  Holtei,  die  eselsfresser  11,  heft  2, 
217.  225.  Der  diljye  ist  bei  Sebast.  Franck,  der  dillhelm  ebenso  bei 
Schmeller  (wörterb.  1 ,  364)  der  tölpel ,  der  vernagelte  dickkopf.  Der 
diUdappenjäger,  elbcnlröfsch  und  frilpcnfrifsch  (Schmid,  Schwab,  wör- 
terb. 162)  ist  jener  Aprilnarr,  der  sich  gegen  eine  erdichtete  gefahr  als 
nachtwache  auf  die  feldmarke  hinaus  stellen  lässt.  Oberdeutsche  schrift- 
steiler des  16.  und  17.  Jahrhunderts  gebrauchen  den  namen  diUmann 
als  sinbild  der  albernheit.    du  stast  wie  ein  Tdotz^  olgöfz,  tilman,  lücl^ 


CEBTINBN  341 

ter.  Seb.  Franck ,  sprichw.  —  „  Der  nydhart  vnd  Jier  Dillenian  \  Hau 
mit  den  puren  vil  gefangen  an;^^  Lenz,  reimchronik  vom  Schwabenkiieg 
1499,  ausgäbe  von  Diessbach  153  ^  —  DHU  ist  masculine,  dilderi  femi- 
nine schelte  (Schweiz),  und  so  hatte  schon  Bodmer  in  Füsslis  Schweiz, 
museum  1790,  49  die  triftige  bemerkung  geäussert,  teil  sei  dem  namen 
nach  eins  mit  tül,  es  gelte  in  Zürich  die  phrase:  von  heiTn  Tilmans 
kappe  reden,  viel  worte  um  nichts;  es  ist  von  herrn  Tümanns  wegen  ^ 
unnützer  weise  (Sebast  Brant) ;  dem  tilmann  hats  geglückt  =  das  blinde 
huhn  mit  dem  weizenkorn  (Agricola).  Diesen  beispielen  gegenüber  bleibt 
W.  Wackernagels  (in  Pfeiffers  Germania  V,  340)  gemachte  behauptung 
ein  falscher  überfluss,  der  Lübecker  name  tili  sei  eine  aus  Sant  Jlg 
gebildete  attractionsform ;  dem  steht  schon  die  bisher  als  älteste  nach- 
gewiesene ausgäbe  des  Eulenspiegel  vom  jähre  1519  entgegen  und  die- 
jenige von  1539,  welche  sich  auf  eine  angebliche  von  1483  zurückbezieht; 
immer  schon  ist  das  Volksbuch  Du  Ulenspiegel  betitelt  Doch  es  ist 
gar  nicht  mehr  nötig,  diesen  namen  nach  der  kleinen  spanne  zeit  "von 
ein  paar  bücherauflagen  zu  berechnen ,  wenn  der  namensvetter  Teil  schon 
seit  allen  Zeiträumen  in  den  europäischen  sprachen  und  zwar  in  der  eben 
besprochenen  Wortbedeutung  besteht.  Für  die  keltische  fonn  dal  ==  stu- 
pidus  verzeichnet  Diefenbach,  Celtica  1,  152  folgende  belege.  Aus 
Festus:  Dalivum  supinum  ait  esse  Äui/rdius ;  Adius  stultum;  Osco' 
rum  quoque  lingua  significat  ins  an  um.  In  der  Kymrischen  spräche 
ist  ddf,  einfacher  dd:  stulborn,  a  stupid  fellow.  Im  Bas -Breton  ist 
dalif  (dessen  umlautsform  das  eben  citierte  kymrische  delf  ist)  nicht 
bloss  mente  captus,  sondern  auch  posthumus;  die  bretonische  phrase 
eunn  dalif  keaz  eo  bedeutet:  un  pauvre  posthunie.  In  den  Serbischen 
heldenliedem  (Übers,  von  W.  Gerhard,  Leipzig  1828.  n,  294)  ist  tale 
jener  mythische  dümmling,  welcher  blindlings  dreinzuschlagen  pflegt  und 
seiner  tapferkeit  wegen  noch  jetzt  bei  den  bosnischen  Türken  in  liedem 
besungen  ist.  Der  finnisch -ehstnische  toll  war  ein  riese,  wohnhaft  auf 
den  inseln  Ösel  und  Eunö  im  Eigaschen  meerbusen ,  sein  grab  wird  dor- 
ten  bei  Töllist  und  noch  einmal  bei  Tirimets  gezeigt.  Hier  wollte  er 
wider  auferstehen,  wenn  man  ihn  gegen  einen  andringenden  landesfeind 
berufe;  allein  da  man  ihn  einmal  fälschlich  hervorgelockt  hat,  wird  er 
nicht  wider  hervortreten.  Eusswurm,  Eibofolke  (1855)  §§  183.  393. 
Kruse,  Ehstnische  Urgeschichte.  Moskau  1846,  187.  —  Teile,  episeo- 
pus  de  Coira  (Chur  in  Graubünden),  unterzeichnet  die  beschlüsse  des 
im  jähre  765  unter  Pippin  zu  Attigny  in  der  Champagne  gehaltenen  kir- 
chenconventes  (Pertz,  Leges  I,  30)  und  stirbt  am  24.  septbr.  784  zu 
Chur.  Sein  durchaus  undeutscher  Stammbaum  steht  angeführt  in  Eett- 
bergs  Mrchengeschichte  2,  136.    Ist  somit  der  name  Teil  der  oskischen, 


342  GRADL 

keltischen,  finnischen,  slavischen  und  rhätoromanischen  spräche  eigen 
gewesen,  warum  denn  wol  nicht  auch  der  deutschen?  Der  älteste,  den 
ich  bisher  in  deutschen  Urkunden  gefunden  habe,  gehört  Oberdeatsch- 
land  an  und  steht  im  Codex  Trad.  S.  Galli  no.  10  (Neuer  abdmck:  6): 
TaUo  ist  in  den  jähren  741  und  742  als  zeuge  genant  in  einer  von  Beata, 
der  tochter  Rachinberts  und  gemahlin  Landolds,  an  das  kloster  Lützelaa 
ausgestellten  vergabungsurkunde. 

AARAU,  OSTERN   1871.  ERNST  LUDWIG  ROCHHOLZ. 


ZUM   VOOALISMUS   DER  DEUTSCHEN  DIALEOTE. 

DER  AU -LAUT. 

Der  diphthong  au  ist  die  zweite  Steigerung  des  u  und  findet  sich  als 
solche  in  altgermanischeu  dialecten,  wie  im  gotischen,  im  altnorwegisch - 
isländischen  (und  gotländischen)  und  im  althochdeutschen  (altalemanni- 
schen, -bajoarischeu  und  -fränkischen).  Doch  begint  in  den  späteren  Zei- 
ten des  althochdeutschen  schon  in  denkmälern  die  verdumpfung  ou  her- 
vorzubrechen, die  anfangs  nur  neben  au  auftritt,  dann  aber  (im  10.  Jahr- 
hundert) allgemein  wird.  So  haben  z.  b.  das  vocab.  s.  Galli,  Kero,  gL 
ker.,  gl.  hrab.,  gl.  Jun.  A,  Isidor  u.  a.  nur  au;  im  Hildebrandsliede  ste- 
hen au  und  ou;  entschiedenes  ou  zeigen  Tatian,  Notker,  Otfrid. 

Vor  gewissen  diphthongen  (s.  u.)  verengerte  (assimilierte)  sich  ou 
im  ahd.  zu  ö;  in  mehreren  neuen  dialecten  entspricht  aber  wider  (ein 
secundäres?)  au  diesem  ö. 

Die  wirklich  secundären  ati- laute  entstehen  meist  unter  einfloss 
von  nachstehenden  sonanten  (liquiden ,  nasalen  oder  Spiranten)  und  zwar 
ist  zur  characterisierung  dieser  Wirkung  zu  bemerken,  dass  andere  dia- 
lecte  in  denselben  consonanzfäUen  ein  i  aufzeigen,  wo  in  den  unten 
angeführten  u  sich  aus  dem  sonanten  evolviert  (herausbildet)  oder  den- 
selben vertritt.  Wahrscheinlich  fühlte  man  bloss  die  halbvocalische  nator 
heraus  und  wählte,  je  nach  dem  sonstigen  helleren  oder  dumpferen  cha- 
racter  der  mundart,  zwischen  i  und  u. 

Eine  teilung  des  ati- lautes  findet  statt  in:  au,  au  (Hi),  aü  (a^). 
Zu  unterscheiden  von  au  sind:  ao,  od  und  au,  äo. 
au  steht  für  a,  und  zwar: 
a.  ohne  weitere  oder  wenigstens  ausschliessliche  oder  aber  sicht- 
bare consonanzbedingung  nur  in  wenigen  f&Uen  und  da  mei- 
stens zugleich  mit  au  &ir  ä,  so  dass  für  die  organische  kflrze 
manchmal  zunächst  unorganische  Verlängerung  und  dann  zusam- 
menfallen mit  ä  anzunehmen  wäre.    Beispiele: 


DER  AU -LAUT  343 

1)  älL  alemannisch  (Grieshabers  pred.  1,  83):  aurem  ai*m» 
Berenhaurt  Bernhard,  gauh  gab,  uf haute,  geschaufen,  gaudeti,  geschaud- 
gut ,  baut ,  stauten ,  rochfauss ,  s.  Weinholds  alem.  gramm.  (gr.  d.  mund- 
arten  1)  s.  52. 

2)  alt.  bajo arisch  (voc.  34/15  Graz.  f.  5  rw.  26):  lavndein, 
luiupffy  s.  Weinholds  bair.  gr.  (gr.  d.  mundarten  2),  s.  76. 

3)  siebenbärgisch,  z.  b.  Hanebach  bei  Hermannstadt:  erzauUe 
erzählte,  schlaun  schlagen,  saut  sähet,  daug  tag,  sprau^h,  daut  dass; 
Zeiden:  schauren  scharren;  Bosenan:  sauch  sah;  Mediasch:  daut  dass 
(hier  auch  besonders  vor  nasalen,  s.  35);  Nösnerland:  lauchlvig.  (Schul- 
ler, ged.  in  siebenb.-sächs.  mundart  und  Firenmich,  Germ,  völkerst.  3, 
635.  636). 

4)  seh  lesisch:  M;awnm  warum,  daurim,  grauh,  lauger;  s.  Weinh. 
dial.  61. 

5)  rheinisch  (Aachen,  Eupen):  hau*  hau'eti  hatte,  hatten. 

6)  niedersächsisch;  Zetel  in  Oldenburg:  auher,  fauken  oft, 
wauter  wasser,  plaustern,  lauden,  mauken,  häufen  der  hafen,  kösthaur 
kostbar,  lauken  das  laken  (Pirm.  3,  13  — 15);  Flatower  und  Deutsch- 
kroner  kreis  z.  b.  Zempelburg :  tausaun^e,  gaue  gar,  brauv,  graud,  spau- 
den  spaten,  vaudfe  vater,  wauie,  mauken  (Firm.  1,  118  — 120);  Deutsch- 
krono:  schauden,  stauts  statt,  waute,  daug  (Firm.  3,  501). 

7)  westfälisch  (Osnabrücker  und  Tecklenburger  gegend):  tosäu- 
men,  auber,  traun  der  trän,  traunen  tränen,  stau^  staat,  pracht,  usw. 
(Firm.  1 ,  239  —  252  und  1 ,  283  fgg.) 

8)  vi ä misch  (französ.  Flandern,  Katsberg):  te  gaure  zusammen 
(engl,  to-gether),  vaure  vater,  slaun  schlagen  (Firm.  3,  697);  (Brabant): 
hau'  hatte. 

b.  nachfolgendes  g  verändert  den  a-laut  häufig;  auf  grund  sei- 
ner verwantschaft  mit  w  (vgl.  engl,  w  für  3,  altnorw.  g  für  w, 
usw.)  löst  es  sich  entweder  in  u  auf  oder  evolviert  diesen  laut 
aus  sich;  bleibt  dann  wider  als  g  stehen  oder  wird  modifiziert 

(zu  j)' 
[))  thüringisch  (Erfurt):    nauel  nagel,  krausen  kragen,  ntaueti, 

getrauen,  wau'n,  auch:  saut  sähet  (=  sagt)  (Firm.  2,  179  — 187).  Ver- 
einzelt findet  es  sich  auch  noch  in  der  Magdeburger  börde ,  z.  b.  niauen 
magen  (ÜUnitz,  Firm.  1,  169). 

10)  elsässisch  (Strassburg)  mit  als  j  erhaltener  gutturale:  dauje 
tage,  sauje  sagen,  schlauje  schlagen,  naujd  nagel,  gedrauje  getragen, 
hauj  der  hag ,  wauje  der  wagen ,  jauje  jagen ,  oder  mit  schwund  des  g, 
in  welchem  falle  der  a  -  laut  mit  dem  längenzeichen  versehen  ist  (als  aÜ) : 
lauer  lager,  tnauer  mager,  kraue  kragen,  mauemsLgen,  däu  tag,  mäud 


344 


GBADL 


magd,  verMäiit  verklagt;  s.  WeinK  1,  102.    Prommann,  deutsche  mnnd- 
arten  4,  258  fgg. 

11)  dänisch:  fatir  schön  ({m  fagr,  altnor. /a^ar) ,  gnauding  gei- 
ziger (zu  gnave,  schwed.  gnaga,  r ödere)  ^  mit  Schwund  des  g;  secandär 
hervorgetauchtes  g:  laug  gastmal  (spr.  lav)^  hange  garten  nebeu  have. 
Vgl.  Grimm,  deutsche  gramm.  l^  560. 

12)  althochdeutsch:  bäum  (zu  got.  hagms  gehalten)  hat  den 
diphthong  auf  ähnliche  weise  entwickelt  und  zwar  in  ältester  zeit,  weil 
andere  alte  dialecte  auch  einen  dem  ahd.  au,  ou  entsprechenden  diph- 
thong haben  (ags.  heam,  alts.  hörn,  altfries.  häm).  Noch  fraglich  ist, 
ob  auch 

13)  gotisch:  bauan^  traiian  (gegenüber  altnord.  byggva  und  got 
triggvs,  ahd.  hCiwm,  trüwen)  schon  als  vocalisation  eines  g  anzunehmen 
sind.  Ahd.  glaiver  und  ähnliche  zeigen  wahrscheinlich  nur  ausfall  eines 
g,  da  das  a  kurz  und  einfach  blieb  (got.  glaggvs), 

c.   nachfolgendes  w  wirkt  den  aw-laut  aus  a  sehr  oft  und  unter 
ähnlichen  Verhältnissen  wie  g. 

14)  gotisch  geht  av,  wenn  es  in  den  auslaut  oder  vor  einen 
consonanten  tritt,  in  au  über,  z.  b.  fiaus  schiff  (aus  *wavfs),  tot^'an 
(stamm  tav-)^  saml  sonne  (zu  ags.  segd,  sejd)  usw.  Grinmi,  gramm.  1*, 
46.  47.  Heyne,  gramm.  der  altgerm.  sprachstämme ,  Paderborn  I,  1862, 
s.  23. 

15)  altnorw.  isl.:  haust  herbst  (nach  ausfall  des  r  und  vocali- 
sation des  V  zu  ahd.  harvisf);  neunorwegisch,  neuisl.  auch:  haust. 

16)  althochdeutsch  und  zwar:  auslautend  mit  auflösung  des 
w:  tau  der  tau  (gen.  fawes),  glau  klug,  frau  froh,  rau  roh;  inlautend 
gewönlich  mit  evolution  eines  u  z.  b.  frauwjan  neben  frawjan  freuen. 
Grimm  l^  100.     Heyne  1,  34.  100. 

17)  altsächsisch  (Verhältnisse  wie  im  ahd.):  hauwan  neben 
hawan  hauen,  glauwes  (genit. ,  neben  glawes,  zu  glau)^  thau  sitte  (gen. 
thawes)  usw.     Grimm  1*,  207.     Heyne  1,  109. 

18)  alt  friesisch  (selten):  hauwan  gehauen;  bei  den  Ostfnesen 
noch:  auder,  nauder  aus  ahwedder  einer  von  beiden,  nahwedder  neque. 
Heyne  1,  69. 

19)  mitteluiederländisch  (Reinaert  de  vos):  scaui4)en,  blat^ 
tven,  hauwen  u.  a.  Das  au  schwankt  in  dieser  zeit  schon  in  ou  über 
und  andere  denkmäler  (z.  b.  Maerlants  sp.  bist.)  haben  bereits  ausschliess- 
lich das  letztere.  Auslautend  steht  bei  apokopiertem  w  immer  au^  z.  b. 
dau  tau.     Vgl.  Grimm  1»,  491.  479. 

20)  neuniederländisch  selten:  dauw  tau,  henauwt  ängsÜich, 
raauw  roh,  kaauwen  kauen,  flaauw  flau. 


DBB   Aü-LAÜT  345 

21)  neuhochdeutsche  tau,  flau,  gaii,  hauen  u.  a. 

d.  l  nach  a  bildet  in  den  verschiedensten  dialecten  a  zu  au  um, 
entweder  unter  schwund  (auflösung,  vocalisierung)  oder  durch 
evolution  bei  erhaltener  liquide. 

22)  schweizerisch  (Argau):  baud  bald,  waud  wald,  aut  alt, 
sauz  salz.    Weinh.  1,  52. 

23)  oberrheinisch^  (im  vord.  Bregenzerwald):  waud,  haud, 
aut,  sauz,  spaute  spalten  und  (mit  erhaltener  liquide):  hauldo  halten, 
schmaidz  schmalz.     Weinh.  1,  52. 

24)  seh  lesisch  (Glogau):  däthauve  derenthalben,  maukn,  hauvn 
halfen.    Weinh.,  dial.  61  (1). 

25)  rhe  in  fränkisch  (Aachen,  Eupen):  kauvkalb,  aue  alte,  haue 
halten,  bau  bald,  vertault  erzählt,  gestaut  gestellt,  Jmuf  halb,  haus 
hals.     Firm.  1,  487- 495.     3,219  —  234.     1,494—500.    3,235—239. 

26)  westfälisch  (Osnabrück,  Tecklenburg;  vgl.  7;  dieser  fall 
jedoch  in  weiterer  ausdehnung  und  zwar  von  Minden  über  Herford  und 
Lippe  bis  Bielefeld  ins  Eavensbergische) :  kaidd,  hatde  bald,  aule,  hau- 
Jen;  praulen.     Firm.  1,  239  —  282. 

27)  mittelniederländisch,  einige  au  aus  al,  sonst  in  om  über- 
gehend, erhalten:  caut  kalt,  autare  altar.    Grinmi  1^  479. 

28)  neuniederländisch  (Schriftsprache),  vgl.  27,  aber  äusserst 
selten  gegenüber  ou;  nur  noch  in:  autaar,  neben  altaar.  Grimm  1*, 
532.    Dagegen  häufiger  im 

29)  vlämischen  und  limburgischen  (z.  b.  Turnhout,  Maaseyck, 
Sittard,  Mastricht):  'auwen  hauwen  halten,  auers  altern,  aud  alt,  haus 
hals,  snmut  schmalz.     Firm.  3,  680.  681.  701—706. 

30)  altfriesisch  (westliche  gegenden):  saut  salz,  haut  hält. 
Heyne  1,  71. 

31)  niederrheinisch  (nördlich Berg) :  Jmulen,  atde.kauld,  wau- 
len  walten,  wault  gewalt,  faulen  falten.    Firm.  1,  413  —  442. 

e.  die  nasale  m,  n,  ü  brechen,  wie  fast  alle  andern  vokale,  so 
auch  das  a  oft  zu  diphthongen;  in  einigen  fällen  erfolgt  zu- 
gleich auflösung  des  nasals.  Beispiele  für  solches  au  (meist 
aü  oder  äu)i 

32)  schweizerisch  (vereinzelt):  at^er  andere,  gauz  ganz,  gaus 
gans  (Luzerner  gäu),  häuf  hanf,  hauset  hanfsame  (d.  i.  hanf-saat)  (Ber- 
ner Oberland),  mautel  mantel,  sauft  sanft,  waud  wand.  Weinh.  1,  52. 
Stalder  idiot.  1,  432.     2,  26  und  öfter. 

1)  So  nenne  ich  kürzer  das  sog.  ,, alemannische  im  engem  sinne"  oder  den 
öbergangsdiaJect  zwischen  schweizerisch  und  schwäbisch  (in  Vorarlberg ,  Schaffhausen, 
Basel,  Breisgau). 


346  GRADL 

33)  oberrheinisch  (äusserer  Bregenzerwald):  gaiAB,  cm  der  ^ 
anders,  g'staudo  gestanden.  Vonbun,  sagen  Vorarlbergs,  132.  Firm.  2, 
666  fgg. 

34)  elsässisch  (Kochersberg):  taunze  tanzen. 

35)  bajo arisch  u.  zw.  (Ultententhal  in  Tirol) ;  /atTfalme,  Merau 
Meran,  Schöpf  in  Frommann  3,  92;  (Ritschein-,  Hz-  und  Feistritzbo- 
den,  östl.  Steiermark):  aun  an,  Jcaun,  faun,  haun,  grämt  hager,  maui^ 
gspaun  gespann,  Firm.  2,  747  —  771.  Weinhold  2,  77;  (um  Brunn): 
haund  band ,  schlaunge  schlänge.    Frommann  6 ,  521 ,  5. 

36)  thüringisch  (Tullifeld -  Salzungen) :  Uaung  klang,  saung 
sang,  Brückner  in  Fromm.  2,  220  fg.  (In  diesen  fällen  wird  jedoch 
au  =  u  anzusetzen  sein,  da  in  den  doi*tigen  gegenden,  besonders  nord- 
wärts, diese  prät.  mit  assimilation  des  Singulars  an  den  plural  Jdung, 
sung  lauten). 

37)  siebenbürgisch  (Mediasch):  aunder,  Jcaun,  paunjser,  laund, 
geraunt  gerannt.    Vgl.  nr.  3. 

38)  niederrheinisch  (nördlich Berg) :  waunies  wamms,  kraump 
krampf,  laund,  haund,  kaunen  kanten.     Firm.  1,  413 — 442. 

au  steht  für  e  wahrscheinlich  zumeist  durch  Vermittlung  eines 
früheren  aus  e  entstandenen  a,  und  zwar  vor  l  und  r. 

39)  siebenbürgisch  (Zeiden):  zauren  zerren,  aurger  ärger, 
haurhrig  herberge,  gefault  gefällt,  staul  stelle;  (Hanebach)  erzautt 
erzählt,  gestauU  gestellt  (wo  aber  auch  anderswo  rückumlaut  eintrat). 
Schuller  55.  63.  67. 

40)  niederrheinisch  (nördlich  Berg):  vertauU  erzählen,  hesiauU 
bestellt.    Firm.  a.  a.  o. 

au  steht  für  S  unter  denselben  Voraussetzungen  wie  für  e,  auch 
vor  l  und  r. 

41)  siebenbürgisch  (Zeiden):  schaul  schelle,  saulwend  selbst, 
faur  fern,  gaurn  gern;  (Rosenau):  haurz  herz.    Schuller  a.  a.  o.  und  65. 

au    steht    für  i    vermutlich    blos   nach    äusseren   momenten 
vor  w  ( —  fälle  unter  iu  gehörig.  — ) 

42)  lothringisch  (Forbacb,  S.  Avold)  g"  sehr  au  geschrien  (zu 
einem  geschriwen,  geschriuwen  neben  regelmässigem  geschrirn);  Firm.  2, 
551  -  555. 

43)  südhessisch  (Dillenburg,  Hadamar,  Nidda,  Salzhausen  usf.): 
naut  nichts  (vgl.  numiht,  niuwiht  und  mhd.  (nebenform)  niMty  wovon 
auch  süddeutsches,  z.  b.  schwäbisches  nuits  stamt.) 

44)  schwäbisch  (zwischen  Hier  und  Lech):  g'schrauö  geschrieen 
(hieher  wol  auch  gWauö  gereut);  älter  schon  g^sehrauo  (s.  bei  Fromm.  4, 
112,  66:  gschraühd). 


DER  AÜ-LAUT  347 

au   steht  für   o  meist  unter  ähnlichen    Verhältnissen  wie   au 
für  a,  und  zwar: 

a.  ohne  weitere  consonantenbedingung. 

45)  gotisch;  in  fremdwörtern  setzt  Ulfila  für  deren  kurzes  o  immer 
au,  nach  Grimms  bezeichnung  aü  (d.  h.  au),  wol  ein  dem  o  lautlich 
ähnlicher  laut:  apaustaulus,  Faurtunatus,  Naubaimhair,  aipistaule. 
Grimm  1«,  46  fg.    Heyne  1,  21. 

46)  alt.  alemannisch  (vereinzelt  in  hss.):  brutegavm  Barlaam 
A.  90,  9.  13;  lachen  (1477)  Mone',  ztschr.  8,  250,  s.  Weinh.  1,  52. 

47)  alt.  elsässisch  (auch  vereinzelt):  tauben.  Keller,  erz.  619, 
12,  vgl.  Weinh.  1,  102. 

48)  bajoarisch  (um  Brunn):  hautschaft,  gauscKn  (erschlossen 
aus  gäuschal  =  mundlein).  Fromm.  6,  521,  11.  3. 

49)  schlesisch  (im  Niederlande):  saul  soll,  saule  sohle,  vaul 
voll,  kaule  kohle,  gestauln  gestohlen,  waunte  wohnte,  vaur  vor,  waurt 
wort,  laub  lob,  häuf  hof,  vaugol  vogel,  rauh  rock,  lauch  loch,  laude 
lode,  gaut  gott,  scMauss  schloss,  hausn  hosen.  Weinh.,  dial.  61. 

50)  hessisch  (vereinzelt),  z.  b.  Tcartaufdn,  (Schwalm,  Firm.  2, 
112  —  117). 

51)  rheinisch  (Aachen,  Düren):  aufren  opfern,  kau^he  kochen, 
sau  soll,  traug  der  trog,  wauf  wolf,  lauch  loch,  dauch,  nauch,  gebrauche 
zerbrochen,  knauche,  sprawc/je  gesprochen,  stau  ff  stoff;  (Eupen):  aus 
ochse;  (Siebengebirge):  traugh,  blauch  bloch,  gerauchen,  gekrauchen. 
Vgl.  Firm.  1,  487  —  495.  3,  219—234.  1,  478  —  484.  1,  494  —  500 
und  3,  235—239. 

52)  nieder  sächsisch  (gegend  wie  in  6)  z.  b.  (Zetel  in  Olden- 
burg): kaümen  kommen,  ve'lauren  verloren,  upsghaufen  aufgeschossen; 
(Deutschkrone):  kauka  kochen;  (Konitz):  kauft  kübel  (wol  zu  kober). 
Firm.  3,  636  fgg. 

53)  westfälisch  (bezirk  wie  in  26,  dann  noch  ober  Büren,  Bri- 
lon, Medebach):  nau  noch. 

b.  vor  g  (vgl.  vorher). 

54)  thüringisch  (Erfurt):  faud  vogel.     Firm.  a.  a.  o. 

c.  vor  l. 

55)  schweizerisch  (Appenzell  inner  Rhoden):  cAatrf  kohl,  waul 
wol.    Tobler,  appenz.  Sprachschatz  XXXni.    Firm.  2,  657  fg. 

56)  siebenbürgisch  (Hermannstädter  umg.,  Zeiden):  saui  soll, 
wault  wollte.     Schuller  8  —  20.  28  —  32.  34  —  41.  45  —  61.  63  —  65. 

57)  westfränkisch  (Mittelmain):  haut  hohl,  katd'n  kohle. 
Schmeller,  gr.  §  317. 


348  OBADL 

58)  üiederrheinisch  (nördlich  Berg):  waul  wollte,  saui  sollte, 
hault  holz ,  datdd  geduld.     Firm.  a.  a.  o. 

50)  vlä misch  (Brabant)  z.  b.  (Hoegarden):  wau'  wollte,  (Turn- 
hout):  sau  soll,  gaud  gold  usw. 

60)  dänisch:  stault  stolz  führt  Grimm  1^  561  an. 

d.  vor  nasalen. 

61)  oberrheinisch  (innerer  Bregenzerwald) :  haung  homg.  Finn. 
2,  666  fg. 

62)  bajoarisch  (östl.  Steiermark,  wie  35):  davau  davon,  waune 
wohnen. 

63)  nie  der  rheinisch  (nördl.  Berg):  kau  konte. 

e.  vor  r. 

64)  gotisch  (vgl.  45  und  67):  haurd,  daurö  tor,  faura  vor, 
haurn,  saurga^  vaurd,  thaurnus  dorn,  maurgins,  haurans,  vaurpans, 
baurgans,  usw.    (Aussprache  wie  45).     Grimm  a.  a.  o. 

65)  bajoarisch  (Lavant  Kärnthen)  daur  ionner  (durch  auflösang 
des  n  sagt  Weinh.  2,  77).    Lexer  XIL 

66)  westfälisch  (Medebach):  auert  ort,  wauert  wort,  Firm.  1, 
333;  (Lippe):  Jcatmi  körn,  Haurn  Hörn  (stadt).  Firm.  1,  262  —  271. 
Frommann  6,  49.  207.  351. 

f.  vor  ch,  h, 

67)  gotisch  (s.  64):  auhsns  ochse,  auhns  ofen,  dauktar,  nauh, 
pauh,  (und  auflö  oft,  bezüglich  welchen  wertes  Wechsel  zwischen  ch  und 
f  zu  vergleichen  ist,  der  oben  auch  in  atihns  vorkomt  gegenüber  ahd. 
ofan).    Grimm  a.  a.  o. 

68)  niederrheinisch  (nördl.  Berg)  mit  auflösung  (oder  ab&U?) 
des  ch:  sauten  suchten  (mhd.  suocMcn,  aber  westf.,  rhein.  sockten  mit  ö). 

69)  rheinisch  (Gladbach):  maute  mochten  (aus  68  eingedrungen), 
au  steht  für  u  wol  durch  Vermittlung  eines  vor  der  diphthon- 

gisierung  anzusetzenden  o. 

a.  ohne  weitere  consonantenbedingung ,  selten: 

70)  alt.  alemannisch:  wawe#i^  mugent,  weist.  1,239.  Weinh.  1,  52. 
71). westfälisch:  spauk  der  spuk  (Celle;  Möhnethal),  und 

72)  niedersächsisch:  spauk  (westl.  Mecklenburg).  Galt  für 
71.  72  vielleicht  eine  grundform  s})uok?  s.  au  ==  iw). 

b.  vor  nasalen: 

73)  schwäbisch  und  zwar  älter  (zwei  lieder  in  oberschwäbischer 
mundart  in  Frommann  4,  86  — 114,  v.  j.  1633):  aunsaüig,  aunkhejft 
(tingehcit,  ungeschoren),  daiinkd^  gwauncka  gewunken,  trauncka  getrun- 
ken, aunhsonna  unbesonnen,  aunrecJd;  gegenwärtig:  au 5  uns,  au^  Vor- 
silbe un-,  z.  b.  aussei,     Weinh.  1,  85. 


DEB  AU -LAUT  '     349 

74)  elsSssisch  (Kochersberg):  g'saund,  raund,  staund  stunde, 
nunser  unser,  haundert,  Arnold  pfingstmontag,  Weinh.  1,  102. 

75)  sieben  bürg]  seh  (Zeiden):  aunder  unter,  waungd  wund. 
Schuller  a.  a.  o. 

7G)  thüringisch  (TuUifeld,  Salzungen):  straumpf,  traumpf; 
(jraiind;  jaung,  Brückner  in  Fromm.  2,  220.  326. 

77)  rheinisch  (Eupen):  saundag sonniAg,  ntaunter,  verschwaunde, 
mCder  unter,  haund,  maund,  waunder,  raund,  gebaunde,  faunde  gefun- 
den.    Firm.  a.  a.  o. 

c.  vor  r: 

78)  gotisch  (vgl.  45.  64.  67):  haurgs,  vaurms,  vaurts,  vaur- 
imm  warfen,  vaurpum  wurden. 

79)  westfälisch  (vereinzelt)  z.  b.  ^aterwturra  (Steinhagen,  Firm.  1, 
282.  283). 

d.  vor  (Ji: 

80)  gotisch  (vgl.  78.  67.  64.  45.  107.  145):  fatiM,  sauhts,  tau- 
hum  zogen,  plauhum  flohen,  usw. 

an  steht  für  ü  (ü  =  u,  o). 
a.  vor  v: 
,    81)  friesisch  (Sylt);  aur  über  (pld.  over). 
au  steht  für  ft  und  zwar: 
a.   ohne  weitere  consonantenbedingung: 

82)  alt.  alemannisch,  ziemlich  häufig  in  handschriften,  z.  b. 
niaug  Schwab.  B.  52;  mavtzoge  Freid.  A.  49,  17;  nmvzlichiu  Nib.  J. 
1951,  1;  lauge  Klage  J.  80;  mmd,  gedaun,  haun,  ivaurum,  staut,  hau- 
ten, ungaus,  gelaussen,  sprauchent  Grieshab.  pred.  1,  83fgg. ;  pred. 
bei  Wackern.  XXVn,  XXIX  — yXXII,  XLIII,  LXX;  voc.  opi;  Schweiz. 
Chroniken  usw.  „Namentlich  die  nördlichen  alemann,  landschaften  lieb- 
ten im  14.  15.  Jahrhundert  dieses  au  für  a"  Weinh.  1,  52;  neuale- 
mannisch (innerer  Bregenzerwald):  gati  gehen,  lau  lassen,  m<ml, 
jau,  dan,  schlmifo.    Firm.  a.  a.  o. 

83)  alt.  schwäbisch;  hier  sehr  verbreiteter,  man  könte  behaup- 
ten, mit  characteristischer  diphthong,  in  den  verschiedenen  handschrif- 
ten z.  b. :  nauch,  haut,  gnaud,  jnur,  wauren,  gedaucht,  gaut  geht, 
brauchte  brachte,  pauhst,  claur,  waur  usw. 

neuschwäbisch  (südostlich,  nanientlich  im  ülmischen  und  Augs- 
burgischen): duu  getan,  Äau"  haben,  latC  lassen;  stratä,  maulo  malen; 
jauer  jähr,  auhod  abend,  blauso  blasen  usw.  s.  Weinh.  1,  85.  Schmel- 
1er  §  113. 

84)  alt.  elsässisch,  selten;  Weinh.  1,  102  führt  an:  waticA 
Dancrotsh.  namensb  109,  brauchmonat  115. 

ZF.IT8CHR.    P.   DBUTSCHB    PHILOLOOIK.      111).  III.  ,         23 


350  ORADL 

85)  alt.  bajo arisch,  z.  b.  Megenberg  (herausgeg.  v.  Pfeiffer): 
autem,  autemt,  fravzz,  gelatizzen,  „wahrscheinlich  durch  schwäbisdie 
haud  veranlasst."  Weinh.  2,  76.  77;  Seifr.  Helbling  (herausg.  in  Haapts 
zeitschr.  4):  slaiif  (I,  G83),  milchraiimh  (I,  1055);  Klara  Hätzleiin: 
gaund  sie  gehen,  claur;  pratichnion  brachmond  cod.  germ.  monac.  usw. 

86)  altfriesisch:  aubcr  (mhi.  aber)  Heyne  1,  69.  (6  «  u??  und 
vielleicht  unter  105  zu  stellen?) 

neufriesisch  (Wangeroge):  kaumen  (kamen).     Firm.  3,  8  — 11. 

87)  siebenbürgisch  (Hanebach  bei  Hermannstadt):  jow,  plaug 
plage,  gaiir  jähr,  dau,  yiaiC  nach,  gaiiio  gäbe,  Schuller  67  fg. 

88)  schlesisch  (Niederland):  dau,  tvau,  mau'  mohn,  ittati/, 
säum  same,  naunde  nahe,  jaur^  a^ibond,  schauf,  nauch,  gebratWn,  ausi 
aas,  Weinh.,  dial.  61;  (Zips):  dau,  straufn,  Fiim.  2,  811. 

89)  pfälzisch  (Odenwald):  haun  haben. 

90)  nieder  sächsisch  (ebd.,  wo  «w  =  a  und  o,  s.  6.  62)  z.  b. 
(Zetel  in  Oldenburg):  aubend,  lauten,  jau,  drau  schnell  (mhd.  dräte\ 
strautc;  —  (Schlochauer  kreis):  auwend,  maul,  laute.  Firm.  1,  118;  — 
(Zempelburg) :  fiaube  nach  bar,  spatit  spät,  tvau,  maul,  jauejdhTj  binauh, 
raud,  schaup,  braude  braten,  nau  nach,  hau  haar,  laute  lassen;  — 
(Deutschkrone):  daue  da,yaMc  jähr,  gaun  gehen. 

91)  westfälisch  (von  Tecklenburg  über  Osnabrück  bis  Minden 
und  Lippe):  jau,  nau  nach,  ma^^mass,  auwens  abends,  waUy  fraugen, 
daun  getan,  gaun  gehen,  kwnud  schlecht,  straute,  schaup,  nauber  nach- 
bar,  laufen,  matd,  staun,  plaugen;  —  (vereinzelt)  z.  b.  fraugde  (neben 
fraug  fragte)  (Grubenh.  =  Göttingen),  bau  wo  (Volkmarsen),  dau  (Her- 
stelle), aune  (waldeckisches  Upland)  usw. 

92)  neuniederländisch  (mundart  von  ZwoUe):  staun,  gaunj 
edaun  getan,  laugen  fallstricke  (mhd.  läge),  Icwaud  schlecht.  Firm.  6, 
749  —  750. 

93)  vlämisch  (Katsberg,  franz.  Flandern):  slaun  schlagen.  Firm. 
a.  a.  0. 

b.  vor  den  nasalen: 

94)  oberrheinisch  (Bregenzerwald,  äusserer):  gau'^,  hau,  simf 
(vgl.  82). 

95)  schwäbisch  (Oberschwaben):  gau"^,  lau,  stau'^y  hau  haben, 
tatf  getan,  maunod,  Weinh.  1,  85.   (vgl.  79). 

96)  bajoarisch  (östl.  Steiermark):  auni  ohne,  tau'^  getan,  matf 
mond,  spau   span.    Firm.  a.  a.  o. 

c.  vor  w  (modalitäten  wie  bei  aw): 

97)  althochdeutsch  (auslautend):  IMu,  grau  (später  Udo,  Ida), 


DEa  AÜ-LAÜl^  351 

98)  neuhochdeutsch:  blau,  grau,  pfau,  braue,  Maue  usw.; 
ebenso 

99)  dialectdeutsch  (wenige  gegenden,  woblo,  pfo  usw.  steht): 
grau,  blau,  pfau  (faube)  u.  a. 

100)  altsächsisch,  wie  althochdeutsch,  und  daher  im 

101)  niedersächsischen  und 

102)  westfälischen:  blau,  grau  (einzelne  gegenden  in  101  und 
102  wider  ausgenommen),  sowie  im 

103)  niederländischen:  blaauw,  graauw  (hier  mit  widervor- 
tritt des  w)  und 

104)  vtäraischen  (ebenso):  blaeuw,  graeuw  (ae  =  nnl.  ad), 

105)  altfriesisch:  nauwet  7iaut  (aus  nat<7e^  nichts),  blauw  (neben 
bläiv),  Heyne  1,  69. 

au  steht  für  1,  fast  unerklärlich,  wenn  nicht  vocalisation  des 
nach  ihm  stehenden  consonanten  zu  u  angenommen  werden 
darf  (dann  behandelt  wie  iu,  s.  d.). 

a.   vor  g: 

IOC)  siebenbürgisch  (Hanebach) :  laue  liegen  Qi-g-en ,  * liu-en, 
laue).    Schuller  a.  a.  o. 

au  steht  for  ö  (secundär  oder  primär), 
a.  ohne  besondere  consonantenbedingung : 

107)  gotisch  (primär):  laun  lohn,  hlauts  loos,  skauts  schoos, 
stautan,  daups  tot,  naups  not,  laus,  raus  röhr,  ausö  ohr  usw.  Grimm 
1*,  46  fg.    Heyne  1,  23  usw.    (Aussprache  wie  unter  45). 

108)  altnorwegisch-isländisch  (primär):  baun  bohne,  laun, 
6raw^  brot,  gaut  goss,  stauta,  tmutr  genösse,  raudr  rot,  kaus  erkor 
u.  a.  Grimm  1*,  293.  Heyne  1,  80.  Dietrich,  altn.  leseb.  199.  (Über 
die  ausspräche  des  altn.  au  vgl.  Grimm  a.  a.  o.  gegen  Kask  anvisning 
tili  Islandskan  §  28.  68). 

109)  altgotländisch:  laun,  scaut  sGhoos ,  daupr  u.a.  Heyne  1, 
85.     Dietrich  83.  84. 

110)  neunorwegisch:  laus,  Uaut  bloss  u.  a.  Grimm  1*,  570. 
Aasen  ordbog  over  det  norske  folkesprog. 

111)  neuisländisch:  laun,  laus  usw. 

112)  neu  friesisch  (Wangeroge):  fraudh  fröhlich.    Firm.  a.  a.  o. 

113)  westfä lisch  (allgemein,  ausgenommen  teile  von  Grubenhagen, 
und  Göttingen  und  Paderborn,  die  Mark,  Hellweg,  die  Soester  gegend, 
Arnsberg,  Attendorn,  Olpe,  vgl.  ä,  äu,  ou,  eau,  iau  für  o;  noch  nicht 
regelmässig  oder  ausschliesslich  steht  es  in  dem  striche  von  der  Magde- 
burger börde  an  bis  Celle  und  ins  Ealenbergische,  jenseits  des  obigen 

23* 


352  ORADL 

gebietes  in  Rheina,  Münsterland  und  Dortmund);  z.  b. :  laun,  haane, 
sau,  frau,  kaul,  sghmif  ^choh,  raitd,  daud,  naud,  graut,  flaut  floss, 
austern,  laug  log,  hauch  usw. 

114)  niedersächsisch  (Natangen):  sati,  graut,  braud  Firm.  1, 
108;  (hinterporamerisch) :  Hausier,  graut,  laug  ich  log,  gau$  gans  (pld. 
gas);  (Segeberg,  Oldeslohe):  rausc,  graut.    Firm.  1,  45.  46. 

115)  niederrheinisch  (nördl. Berg,  einzeln)  z.h.  Katibes  Jdkoh, 

116)  pfälzisch  (Odenwald):  sau,  raut,  braut. 

117)  ostfränkisch  (Schwarzach,  Oberangel):  flau,  braud,  flaus 
das  floss,  hauch,  Jdauster.  Schmeller  §  330.  Petters  bemerkungen  über 
deutsche  dialectforschung  in  Böhmen  (Prag  18G2),   s.  70.  71. 

118)  schlesisch  (Niederland):  frau,  sau,  naut,  blauss,  grauss, 
laus,  rause.     Weinh.  dial.  61;  (Zips):  raud  u.  a. 

liy)  bajo arisch;  älter:  trausten.  Seifr.  Helbling  (herausgeg.  in 
Haupts  ztschr.  4)  I,  704;  chaiir  kor.  Passauer  notizbl.  Weinh.  2,  77; 
(westl.  Ober  Österreich) :  raus'n,  raut  usw.    Höfer,  volksspr.  91. 

120)  schwäbisch;  älter:  braut  Mone  j.  Tit.  824,  hiJ flaus  Kei- 
sersb.  prd.  (a.  druck  v.  1508)  105,  isatich  Sleigertüchl.  in  Meister  Alt- 
swert (Holland,  Keller),  Weinh.  1,  85;  gegenwärtig  allgemein:  naut, 
rata,  taut,  grauss,  hlaus,  frau' ,  braud ,  hauch,  laus,  Maust^^r,  haueich 
hochzeit  usw. 

121)  oberrheinisch  (Bregenzerwald):  sau, 

122)  jüdischdeutsch:  graus,  hauch,  taut  u.  a. 

au  steht  für  il  nach  secundärer  diphthongisierung  und   zwar 
ohne  weitere  consonantenbedingung  allgemein  im 

123)  neuhochdeutschen:  faid,  räum,  zäun,  mauer,  san, 
maus,  rauschen,  taube,  stäupe,  auf,  staude,  nmuth,  maussen,  saugen, 
pauke ,  Strauch. 

124)  bajo  arisch;  au  für  ü  ist  ein  specifisch  bajoarischer  diphthong 
und  seit  dem  13.  Jahrhundert  allmählich  sowol  ins  schrittdeutsche  als  ins 
südliche  mitteldeutsche  eingedrungen;  im  bajoarischen  herscht  es,  abge- 
sehen von  einigen  bcschränkungen,  allgemein.    Beispiele  wie  oben. 

125)  mitteldeutsch  und  zwar:  im  pfUlzischen,  an  der  Mosel 
und  in  der  westlichen  Eifel,  im  südhessischen,  südthüringischen,  im  ober- 
sächsischen  und  schlesischen ,  im  ostfränkischen  und  westfränkischen ,  am 
Oberharz  und  in  der  grafschaft  Mansfeld,  im  ermeländischen  (gegend 
um  Wormditt;  im  siebenbürgischen  vereinzelt  (z.  b.  Schässburg).  In 
vielen  der  angeführten  mundarten  wird  es  (besonders  vor  liquiden)  teil- 
weise beschränkt  (z.  b.  durch  a),  andere  mundarten  mitten  in  solchen 
mit  ati  haben  manchmal  eigene  laute,  vgl.  Oberangel  ß  fiir  m,  althenne- 
bergisch  ou  usw. 


DER  AU -LAUT  353 

In  den  nieder-  und  norddeutschen  dialecten  sowie  im  alemanni- 
schen findet  sich  au  =  ü  nur  selten  und  da  entweder  im  auslaute  oder 
in  lelmworten  des  neuhochdeutschen,  z.  b. 

126)  dänisch:  pauke,  traurig,  sniaus,    Grimm  l^  561. 

127)  friesisch  (Wangeroge)  aut  aus,  aujj.  Firm.  a.  a.  o. ;  (Hel- 
goland): vertraut 

128)  neuniederländisch  (Vriezenveen) :  trauwen  kopulieren. 
Firm.  a.  a.  o. 

129)  vlämisch  (Tongern):  aut^  haus;  (Löwen):  gebaut;  (Ant- 
werpen): getraut.    Firm.  a.  a.  o. 

130)  schweizerisch  (Appenzell):  bau,  bauu,  sau,  traua,  Tob- 
1er,  appenz.  Sprachschatz  XXX,  37.     Weinh.  1,  51. 

au  steht  für  lu  vereinzelt  in  ganz  Deutschland,  meistens 
a.    ohne  weitere  consonantenbedingung: 

131)  neu  niederländisch  (Vriezenveen):  rauwen  reuen. 

132)  vlämisch  (Brabant,  Tongern,  Turnhout):  au  auwe  euer, 
nauwG  neu.     Firm.  a.  a.  o. 

133)  westfälisch  (seltener):  aue  euer  (Attendorn). 

134)  niederrheinisch  (Meurs):  aue  euer,  au  euch. 

135)  siebenbürgisch;  graul  greuel  (Hanebach). 

136)  luxemburgisch:   haut  heute. 

137)  pfälzisch:   haut,  sprau  spreu,  fauer,  auch  euch. 

138)  südhessisch:  hau,t,  nau,  fauer,  saul  schusterahle  (ahd. 
siula),  auch,  auer, 

139)  westfränkiöch  (Spessart):  nau,  raus  reuen,  hauer  heuer, 
fauer.    Schmeller  §  248. 

140)  nordhessisch  (Schwalm,  Schlitz):  au  euch,  auwer  euer, 
)iauwc  neu. 

141)  ober  sächsisch  (Pegauer  au,  Leipziger  gegend,  Meissen, 
Alteuburg):  7iau,  natdich,  auer,  auch.     Firm.  2,  239  fgg. 

142)  cimbrisch:  faur  feuer,  laut  leute,  tautsch,  tauvd,  cimbr. 
wörterb.  120.  142.  177  und 

bairisch:  raut.    Schmeller  3,  158. 

au  steht  für  ie,  nur  äusserlich  hergehörig,  da  die  herhörenden 
fälle  sich  auf  iu  oder  auch  auf  o  beziehen  lassen,  wie 

143)  westfälisch:  loau  wie  Qiweo)  (Osnabrücker  gegend)  und 

144)  südhessisch  (Höchst  —  Hofheim):  fau^r  vier. 

an  steht  für  au,  ou,  alter  laut,  und  zwar 
a.  ohne  weitere  consonantenbedingung: 


354  GRADL 

145)  gotisch:  migo,  daubs  taub,  ravbon  rauben,  haubip  hanpt^ 
galaubjan  glauben,  lauhs,  auk,  hlatqmn  laufen,  daupjan  taufen,  raup- 
jan  raufen.    Grimm  1^  46.     Heyne  1,  23. 

146)  altnorweg.-isländisch:  daufr,  lauf,  auga,  a%ik,  laukr 
lauch,  Idaupa  laufen,  liaufud  haupt,  kaupa  kaufen.  Qrimin  1*,  293. 
Heyne  1,  80.    Dietrich  199. 

147)  altgotländisch:  daufr,  caiipa,  laupa^  daupi  usw.  Heyne 
1,  85. 

148)  neunorwegisch:  äuge  usw.    Grimm  1",  570. 

149)  neuisländisch:  gaukr  kukuk,  kaupa  kaufen  usw. 

150)  schwäbisch  (ausgenommen  die  Bar):  baum^  taub,  laufe 
laufen,  raufo  raufen,  au'  auch  usw.    Schmeller  §  172. 

151)  westfälisch  (von  der  Magdeburger  börde  über  Braunschweig, 
Südhannover,  Engem,  Waldeck,  Osnabrück,  Lippe,  Bavensberg,  einer- 
seits bis  Kheina,  Münster,  Dortmund,  andrerseits  bis  Büren,  Brilon, 
Medebach),  z.  b.:  auk,  laupen,  to  haupe  (zusammen  =  zu  häufe),  äuge, 
glauwe^i,  kaupen,  raupen,  bäum  usw. 

152)  neufriesisch  (äusserst  selten),  z.  b. :  haud  haupt  (Sylt). 
(Oder  ist  dieses  Firmenichische  au  als  au  zu  lesen?) 

153)  neuniederländisch  (in  einzelnen  mundarten  statt  des  son- 
stigen ou)  z.  b.:  vrauw  frau,  mauwe  ermel  (Vriezenveen).  .  Firm.  3, 
750  —  753. 

154)  vlämisch  (wie  153)  (vereinzelt)  z.  b.  (Mastricht):  auch, 
tauiv  tau  strick,  (Geertsbergen) :  tiauwclaks  knapp  kaum  (genau). 

h.  \0Y  m,  b,  f,  g,  ch  und  auslautend  (vor  den  übrigen  consonan- 
ten,  nämlich  vor  h,  s,  r,  d,  t,ß,  ?*,  entspricht  hier  älteres  o 

aus  au), 

155)  althochdeutsch  (s.  allg.  zu  au):  bäum,  laub,  raubon, 
tauf  Jan,  baug,  zaubarön,  traum^  laufan,  haubct  usw. 

156)  elsässisch:  laiif  kauf,  au'  usw.     Fromm.  5,  111  fgg. 

157)  bajoarisch,  meist  nur  auslautend,  sonst  gegen  a  weichend 
(oder  im  cimbrischen  gegen  o).    Beispiele:  g^iau,  raub'm,  augh  u.  a. 

158)  mitteldeutsch,  wie  157  neben  a,  das  in  einzelnen  mund- 
arten (wie  pMzisch,  südhessisch,  obersächsisch)  fast  ausschliesslich 
herscht,  in  anderen  (wie  im  ost-  und  westfränkischen  usw.)  überwiegend 
ist.  Gegenüber  dem  au  =  ü  hat  au  =  au,  ou  ein  grösseres  gebiet  (in 
welchem  es  freilich  nicht  überall  glciclien  bereich  über  die  lautfälle  hat) 
und  reicht  noch  über  Lothringen ,  Rheinfranken ,  den  Westerwald ,  Nord- 
hessen.   Beispiele  unnötig. 


DER  AU -LAUT  355 

au  steht  für  afl  —  abneigung  gegen  umlaut  äu ,  somit  eigent- 
lich unter  au  zu  stellen  —  ohne  ersichtliche  consonanten- 
bedingung;  immer  nur  vereinzelt. 

159)  thüringisch  (Nordhausen,  grafsch.  Hohenstein):  hau  heu. 

160)  siebenbürgisch  (Hanebach):  fraudje  freude. 

161)  niedersächsisch  (Bremen):  frauen  freuen,  und  sonst  einzeln. 

162)  neufriesisch  (Wangeroge):  prauwen  drohen,  unverdaudk 
unverdaulich,  frauden  freuden. 

au  steht  für  uo,  meistenteils  durch  metathese,  und  zwar  ohne 
besondere  consonanzbedingung. 

163)  westfälisch,  regelmässiger  laut  (vgl.  daneben  äu,  ou,  tau, 
CO  usw.  in  einzelnen  gegenden ,  s.  meinen  aufsatz  in  Kuhns  ztschr.  XVIII, 

271.  272),  Wöste  in  Fromm.  3,  560,  2.  4,  140,  11.  Hoffmann  ebd.  5, 
15,  29.  36.  Müller  ebd.  2,  131.  132  und  Firmenich.  Beispiele:  gaud, 
blaud,  niauder,  tau  zu,  maut  muss,  bauJc,  dauJc,  faut,  haun,  staul, 
faur,  grauf  u.  a. 

164)  rheinisch  (Aachen);  AawA,  gaud^  zau,  staul.    Kuhn  XVIII, 

272.  273.     Vereinzelt  noch  an  einigen  punkten ,  z.h.zau  (Siebengebirge), 
tau  (Gladbach)  usw. 

165)  südhessisch  (gegen  sonstiges  ou,  in  Höchst  =  Hochheim) : 
gaut,  hauche  kuchen,  tauch. 

166)  siebenbürgisch  (um  Hermannstadt,  in  Zeiden,  Eosenau, 
imNösnerlande):  mauss,  gaud,  grauwgTXxh,  flaudfLut,  zau,  nau,  Uaud, 
häuf  hübe,  faur  fuhr,  dauch,  drauch  trug  usw.  Kuhn  XVIH,  273. 
Schuller  a.  a.  o. 

167)  ostfränkisch  (Böhmerwald):  hau'  bube,  kaucVn  kuchen. 
(Sonst  in  Ostfranken  ou).     Vgl.  meinen  aufsatz  in  Kuhns  ztschr.  a.  a.  o. 

168)  niedersächsisch  in  bestimten  gegenden,  z.  b.  (Natungen): 
schau'  schuh;  (Flatower  und  Schlochauer  kreis,  Zempelburg,  Konitz): 
tau,  maus  mus  brei,  daun  tun,  gaud,  dauk,  kau;  (hinterpommerisch) : 
hlatid,  dank,  fauder,  gaud,  haun,  kau'  kuh,  statd,  tau,  faur,  schlaug; 
(ostholsteinisch,  in  Segeberg,  Oldesloe,  nördlich  amt  Trittau  und  nörd- 
lich Lauenburg):  faut,  daun,  gaud,  tau;  (Westschwerin):  faut,  daun, 
schau,  unfraudig  unachtsam  (ahd.  unvru^t  unklug),  hlaud,  raupen, 
gaud,  Mauk  klug,  schaute,  dauk;  ausserdem  noch  in  den  Umgegenden 
der  Magdeburger  börde  (z.  b.  Leitzkau:  daun,  schau,  im  Drömling  ver- 
einzeltes: tau)  usw. 

169)  thüringisch  (Erfurt):  gaut. 

170)  schwäbisch:  auchtwaide,  auckten  (vgl.  ahd.  uohta;  „für 
aus  uo  entstelltes  m"    Schmid  31.    Weinh.  1,  85. 


356  F.   W(£ST£ 


171)  neu  friesisch  (Wangoroge,  an  oder  äu?):  slaugen  schlu- 
gen, lauk  schauen,  hlauked  blickte  (wol  bilauked  und  zum  vorigen?), 
vergfuimjd  vergnügt,  kraug  wirtsliaus,  ärniaup  armut 

EGER.  H.   GBADLi. 


BEITRÄGE  AUS  DEM  NIEDERDEUTSCHEN. 

Ags.  boh  oder  b6h? 
Grimm  gr.  3^  s.  399  fragt:  „bough  ramus  j  ags.  höh  oder  boh?*'''  — 
Antwort:  boh,  wie  genoh  {etwugh).  Das  wort  ist  auch  mittelwestfälisch. 
Bei  Fahne  Dortm.  IV  s.  299  steht:  van  Joh.  Berswort  var  eyn  voder 
beughe  de  van  dcme  iymerholt  Jcomcn  tveren.  Beughc  d.  i.  baüge,  baige 
ist  pku'.  von  baug  oder  boug  ast,  zweig,  welches  sich  lautrecht  aus  älte- 
rem biiog,  bog  entwickelte. 

Mnd.  Arn. 

Vorstehendos  wort  findet  sich,  wie  mir  herr  dr.  Schiller  mitteilt, 
in  Lüb.  Z.  E.  440  (Wehrmann):  hcbbcn  de  mcstbcrcdcrs  behof  arne  to 
rekende  edder  orde  to  seharpende,  d.  i.  haben  die  messerbereiter  (mittel- 
westf.  nwssed,  messor)  nötig,  erle  zu  recken  oder  schneiden  zu  schärfen. 

Als  gewerblicher  ausdruck  für  den  teil  eines  degens,  messers,  einer 
feile  u.  dergl.,  der  (zuweilen  spiessförmig)  in  die  handhabe  eingelassen 
wird,  oder  auch  einfach  dieselbe  bildet,  gilt  bei  unsern  schmieden  und 
kaufleuten  erl  oder  ärl,  m.  (vgl.  mhd.  arl).  Dieses  crl  stattet  mnd. 
am,  vermutlich  entstanden  aus  altnioderd.  araw,  welches  nicht  allein 
ährenförmig,  sondern  auch  spiessförmig  bedeutet  haben  wird;  vgl.  ags. 
areve,  engl,  arrow.  Auslautendes  h  oder  lo  geht  nicht  selten  in  n  über, 
Beispiele:  hoU.  schoen  (ahd.  scuoh),  südwestf.  täne  =  fewe  (ahd.  zeha)^ 
aachener  bineti  (ahd.  bahjun),  südwestf.  ärn  =  närn  (ahd.  narwa)^  vgl. 
jedoch  für  cini  das  helgol.  are^it  (mda.  lll,  29)  und  schwed.  ärr.  Mög- 
lich ist  auch  ein  Wechsel  von  l  und  n  [arl  ==  am) ;  vgl.  klüggen :  Müg- 
gclf  räden  :  rädd. 

Nd.  Kobbo. 

Was  der  gemeine  mann  in  Andalusien  (s.  Caballero  cuentos  p.  41) 
von  kröten  und  schlangen  glaubt,  das  erzählen  sich  auf  ähnliche  weise 
kinder  in  Südwestfalen  von  den  spinnen,  zumal  den  afterspinnen:  8e  süget 
den  vergiß  üt  der  lacht  an  inuket  sc  gcsi'indcr.  Diese  volksmeiuung 
dürfte  von  hohem  alter  und  schon  mit  den  Sachsen  nach  Britannien 
gewandert  sein.  Sie  wirft  licht  auf  das  ags.  attorcoppa  (aranca)  und 
weiter  auf  südwestf.  kobbe,  f.  (spinne),  so  wie  auf  kobbe  (mewe)  in  den 


.    BBITBAQE  AUS  DSM  MIEDE&DEUTSCHEN  357 

seegegenden  Norddeutschlands.     Mit  engl,  cob  (spinne),    cobweb  (westf. 
kobbwebbe),  cob  (mewe)  mag  es  sich  dann  ebenso  verhalten. 

Wie  ags.  doppa  (mergus)  auf  deöpaUj  so  fuhrt  coppa  auf  ceöpan, 
von  welchem  cojyan  abstamt,  dem  die  bedeutung  „an  sich  nehmen, 
zusammen  bringen"  beizulegen  ist.  Attorcoppa  ist  somit,  der  obigen 
kinderüberlieferung  entsprechend ,  giftnehmer,  giftsamler.  In  West*- 
falen  wird  etterkoppa  oder  edderkcbba  einst  ebenso  gegolten  haben  und 
seines  bestimwortes  dann  entkleidet  sein,  als  dieses  (heute:  etter,  edder, 
bei  Büren  atter  =  eiter)  die  hedeutung  gift  eingebusst  hatte.  Lag  in 
einem  altniederd.  und  ags.  coppa  oder  kobba  ursprünglich  der  etymol. 
sinn  von  accipiter,  so  war  die  Verwendung  des  einfachen  wertes  für  eine 
mewenart  sehr  passend. 

Weder  die  Verschiedenheit  des  genus  und  der  declination,  noch 
das  bb  können  hier  etwas  verschlagen.  Genus  -  und  declinationsabschwä- 
chungen  sind  gerade  im  nd.,  andern  dialecten  gegenüber,  nicht  selten. 
Man  denke  z.  b.  an  unsere  räwe,  f.  (rabe),  swäne,  f.  (schwan).  Was 
aber  das  bb  betrifft,  so  bleibt  die  wähl,  es  aus  früherer  lautstufe  beibe- 
halten, oder  aus  pp  erweicht  zu  denken.  So  steht  schoppen  (schuppen) 
neben  schobben  (Iserlohn),  schrappen  neben  schrabben,  schruppen  neben 
schrubben.  So  hängen  drabbe  (bodensatz) ,  krabbe  mit  driupan  und  kriu- 
pan  oder  vielmehr  mit  den  diesen  vorhergegangenen  dripan  und  kripan 
zusammen. 

Krdt  unde  wyn. 

Theoph.  1.  (Hoffm.)  265:  „hyr  schenkenunj  ju  krüt  unde  wyn" 
Krut  ist  hier  wol  nicht  die  symbolische  herba  bei  ein  wehrungen,  viel- 
mehr krüt  unde  wt/n  nichts  anderes,  als  wyn  und  krüt,  d.  h.  wein  und 
gewürz  (zimmt).  Vgl.  Seib.  Qu.  U,  280,  281:  „item  men  plach  VI 
mal  ^  allen  letmaten  der  kercken  wyn  vnd  kruyt  to  geven"  Sollte  im 
Theoph.  die  symbolische  herba  bezeichnet  werden,  so  würde  der  dichter 
gewis  nicht  ^,wy  schenken  ju''  gesagt,  er  würde  sich  anders  ausgedrückt 
haben. 

1)  a«  1444;  zu  Gr.  gr.  UI  s.  232. 

T^Ie  stftn  mid. 

Cläws  Bür  (Höfer)  v.  30 :  „  des  stä  ik  vde  mit  ener  ko/'  Hier  war 
vele  zu  schreiben.  Das  gibt  eine  echt  westfölische  redensart  für  das 
westfälische  buch.  Wir  sagen  heute :  Bat  wif  stet  ümmer  med  appdn 
feie;  et  is  de  edle  appdtidwe.  Der  bauer  sagt  also:  Ich  brauche  ja  nur 
eine  kuh  feil  zu  bieten,  um  mir  die  mittel  zu  verschaffen,  einmal  satt 
wein  zu  trinken. 


358  F.  WCESTE,  BEITB.  AUS  D.  NIEDEBDEÜT8CHSN 

Lüter. 

Theoph.  1.  (Hoffm.)  686  soll  die  handschrift  huter  wort  enihalteii, 
was  der  herausgeber  in  hoter  wort  (büssoi-worte)  geändert  hat.  Passt 
das  in  den  Zusammenhang?  Es  ist  zu  lesen  oder  zu  bessern:  lüier 
wort.  So  las  der  Schreiber  einer  andern  bearbeitung,  und  weil  er  das 
lüter  tvort  misverstand,  setzte  er  dafür  „wäre  rede";  vgL  Theoph. 
(Bruns)  203:  „du  lieft  my  wäre  rede  vorgesaghetJ^  Lüter  bedeutete, 
wie  heute:  bloss,  nur:  nun  hast  du  mir  lauter  worte  vorgelegt,  wie 
man  sie  ja  den  verzweifelnden  (vorzulegeji)  pflegt. 

Likemere. 

Sündenfall  etc.  (Schoenemann)  s.  166:  „Dessen  rim  schal  fne  spre^ 
ken  tyghen  ?lihemcreJ'  Das  ?  wird  überflüssig  durch  die  bemerkiing: 
likemere  ist  zusammengesetzt  aus  Uk  (leib)  und  eniere  (emmer^  feuerfanke). 
Der  reim  Avard  also  etwa  gegen  rotlauf  (sogen,  rose)  gesprochen. 

Wllbred. 

Wie  man  beim  urkundeniesen  zuweilen  aus  l  eia  h  gemacht  hat, 

so  ist  auch  wol  b  zum  l  geworden.    Seih.  urk.  11  s.  417  (van  hruyilach- 

ten):   „Ot/c  so  en  sal  nummant  mit  willrede  dinefi"    Glossar:  „Will' 

rede^  gauklerworte."  —    Es  ist  zu  lesen:  mit  wilhrede  =  mit  wildbret 

Brödd^gr. 

Brem.  geschichtsqu.  (Lapponberg)  s.  56:  „de  sulve  her  Ghert 
hadde  —  neuen  gheliken  van  enem  hroddeghen  ghehai  hinnen  hun- 
dert iaren,^'  Glossar:  „hroddeghen  n.  55  brüderchen."  -  „Van  enem 
hroddeghen"  ist  plumpe  Übersetzung  einer  dem  ital.  „di  medesima  pasta** 
entsprechenden  phrase  des  lat.  Originals. 

ISERLOHN.  F.   WCESTE. 

(Wird  fortgesetzt) 


Ph.  Dietz,    Wörterbuch    zu   Dr.    Martin   Luthers    deutschen    Schriften. 
1.  bd.    A  — F.    Leipzig,  Vogel,  1870.    LXXXVII,  7f 2  s.    n.  SVe  tblr. 

Die  zweite  hälfte  des  laufenden  Jahrhunderts  stellt  sich  in  der  germanischen 
Philologie  unter  anderm  auch  als  die  zeit  der  grossen  Wörterbücher  dar ;  nm  das  jähr 
1850  trat  sowol  das  grosse  mittelhochdeutsclio  Wörterbuch  ins  leben  wie  das  Grimm- 
sche deutsche  Wörterbuch,  nicht  viel  später  auch  das  grosse  niederländische  Wörter- 
buch und  das  für  uns  noch  wichtigere  uiittelnicderländische ,  das  leider  seit  der  zwei- 
ten lieferung  stocken  nmss,  und  auch  der  scandinavischo  norden  wie  England  wollen 
in  dieser  bewcgung  der  gelehrten  arbeit  nicht  zurückbleiben.  Da  wäre  es  denn 
eigentlich  an  der  zeit,  dass  man  auch  die  art  und  webe,  wie  die  neue  aufgäbe  aus- 
zuführen ist,   einer  Untersuchung  unterzöge,   oder,  um  „wisBenschaftlieh**  la  reden. 


mLDBBHAlO) ,   ÜBEB  DIBTZ,  LÜTHEBWÖBTEBBUCH  359 

dass  man  die  methode  der  neuen  grossen  lexicographie  zur  wissenschaftlichen  dehatte 
hrächte,  um  so  mehr,  als  diese  dehatte  mehrfach  in  schwehende  wichtige  fragen  der 
gewaltig  wachsenden  Sprachwissenschaft  selber  unmittelbar  einschlagen  würde.  Denn 
neu  ist  die  aufgahe  wirklich ,  das  bringt,  auch  abgesehen  von  den  höher  gesteckten 
zielen,  schon  die  masse  mit  sieh,  die  da  zu  bewältigen  ist,  und  für  diese  wie  vol- 
lends für  jene  reicht  der  überlieferte  rahmen  der  arbeit  nicht  mehr  aus,  wie  er  sich 
in  der  lexicographie  der  vorigen  Jahrhunderte  ausgebildet  hatte,  und  zwar  bei  aller 
Selbständigkeit  der  einzelnen  arbeiter  mit  einer  gewissen  einheitlichkeit ,  wesentlich 
im  anschluss  an  die  lateinischen  Wörterbücher,  die  im  ganzen  der  schule  zu  dienen 
hatten.  Streng  genommen  hätte  freilich  diese  Untersuchung  des  neuen  Verfahrens  der 
inangrifEhahme  der  werke  selber  voraufgehen  müssen ;  aber  das  war  bei  der  ungeahn- 
ten grosse  des  Stoffes  ¥ddcr  nicht  menschenmöglich,  die  rechte  neue  methode  kann 
sich  nur  aus  dem  stoffe  selber  herausarbeiten  unter  versuchen,  fchlgriffen,  umkehr 
von  eingeschlagenen  wegen,  die  sich  nachher  als  unrichtige  herausstellen.  Doch  ist 
hier  nicht  ort  und  zeit,  darauf  tiefer  einzugehen^  so  sehr  mir  als  beteiligtem  an  der 
erörterung  gelegen  ist;  aber  zu  einer  und  der  anderen  daher  gehörigen  bemerkung 
wird  wol  das  folgende  anlass  geben. 

Auch  das  Lutherwörterbuch  von  Dietz  schlägt  in  die  neue  epoche  der  grossen 
Wörterbücher  ein;  unsere  litteratur  hat  noch  nichts  ähnliches,  und  wol  keine  andere 
neuere  litteratur,  wie  dieses  Wörterbuch  für  einen  einzelnen  schriftsteiler,  das  in 
einem  starken  bände  von  800  seiten  nur  etwa  ein  kleines  drittel  des  ganzen  darstellt. 
Dass  gerade  Luthem  ein  solches  unternehmen  zuerst  zugewendet  wird,  kann  man 
im  interesse  der  deutschen  philologie ,  und  dieser  nicht  allein ,  nur  mit  wahrer  freude 
sehen ,  um  so  mehr  als  die  arbeit  in  der  hauptsache  durchaus  den  wirklichen  Interes- 
sen der  forschung  dienstbar  ist ,  und  zwar  nicht  der  philologischen  im  engeren  sinne 
allein,  die  nach  Luthers  Deutsch  fragt,  von  seiner  Schreibweise  und  dem  orthogra- 
phischen gebrauch  der  druckereien  angefangen  bis  hinauf  in  die  syntax,  sondern 
ebenso  der  höher  greifenden  forschung,  die  etwa  nach  Luthers  art  sprachlich  zu  den- 
ken fragt,  nach  der  art  und  den  quellen  seiner  bilder,  nach  seinem  stil  im  höheren 
sinne.  Dabei  ist  das  alles  auch  in  seiner  entwickelung  leicht  zu  übersehen,  da  die 
arbeit  in  der  hauptsache  auf  den  erreichbaren  ersten  quellen  fusst,  d.  h.  auf  den 
ursprünglichen  und  echten  einzeldrucken  mit  steter  anführung  des  druckjahres,  manch- 
mal selbst  auf  Luthers  handschrift,  doch  so  dass  auch  die  verschiedenen  gesamt- 
ausgaben,  wie  spätere  einzeldrucke  und  selbst  nachdrucke  zugezogen  werden.^  Noch 
für  keinen  Schriftsteller  ist,  wie  hier  für  einen  der  bedeutendsten  aller  Zeiten,  die 
möglichkeit  geboten,  mit  leichter  mühe  in  die  rüstkammer  seines  geistes  zu  blicken, 
wie  seine  spräche  sie  darstellt.  Wie  sehr  könte  man  z.  b.  für  Goethe  ein  ähnliches 
buch  wünschen,  das  dem  lernenden  wie  dem  forscher  beim  eindringen  in  die  wege 
und  gründe  seines  denkens  zur  band  gienge;  es  brauchte  zunächst  nichts  zu  tun  als 
seine  stichworte  und  lieblingswendungen  geschichtlich  genau  zu  verfolgen  und  mit 
belegstellen  zu  verzeichnen,  so  wäre  schon  ein  Schlüssel  gewonnen,  der  den  grossen, 
wunderbar  tiefen  und  klaren  hintergrund  seiner  oft  scheinbar  schlichten  rede  leicht 
erschlösse,  und  so  die  gewaltige  geistesschöpfung  dieses  einzigen  mannes  erst  wirk- 
lich der  zeit  und  zukunft  so  nutzbar  machte,  wie  sie  es  einmal  werden  muss  früher 
oder  später.    Das  wäre  so  zu  sagen  eine  innere  lexicographie,  während  die  heutige 

1)  Ein  dem  yor werte  angehängtes  qaellenverzeichnis  führt  auf  mehr  als  00  Seiten 
unter  mehr  als  300  nnmmem  die  quellendmcke,  vom  jähre  1516  angefangen,  auf,  mit 
genauer  bibliographischer  bescbreibung. 


360  UILOEBRAin) 

doch  noch  zu  sehr  beim  äussern  der  spräche  sich  aufhält^   wie  freilich  im  allgemei- 
nen die  Sprachforschung  überhaupt  noch. 

Docli  zu  unserm  Lutherwörterbuch  zurück.  Der  gedanke  dazu  ist  dem  verfas- 
ser  durch  das  Grimmsche  Wörterbuch  gekommen,  d.  h.  durch  das  was  dieses  für 
Luther  zu  wünschen  übrig  Hess.  Er  fand  die  belege  dort ,  ,,wie  es  auch  kaum  anders 
sein  konte ,  fast  ausschliesslich  einer  späteren ,  nicht  bloss  sprachlich  unzuverlässigen, 
sondern  auch  unvollständigen  gesamtausgabe  von  Luthers  werken  entnommen  (der 
Jenaischen),  woher  es  gekommen,  dass  eine  ganze  reihe  von  Wörtern,  die  doch 
zum  teil  widerholt  bei  Luther  begegnen,  teils  der  belege  aus  Luthers  Schriften  ent- 
behrt, teils  gar  nicht  einmal  zur  Verzeichnung  gelangt  sind"  (s.  IV),  und  eine  anmer- 
kung  dazu  führt  zum  handgreiflichen  beweis  die  doil;  ganz  vermissten  oder  nicht 
aus  Luther  belegten  Wörter  auf,  nur  aus  den  buchstaben  A  und  B,  und  doch  zwei 
ganze  quartseiten  voll!  unter  den  ganz  fehlenden  sind  z.  b.  allein  9  composita  mit 
ablasZy  darunter  selbst  ablaszkrämer !  Da  wäre  denn  nun  freilich  von  Seiten  des 
Grimmschen  Wörterbuches  zunächst  dem  geschichtlichen  sprachgenius  gegenüber  ein 
pater  peccavi  nötig ,  und  dann ,  wenn  der  gestrenge  ricKter  wider  sein  ohr  zum  hören 
neigte,  zur  erklärung  ein  geschichtlicher  blick  auf  die  entstehung,  oder,  wem  das 
besser  gefällt,  die  y^vtatg  des  so  durch  tatsachen  verklagten  Werkes.  Doch  ist  jetzt 
und  hier  zum  letzteren  wirklich  nicht  zeit  und  ort;  aber  die  kenner  wissen  ja,  wie 
die  fülle  der  quellen  erst  allmählich  um  den  mühsalsvollen  arbeitstisch  sich  sam- 
melte, glauben  uns  wol  auch  gleich,  wie  die  arbeit  immer  etwas  hat  von  dem  aus- 
schöpfenwollcn  wenn  nicht  des  mceres ,  so  doch  eines  flutenreichen  sees.  Auf  jeden 
fall  gebührt  herrn  Dietz  dank  von  selten  des  deutschen  Wörterbuchs ,  dass  er  ihm  so  anf 
die  fiuger  gesehen  und  nachgeholfen  hat  in  bezug  auf  Vollständigkeit,  die  man  seit 
Campe  als  das  erste  erfordemis  und  das  oberste  strebeziel  eines  deutschen  Wörter- 
buchs anzusehen  pflegt,  worüber  gar  manches  zu  sagen  wäre,  z.  b.  von  dem  unter- 
schiede rein  äusserlicher  und  innerer  Vollständigkeit,  und  wie  es  die  erste  gar  nicht 
gibt,  noch  weniger  als  die  zweite,  während  die  äugen  doch  zuerst  und  zumeist  anf 
jene  sehen. 

Aber  wir  dürfen  nun  auch  den  spiess  umkehren  und  dem  Lutherwörterbnche 
auf  die  finger  sehen  nach  seiner  „Vollständigkeit."  Es  bringt  sich  selbst  schon  anf 
12  sjialten  nachtrage  (mit  Fronmianns  beihilfe),  darunter  manches  recht  wichtige; 
aber  eine  nicht  lange  nachlese  fand  doch  immer  noch  mehr  als  eine  übersehene  tranbe. 
Da  werden  z.  b.  s.  V  comi>osita  mit  hupst  bei  Grimm  vermisst;  nun  diese  werden 
dort  unter  P  folgen  (wie  auch  z.  b.  peloerlein ,  belferndes  hündlein ,  das  Dietz  im  B 
unter  den  vermissten  aufführt  und  selbst  erst  in  den  nachtragen  beibringt);  aber 
unter  seinen  20  compositis  fehlt  doch  auch  ba2)sttr€ii€  ^  das  ich  nur  ihm  selbst  ent- 
nehme ,  hapsttrew  s.  LXXXIV  als  Stichwort  auf  dem  titel  einer  Streitschrift.  Anf 
s.  312  steht  das  merkwürdige  blastückcr,  eine  art  betrüger,  Schwindler,  darunter  ftlew- 
tückerei,  hlastüddsch;  während  J.  Grimm  dabei  an  lat.  plasticus  dachte,  bleibt  Dietz 
bei  heimischem  urspning  und  setzt  dazu  in  ])arenthese  ein  angenommenes  llastücke. 
Aber  dies  steht  ja  Avirklich  in  den  Varianten  zu  2.  Cor.  4,2  bei  Bindscil ,  lHantütk^ 
hlasiuck,  und  durfte  weniger  fehlen  als  die  ableitungen  davon.  S.  506  fehlt  das 
vorbum  einijedenken  (wie  bei  Grimm  auch),  es  steht  verstockt  unter  eindenken  ans 
einer  briefstelle.  Unter  dreJien  fehlt  die  bedeutung  drechseln,  während  drehewerk 
drechslerarbeit  belegt  ist;  sie  steht  unter  hlumicerk,  die  gcdretcn  knoten  da  sind 
gedrechselte.  Unter  ausschlagen  fehlt:  das  das  armbrust  im  ausscfdegt  (s.  unter 
armbrust)y  wol  gleich  versagt,  abblitzt,  wie  man  vom  schiessgewchr  sagt,  die  stelle 
ist  nicht  völlig  genug  ausgeschrieben,   dass  man   die  bedeutung  sicher  sehen  könte, 


ÜBBR  DIETZ»  LÜTHEBWÖRTBBBUCH  361 

wie   das   leider  öfter  vorkomt,    auch   bei  wichtigen  Wörtern,    s.  z.  b.  bapsts  laive, 
hechtlein  y  aussMusz,  elkefräulein ,  des  teufeis  canceley  s.  369*. 

Wichtiger  ist  das  fehlen  einer  bedeutung  bei  einem  unscheinbaren  werte ;  solche 
sind  die  alltäglichen ,  die  nächsten ,  auf  die  man  in  der  regel  zuletzt  das  äuge  rich- 
ten lernt,  während  sie  in  jedem  betracht  doch  die  wichtigsten  sind.  So  komt  es, 
dass  bei  J.  Grimm  u.  a.  also  viel  zu  kurz  weggekommen  ist,  dass  ihm  da  mehrere 
bedeutungen  und  anwendungen  völlig  fehlen.  Hauptsächlich *(iie  bedeutung  ebenso, 
die  sogar  glaub  ich  zuerst  stehen  muste  als  die  vermutlich  älteste,  wie  sie  in  dem 
mittelhochdeutschen  wörterbuche  jetzt  voransteht,  doch  auch  nicht  nachdrücklich 
genug  bewiesen  und  hervorgehoben  unter  den  blossen  verstärkten  „  so."  Dass  J.  Grimm 
diese  bedeutung  von  also  nie  beobachtet  hat,  zeigt  mit  dem  schweigen  im  wörterbuche 
zusammen  seine  äusserung  in  dem  aufsatz  über  „all  also  als"  in  Haupts  zeitschr.  8, 
387:  „al  so  drückt  buchstäblich  aus  omne  ita  ...  soll  aber  nichts  anders  bedeuten 
als  ittty  sie**  —  beobachtet,  denn  wirklich  geht  es  dem  Wörtersucher  und  wörter- 
beschreiber  wie  den  astronomen  mit  ihren  sternen ,  oder  den  ph3sikem  mit  ihren  Phä- 
nomenen, denen  auch  alltägliches  oft  lange  durch  die  bände  gelaufen  ist,  ehe  sich 
die  scharfe  beobachtung  darauf  richtete,  um  es  erst  in  seinem  wesen  zu  entdecken. 
Da  zeigt  sich  das  alte  feine  Sprichwort  umgekehrt:  man  sieht  die  bäume  vor  dem 
walde  nicht.  Seitdem  diese  bedeutung  ebenso  mir  neuhochdeutsch  zuerst  auffiel ,  habe 
ich  beispiele  genug  beobachtet,  bis  tief  ins  17. Jahrhundert  hinein,  z.  b. :  nun  aber  setzt 
Venus  den  iren  solche  brillen  auf,  dasz  ie  ein  Binzger  baur  einen  eid  schwüre,  es 
wer  kein  schöner  hild  auf  erden,  dann  ein  Binzger  beurin  mit  eim  groszen  kröpf 
solt  sie  den  nit  hohen,  er  meint  ..  sie  hette  ire  gJider  nit  alle,  also  bleibt  Mar- 
colfo  sein  viereckichts  tveib  die  schön  Helena.  S.  Frank,  sprich w.  (1541)  2,  69*; 
der  glaube  leidt  keinen  sclierz,  also  das  gerächt  (der  gute  ruf),  also  das  atig, 
2 ,  4*»,  in  der  erklärung  des  Sprichworts  die  ehr,  glaub  und  aug  leiden  keinen  scherz. 
Besonders  deutlich  im  17.  Jahrhundert,  das  uns  doch  sonst  so  nahe  liegt:  wer  sich 
zwisc/ien  thür  utul  angel  steckt,  der  klemmet  sich,  also  teer  freunden  (verwanten) 
und  eheleuten  zuicider  handelt.  Lehmann,  floril.  polit.  (1662)  1,  230;  den  mutwillig 
gen  Pferden  macht  inan  einen  ktwpf  (knoten,  knebel)  für  das  maul:  also  loird 
unserer  ungezähmten  natur  der  knöpf  des  creuzes  angelegt.  M.  Abele,  selts.  gerichts- 
händel  (1684)  1,  373;  einen  jungen  leuen  soll  man  sich  hüten  zu  beleidigen,  also 
gefärlich  ist  es  auch,  einen  jungen  krohnleuen  (thronfolger)  . .  zu  beleidigen.  Butschky, 
Patmos  732;  (wo  wir)  wie  den  tag  in  unvergleichlicher  lust,  also  ferner  den  abend 
in  allerhand  ergetzungen  zugebracht.  A.  Gryphius  (1698)  2,  494.  Herr  Dietz  wird  mir 
glauben,  dass  ich  nicht  ohne  Spannung  in  seinem  Lutherwörterb.  nach  diesem  also  sah; 
als  erste  bedeutung  steht  da  „ita ,  so,  ganz  so,  ebenso,  auf  diese  art,"  aber  belege 
für  ebenso  stehen  nicht  da  (das  auch  also  Matth.  5,  47  ist  nicht  scharf  genug),  ich 
will  einige  nachholen:  wenn  man  siebet ,  so  bleibet  das  unfletige  drinnen  (im  siebe, 
das  unreine),  also,  was^  der  mensch  fumimpt ,  so  klebet  imer  etwa^  unreines  dran. 
Sirach  27,  5 ,  vgl.  v.  3  und  6 ;  der  bapst  th%it  also  (machts  ebenso) ,  alle  die  im  hel- 
fen sein  kirchemvesen  . .  Sterken  und  mehren,  die  unrd  er  . .  hoch  heben.  Vorrede 
zum  Daniel ,   bei  Bindseil  7,  383 ;    was  iM  ewer  kirchenstand  vor  unserm  evangelio  * 

1)  tri»,  wie  oft,  gleich  mhd.  »wa^f  stark  betont  zu  sprechen,  dieser  ton  als  ersatz 
für  (las  80  in  swa?. 

2)  d.  h.  vor  meinem  und  meiner  freunde  auftreten,  vor  meiner  frei  und  froh 
machenden  lehre ;  dass  er  von  seiner  lehre  \uii  allem  freudi<^en  stolze  dieses  hohe  bibli- 
sche wort   brauchte,    auch  sich    selber   dem  entsprechend    einen  evangelisten  nante,    seine 


362  RILDEBRANO 

gewesen,  denn  eitel  tegJichenewtgkeit?  . .  es  folgt  ein  beleg,  dann:  also  weiter  (ebenso 
ferner),  ehier  richtet  den  rosenkranz  auf  ....  also  mit  den  wdlfarten,  da  giengen 
teglich  ne\ce  auf  usw.  Schriften  5  (Jena  1561),  82*^,  Vermanung  an  die  g^eistliclieii 
1530.  Dies  also  ist  so  ein  bäum,  der  vor  dem  walde  nicht  gesehen  worden  ist.  Auch 
also  erläuternd ,  gleich  nämlich ,  das  heisst ,  fehlt  (mittelhochdeutsch  beobachtet  von 
Wackemagel  im  glossar  zum  lesebuch) :  wo  man  den  trost  . .  von  der  müncherei 
wegnimpt,  also  das  man  dadurch  nicht  gerecht  werde  noch  gnade  verdiene,  so  ist 
ir  der  köpf  abgehawen.  G,  27**  (Jena  1561);  bei  Grimm  fehlt  es  freilich  auch,  Dietz 
bringt  aber  als  in  dieser  bedcutung  (das  nur  nicht  als  „demonstrativ"  gehen  kann). 

Zu  als  aber  auch  ein  kleiner  nachtrag.  Da  ist  bei  Grimm  1,  250  cds  nach  dem 
comparativ  für  das  ältere  denn  der  ersten  hälfte  des  16.  Jahrhunderts  abgesprochen, 
„  in  der  zweiten  hälfte  begint  als  einzureissen ,  und  Fischart  kann  f&r  den  ersten  her- 
vorragenden schriftsteiler  gelten  "  usw.  Damit  ist  aber  dem  guten  als  starkes  unrecht 
getan  durch  unzureichende  beobachtung,  denn  es  steht  schon  so  beim  Teichner  170, 
bei  Meister  Eckhart  484,  27,  ja  bei  Walther  25,  28  (in  dem  mhd.  wörterbacbe  steht 
nichts  davon) ,  mittelniederdeutsch  z.  b.  oft  im  jütischen  Low,  z.  b.  doch  kein  gröter 
schip  alse  mit  sös  reinen  (rudern)  3,  62  §  7.*  Aus  der  ersten  hälfte  des  16.  Jahr- 
hunderts z.  b.  bei  Er.  Alberus  im  Esop:  kein  feiner  twcli  meisterlicher  gedieht  ah 
das  buch  von  Reinicken  (Grimms  Wörterbuch  2,  745).  Auch  bei  Luther,  z.  b.:  doM 
also  kein  ermer,  geringer,  rerechter  discipel  nicht  ist  auf  erden,  als  gott.  8,  905*. 
Jena  1580  (bei  Wackemagel  lesebuch  3*,  199  aus  der  Wittenberger  ausgäbe  1581); 
Dietz  hat  es  leider  auch  durch  die  fingcr  laufen  lassen  ,>  so  reich  sonst  sein  artikel 
als  ist. 

Noch  merkwürdiger  ist  was  dem  wörtlein  bis  in  den  Wörterbüchern  bis  jetzt 

passiert  ist,   dass  ihm  da  eine  bedeutung  noch  gänzlich  fehlt,   die  von  der  gew5n- 

liehen  auffallend  abweicht :  „  so  lange  als  "  . . ,  also  ganz  wie  lat.  donec ,  dum.     So  im 

Baseler  totentanze,  da  spricht  der  musiciercnde  (pfeifende)  tod  zur  edelfrau: 

danzen  (tanzet),  fraio ,  noch  uweren  sin, 

bis  de  pfif  ein  ton  gewin.    Haupts  zeitschr.  9 ,  344. 

Und  selbst  in  unserem  Jahrhundert  noch,   bei  niemand  anders  als  Schiller  (Abschied 

vom  leser): 

nicht  länger  wolleyi  diese  lieder  leben 

als  bis  ihr  klang  ein  fühlend  herz  erfreut. 

Gedichte  (1800)  1,  334;  Musenalm.  1796,  s.  204. 

Das  ist  als  ob  mans  da  nicht  mit  Deutsch  zu  tun  hätte,   das  tansenden  durch  die 

bände  gieng  und  geht,   sondern  mit  irgend  einer  entlegenen  spräche,  wo  für  seltene 

helfcr  und  gonossen  allerdings  auch,  das  tritt  bei  Diotz  nicht  genügend  hervor,  ist  aaeh« 
leider  nicht  genügend  belegt,  und  ist  doch  hochwichtig  zum  Verständnis  des  mannes;  die 
art,    wie    es   8.629*  angeführt  wird,    klingt    eher  abschwächend,    als   könte  man   eine 
erschreckende  Selbstüberhebung  dahinter  finden. 

1)  Bemerkenswert  ist  und  für  die  crklärung  der  crsoheinung  in  psychologischer 
Syntax  wertvoll,  dass  ganz  entsprechend  auch  altgricoliisch  atg  für  ij  eintrat,  ja  tohon 
bei  Homer  rjvre  II.  4,  277;  auch  lat.  quam  entspricht  ja  dem  ait  genau. 

2)  Hier  mag  ein  erklärendes  Streiflicht  auf  die  cntstehung  des  Grimmschen  Wör- 
terbuches geworfen  werden :  während  1 ,  250  unter  ah  belege  fehlen  bis  Fisobart  (wo 
sie  J.  Grimm  offenbar  sich  selber  erst  während  der  arbeit  zusammengesucht  hat  im  Gar- 
gantua),  wimmelt  es  2,  745  von  beispielen  für  dann  —  d.  h.  die  auszieher  haben  reich- 
lich ausgeschrieben  was  ihnen  anffiel,  und  laufen  lassen  was  ihnen  geläufig  war. 


ÜBXB  BIBTZ,  LCTHEBWÖBTBBBUCH  363 

Wörter  noch  die  bedeutungen  zu  entdecken  sind!  so  mühsam  komt  unser  Wörterbuch 
zu  stände.  Auch  Luther  hat  dies  bis,  zu  bis  dasz  verstärkt:  Esaias  1.  straft  das 
Volk  also  „  dein  wein  ist  gemischet  mit  wasser  **  ...  ein  solcher  diebischer  kretzsch- 
mer  (wirt)  ist  der  bapst  auch,  bis  das  er  eitel  pfützenwasser  für  guten  wein  ver- 
kauft.  1 ,  503  *•  (Jena  1564) ,  von  der  Beicht ;  bei  Dietz  steht  nichts  davon ,  wie  bei 
Grimm  auch  nicht. 

Gegenüber  diesem  fehlen  lässt  sich  aber  manches  anführen  y  das  recht  gut  oder 
besser  fehlen  könte.  So  besonders  die  etymologien ,  die  zuweilen  so  ausführlich  sind, 
als  handelte  sichs  nicht  um  ein  Wörterbuch  für  Luther,  sondern  um  ein  deutsches 
Wörterbuch  schlechthin;  komt  es  doch  vor,  wie  unter  auch,  dass  in  sieben  zeiien  nur 
das  etymologische  geboten  wird  und  aus  Luther  wirklich  gar  nichts.  Unter  arbeit 
wird  in  elf  Zeilen  vorgetragen  was  über  den  Ursprung  bis  jetzt  ermittelt  oder  angenom- 
men ist,  mit  Verweisung  auf  Grimm  und  Weigand  mittelst  des  beliebten  farblosen 
„vergleiche,"  das  übrigens  den  schein  mitbringt,  als  wäre  dort  nur  ähnliches  oder 
ergänzendes  zu  finden,  nicht  eben  das,  was  der  Verfasser  entlehnend  vorbringt.  Was 
man  hier  suchen  muste  statt  dessen,  war,  dass  Luthers  form  erbeit  nicht  nur  erwähnt 
wurde ,  sondern  geschichtlich  begreiflich  gemacht,  gegen  jeden  schein  einer  Willkür 
sicher  gestellt ,  wie  er  da  dem  laien  immer  en^^^gegen  komt.  Auch  musten  Luthers  for- 
men erbeiten,  erbeiter,  erbeitsam  gleich  mit  angeführt  werden,  die  man  sich  nun  selbst 
zusammensuchen  muss ,  und  unter  arbeitsam  durfte  die  form  erbtsam  nicht  mit  einem 
sie !  abgefertigt  werden ,  das  den  schein  des  unerhörten ,  unverantwortlichen  und  ähn- 
liches wenigstens  für  den  laien  mit  sich  bringen  kann.  War  doch  aus  Grimms  Wör- 
terbuch leicht  zu  entnehmen,  dass  auch  Logau  die  volksmässige  und  geschichtlich 
völlig  berechtigte  form  -  arbt  im  dichterischen  stil  zu  brauchen  wagte.  —  Unter 
Deutschland  findet  man  dies  im  nominativ  und  accusativ,  den  unflectierten  casus, 
belegt;  aber  das  konte  fehlen,  wenn  dafür  Luthers  genitiv  deutsches  lands  (s. XLVIII. 
155^  u.  ö.)  und  sein  dativ  im  teutsdh  lande  (s.  369*,  sicher  auch  noch  im  teutschen 
lande)  beigebracht  wurden ;  erst  damit  erhielt  der  artikel  Deutschland  seinen  lexica- 
lischen  wert,  das  hochwichtige  wort  seine  geschichte,  die  bei  W.  Grimm  freilich 
auch  nicht  klar  vortritt,  man  muss  sich  das  entscheidende,  was  der  lexicograph  zu 
lehren  hatte ,  aus  dem  langen  artikel  selber  zusammensuchen  —  ein  beweis  mehr,  wie 
sehr  unsere  lexicographie  noch  im  werden  ist,  selbst  oder  gerade  bei  so  einfachen 
und  nahe  liegenden  dingen.  Wunderlich  genug,  der  rein  äusserliche  umstand, 
dass  Deutschland  unserm  äuge  als  ein  wort  erscheint,  deutsches  lands  aber  als 
zwei,  hat  es  erschwert,  zu  bemerken  (mir  auch),  dass  beide  früher  zusammengehö- 
ren wie  irgend  ein  anderer  nominativ  und  sein  rechter  genetiv.  Wie  sehr  für  uns 
heutzutage  der  name  des  Vaterlandes  granmiatisch  erstorben  und  verknorpelt  ist, 
kann  man  empfinden  an  dem  genetiv  Deutschlandes,  den  z.  b.  noch  1765  die  litte- 
raturbriefe  21,  177  brauchten,  jetzt  aber  niemand  mehr  brauchen  dürfte,  und  lesen 
wir  es  dort  (wie  in  dem  protestantischen  Deutschlande,  Lessing  9,  420),  ohne  eben 
zu  geschichtlichem  sehen  aufgelegt  zu  sein,  so  wird  uns  unbehaglich,  als  stünde  da 
eine  von  den  un Vollkommenheiten ,  die  selbst  jener  grossen  zeit  im  fache  der  Schul- 
bildung noch  anhaften  und  die  wir  nun  glücklich  los  sind! 

Mühe  und  platz  sparen  konte  der  Verfasser  auch  in  den  erklärungen.  Wozu 
z.  b.  in  einem  Lutherwörterbuche  die  erklänmg  von  augapfel,  coraUe,  elster,  canze- 
lei,  grundonnerstag ,  butter,  buttermilch,  disteücopf?  disteUcopf  z.  b.  ist  „Caput  car- 
dui,  die  blume  mit  der  runden  Samenkapsel  der  distel,*'  augapfel,  „die  häutige,  das 
licht  empfangende  kugel  im  äuge'*  (dies  aus  Weigand,  wie  oft),  furcht,  „die  unan- 
genehme Seelenregung  in  beziehung  auf  eine  gefaJxr,  ein  übel,  oder  auch  auf  ein  weseUi 


364  HILDEBBAKD»  ÜBER  BIETZ ,  LUTHEBWÖRTERBUCH 

das  diese  gefahr,   dieses   übel  zukommen   lässt   oder  doch  zukommen  lassen  kann." 
Für  wen  sind  denn  solche  erklärungen?    Ich  wüste  wahrlich  keine  andere  antwort, 
als  ungefähr  folgende:  die  von  distelkopf  passtc  etwa  für  ein  kind,  das  einen  distcl> 
köpf  noch  nie  gesehen  hat,  und  darum  in  gefahr  wäre,  sich  dabei  einen  wirklichen  köpf, 
wie  es  ihn  allein  kennt,  vorzust<jllen ,    oder  für  einen  Stubenhocker,  dem  die  Vorstel- 
lung eines  distelkopfcs   wider  abhanden  gekommen  wäre.    Die  erkläning  oder   viel- 
mehr bcschreibung  der  furcht  aber,  ja  wer  braucht  denn  die?  ich  finde  niemand,  als 
einen  der  furcht  gar  nicht  kente  und  einen  satz  mit  furcht  nicht  verstünde  und  also 
hier  im  wörterbuche  naclisähe  —  der  müste  aber  wol  aus  dem  monde  hemiederkom- 
men.    Da  sind  wir  denn  bei  einer  solchen  frage  wegen  der  einrichtung  unserer  Wör- 
terbücher, wie  sie  oben  beri\hrt  wurde.    Ich  weiss  recht  wol,  aus  welcher  quelle  dies 
gewissenhafte  verfahren   stamt,    und  dass  es  sich  als  das  wahrhaft  „wissenschaft- 
liche" verfahren  fühlt,   dem  gegenüber  meine  äusserungen  wol  gar  wie  leichtfertig 
klingen.    Noch  hei  Frisch  war  furcfd  einfach  metuSy  timor,  farmido,  und  Jac.  Grimm 
blieb  bei  dieser  altüberlieferten  form  des  erklärens.    Bei  Adelung  aber  erscheint  furM 
als  „die  unlust  über  ein  bevorstehendes  übel,  es  mag  nun  wirklich  oder  in  der  ein- 
bildung  bevorstehen,"  ebenso  bei  Campe  durch  entlehnung,  nur  dass  ihm  ».nnlnst" 
nicht  stark  genug  war,  er  setzte  noch  „absehen"  hinzu.    Darin  ist  denn  nichts  ande- 
res als  Kants  einfluss  wirksam,   durch  den  die   „begriffe"  und  „ begrüfsbcstimmnn- 
gen"  zu  hohen   ehren  kamen  als  das,   was   im   kreise  des  denkens  allein  mit  dem 
alten  wüste  aufräumen,  wider  klaren  weg  zur  Wahrheit  schaffen  könte;  und  wie  sie 
damals  in  die  schulen  eintraten  in  den  sogenanten  denkübungen,  so  setzte  sie  Ade- 
lung an  die  stelle  der  alten  lateinischen  Übersetzung  im  deutschen  wörterbuche;  seine 
zeit  hat  gewis  darin  einen  grossen   fortschritt  gesehen.    Aber  wohin  dieser  philoso- 
phische weg  führte,  in  gerader  linic  verfolgt,  zeigen  schon  erklärungen  Adelungs  wie: 
„rater j  ein  wesen  männlichen  geschlechts,  welches  durch  die  befruchtung  eines  weib- 
lichen ein  anderes  wesen  seiner  art  zeuget,"  oder  „Ärwe,  ein  fünfzehiges,  mit  haa- 
ren versehenes,   widcrkäuendes ,   essbares,   vierfüssiges  tier,   mit  sehr  langen  löffeln 
oder  obren,  welches  sich  von  kräutem,  kohl,  baumrinde  und  feldfrüchton  nährt  und 
mit  offenen  äugen  schläft"    Ich  kann  mir  nicht  helfen,   mir  fallen  bei  solchen  wör- 
terbuchsdefinitionen  immer  die  mondbewohner  ein ,  aber  selbst  diese  würden  jene  defi- 
nition  von  rater  sicher  für  überflüssig  finden,   ich  glaube  sogar  für  geschmacklos, 
und  dabei  für  sehr  unzureichend;  man  braucht  nur  das  „seiner  art"  und  das  „zeu- 
get" genau  beim  worte  zu  nehmen,   so  würden  danach  die  väter  sehr  zusammen- 
schmelzen, und  ähnlich  geht  es  jeder  solchen  definition.    Ich  glaube,  es  ist  hohe  zeit. 
von  diesem  wege  umzukehren  und  mühe  und  i>apier  besser  zu  verwenden.  —    Auch 
mit  den  adverbien  macht  sich  der  Verfasser  vielfach  überflüssige  mühe,   indem   er 
immer  bestrebt  ist  neben  einem  adjectiv  das  adverbium  als  besonderes  wort  aufzu- 
stellen.   Das  ist  durch  J.  Grimms  Vorgang  veranlasst,  der  darin  von  einer  beneiden- 
den bewunderung  des  lateins  geleitet  war.  die  ihn  auch  in  anderen  punkten  beherschte. 
Aber  wir  haben  im  neuhochdeutschen  nun  einmal ,  lexicalisch  genommen,  kein  advcrb 
mehr ,  das  als  wort  für  sich  auftreten  könte ;  bei  dieser  Sonderstellung  geht  nur  leicht 
ein  beleg  für  eine  bedeutung  dem  adjectiv  verloren,  zu  dem  er  lexicalisch  gehört. 

Aber  diese  ausstellungen ,  bei  denen  mirs  ohnehin  mehr  um  die  anrcgung  all- 
gemeiner fragpunkte  zu  tun  war,  dürfen  nicht  den  schluss  der  anzeige  bilden.  So 
sei  denn  den  schon  im  eingange  gerühmten  tugenden  der  arbeit  hinzugeft)gt,  wie  z.  b. 
auch  die  niederdeutsche  bibel  sehr  häufig  zur  vergleichung  zugezogen  ist,  ebenso  die 
bibelübersetzungen  vor  Luther  und  die  nachlutherischen  bibeln ;  wie  ferner  auch  andere 
gleichzeitige  und  ältere,  schwer  zugängliche  quellen  zuweilen  gobrancht  sind,  woraus 


8UPHAN,  ZUR  HKRDBBLITTEBATÜB  365 

denn  öfter  ganz  neues  beigebracht  ist,  z.  b.  heafter  gleich  hinterdrein,  späterhin 
8.  306*»,  hatlich  nützlich  s.  212**,  nenhochdentsch  biben  beben  218  ^  afterglävbisch  47', 
so  dass  kein  deutscher  philolog  des  buchs  entbehren  dürfte.  Häufig  sind  auch  berich- 
tigungen  von  Grimms  angaben  aus  Luther  sowol  dem  texte  als  der  erklärung  nach, 
so  dass  nicht  blos  in  dem  was  fehlt,  auch  in  dem  was  dort  steht,  das  Lutherwörter- 
buch eine  unentbehrliche  ergänzung  von  Grimms  wörterbuclie  ist.  Möchten  Verfasser 
und  Verleger  nicht  ermüden  in  der  raschen  förderung  des  werkes,  dem  freilich  auch 
eine  wärmere  betciligung  von  seiten  des  kaufenden  publikums  zu  wünschen  scheint, 
unter  dem  sich  namentlich  die  theologen  wol  weniger  finden  lassen  als  man  erwar- 
ten durfte. 

LEIPZIG,  JANTAR    1871  R.   HILDEBRAND. 


Jegr6r  T.  Slvers,  Herder  in  Riga.  Riga  1868.  Kymraels  Buchhandlung.  VI,  78  s. 
n.  Vs  thlr.  —  Derselbe:  Humanität  und  Nationalität.  Eine  livlän- 
dische  Säcularschrift  zum  Andenken  Herders  und  zum  Schutze 
livländischen  Yerfassungs rechtes.  Berlin  1869.  Behrs  Buchhandlung. 
XV,  92s.  8/4thlr.  —  Adolph  Kohut,  Johann  Gottfried  v.  Herder  und 
die  Humanitätsbestrebungen  der  Neuzeit.  L  Berlin  1870,  bei  L.  Ger- 
schel.    IV,  95  s.    n.  V«  thlr. 

Das  urteil,  das  Göthe  schon  in  den  zwanziger  jähren  über  Herders  Schriften 
fällen  zu  dürfen  glaubte:  es  werde  notwendig  derjenige,  der  seine  cultur  nur  aus 
Herder  hole ,  zurückbleiben ,  hat  in  wenig  Jahrzehnten  fast  allgemeine  geltung  erlangt. 
In  der  praxis  ist  man  sogar  weiter  gegangen  und  hat  Herder  als  einen  von  der  zeit 
überholten  gänzlich  zurückgestellt,  seines  einilusses  auf  das  vorgeschrittene  Zeitalter 
völlig  entraten  zu  können  geglaubt.  Dass  aber,  wie  Goethe  ebenfalls  anerkant  hat, 
in  Herders  Schriften  lebens-  und  ausbildungsfähige  ideen  niedergelegt  sind,  die  Jahr- 
hunderte beschäftigen  können,  hat  man  dabei  ausser  acht  gelassen,  und  zudem  die 
anregende  kraft  alles  unfertigen ,  der  Vollendung  noch  zuringenden  unterschätzt.  Das 
jüngere  geschlecht  aber  will,  wie  es  scheint,  von  dieser  misachtung  zurückkommen, 
und  einen  glücklichen  schritt  nach  dieser  entgegengesetzten  seite  haben  v.  Sivers 
und  Kohut  getan ,  indem  sie  gerade  solche  ideen  ,  die  in  das  leben  der  gegenwart 
auf  das  tiefste  eingreifen ,  aus  Herders  Schriften  ausgehoben  haben ,  um  daran  das 
streben  und  meinen  der  Zeitgenossen  zu  messen. 

Angeregt  durch  die  aufstellung  des  Herderdenkmals  in  Riga  unternahm  es 
V.  Sivers  die  Urkunden,  die  auf  Herders  aufenthalt  in  Riga  (1764 — 9)  bezug  haben, 
zu  sammeln.  Fundorte  waren  die  „Publica  magistratus  RigenMs/'  ein  „Stadtober- 
pastors -  tagebuch ,"  und  das  livländische  Residir-diarium.  Die  gesammelten  docu- 
raente  *  sind  für  den  biographen  Herders  freilich  nicht  von  hervorragender  Wichtig- 
keit; denn  die  durch  dieselben  belegten  facta  sind  bis  auf  unbedeutenderes  fast  sämt- 
lich aus  Herders  Lebensbild  und  den  briefsamlungen  bekant  und  derartig  überliefert, 
dass  es  einer  erhöKung  der  glaubwürdigkeit  durch  amtliche  Urkunden  nicht  bedarf. 
Als  illustrationen  indessen  sind  letztere  sämtlich  annehmbar  und  also,  wenn  nicht 
unentbehrliche,  doch  willkommene  beilagen.  So  findet,  was  Herder  von  seinem  pre- 
digerruhm  mitteilt,  einen  beleg  in  dem  gesuche  des  barons  Vietinghof  (dei  vaters  der 

1)  Einige,  und  gerade  die  wichtigsten  nachtrage  stehen  in  v.  Sivers  zweiter  schrift 
p.  70  (über  den  conflict  Herders  mit  seinem  pastor  Ordinarius)  und  p.  79  not.  17  (über 
die  dauer  von  Herders  bibliotheks Verwaltung). 

ZEITSCHR.    F.   DKUT8CHB   PUILOL.    BD.  III.  24 


366  SÜPHAK 

Krüdener)  um  einen  stuhl  in  der  Jesuskirche,  und  der  etwas  hochtrabende  bericht 
Herders  an  seine  braut  von  den  „grossen  ab-  und  aussiebten,  zu  denen  gonvernenient 
und  ritterschaft  vor  der  abreise  ihn  bestirnt  hätten,''  durch  den  recess  des  adelscon- 
vents  vom  20.  novbr.  17G9  eine  bestätigung;  doch  ist  auch  hiefÜr  schon  Herders  brief- 
wechsel  mit  Hartknoch  (Von  und  an  Herder  2 ,  16  — 19)  vollgiltiger  beweis.  Auch 
wustü  man  längst,  dass  das  auf  der  seercise  geschriebene  „Ideal  einer  Bchnle** 
(Ijobensbild  II,  2,  194  —  241)  nicht  für  erträumte  Verhältnisse  im  voraus  constmieTt, 
sondern,  wie  v.  Sivcrs  es  richtig  benent,  „der  ontwurf  seines  lehrprogp^mms  för 
die  livländische  nationalschulc^'  ist.  Dieses  und  Herders  „Baltische  erinnernngen 
und  urteile,"  beide  stücke  aus  dem  Lcbcnsbilde  abgedruckt,  bilden  den  ersten  teil  der 
Schrift  (]).  1  —  40).  Unter  den  beilagen  verdient  die  von  G.  Berkholz  gehaltene  fest- 
rede  bei  enthtillung  des  Rigcnser  Hcrderdenkmals  hervorgehoben  zu  werden.  Sie  lie- 
fert die  grundzöge  zu  v.  Sivers  zweiter  schrift. 

Diese  zweite  schrift,  als  „eine  livländische  säcularschrift  zum  andenken  Her- 
ders und  zum  schütze  liv ländischen  Verfassungsrechts"  gekenzeichnet,  war  nrsprOng- 
lieh  zur  einleitung  der  besprochenen  urkundensamlung  bestirnt.  Von  der  rassischen 
censur  wegen  freimütigen  urteils  über  das  auftreten  der  panslawistischen  partei  gegen 
die  deutschen  Ostsecprovinzialen  beanstandet ,  muste  sie  nach  einer  durch  die  nmstande 
gebotenen  Umarbeitung  und  erweiterung  als  selbständige  schrift  in  Deutschland 
erscheinen.  Da  ihr  durch  den  polemischen  Zuwachs  der  character  einer  politischen 
brochurc  mehr  als  die  erste  redaction  bezweckte  aufgedrückt  ist,  so  ist  es  rätlich 
iliren  kern  bei  zelten  dem  Schicksale  einer  solchen  zu  entziehen. 

Sic  stellt  sich  zur  aufgäbe,  die  beiden  fragen:  Was  verdankte  Herder  seinem 
auf  enthalte  in  Livland?  (8.5 — 17)  und:  Welche  lehre  hinterliess  Herder  den  Ostsee- 
jirovinzen  Russlands  V  (s.  32 — GG)  zu  beantworten  ;  oder:  „den  von  Herder  vertretenen 
humanitätsgedankcn  in  seinen  boziehungen  auf  den  livländischen  provinzialstaat,  sein 
verfassungsmässiges  recht  und  die  nationalitäten frage  zu  behandeln.'*  (s.  VIII).  Es 
gehörten  hierzu  die  in  zwei  gesonderten  capiteln  gegebenen  erörterungen:  1)  von 
umfang  und  Inhalt  des  Herderschen  human itätsbegrilTes  und  von  dem  durch  Herder 
bewirkten  fortschritte.  2)  von  dem  staatsrechtlichen  Verhältnis  der  Ostsceprovinzen 
zum  russisclicn  reiche  (s.  18 — 31). 

Die  erstere  unter  der  Überschrift:  Wer  war  Herder?  an  den  anfang  (s,  2  —  4) 
gestellte  betrachtung  }»lcibt  uns  eine  genauere,  womöglich  mit  Herders  werten  gege- 
Itene  entwicklung  des  humanitätsbegrilTes  schuldig.  Gerade  wegen  des  weiten  nmCsn- 
ges,  zu  dem  bei  Herder  dieser  bcgrifl'  gedelint  ist,  entzieht  er  sich  einer  clanselhaf- 
ten  bestimnmng,  und  lässt  sich  in  Herders  sinne  nur  durch  eine  genetische  betrach- 
tung der  8ta<lien,  die  er  durchlaufen,  und  der  gebiete,  die  er  sich  zugeeignet  hat, 
von  der  er/iehnng  an  bis  zu  den  socialen  Verhältnissen,  anschaulich  machen.  Hier- 
durch würde  auch  der  gebietsteil ,  der  durch  gegen  überstellung  des  nationalit&tsbegrif- 
fes  hervorgehoben  werden  soll,  bestbntoren  inhalt  gewonnen  haben,  während  sich 
ohne  eine  solche  betrachtung  zu  leicht  ein  unbestimter  begriff,  wie  „inenschenliebc*' 
unterschiebt.  Wol  gelungen  aber  ist  die  characteristik  Herders  und  seiner  leistun- 
gen;  ein  glückliches  talent  zum  characterisieren  von  personen  und  Zeiten  bewährt 
V.  Sivers  noch  mehrfach  am  rechten  orte.  Kr  fasst  Herder  auf  „als  universalgeist 
wie  (joethe^und  Humboldt,  der  in  scheinbar  entgegengesetzten  richtungcn  schaffend 
oder  fördernd  wirkt"  (s.  :)),  und  stellt  sein  bild  dadurch  sogleich  auf  die  höhe,  deren 
es  zu  klarem  überschauen  des  einzelnen  bedarf. 

In  wie  fem  die  bedingungen  der  Umgebung  und  der  zeitverhaltnisse  ein  so 
wunderbares  geistiges  phänomen ,  wie  Herder  es  ist,  zeitigen  und  seinem  siele  xnfQh- 


ZÜB  HBRDBBLITTSBATÜB  367 

ren,  ist  ein  schwieriges,  in  manchem  betracht  nnlösbares  problem.  ,,Ioh  ward  nie, 
was  ich  werden  sollte ,  wozu  mich  notwcndigkcit  nnd  nmstande  machen  wollten ,  son- 
dern immer  was  anders.  So  als  schtkler,  so  als  lehrer;  so  in  Königsberg ,  so  in  Riga; 
so  auf  reisen."  Bei  diesem  bekentnisse  (Lebensbild  11 ,  300.  jähr  1769)  des  mannes, 
der  wie  kein  anderer  es  verstand  seine  seele  zn  belauschen  und  zu  zeichnen ,  ist  man 
wol  berechtigt  einer  Untersuchung  wie  der  djorch  herm  v.  Sivers  begonnenen  mit 
Zurückhaltung  zn  folgen.  Er  ist  indes  behutsam  genug  zu  werke  gegangen  und  hat 
nur  augenfölliges  seiner  beobachtung  unterzogen. 

Vorwiegend  ist  es  nach  v.  Sivers  die  schule  der  polit^c  und  socialer  ideen,  in 
die  Herder  während  seines  rigischen  lebens  genommen  ward.  Einmal  durch  seine  mit- 
leidenschaffc  an  dem  bildungsprocesse  des  russischen  Staatskörpers,  sodann  als  Liv- 
lands  vorort ,  in  dessen  mauern  die  deutschen  landesinteressen  zum  ausdruck  und  aus- 
trag kamen,  gewährte  Riga  vielfach  gelegenheit  zur  beobachtung  nach  beiden  seiten. 
Die  unvermittelte,  gewaltsam  vorbrechende,  revolutionär -reformatorische  tätigkeit 
Katharinas  riss  Herder  zu  enthusiastischer  bewunderung  hin,  deren  lautesten  aus- 
druck wir  in  der  ode  auf  die  kaiserin ,  zur  einweihung  des  rigischen  rathauses  gedich- 
tet, kennen.  Erst  mit  der  zeit  bildete  sich  Herders  nach  der  abreise  von  Riga  nie- 
dergeschriebenes urteil  heraus,  dass  das  gesetzbuch,  wie  alle  reformen  der  kaiserin 
an  sich  gut,  f&r  das  russische  volk  aber,  seinem  nationalcharacter  und  seiner  bil- 
dungsstufe  nach,  untauglich  sei.  Andererseits,  meint  v.  Sivers,  gab  die  emancipa- 
tion  der  •  leibeigenen ,  die  vor  Herders  äugen  in  gesetzmässiger,  besonnener  weise 
beginnend  sich  allmählich  vollzog,  seinen  humanitätsideen  nahrung.  Von  der  anregung 
Herders  durch  die  landtagsverhandlungen  über  die  leibeigenenfrage  wissen  wir  frei- 
lich nichts;  genug,  dass  er  ihr  Schicksal  vor  äugen  hatte  und  aus  ihrem  munde  lie- 
der  sammelte,  wie  das  achte  der  lieder  aus  dem  hohen  nord,  „den  wahren  seufzer 
aus  der  nicht  dichterisch,  sondern  wirklich  gefühlten  Situation  eines  ächzenden  volks." 

Dass  die  ideen  von  common  spirit  und  selfgovemeinent  der  städte  und  land- 
schaftcn  durch  Rigas  wolhabende,  freisinnige  bürgerschaft  in  Herder  geweckt,  sein 
Unabhängigkeitssinn  gestärkt,  weltton  in  stetem  umgange  mit  männem  aus  der  höhe- 
ren gcsellschaft  gewonnen  ward ,  hat  v.  Sivers  mit  recht  betont.  Man  wird  ihm  auch 
gern  zugestehen,  dass  zutrauen  und  achtung  sein  selbstbewustsein  hoben  und  in  so 
fem  günstig  auf  seine  schriftstellerei  einwirkten.  Ein  directer  einfluss  aber  oder  eine 
Wirkung  von  speciel  rigischen  bildungsfactoren  lässt  sich  in  Herders  gleichzeitigen 
werken  nicht  nachweisen.  Diese  sind  vielmehr  ganz  eigentlich  auf  Königsberger  boden 
gewachsen;  zum  teil,  wie  die  fragmente,  fortsetzungcn  äer  unter  Hamanns  tiefgrei- 
fendem einflusse  begonnenen  ästhetischen,  philologischen  und  historischen  arbeiten. 
Wären  uns  auch  nicht  Herders  klagen  über  den  abgang  einer  bildenden  gcsellschaft 
bekant,  so  yrürden  uns  jene  werke  selbst,  denen  strenge  durcharbeitung  fehlt,  Zeug- 
nis genug  geben,  dass  Herder  „den  schutzgcist  seiner  autorschaft"  bei  ihrer  abfas- 
sung  oft  vermisst  hat.  In  Königsberg,  in  Hamanns  gesellschaft,  hätte  Herder  viel- 
leicht weniger  eigentümlich  gearbeitet,  doch  wären  die  Schriften  frei  geblieben  von 
dem  selbstgefälligen,  etwas  theatralischen  pathos,  sie  wären,  mit  Herders  wort, 
„nahrhafter"  geworden.  „Von  den  reicheren  musenquellen  entfernt"  war  provinz 
und  Stadt  nach  dem  berichte  des  rigischen  correspondenten  der  Königsberger  Zeitun- 
gen (Jahrg.  1 764  st.  39) ,  und  es  darf  daher  nicht  befremden ,  schon  vom  ende  des  Jah- 
res 1766  an,  den  wünsch  Riga  zu  verlassen,  mit  immer  grösserer  bestimtheit  in  Her- 
ders briefen  auftreten  zu  sehen.  Auch  die  um  die  zeit  der  entfemung  aus  Riga 
„plötzlich"  hervorbrechende  richtung  Herders  auf  das  praktische,  die  absieht,  dem 
schriftstellerberuf   zu   entsagen   und    politisch    und    pädagogisch  tätig   aufzutreten, 

24* 


368  SDPHAN 

erscheint  bei  v.  Sivers  als  eine  durch  Riga  gezeitigte  fnicht.  Die  negative  seite 
indessen,  die  Verachtung  der  scliriftstellerei  gegenüber  dem  unuiittelbaren  wirken. 
die  an  Herder  in  wunderbarem  contrast  mit  der  eigenen  reichen  aatortätigkeit  von 
jalir  zu  jähr  schärfer  hervortritt,  lässt  sich  schon  aus  dem  umgange  mit  dem  ganz 
gleicli  gestirnten  Hamann  herleiten;  und  die  ])ositive,  der  stetige  hlnblick  auf  den 
nutzen  „des  gemeinen  mannes,  des  gröstcn,  würdigsten,  edelsten  teiles  der  nation,*' 
findet  scliun  einen  ausdruck  in  der  Kanterscheu  Zeitung,  dem  Organ  des  Königsber- 
ger  kroisos,  und  erklärt  sich  bei  Herder  besonders  durch  den  grossen  einflnas  Tho- 
mas Abbts.  Die  keime  dieser  bedeutsamsten  seite  in  Herders  wesen  lehrt  er  selbst 
uns  finden,  wenn  er  über  Thomas  Abbt  im  Torso  (s.  28),  sich  selbst  zugleich  schil- 
dernd, sagt:  „Ich  habe  als  eine  vermutliche  Ursache  zu  diesem  charac;ter  Abbts  auch 
seine  erste  erziehung  in  einer  mittlem,  bürgerlichen  lebensart  angegeben:  und  hoffe 
jeden  auf  meiner  seite  zu  haben,  der  bey  sich  nachfragt,  wie  mächtig  die  ersten  ein- 
drücke des  Icbens  in  uus  würken :  und  dass ,  wenn  die  reifem  jähre  uns  freilich  mate- 
rialien  zum  denken  verschaffen ,  die  erste  Jugend  gleichsam  die  form  bilde ,  in  welche 
sich  unsre  begriffe  giessen ,  nach  welcher  sie  sich  modeln." 

Die  zweite,  politische  hälfte  der  schrift,  in  welche  v.  Sivers  den  Schwerpunkt 
verlegt  hat,  die  anweudung  Herderscher  doctrinen  und  ideen  auf  Bassland  und  die 
baltischen  provinzen,  vielseitig  und  anregend,  auch  stilistisch  vorzüglich»  berühren 
wir  nur  kurz.  Einesteils  unt^jrsucht  v.  Sivers  nach  Herders  meist  schon  1769  nieder- 
geschriebenen beobachtungen  die  Ursachen  des  Zurückbleibens  der  cultur  in  Ruasland. 
Die  eine  von  Herder  angegebene ,  die  binnenlage,  ist  beseitigt;  wichtige  andere  beste- 
hen fort:  der  hastige  drang  nach  augenblicklich  sichtbarem  erfolge,  der  die  notwen- 
digsten mittolglieder  überspringt  —  wie  in  der  Katharineischen  gesetzgebung;  daher. 
wie  damals,  oberflächlicher  prunk  ohne  gediegene  unterläge;  mangel  der  Volksbil- 
dung, mangel  der  Wissenschaft ;  dabei  schon  damals  spuren  des  hasses  gegen  die  lao- 
desgenossen  von  höherer  bildung  und  spuren  des  irregeleiteten  unreifsten  national- 
gefühls  (s.  85),  des  despotismus  der  massen  (s.  38).  Noch  heute  sind  die  von  Herder 
angewiesenen  wege  zu  besseren  zuständen  zum  teil  unbetreten  und  können  auf  die 
dauer  nicht  umgangen  werden  (s.  35 — 10).  —  Der  anderen  aufgäbe  nach  ist  die 
Schrift  eine  schütz-  und  trost-schrift  für  die  landsleuto  in  Russland.  Widemm  mit 
Zugrundelegung  Herderscher  geilankcn  und  zum  teil  wörtlich  ihm  folgend  erweist 
V.  Sivers ,  dass  es  ein  eitles  bemühen  ist  durch  unterdrücken  der  Deutschen  in  Russ- 
land der  nationalmssischen  sachc  zu  dienen.  Die  höhere  cultur  in  sich  aufnehmen, 
die  gleichfalls  höher  gebildete  spräche  unterdrücken ,  ist  ein  Widerspruch.  Jene  würde 
mit  dieser  fallen  (s.  55 — 57).  Das  Uiilionalitätsprincip,  das  in  seiner  änsscrsten 
schrotflieit  erst  in  unseren  tagen  ausgebildet  ist,  kante  Herder  noch  nicht;  nach  sei- 
nen Völkerrechtlichen  begriffen  ist  es  kein  hindernis,  vielmehr  ein  sogen  fUr  einen 
stiiat,  verschiedene  nationale  bestandteib»  in  sich  zu  enthalten.  —  Von  den  angereih- 
ten belegen  über  den  zustand  der  cultur  in  Kusslaud  sind  für  den  gelehrten  beson- 
ders lesenswert  die  statistischen  notizt?n  über  die  russischen  Universitäten  (s.  liO  f.). 
Ein  „Wäldclien  litterarischer  und  ]'olcmischer  anmerkungen"  schliesst  die  »chrifi, 
deren  gediegenen  litteratur-  und  culturgeschichtlichen  gehalt  wir  rühmend  aner- 
kennen. 

A.  Kohut  führt  im  ersten  teile  meiner  Herderstudien  eine  schon  von  J.  v.  Sivers 
(s.  G4)  angedeutete  seite  von  Herders  humanität ,  die  toloranz  gegen  die  Juden ,  in 
einem  vollständigen  bilde  vor.  Sein  zweck  ist  es ,  dieses  bild  denjenigen  vorzuhalten. 
die  „noch  inmier  fragen,  wer  Jude  oder  ehrist  ist*'  (s.  11),  und  wenigstens  „«lie 
judenheit,  die  sich  stets  durch  ihre  pietät  für  ihre  woltater  auszeichnet,  auf  die  gros- 


ZUR  HBRDBRLITTERATÜB  369 

sen  Verdienste  Herders  um  die  jaden  und  die  jüdische  Wissenschaft  hinzuweisen" 
(s.  12).  Seines  populären  Zweckes  willen  hat  es  der  herr  Verfasser  für  überflüssig, 
vielleicht  (aber  mit  unrecht)  sogar  für  schädlich  gehalten ,  die  stellen  aus  Herder, 
die  er  zur  gesamtwirkung  vereinigt,  durch  genauere  citate  als  des  titcls  und  buchs 
nachzuweisen;  er  hat  sich  aucli  nicht  für  verpflichtet  gehalten,  die  proben  aus  Her- 
ders Schriften,  die  er  reichlich  gibt,  nach  dem  grundtexte  mitzuteilen;  und  doch 
wäre  besonders  für  die  parabeln,  die  als  „Jüdische  fabeln"  im  Mercur  1781  zum 
teil  veröfifentlicht  sind ,  diese  kritische  treue  nicht  unangebracht  gewesen. 

Mit  recht  klagt  Kohut  die  Zeitgenossen  einer  trägen  gleichgiltigkeit  gegen 
Herder  an.  Zu  den  gründen  dieser  auffälligen  tatsache,  die  er  aufzuflnden  sich 
bemüht,  möchten  wir  einen  nicht  unwichtigen  hinzutun:  die  feindschaft  der  Kantianer, 
die  gerade  nach  Herders  todc  zum  grössten  ansehen  kommen.  Ein  anderer  von  Kohut 
bemerkter  grund ,  der  stil  Herders ,  kann  nur  für  die  Schriften  der  ersten  periode  gel- 
ten: denn  in  den  nach  1780  geschriebenen  werken  herscht  ein  ausdruck,  der  dem  an 
licssings  und  Goethes  stil  gewöhnten  wol  selten  anstoss  gibt.  Kohut  druckt  selbst 
Mendelssohns  brief  an  Herder  aus  dem  jähre  1781  ab,  in  welchem  es  heisst:  „Sie 
haben  Ihr  herz  mit  Ihrem  geiste,  und,  wo  mir  recht  ist,  Ihren  stil  mit  beiden  in 
bessere  harmonie  gebracht;"  und  mit  diesem  urteile  eines  feinen  kenners  stimmen 
die  bemerkungen  derer,  die  in  Herders  stil  die  süssigkeit  des  Xenophon  widerfanden. 
Aber  auch  über  die  erstlingswerke  urteilt  man  meist  nur  nach  dem  eingewurzelten 
aberglauben,  der  Herders  und  Hamanns  ausdruck  auf  gleiche  stufe  stellt.  Diesen 
teilt  auch  Kohut,  und  verteidigt  Herdem  daher  ziemlich  unglücklich  (s.  11).  Das 
ungewönliche  und  unbequeme  in  Herders  ausdruck  beruht  hauptsächlich  in  der  con- 
struction ,  die  gewaltsam  und  keck  das  joch  des  lateinischen  zerbricht :  alle  ungewön- 
lichen  rhetorischen  figuren ,  bis  zum  anakoluth ,  finden  sich  vertreten.  Hamann  dage- 
gen behält  den  alten  satzbau;  ungcwönlich  dagegen  imd  geradezu  widerlich  ist  der 
wortgebrauch  und  das  damit  verbundene  absichtliche  verstecken  des  sinnes,  erhöht 
durch  das  citations-  und  anspielungsunwesen.  Bei  Herder  finden  sich  wol  leichte 
spuren  dieses  Stilfehlers,  doch  ist  er  ihm  nicht  zur  natur  geworden.  Das  gefnhl  beim 
lesen  der  werke  Herders  aus  der  ersten  periode  und  der  Schriften  Hamanns  ist  ebenso 
ungleichartig  als  das  beim  früblingssturm  und  das  beim  stöbernden  schneeunwetter ; 
denn  das  frische  ringen  nach  einem  eigenartig  deutschen  stile  ist  in  Herders  ersten 
Schriften  unverkenbar.  Ein  grosses  publicum  aber,  wie  Kohut  es  sich  denkt,  wird 
Herder  nie  haben ;  er  hat  sich  auch  in  seiner  blütezeit  mit  einem  ausgewählten  kreise 
begnügt,  und  ein  populärer  autor  konte  er  nicht  werden. 

Das  erste  kapitel  der  schrift  (s.  1 — 35):  „Herder  und  die  Juden"  soll  „die 
Verdienste  skizzieren,  die  sich  Herder  um  die  bürgerliche  religiöse  und  staatliche 
freiheit  der  Juden  erworben."  Hier  hat  Kohut  eine  reiche  auslese  gehalten ,  um  Her- 
ders achtung  vor  dem  ganzen  volke  und  dessen  koryphaeen ,  seine  leistungen  für 
omancipation  der  Juden,  seine  erfüllten  „ divinatorischen  hoffiiungen,"  seine  anerken- 
nung  jüdischer  gelehrsamkeit  und  dichtkunst,  besonders  des  Talmud  (wobei  Herder 
glücklich  mit  ßeuchlin  verglichen  wird)  ins  licht  zu  setzen.  Vergleiche  mit  den  her- 
vorragendsten Zeitgenossen  heben  Herders  gestalt  um  so  glänzender  hervor.  Den 
schluss  bildet  das  „gespräch  des  rabbi  mit  dem  Christen"  aus  den  Fragmenten,  als 
beweis  der  hochachtung  Herders  vor  dem  stände.  (Uns  scheint  in  dem  bilde  des 
rabbi  Mendelssohn  porträtiert  zu  sein). 

Das  zweite  kapitel  „Herder  und  die  jüdische  Wissenschaft"  (s.  36—72)  zeigt, 
ausgehend  von  Herders  aneignungsgabe  und  poetischer  natur,  die  poesie,  kunst 
(musik)  und  Wissenschaft  der  Juden  im  Spiegel  Herderscher  urteile.    Besonders  berück- 


370  8UFHAM,  ZUR  KBBDERLITTEBATUR 


1* 


Biclitigt  sind  die  vom  Verfasser  hoch  gepriesenen  hanptwerke:  „Älteste  Urkunde 
und  „Geist  der  hebräischen  Poesie.'*  Ausführlich  wird  über  Herders  anffassnng  der 
alttestamcntliclicn  Schriften  und  seine  exegetischen  bemühungen  gehandelt.  Der  pole- 
niik  Herders  gegen  die  rationalisten  sucht  Kohut  eine  spitze  gegen  die  moderne 
historiscli- kritische  schule  abzugewinnen;  von  allen  versuchen  aber,  die  natibarkeit 
Herders  für  die  neueren  darzutun  ist  dies  der  unglücklichste:  denn  schwerlich  dflrfte 
einer  von  den  bedeutenden  exegeten  dieser  schule  in  Herder  einen  gegner  erkennen. 
Von  ihm,  der  in  den  Schriften  des  Alten  Testamentes  erzeugnisso  der  natiirpoesie 
sah ,  ist  zu  der  methode  der  historischen  schule  ein  naturgemässer  fortgang.  Es  mnsi 
ebenso  wunder  nehmen,  wenn  Kohut,  der  den  unmittelbaren  einflnss  Herders  ssf 
A.  V.  Humboldt  richtig  gewürdigt  hat,  auch  bei  diesem  die  rein  menaclüiche  und 
historische  betrachtungsweise  der  Schriften  des  Alten  Testamentes  yerkent.  —  Zorn 
erweise,  wie  glücklich  Herder  die  poetischen  ideen  der  Juden  in  sich  aafgenoinnien 
und  verarbeitet  hat,  gibt  er  die  oben  erwähnten  parabeln,  und  weist  lebhaft  auf  diese 
vorzüglichen  dichtungen  hin.  Zum  schluss  redet  er  von  Herders  Verhältnis  rar  theo- 
logischen Philosophie  der  Juden,  derKabbala;  doch  kcnt  er  den  Standpunkt  Herden 
nur  aus  der  „  Altesten  Urkunde  ,*'  nicht  aus  den  briefen  und  Schriften  der  jähre  17^5 
bis  1787,  in  denen  Herder  sein  früheres  urteil  wesentlich  einschränkt. 

Strenge  einte ilung  ist  des  herrn  Verfassers  sache  nicht.  Das  eiste  und  xweite 
kapitel  sind  nicht  genau  auseinander  gehalten;  das  dritte:  Herder  und  Mendelssohn 
(s.  73 — 95)  hätte,  so  weit  es  des  Verfassers  eigenes  werk  ist,  sich  bequem  in  das 
erste  oder  zweite  einordnen  lassen,  muste  aber  wegen  der  aus  „Herders  Nachlass*' 
fast  vollständig  abgedruckten  correspondcnz  beider  freunde  abgezweigt  werden.  Die* 
ses  material  hätte  verarbeitet  werden  müssen^  besonders  aber  durfte  der  mit  absieht 
oder  aus  unkentnis  (vgl.  s.  84)  weggelassene  schluss  des  biographischen  bildes  (aas 
der  correspondcnz  mit  Jacobi,  Goethe  und  Gleim  zu  ergänzen)  nicht  fehlen,  der  sun 
endurteil  unentbehrlich  ist. 

Es  herscht  eine  edle  wärme  in  der  ganzen  schrift ,  aber  ein  hitziger  und  inhu- 
maner ton  gegen  wissenschaftliche  gegner.  Der  stil  ist  nicht  ganz  rein  von  undeut- 
schen  und  trivialen  ausdrücken,  richtige  gedauken  sind  mehrfach  durch  hyperbeln 
beeinträchtigt;  auch  unverdaute  phrasen  sind  nicht  ausgeblieben.  Was  ist  x.  b.  s.71 
^^ein  hoher  spinozismus  des  herzens,  womit  man  alle  disciplinen  der  Wissenschaften 
und  küuste  mit  enthusiastischer  liebe  umfasst?"  Der  herr  Verfasser  verspricht  in 
der  vorrede  (s.  II)  einen  zweiten  teil;  möge  er  ihn  zu  grösserer  reife  durchu*beiten. 

BEBLIN,   19.  MÄRZ    1871.  B.    SUTUAN. 


Die  poetischen  Beiträge  zum  Wandsbecker  Hotheu  gesammelt  and 
ihren  Verfassern  zugewiesen  von  Carl  Christian  Kedlleh  Dr.,  ord. 
Lehrer  an  der  Kcalschule  des  Johannoums.  Hamburg.  1871.  Gedruckt 
bei  Th.  G.  Meissner  E.  H.  Senats  Buchdrucker.    GO  s.    4. 

Es  ist  nun  einhundert  jähre  her,  dass  in  dem  holsteinischen  flecken  Wamlsbeck, 
der  vor  Hamburgs  toren  liegt,  an  stelle  des  schlechten ,  unsaubem  Wandsbecker  Mer- 
kurs eine  neue  zeitung  gegründet  ward,  deren  vorlag  Dode  übemalmi.  Zum  redac- 
teur  gewann  derselbe  den  damals  noch  unbekanteu  Matthias  Claudius.  Der  Wandsbecker 
Bothe,  in  Hamburg  gedruckt  und  in  Wandsbeck  geleitet,  sollte  den  Hamburger  bl&t- 
tem,  namentlich  der  kaiserl.  ]»rivil.  Neuen  zeitung,  den  markt  abgewinnen,  und 
zwar  allein  durcli  seinen  wert,  ohne  ])runk,  anpreisung  und  irgend  ein  gckla]tper  mit 
namcn.    Das  ist  natürlich  nicht  gelungen.    Das  blatt  fand  wenig  vorbreitang;   auch 


WBIMHOLD,   ÜB.  REDUCH,  WANDaBECKEB  BOTHE  371 

der  neue  titel  seit  1773:  „Der  Deatsche,  sonst  Wandsbecker  Bothe''  schaffte  kei- 
nen grösseren  absatz ,  so  wenig  als  die  empfehlungen  der  Claudiusschen  litterarischen 
freunde.  Der  biedere  Matthias  ward  allmählich  in  seiner  zeitungsschreiberei  träge, 
das  blatt  schleppte  sich  mühsam  hin,  und  als  Bode  am  22.  juni  1775  plötzlich  seinen 
rcdacteur  absetzte,  folgte  bald  das  ende  des  Bothen.  Am  28.  october  dieses  Jahres 
erschien  die  letzte  nummer. 

Das  in  herkömlicher  schlechter  ausstattung  yiermal  wöchentlich  erscheinende 
blatt  brachte  als  hauptteil  die  laufenden  politischen  nachrichten,  ausserdem  aber 
gelehrte  anzeigen  und  poetische  beitrage.  Die  politischen  artikel  sind  mit  wenig 
ausnahmen  nach  wochenblätfcerbrauch  anderen  Zeitungen  entnommen;  die  gelehrten 
dagegen  sind  selbständig,  und  in  ihnen  wie  in  den  poetischen  beitragen  liegt  der 
litterargeschichtliche  bleibende  wert  des  unscheinbaren  blattes.  Nach  Bodos  grund- 
satz  erschien  alles  namenlos;  nur  hier  und  da  steht  eine  dunkle  chiffer.  Das  reizt 
zum  nachforschen,  denn  gerade  die  ffinf  lebensjahre  des  Wandsbecker  Bothen,  1771 
bis  1775^  sahen  ein  neues  geschlecht  auf  unsern  Pamass  steigen  und  Claudius  galt 
als  genösse  der  kühnen  Jünglinge.  Herr  dr.  Redlich  verdient  daher  für  seine  Untersu- 
chung der  Wandsbecker  namenlosen  grossen  dank;  dass  er  dazu  gerüstet  wie  kein 
anderer  war,  werden  die  leser  dieser  Zeitschrift  schon  wissen.  —  Nach  einer  einlei- 
tung ,  welche  die  geschichte  des  Wandsbecker  zeitungswesens ,  insbesondere  des  kurz- 
lebigen Bothen  gründlich  vorlegt,  und  über  die  kritischen  beiträger,  die  meist  ver- 
borgen bleiben,  handelt,,  folgt  von  s.  13  an  auf  44  stattlichen  zweispaltigen  quart- 
seiten  das  Verzeichnis  der  poetischen  beitrage  und  dahinter  ein  genaues  namenregi- 
ster.  Die  anonymität  bot  natürlich  verschiedene  grade  der  Schwierigkeit  im  lüften : 
neben  wolbekanten  gedichten,  neben  andern,  deren  Verfasser  aus  musenalmanachen, 
anthologieen  und  nicht  seltenen  gedichtausgaben  bald  zu  entdecken  waren,  steht  eine 
zahl  anderer ,  für  die  erst  aus  verschollenen  drucken ,  aus  briefwechseln ,  ungedruck- 
ten papieren  und  aus  Zeitungen  die  Verfasser  auftauchten.  Und  selbst  der  mehijäh- 
rigen  unermüdeten  und  scharfsichtigen  tätigkeit  Bedlichs  ist  es  nicht  gelungen,  alle 
stücke  zu  benamsen:  doch  ist  das  Verzeichnis  dieser  hartnäckigen  unbekanten  rühm- 
lich klein  gegenüber  den  aufgedeckten,  obschon  unter  diesen  wider  eine  zahl  als 
nicht  sicher  von  den  unzweifelhaften  abfällt. 

Dr.  Redlich  vergrössert  den  wert  seiner  arbeit,  indem  er  alle  poetischen  bei- 
trage, welche  sich  nur  im  Wandsbecker  Bothen-  nachweisen  lassen,  vollständig 
abdrucken  lässt,  mit  ausnähme  von  theaterreden,  gelegenheitsgedichten  untergeord- 
neter art  und  den  meisten  Übersetzungen.  Dadurch  wird  bei  der  grossen  Seltenheit 
des  Wandsbecker  Bothen,  von  dem  ein  einziges  ganz  vollständiges  exemplar  bekant 
ist,  dessen  die  königl.  bibliothek  in  Berlin  sich  erfreut,  ^in  löblicher  bcitrag  zu  der 
poesie  jener  jähre  gegeben. 

Ref.  weiss  nur  wenig  zu  der  arbeit  Redlichs  nachzutragen. 

Zu  dem  Bürgerschen  epigramm  „Die  list  Penelopens*'  8.31  ur.  170  teile  ich 
noch  folgende  beweisende  stelle  aus  einem  briefe  Boies  an  Bürger  vom  12.  märz  1778 
mit  Boie  erteilt  ratschlage  zu  dem  druck  der  gedichte  und  sagt:  „Das  epigramm 
auf  Penelope  (und  doch  bleibt  es  ebensogut  weg ,  da  es  nachgeahmt  ist)  und  noch 
ein  paar  andere  kleine  gedichte  der  art  könten  wol,  denk  ich,  für  die  selten  gespart 
werden,  auf  die  nur  eine  strophe  komt.'*  Ich  bemerke  femer,  dass  im  Almanach 
der  deutschen  musen  auf  1774  s.  170  eine  mit  V.  gezeichnete  bearbeitung  dieses  nach 
der  Überschrift  daselbst  ursprünglich  englischen  epigramms  sich  findet. 

S.  40  nr.  158 ,  die  odc  C.  Fr.  Cramers  beim  abschiede  der  grafen  Stolberg 
erschien  zuerst,  wie  dr.  Redlich  auch  vermutet,  als  cinzeldruck,  den  ich  besitze.  Cra- 


372  WÖBNER 

nicr  hat  in  meinem  exem])lar  zwischen  die  Überschrift  und  den  anfang  eigenhändig 
eingeschaltet :  (Ein  gespräch  zwischen  meinem  genius  und  mir).  —  Die  Kieler  oniFer- 
sitätsbibliuthek  verwahrt  unter  Cranierschen  papieren  auch  noeh  die  mit  Heynes 
imprimatur  versehene  rcinschrift  des  gcdichts,  das  hier  den  titel  tragt:  Sohmexz  und 
trost    Links  davon  steht  später  zugesetzt:  10.  sept 

Als  niciit  unwichtigen  nachweis  vermisse  ich  zu  s.  41.  42:  1773  nr.  192.  198. 
1774  nr.  5.    Scholl  bricfe  und  aufsätze  s.  124.  125.  129. 

Für  Goethes  verfasserscliaft  von  ,,  Der  weit  lohn  *'  s.  42  nr.  202  hat  herr  t.  Lö- 
per  in  der  ilempelschon  Goetheausgabe  III.  s.  40G  anm.  3  einen  wol  nicht  genftgen- 
den  beweis  zu  l>ringcn  gesuclit,  ebendaselbst  anm.  2  aber  gegen  DGntser  dfui  epi- 
gramm  »,Der  autor*'  (s.  41  nr.  178)  als  nicht  goethisch  bezeichnet,  worin  ihm  gern 
beizustimmen  ist.  Der  freund  Publikum  des  o])igramm8  und  Goethes  ansieht  von 
demselben  (vgl.  z.  b.  Goettie  und  Werther  s.  234)  passen  schlecht  zosammen.  SaL 
Hirzel  hat  beide  epigramme  in  seinem  neuen  Verzeichnis  s.  8  unberücksichtigt 
gelassen. 

S.  30  nr.  136  ist  aus  versehen  Schönboms  zögling  ein  söhn  Bemstorflfs  genant, 
während  er  nur  ein  vetter  war,  vgl.  Schönboms  aufzeichnuugon  über  erlebtes  s.  20 
meines  druckes. 

Druckfehler:  s.  45  nr.  4G  Alm.   der  deutschen  Musen  1780.   185  f&r  235. 

Gern  hätte  ich  einige  der  rätsei  lösen  mögen ,  die  für  dr.  Redlich  Übrig  blieben, 
allein  ich  komme  nicht  über  unsichere  Vermutungen  hinaus,  die  allzeit  besser  ver- 
schwiegen als  ausgerufen  werden.  In  sachen  der  poetischen  anonjinität  ist  manches 
blatt  zwisclien  dem  Kieler  schlossgarten  und  der  St.  Jürgenkojtpel  vor  Hamburg  hin 
und  her  geflogen,  auch  das  geständnis  ausgetauscht,  dass  diese  niedere  jagd  ein 
ermüdend  wesen  von  zweifelhaftem  erfolge  ist,  nachdem  eine  gewisse  zahl  von  wild 
eingefangen  ist.  Glückwi'inschend  sehe  ich  auf  die  stattliche  beute  des  niiljagendcn 
Weidmanns  an  der  Alster,  und  wünsche  nur,  wenn  ich  einmal  das  scheue  gewild  der 
Göttinger  und  Vossischen  almanache  im  netze  aufliänge,  dass  ich  gleiches  lob  höre 
wie  Carl  Christian  Redlich. 

KIEL,  MAITAO   1871.  K.   WKIMUOLD. 

Benott    de   Sainte-More  et  le  roman  de   Troic   ou   les  mdtamorphoses 
d'Komere  et  de  Tepopee  greco-latine  au  moyen-äge  par  A«  Joly« 
professeur  a  la  faculte  des  lettre»  de  Caen.    Paris,  A.  Franck,  1870. 
[Extrait  du  XXVll.  volume  des  mcmoires  de  la  societo  des  antiquaircs  de  Nor- 
mandie.] 
Unter  obigem  titel  haben  wir  die  erste  vollständige   ausgäbe  des  Homan  de 
Troie  erhalten ,    nach    welchem  Herbert  von  Frib<lur  sein  liet  von   'Troye   dichtete. 
Joly   versieht  das   30108   Imlbverse   enthaltende    gedieht   mit   einer   sehr   sorgfältig 
geschriebenen  einleitung,   welche  den  ersten  teil  des  ganzen  Werkes  bildet  (lOil  Sei- 
ten).   Hierauf  folgt  im  zweiten  teil   eine  kurze  auskunft  über  die  handschriften  (II, 
p.  1  —  1(>) ,  sodann  eine  für  die  vergleichung  mit  dem  deutschen  gedichtc  sehr  brauch- 
bare inhaltsangabe  (p.  11)^24);  am  ende  des  buches  folgen  erklärende  anmerkangen 
und  variant^m   (p.  304  — 414)   und   schliesslich  ein    glossar   (414-445)   über  schwie- 
rige  und  Benoit  eigentümliche   werte.     Der  referent  überlässt  das  urteil  über   die 
benutznng  des  vorhandenen  kritischen  apparats,  über  die  anmerkungen  und  das  glos- 
sar den  romanisten  von  fach  (cf.  Zarncke ,  litt,  centralbl.  1870  p.  310)  und  beschrankt 
sich   die   einleitung  zu  besprechen,    welche    des    interessanten   genug   bietet.      Joly 
bezeichnet  sie   am    Schlüsse    nur    als   bruchstück    einer   grösseren   arbeit  Ober   die 


ÜB.  BSMOIT  DB  8.  MOBE ,  LE  BOMAN  DE  TBOIE  ED.  JOLY  373 

Schicksale  des  Roman  de  Träte  im  mittelalter.  Das  erste  oapitel  der  einieitung 
(;') — 19)  haudelt  im  allgemeinen  über  die  griechisch -lateinische  epopöe  im  fran- 
zösischen mittelalter  und  über  das  besondere  Interesse,  welches  Benoit  de  Sainte- 
More  bietet.  Das  zweite  capitel  (bis  p.  109)  handelt  von  des  dichters  leben  und  sei- 
nen werken.  Das  französische  mittelalter  unterscheidet  drei  grosse  ströme  der  dich- 
tung:  lea  chansons  de  geste,  les  romans  de  la  table -Bande  und  die  gedichte  antiken 
Stoffes  (ne  sont  qtie  trois  materes  ä  nul  homme  entendant  de  France,  de  Bretagne 
et  de  Borne  la  grant).  In  Frankreich  sind  die  gedichte  der  beiden  ersten  gattungen 
vielfach  ediert,  dagegen  die  der  letzten  art  bis  jetzt  stiefmütterlich  bedacht  worden. 
Joly  führt  in  dieser  richtung  nur  noch  an :  A.  Pey ,  essai  sur  U  Bamans  d'Eneas 
(Paris,  Didot  1856)  und  le  roman  d' Alexandre  par  Le  Court  de  la  Vülethassetz  et 
Etigene  Talbot.  (Paris ,  Durand  1861).  Für  das  herbeiziehen  der  dem  mittelalter 
scheinbar  so  femliegenden  antiken  stoffe  gibt  Joly  folgende  erklärung:  das  mittelal- 
ter ist  ein  grosses '  kind ,  welches  wie  alle  kinder  unaufhörlich  nach  neuen  geschich- 
ten  verlangt.  Seine  erzähler  und  dichter  schöpfen  an  allen  quellen,  die  sich  ihnen 
bieten;  alle  sind  in  ihren  äugen  von  gleichem  werte.  Ein  sehr  gut  gewähltes  citat 
aus  dem  roman  Flamenca  (ed.  P.  Meyer,  Paris  1865,  v.  613  — 97)  verschafft  uns 
einen  nicht  geringen  begriff  von  der  bekantschaft  der  altfranzösischen  dichter  mit  den 
mythen  und  der  geschichte  des  altertums,  und  Joly  weist  nach,  dass  die  dort  genan- 
ten antiken  stoffe  in  noch  jetzt  erhaltenen  altfranzösischen  gedichten  behandelt  sind. 
Die  gedichte  dieser  gattung  teilt  Joly  in  drei  klassen;  die  einen  geben  direct  die 
antiken  quellen  wider  oder  wenigstens  die  quellen,  welche  man  im  mittelalter  für 
antik  hielt.  Es  sind  Übersetzungen,  soweit  man  damals  zu  übersetzen  wüste.  Hier- 
her gehören  die  romane  vom  Äneas,  von  Theben,  von  Cäsar,  von  Troja.  Die  dich- 
ter dieser  romane  haben  Virgil,  Statins,  Lucanus,  Dares  und  Dictys  jeder  in  seiner 
weise  übersetzt.  Die  zweite  klasse  bietet  stoffe  aus  der  alten  geschichte,  welche  im 
altertum  nur  in  geschichtlichen  werken  behandelt  waren.  Hierher  gehört  die  geschichte 
Alexanders  des  grossen  nach  Pseudo  -  Callisthenes  und  Curtius.  Die  gedichte  der 
dritten  klasse  sind  freie  phantasiegebilde  der  mittelalterlichen  dichter,  denen  diese 
nur  antike  namen  und  eine  art  antikes  colorit  zu  geben  für  gut  fanden.  Hierher 
gehören  die  romane  von  Athis  und  Porphyrias,  Ypomödon  und  Protesilaüs.  Joly 
findet  in  der  art  und  weise,  wie  die  französischen  dichter  des  12.  und  des  17.  Jahr- 
hunderts die  antiken  stoffe  aufgefasst  haben  und  zu  ihrem  eigentum  zu  machen  such- 
ten, bei  aller  Verschiedenheit  vielerlei  übereinstimmendes,  und  von  diesem  gesichts- 
punkte  aus  steht  er  nicht  an,  Benoit  de  Sainte-More  den  vater  der  renaissance  in 
der  französischen  poesie,  für  seine  zeit  den  Schöpfer  einer  neuen  dichterschule  zu  nennen. 
Im  zweiten  capitel  wird  sorgfaltig  der  nachweis  geführt,  dass  Benoit  de  Sainte- 
More,  der  dichter  des  Boman  de  Troie,  und  Benoit,  der  dichter  der  normannischen 
reimchronik  ein  und  dieselbe  person  sei.  Der  meister  Wace  beklagt  sich  in  den  letz- 
ten Versen  des  Boman  de  Bou,  dass  Heinrich  11.  einen  dichter  Benoit  statt  seiner 
beauftragt  habe,  die  geschichte  der  herzöge  der  Normandie  aufs  neue  zu  bearbeiten 
und  fortzusetzen.  Die  Vollendung  des  Bou  föUt  nach  1170,  später  also  die  Vollen- 
dung der  Chronik  des  Benoit,  nach  Joly  ist  als  blütezeit  des  meister  Wace  1160  anzu- 
setzen. Benoit  schrieb  unter  Heinrich  11.  und  zwar  in  der  späteren  zeit  seiner  regle- 
rung.  An  einer  stelle  der  chronik  (7892 — 7910)  spricht  der  dichter  von  langen  krie- 
gen, Verfolgungen  und  Unruhen,  welche  der  könig  zu  bestehen  gehabt.  Joly  bezieht 
diese  stelle  auf  die  zeit  nach  der  ennordung  des  Thomas  Bocket  und  auf  die  empö- 
rungen,  die  Heinrichs  söhne  gegen  ihren  vater  anzettelten.  An  einer  spätem  stelle 
stellt  der  dichter  der  chronik  den  kÖnig  als  siegreich  aus  den  bestandenen  kämpfen 


374  WÖBNEB 

and  Prüfungen  hervorgegangen  dar.    Diese  stelle  lässt  sich  nach  Joly  auf  drei  »dt- 
pnnkte  beziehen:    1)  anf  1175,  in  welchem  jähre  der  könig  den  anfrfihreriBcheii  söh- 
nen verzeiht  und  die  rebellischen  provinzcn  wider  unter  seine  herschaft  brin^;  2)  auf 
1184,  in  welchem  jähre  nach  dem  tode  des  jungen  Heinrich  sich  die  Böhne  mit  ihrem 
vater,  die  königin  mit  ihrem  gatten  wider  aussöhnen.    3)  auf  1187,  als  jähr  desfrie- 
densschlusses  zwischen  Frankreich  und  England  und  der  rfistongen  zu  dem  krenazo^. 
Joly  entscheidet  sich  für  1175;    er  glaubt  nämlich,   dass  der  Baman  d^lSneat  das 
jüngste  werk  Benoits  gewesen  sei,  die  chronik  das  zweite  und  der  Baman  de  Troie 
das  letzte  und  reifste.    Dies  widerspricht  der  annähme  des  Ahh6  de  la  Bne  (Jtmg- 
leurs  et  Trouveres  1. 11.) ,   dass  Benoit  von  Heinrich  ü.  mit  abfassung  der  ohronik 
beauftragt  worden  sei,    weil  er  sich  schon  durch  ein  grösseres  werk  —  den  Monum 
de  Troie  — -  berühmt  gemacht  habe.     Es  werden  allerdings  in  der  chronik  die  her- 
zöge der  Normandie  öfters  mit   den  beiden  Roms  und  Griechenlands  verglichen.  — 
Die  vcrgleichung  des  romans  mit  der  chronik  ergibt,  ¥rio  Joly  ausführt,  eine  g^rosse 
anzahl  charakteristischer  Übereinstimmungen.    Der  dichter  hält  sich  streng  an  seine 
quelle,  in  der  chronik  an  den  Guillaume  de  Jumiege,  im  roman  an  Dares,    er  lieht 
hier  wie  dort  lange  moralische  bctrachtungen  —   welche  der  ernsten  and  lehrhaften 
natur  des  Normannen  entsprechen  — ,  hier  wie  dort  holt  er  die  ausschmückimgen  seiner 
erzählung  mit  Vorliebe  aus  der  geographie ,  am  anfang  der  chronik  steht  ein  850  verse 
langer  geographischer  excurs  nach  Isidor,  im  romane  gibt  der  dichter  vor  dem  anf- 
treten  der  amazonen   eine  grosse  erdbeschreibung  nach  Julius  Honorins  Orator  nnd 
Paulus  Orosius ,  dieselbe,  vor  deren  Übersetzung  Herbort  von  Fritslar  zurückschreckte; 
hier  wie  dort  erweist  der  dichter  sich  als  einen  belesenen  mann,    der  Plinios,   Jor- 
nandes  und  Isidor  citiert;   nicht  nur  im  roman,   sondern  auch  in  der  chronik  findet 
sich  jene  verliebe  für  die  darstellungen  der  minne  und  der  ritterlich  höfischen  sitte» 
welche  den  antiken  beiden  nach  unserm  geschmack  komisch  genug  zu  gesiebt  steht. 
Aber  gerade  in   diesem  zuge  liegt  Benoits   Originalität,   welche  diesen  dichter  hei 
den  Zeitgenossen   so  beliebt  machte.     Weder  bei  Wace   noch  bei  Geofiroy  Ghümar, 
welche  wie  Benoit  die  geschichto  der  Normannenherzöge  besangen,  findet  sich  etwas 
dem  ähnliches.    Im  vergleich  mit  Wace  ist  Benoit  mehr  ein  dichter,  Wace  mehr  der 
trockene,   naive  Chronist.    Letzterer  repräsentiert  die  untergehende  schule  der  alten 
chantres  de  geste,  Benoit  die  neue  höfische  schule,   die  von  Heinrich  IL  berorsngt 
wurde.     Schliesslich  stellt  Joly  p.  54 — 56  charakteristische  Wörter  zusammen,    die 
gleichzeitig  dem  roman  und  der  chronik  eigentümlich  sind.  —   Für  die  identit&t  des 
dichters  sollen  noch  folgende  beiden  stellen  sprechen:   die   eine  steht  in  der  chronik 
bei  erzählung  des   sieges  bei  Hastings:    Veez  merveiUes  poez  entendre,    Qvi'en  vo$ 
deit  mostrer  et  aprendre    Qu" Agamemnon  ne  li  grezeis    Ne  hien  plm  de  quamuUe 
reis    Ne  porent  Troie  en  diu  anz  prendre ;    Unqiies  rCi  sorent  tant  entendre,    Joly 
glaubt,  dass  Benoit,  als  er  diese  stelle  der  chronik  schrieb,  sich  mit  dem  Baman  de 
Troie  schon   beschäftigt  habe,    die  andere   stelle  findet  sich   im  Baman  de  Troie 
V.  13'i31  —  45  (nicht  wie  im  text  steht  12440).    Vorausgegangen  ist  die  crz&hlnng  der 
liebe  des  Troilus  und  der  Briseida;   der  dichter  liat  im  anschluss  daran  fiber  den 
Wankelmut  der  frauen  gespottet ,   da  unterbricht  er  plötzlich  seinen  orgoss ,   nm  sich 
für  diese  verse  die  Verzeihung  seiner  herrin  zu  erbitten ,  die  er  riche  dame  de  riche 
rei  nent   (13442).     Das   bezöge  sich   also   höchst  wahrscheinlich   auf  Eleonore  Ton 
Guienne,  und  da  die  königin  1184  nach  längerer  gefangenschaft  in  freiheit  gesetit 
wurde  und  sich  mit  ihrem  gcmahl  wider  aussöhnte ,  setzt  Joly  in  diese  seit  die  ent- 
stehung  des  romans.  —    Alles  dies  zusammengenommen  bringt  Joly  tu  der  übenen-* 
gnng,  dass  roman  und  chronik  werke  desselben  dichters  seien.    AnffaUiger  weise  fbr- 


ÜB.  BENOiT  DE  8.  MOBE,  LB  BOMAN  DB  TBOIE  ED.  JOLY  375 

tigt  Joly  einen  sehr  nahe  liegenden  einwiirf  in  einer  anmerkxmg  ah  (pag.  56) ,  näm- 
lich den,  dass  der  dichter  der  chronik  sich  norBenoit,  der  dichter  des  romans  Benoit 
de  Sainte-More  nenne.  In  der  chronik  komt  der  naroe  Benoit  nur  in  den  gereim- 
ten inhaltsühersichten  vor,  die  späterer  hand  sind,  und  im  roman  nennt  sich  der 
dichter  an  allen  stellen  schlechthin  Benoit,  mit  ansnahme  einer  einzigen  stelle,  die 
freilich  gleich  am  anfange  des  gedichtes  steht  v.  127  (Mes  Beneeiz  de  Seinte  More 
Ita  controv^  et  faü  et  du) ,  so  dass  wenn  dieser  vers  wegfiele ,  die  frage  in  dieser 
fassung  gar  nicht  erhoben  werden  könte. 

Um  Benoit  streiten  sich  Normandie,  Tonraine  und  Champagne.  Der  abbe  de 
la  Rue  nent  den  dichter  einen  normannischen  ritter.  P.  Paris  weist  nach ,  dass  in 
der  Champagne  bei  Troyes  eine  kleine  stadt  Sainte-More  liege,  bekant  durch  ihre 
gotische  kirche.  Ein  noch  nnediertes  gedieht  von  Eustache  Deschamps,  welches  von 
gelehrten  männem  der  Champagne  handelt,  nent  neben  einem  Pierre  comestor  (= 
mangeur)  auch  einen  Sainte-More^  der  den  Ovid  erläutert  habe.  (Le  Mangeur  qui 
par  trea  grant  eure  Voulut  sdholastique  traüer,  Sainte-More  Ovide  esdairer).  Joly 
weist  nach,  dass  darunter  Chrestien  Legonais  de  Sainte-More  gemeint  sei,  der 
den  von  Philipp  v.  Vitry  „moralisierten"  Ovid  in  prosa  Übersetzt  habe.  Ginguenö 
(Vhistoire  lOteraire  de  Fraiice)  spricht  von  einer  kleinen  stadt  Sainte  More  bei  Tours ; 
diese  Annahme  hat  den  beifall  von  F.  Michel  gefunden  (Chronique  des  Dncs  I.  einl.  15. 
111,  397).  Es  befindet  sich  nämlich  eine  handschrift  der  chronik  in  der  bibliothek 
zu  Tours,  die  dorthin  aus  dem  kloster  Marmoutiers  gekommen  ist.  Daraus  folgert 
Michel,  Benoit  sei  zu  St.  More  geboren,  habe  das  gelübde  zu  Marmoutiers  abgelegt 
und  dort  seine  chronik  geschrieben,  von  welcher  ein  exemplar,  vielleicht  sogar  das 
eigenhändige,  in  der  klosterbibliothek  geblieben  sei.  Joly  bestreitet  diese  annähme, 
weil  chronik  und  roman  nicht  darnach  aussehen ,  als  seien  sie  von  einem  mönche  hin- 
ter den  klostermauern  verfasst.  Er  findet  eine  Widerlegung  auch  darin,  dass  Benoit 
in  der  chronik  nach  GuiUaume  de  Jumiege  erzähle ,  Heinrich  I.  habe  die  abtei  Mar- 
moutiers mit  woltaten  überhäuft  und  viel  zu  den  dortigen  grossen  bauten  beigetragen. 
Wäre  Benoit  in  Marmoutiers  mönch  gewesen ,  sagt  Joly ,  so  würde  er  dies  aus  eige- 
ner erfahrung  und  nicht  nach  einem  gewährsmanne  erzählt  haben.  Joly  erklärt  sich 
also  für  die  normannische  abstammung  des  dichters.  Wenn  Benoit  von  den  Nor- 
mannen spricht,  nent  er  sie  les  nötres  (chron.  95i0.  9558.  37335.  37368).  Von  den 
Franzosen  spricht  er  mit  bitterkeit  und  groll,  er  freut  sich  über  ihre  niderlagen  und 
sieht  darin  eine  Züchtigung  gottes  für  den  hass,  mit  welchem  sie  die  Normannen 
verfolgen  (chron.  12640).  Freilich  es  lässt  sich  in  der  Normandie  kein  Ortsname 
Sainte-More  nachweisen,  aber  der  abb^  de  la  Bue  gibt  an,  dass  Leland  nach  der 
chronik  von  Coventry  normannische  ritter  namens  Hugues  Guillaume  Joscelin  de 
Sainte-More  anführe. 

Einen  hauptbeweis  für  die  normannische  abstammung  des  dichters  findet  Joly 
in  der  spräche  der  beiden  werke.  Die  chronik  ist  uns  nur  in  zwei  normannischen 
handschriften  erhalten.  Die  handschriften  des  romans  sind  meistens  im  dialect  der 
Ile  de  France  geschrieben,  eine  einzige  aber  —  von  Joly  mit  K  bezeichnet  —  bie- 
tet vorzugsweise  den  normannischen  dialect,  welcher  in  einzelnen  formen  sich  auch 
noch  in  zwei  anderen  handschriften,  bei  Joly  J  und  L,  nachweisen  lässt.  Hier 
erhebt  sich  zunächst  wider  die  frage:  spricht  der  dialect  der  mehrzahl  der  hand- 
schriften des  romans  nicht  für  einen  dichter  der  Ile  de  France,  im  gegensatz  zum 
normannischen  dichter  der  chronik?  Joly  sucht  diesen  zwcifel  folgendermaassen  zu 
beseitigen.  Die  imperfecta  der  1.  (schwachen)  conjugation  haben  im  normannischen 
dialect  eine  besondere  endung  (3.  pen.  sing,  ot,  plur.  oent).     Während  nun  bei  den 


376  WÖKNER 

diciltcrn  der  Ile  de  France  die  imperfecta*  aller  conjngationen  mit  einander  ohne 
unterschied  reimen,  können  bei  den  normannischen  dicht^jrn  die  imperfecta  der  1^  con- 
jugation  nur  mit  ihresgleichen  reimen.  Diese  Scheidung  ist  so  streng  dnrchgefQhrt, 
sagt  Joly,  dass  wenn  man  ein  ursprünglich  französisches  gedieht  ins  normannische 
umsetzen  wollte,  an  den  stellen,  wo  ein  imperfcct  der  1.  conjugation  mit  dem  imper- 
fect  einer  andern  conjugation  zusannnentrefFen  würde,  der  Übersetzer  geradezu  neue 
reime  finden  müsto.  Umgekehrt  ist  die  Umschreibung  eines  normannischen  gedichts 
ins  Altfranzösische  sehr  leicht ,  da  der  französische  Schreiber  die  endongen  ot  einfach 
mit  oitj  oent  mit  oient  vertauschte.  Joly  hat  mit  ausnähme  von  drei  stellen  diese 
regel  im  Homan  de  Troie  genau  beobachtet  gefunden  und  scbliesst  daraus ,  dass 
auch  der  ursprüngliclie  tcxt  des  Roman  de  Troie  normannisch  gewesen  sei.  Die 
handschrift  K  stellt  nach  Joly  den  übergangszustand  dar.  Der  französische  abschrei- 
ber  der  anznnelimenden  rein  normannischen  handschrift  behielt  die  normannischen 
fonnen  bei,  besonders  wo  der  reim  sie  erheischte,  aber  beim  abschreiben  kommen 
ihm  häufig  instinctiv  die  formen  des  dialects  der  He  de  France  in  die  feder.  Dass 
die  Chronik  sich  nur  im  nonnanuischen  dialect  erhielt,  liegt  im  wesen  des  gedichtes, 
die  Popularität  aber ,  welche  bald  der  roman  erhalten  haben  muss ,  verwischte  seinen 
ursi)rünglichen  dialect  und  Hess  ihn  fast  ausschliesslich  in  dem  dialect  verbreitet  wer- 
den, welcher  immer  mehr  für  die  dichtersprache  der  her  sehende  wurde.  Instmctiv 
für  den  oben  beschriebenen  Übergang  des  romans  ins  Altfranzösische ,  ist  das  beispiel, 
welches  Joly  II,  p.  395  anführt:  K  schreibt  vers  13821  f.:  Or  U  vait  mielz  qu'ü  ne 
quidot '  Gar  sovcnt  vit  fo  qite  li  plot.  J  schreibt:  Or  1i  veit  mielz  qxie  ne  ctiidoit  |  Car 
savent  vott  ce  que  li  plot  halb  normannisch,  halb  altfranzösisch.  1)  schreibt:  Car 
sorent  vi  qni  U  plesoit  reimend  mit  cuidoit^  für  das  perfect  das  imperfect  corrigie- 
rend.  Nach  einer  sehr  sorgfältig  ausgeführten  Schilderung  des  einflusses,  welchen 
der  hof  Heinrich  des  II.  und  die  persönlichkeit  dieses  und  seiner  gemahlin  Eleonore 
auf  die  entwickelung  der  französischen  dichtkunst  ausgeübt  hat ,  geht  Joly  dazu  tiber 
den  stand  unseres  dichters  zu  bestimmen.  Wie  meister  Wace  unter  dem  schütz  und 
der  gönnerschaft  dieser  Eleonore  dichtete ,  so  scheint  auch  Benoit  die  gunst  der  köni- 
gin,  aber  in  noch  höherem  grade  die  gewogenheit  des  königs,  den  er  öfters  „den 
guten  könig"  nennt,  genossen  zu  haben.  Wie  Wace  war  auch  Benoit  nach  Jolys 
ansieht  ein  gelehrter  geistlicher  (clerc),  für  uns  drängt  sich  hier  der  vergleich  mit 
Herbort  auf,  der  sich  einen  gelärten  schiwläre  nent.  Für  diese  ansieht  spricht 
Benoits  bekantschaft  mit  dem  lateinischen,  seine  ausdauer  für  so  langwierige  arbei- 
ten ,  der  ton  seiner  langen  moralischen  betrachtungen ,  die  Vorliebe ,  mit  welcher  er 
die  freigebigkcit  der  fürsten  gegen  die  kirche  preist,  namentlich  rechnet  Joly  hiczn 
noch ,  dass  Benoit  in  der  beschrcibung  Trojas  {Roman  de  Trott  v.  2981)  die  gewöhn- 
liche formcl:  „comme  je  tronre  lisant**  durch  die  andere  ersetzt:  ("o  trorent  bien 
li  clcrc  lisant.  Freilich  köntc  es  auffallen,  dass  ein  geistlicher  die  galanten  aben- 
teuer  der  Medea,  der  Briseida,  des  Achilles  mit  solcher  verliebe  erzählt,  aber  an 
demselben  hofe  lebte  auch  ein  Gautier  Map,  archidiaconus  von  Oxford,  der  in  seinem 
buche  De  nugia  curialium  sich  noch  viel  schlimmeres  zu  erzählen  nicht  scheut.  An 
diesem  punkte  seiner  nntersuchung  angelangt,  weist  Joly  geradezu  auf  einen  Benoit, 
abt  von  Peterborough  hin ,  welcher  eine  lebensbeschreibung  Heinrichs  II.  hinterlas- 
sen hat.  Benedxctns  abbas  Petroburgensis  de  vita  et  gestis  Henrici  II.  priinnm 
cdidit  Hl,  Hearnius.  Oxonii  1725.  2  voll.  Der  dichter  Benoit  kündigt  an  mehre- 
ren stellen  der  chronik  an ,  dass  er  die  taten  Heinrichs  beschreiben  werde.  Der  oben- 
erwähnte Benoit  ist  117f)  j^rior  der  kirche  der  heiligen  drcieinigkeit  zu  Cantcrbnry, 
1177  verleiht  ihm  der  könig  die  abtei  von  Peterborough,  derselbe  Benoit  wohnt  der 


ÜB.  BENOIT  DE  8.  MORE,  LE  BOMAN  DE  TROIE  ED.  JOLY  377 

krönuDg  des  Bicliai^d  Löwenherz  bei,  welcher  ihn  zu  seinen  treuesten  freunden  rech- 
nete. Über  ihn  ist  zu  vergleichen  Robert  Swafhumi  Historia  coenobii  Burgensis 
tarn.  II  der  Scriptores  Ilistoriae  Änglicanae  a  Josepho  Sparkio  editi,  wo  es  z.  b. 
pag.  97  heisst:  „plurimos  libros  scribere  fedV  Er  starb  ende  September  1193. 
Dieser  Benoit  hat  ausserdem  hinterlassen  eine  chronik  seiner  zeit  vom  jähre  1170  bis 
1192  (im  französischen  text  steht  fälschlich  1190  statt  1170),  ein  leben  des  Thomas 
Becket  und  eine  erzählung  von  dessen  wundern.  Freilich  haben  wir  nirgends  eine 
nachricht  davon ,  dass  dieser  Benoit  auch  französisch  geschrieben  habe.  Joly  regt 
die  frage,  ob  der  Benedictus  Petroburgensis  eine  person  sei  mit  dem  diditer  Benoit, 
nur  an,  ohne  sich  bestimt  für  die  bejahung  der  frage  zu  entscheiden. 

Ist  der  Roman  d'Eneas  ein  werk  desselben  dichters?  Im  roman  selbst  ist 
der  name  des  Benoit  nirgends  genant  und  das  blosse  nebeneinander  der  beiden  romane 
in  den  handschriften  ist  noch  kein  entscheidender  grund  für  diese  annähme.  Im 
Roman  de  Troie  v.  28127 — 28130  lesen  wir:  Et  Eneas  s'en  fu  ralez ,  Issi  com  voa 
ai  avez,  Par  mainte  mer  o  sa  navie,  Tant  qu'il  remest  en  Lombardie,  (Joly  citiert 
hier  ohne  angäbe  der  verszabl  mit  den  Worten:  v,  plus  loin  le  Roman  de  Troie), 
Aus  diesen  Worten  würde ,  wenn  man  für  beide  romane  denselben  dichter  annimt,  die 
frühere  entstehung  des  Roman  d' Eneas  vor  dem  Roman  de  Troie  hervorgehen.  Her- 
bort tibersetzt ,  v.  17379  flF. :  £neas  vür  dannoch  sider  |  manigen  tac  vur  sich.  \  Von 
Veldidte  meister  Heinrich  \  hat  an  sime  buche  geJäri  |  Von  £nea8  vart,  |  wä  er  un 
die  sinen  hin  karten.  \  Sie  blieben  zu  Lamparten:  demnach  wüste  Herbort  nicht,  dass 
Benoit  auch  der  dichter  der  welschen  £neit  sei.  Zu  den  gründen,  welche  für  die 
Priorität  des  Raman  d' Eneas  sprechen,  komt  femer,  dass  Yeldekes  Jßneit  zum  grös- 
seren teil  im  jähre  1175  vollendet  war  und  1184  ihren  abschluss  fand,  während  Her- 
borts  liet  von  Troie  in  das  1.  Jahrzehnt  des  13.  Jahrhunderts  gesetzt  wird.  Wäre 
der  Roman  d" Eneas  später,  als  der  Roman  de  Troie,  so  müsten  sich  doch  man- 
cherlei anspielungcn  auf  das  frühere  gedieht  finden.  Nach  dem  anfange  des  Eneas 
liat  Meuelaos  Troja  erobert,  von  einer  solchen  Stellung  des  Menelaos  ist  im  Roman 
de  Troie  keine  rede,  in  dem  Eneas  ist  eine  trinkschale  erwähnt,  welche  Aeneas  bei 
gelegenheit  einer  gesantscliaft  von  Menelaos  erhalten  hat,  davon  weiss  der  Roman 
de  Troie  nichts;  der  vorzüglichste  held  neben  Hector  ist  im  Roman  de  Troie  Troi- 
lus,  im  Eneas  ist  dieser  nicht  einmal  erwähnt,  als  der  Trojaner  beim  gang  durch 
die  unterweit  die  troischen  beiden  widersieht.  So  führt  Joly  aus,  p.  99  anm.  1 ;  frei- 
lich in  imsrer  Eneit  p.  100,  13  IF.  heisst  es:  ouch  vander  dar  na  |  der  Troiäre  vile 
da,  j  die  von  sime  lande,  \  di  er  alle  wole  erkande.  \  da  was  der  kunich  Priamüs 
tind  der  küne  Tröilüs  \  Paris  unde  Hector  \  und  der  wise  Änthenor.  Dieser  punkt 
bedarf  also  noch  einer  aufklärung.  Joly  führt  nicht  an,  was  vielleicht  am  nächsten 
lag,  die  durchaus  verschiedene  erzählung  über  die  abfahrt  des  Aneas  aus  Troja  in 
beiden  romanen.  Im  Roman  de  Troie  v.  27235  —  427  ist  die  sache  folgendermaassen 
dargestellt:  Ehe  Aneas,  der  von  den  Griechen  (von  Agamemnon  cf.  Dares  c.  43)  des 
landes  verwiesen  ist,  mit  seinen  schiffen  absegelt,  fordert  er  die  übriggebliebenen 
Trojaner  auf,  den  Antenor  ins  lund  zurückzurufen,  an  ihm  würden  sie  den  besten 
berate  und  schirmherrn  haben.  Antenor  ww  nämlich ,  wie  Benoit  27153 — 56  erzählt, 
bereits  ausgewandert,  wohin  wisse  er  nicht:  Anthenoi's  qo  me  dit  Dithis  Guerpi  la 
terre  et  lo  pais;  mes  il  fie  me  reconte  mie  Oü  il  ala,  n^en  quel  partie.  Als  nun 
Antenor  auf  diese  einladung  fröhlich  nach  Troja  zurückkehrt,  wird  er  von  Aneas,  der 
sich  inzwischen  die  sache  wider  anders  überlegt  hat,  auf  das  feindseligste  empfan- 
gen und  aus  dem  lande  getrieben.  Aneas  wirft  ihm  vor,  er  habe  den  Griechen  ver- 
raten ,  dass  Aneas  bei  sich  die  Polyxena  verberge  (cf.  Dares  c.  41  und  43),  dadurch  habe 


378  WÖRMEB 

er  den  zorn  des  Agamemnon  auf  diesen  gelenkt  und  ihm  die  Verbannung  zugezogen. 
Bestürzt  weicht  Anten or  mit  seinen  leuten  ans  dem  lande,  komt  mit  seiner  flotte 
nach  manchen  anfallen  ins  Adriatische  mecr  nnd  es  gelingt  ihm  endlich  dort  auf 
der  insel  Corcyra  Melaena  eine  stadt  zu  gründen ,  welche  bald  sich  grosser  bltkte  und 
eines  weiten  ruhmcs  erfreut ,  so  dass  die  in  Troja  zurückgebliebenen  landsleute,  ange- 
lockt durch  diesen  ruf,  in  die  neue  colonie  übersiedeln  (cf.  Herbort  16926  —  17051). 
Diese  darstellung  beruht  auf  einer  heillosen  Verwirrung  der  berichte  des  Dares  einer- 
seits und  des  Dictys  andererseits  und  überdies  auf  einer  fehlerhaften  aufßissiuig  der 
gleich  anzuführenden  stelle  des  Dictys  (cf.  Dunger,  die  sage  vom  trojan.  kriege 
pag.  38).  Dictys  V,  cap.  17:  Aeneas  apud  Trojam  manet,  gut  post  Orascorum  pro^ 
feciionem  cunctos  ex  Dardano  aiqtie  ex  proxima  penitisula  adit,  orat  uU  seeum 
Anteriorem  regno  exigerent.  Quae  posiqaam  praeverso  de  se  nuntio  AfUenari  cognüa 
sunt ,  regrediens  ad  Trojam  imperfecto  negotio  ctditu  prohibetur.  Ita  ooaetua  cwm 
omni  patrimonio  a  Troja  navigat  devenitque  ad  mare  Adriaticum,  muUas  interim 
gentes  harharas  praetervectus.  tibi  cum  his,  qui  secum  iiavigaverant,  civUaiem  eon^ 
dit  appellatam  Corcyram  Melaenam.  Ceterum  apud  Trojam  postquam  fama,  est 
Antenorem  regno  potitum,  cuncti  qui  hello  residui  nocturnam  civitatis  cladem  eoa- 
serant ,  ad  cum  confluunt  brevique  ingens  coalüa  muliitudo.  TanttM  amor  erga  Ante^ 
norem  atque  opivio  sapientiae  incessei'ai,  fitque  princeps  amicitiae  ejus  rex  Ckbre» 
norum  Oenideus,  Wie  Dunger  gegen  Frommann  richtig  geltend  macht,  ist  regre^ 
diens  —  aditu  prohibetur  und  das  folgende  coactus  . .  navigat ,  devehitqi*e  auf  Äneas, 
nicht  auf  Antenor  zu  beziehen ;  Aneas  gründet  die  stadt  Corcyra  Melaena  (Benoit 
v.  27407  Corchirre  Menelan  ot  nom) ,  Antenor  bleibt  als  könig  in  IVoja  zurück  and 
die  versprengten  Troer  sammeln  sich  wider  um  ihn.  Sein  bundesgenosse  wird  Oeni- 
deus,  könig  der  Cebrener,  eines  volksstammcs  im  troischcn  gebiet;  welche  Benoit 
(v.  27393  Apelez  est  Oendeus,  JReis  estait  de  Gerben  et  dus)  falschlich  aber  consc- 
quent  mit  Antenor  nach  dem  wcsten  versetzt.  Da  Benoit  das  regrediens  ad  Trojam 
auf  Antenor  bezog ,  konte  er  mit  einigem  rechte  sagen ,  Dictys  berichte  nur  von  der 
widerkunft  Antenors  nach  Troja,  erzähle  aber  nicht,  wohin  er  vorher  ausgewandert 
sei.  Die  stelle  des  Dares  c.  43  lautet:  Ut  dies  recessionis  advenit,  tempestates  mag^ 
nae  exortae  suni,  ei  per  aliquot  dies  remanserunt,  CalcJuis  respofidit  inferis  non 
esse  satis factum.  Neoptolemo  in  mentem  venit ,  Polyx^nam  cujus  causa  pater  perie- 
rat,  non  esse  in  regia  inventam.  Agamemnotiein  poscii ,  conqueritur,  aceusat  exer^ 
citum,  Antenoretn  accersiri  juhet,  imperat  ut  J)^q^ifcU  eam  et  adduccU,  Is  {Anie- 
nor)  ad  Aeneam  venit  et  diligentius  perquirit:  Utque  primwn  Argivi  proficiscantwr, 
Polyxenam  ut  absconditam  invenit  (cf.  c.  41),  ad  Agamctnnonem  adducit.  Agamem' 
non  Neoptolemo  ülam  tradidit  isque  eam  ad  tumtUum  patris  jugtdat  Agatnewmon 
iratM  Aeneae,  quod  Polyxenam  absconderaty  cum  s^hs  protinus  patria  excedere  jubet, 

Aeneas  cum  suis  omnibus  navibus  proficiscitwr,  Antenori  terram  tradidit 

Hactenus  Dares  Phrygius  Grands  literis  mandavit,  nam  is  ibidem  cum  Anteium$ 
f actione  remansit.  Aus  der  vcrglcichung  beider  stellen  ergibt  sich  leicht,  in  welcher 
weise  Benoit  sich  aus  beiden  eine  neue  erzählung  zurecht  gemengt  hat.  Der  Boman 
de  Troie  28082 --28130  erzählt  weiter  (cf.  Herbort  17330  — 17385) ,  dass  Äneas  nach 
Vertreibung  Antenors  von  den  nachbarvölkem  hart  bedrängt  worden  sei.  Er  wendet 
sich  um  hilfe  an  Diomedes ,  der  aus  seinem  reiche  verbaut  worden  war.  Dieser  folgt 
der  einladung  und  besiegt  in  fünftägigem  kämpfe  die  feinde.  Als  die  künde  von  die- 
sem siege  nach  Griechenland  komt,  wird  Diomedes  gütlich  wider  in  sein  reich  auf- 
genommen,  er  kehrt  dortliin  zurück,  wälircnd  Aneas  durch  manches  meer  fährt,  bis 
er  sich  in  der  Lombardei  niederlässt  (cf.  28127  if.).      Diese   partie  beruht  wider  anf 


Ob.  BSNOiT  DB  8.  MOBB,  LB  BOMAN  DB  TBOIB  BD.  JOLT  379 

einer  flüchtigkeit  Benoits  im  übersetzen  des  Dictys.  Dictys  VI,  c.  2  keisst  es:  Oeax 
Nauplii  filius  Palamedia  frater  cognüo  Graecoa  ad  buo8  remeare,  Ärgos  venu:  Ibi 
Aegialeti  atque  Cliftaemnesiram  fahis  nuntiia  ack>ersum  maritoa  amuU.  —■  Ita  Aegiaie 
advenieniem  Diomedem  per  cives  aditu  prohibet.  —  Eo  {C(}rmthum)  Diamedes  exptU- 
S118  regno  et  Teucer  . . .  convenitmt,  —  Neque  muUo  post  cognoscit  IHomedes  in 
Aetolia  ab  hü,  qui  per  absentiam  ejus  regmun  infestahant,  Oeneum  multimodis 
afflictari:  ob  quae  profecttM  ad  ea  loca  omnes  gtios  auctores  injuriae  repererat,  inter- 
ficit,  metuqtie  omnibus  circum  locie  injecto  faeüe  ab  sma  receptus  est.  Hier  hat 
Benoit  offenbar  für  Oeneum  Äeneam  gelesen,  vielleicht  war  dies  sogar  ein  Schreib- 
fehler der  ihm  vorliegenden  handschrift.    cf.  Frommann  zu  17330  und  Dunger  p.  38.  — 

Aus  dem  vorstehenden  ziehe  ich  den  schluss:  hätte  Benoit  den  Eneas  nach 
dem  Rofnan  de  Traie  geschrieben ,  so  wäre  es  nicht  glaublich ,  dass  er  im  anfang  des 
Eneas  auf  diese  seine  frühere  erzählung  gar  keine  rücksicht  genommen  und  sich  in 
der  hauptsache  mit  dem  begnügt  hätte  ^  was  Virgils  Aeneis  ihm  an  die  band  gab. 

Für  den  Boman  d' Eneas  nimt  Joly,  wie  für  den  Boman  de  Traie  einen 
ursprünglich  normannischen  text  an.  Denn  die  texte,  welche  wir  jetzt  haben,  sind 
zwar  rein  französisch,  aber  auch  hier  hat  Joly  beobachtet^  dass  die  imperfecta  der 
ersten  conjugation  nur  mit  ihresgleichen  reimen^  ja  es  finden  sich  stellen^  wo  der 
abschreiber  genötigt  gewesen  ist,  die  normannische  form  der  imperfectendung  stehen 
zu  lassen,  weil  sie  mit  einem  andern  wort  auf  ot  reimte.  (Demanda  li  se  eleamot: 
Cele  li  dit  q^'anques  ne-sot.  —  Et  aperceiMt  que  Vesg'ardot,  Et  sospira,  que  pltis 
nH  pot).  Freilich  nimt  Joly  fQr  drei  stellen  die  obige  behauptung  zurück  und  gesteht 
in  einer  anmerKung  pag.  99  zu ,  dass  in  rein  normannischen  gedichten  sich  im  reime 
freiheiten  fänden,  wie  die  destruisouent  mit  aloent,  demenoent  mit  vendouent  rei- 
men zu  lassen,  aber  dadurch  ist  die  richtigkeit  des  aufgestellten  kriteriums  noch 
nicht  erschüttert.  Mit  rücksicht  auf  eine  stelle  des  Eneas,  welche  sich  bei  Veldeke 
pag.  282,  24—283,  13  widerfindet,  nimt  Joly  an,  der  roman  sei  am  hofe  Hein- 
richs II.  zur  zeit  des  Joannes  Saresberiensis  (f  1180)  und  des  Giraldus  Cambrensis 
geschrieben.  Die  im  roman  dem  Aneas  schuld  gegebene  Unzucht  wirft  Giraldus  Cam- 
brensis de  iUaudabilibus  Waliiae  cap.  7  den  Galliern  vor,  welche  durch, diese  sünde 
einst  Trojas,  später  Britanniens  verlustig  gegangen  seien.  Derselbe  Vorwurf  findet 
sich  in  Joannes  Saresberiensis  Policraticus  {opera  omnia,  ed.  Parker.  Oxonii  t.  HI, 
206).  Diese  beziehung  ist  doch  zu  vag,  um  für  die  Zeitbestimmung  einen  festen 
anhält  zu  geben.  —  Dass  die  darstellung  beider  romane  vielfache  ähnlichkeiten  ent- 
hält, ist  allgemein  bekant:  hier  wie  dort  sind  die  göttcrpartieen  gestrichen;  hier  wie 
dort  phantastische  beschreibungen,  welche  mit  gold,  silber,  cdelsteinen  verschwen- 
derisch umgehen;  die  besclireibung  Trojas  erinnert  an  die  bcschreibung  Carthagos, 
das  grabmal  der  Camilla  an  die  Schilderung  des  Chambre  de  BeauU^  die  liebesaben- 
teuer  des  lason,  Paris,  Troilus,  Achilles  an  die  des  Aneas,  der  Dido  und  Lavinia. 
Trotz  alle  dem  schränkt  Joly  sein  endurteil  doch  dahin  ein,  es  sei  nicht  unmöglich, 
dass  Benoit  der  dichter  auch  des  Boman  d" Eneas  sei.  Der  Boman  de  Thebes  wird 
Benoit  abgesprochen,  er  soll  das  werk  eines  jüngeren  nachahmers  sein,  auch  die 
Chronique  ascendante  des  Ducs  de  Normandie  ed.  Pluquet  1821  hält  Joly  für  das 
werk  eines  compilators  aus  Wace  und  Benoit.  —  Zum  schluss  stellt  Joly  als  resul- 
tat  seiner  Untersuchung  hin:  1)  Es  ist  sicher,  dass  Benoit  der  Verfasser  der  chronik 
und  Benoit  de  Sainte  More  ein  und  dieselbe  person  ist.  2)  Es  ist  sicher,  dass 
Benoit  unter  Heinrich  IL  zwischen  1175  und  1185  gedichtet  hat.  3)  Es  ist  sicher,, 
dass  er  seiner  abstammung  nach  ein  Normanne  war  oder  wenigstens  im  normanni- 
schen England  seine  zweite  heimat  gefunden  hatte.    Damit  macht  Joly  zu  guter  letzt 


380  WÖRNEB,    ÜB.   BENOIT  DB   S.   MOEE,    LE    ROMAN  DB  TBOIB  ED.  JOLT 

noch  der  auffassung  Michels  concesBionen ,  nach  welcher  Benoit  oder  dessen  vorfSah- 
ren  aus  der  Tourainc  stamten,  aber  nach  England  eingewandert  waren.  Zn  dem 
erbe  Heinrichs  von  Anjou  gehörte  auch  die  Touraine,  vielleicht  kam  Benoit,  als 
Heinrich  das  reich  Wilhelm  des  Eroberers  erbte,  in  dessen  gefolge  nach  England 
hinüber.    4)  Es  ist  möglich,  dass  Bcnoit  auch  den  Roman  d'EnetM  gedichtet  hat. 

Handschriften  zählt  Joly  22  auf,  von  denen  sich  13  (A  — M)  auf  der  kaiser- 
lichen bibliothek  zu  Paris  befinden,  sie  werden  nach  der  nummer  des  katalogs  auf- 
gezählt, zwei  handschriften  N.  0.  befinden  sich  in  der  bibliothek  de  rArsenal,  eine  in 
der  bibliothek  de  Tecole  de  medecine  de  Montpellier,  eine  zu  Wien,  zwei  zu  Venedig, 
zwei  zu  Petersburg,  eine  im  British  Museum  (bibl.  Harleiana).  Ans  dem  13.  Jahr- 
hundert sollen  stammen  die  Pariser  B.  E.  G.  I.  J.  K.  N.  0,  eine  Yenediger,  die 
Harleiana,  eine  Petersburger;  aus  dem  14.  Jahrhundert  die  Pariser  D.  F.  H.  L,  die 
Wiener,  eine  Venediger;  aus  dem  15.  Jahrhundert  die  Pariser  A,  die  von  Montpel- 
lier, eine  Petersburger.  Alle  handschriften,  welche  Joly  einsehen  konte,  sind  im 
dialect  der  Ile  de  France  geschrieben,  mit  ausnähme  von  dreien:  Dies  sind  K 
(nr.  2181,  früher  7900.  Fonds  A.  Lancelot),  über  welche  schon  oben  gesprochen  ist 
/  (nr.  1 553)  hält  Joly  für  picardisch ,  G  (nr.  903)  für  burgundisch.  Eine  vierte  hand- 
schrift  J  zeigt  bisweilen  rein  normannische  formen,  ist  aber  in  der  haaptsadie  ftH- 
franzüsisch.  Die  meisten  handschriften,  darunter  die  besten  enthalten  lücken  und 
man  muss  sie  also  gegenseitig  sich  ergänzen  lassen.  In  K  fehlt  das  ende  vom 
vers  29402  an,  Joly  folgt  von  da  an  der  handschrift  J  (1610).  Der  grundsatz,  wel- 
chen Joly  für  die  feststellung  des  textes  aufstellt,  lautet  wörtlich:  On  voü  ausfii, 
quHl  ne  faut  pas  songer  ä  reproduire  un  text  unique  mais  les  redresse  et  Us  com- 
pleter  lea  uns  par  les  autres.  Da  der  normannische  dialect  auch  in  K  nicht  streng 
durchgeführt  ist,  hat  Joly  nicht  unternommen  auf  eigene  band  den  text  dnrchnmor- 
mannisieren ,  sondern  sich  begnügt  K  genau  widerzugeben  und  seine  lücken  ans  B,  D, 
J  auszufüllen.  Über  das  Verhältnis  der  handschriften  untereinander,  ihren  wert  oder 
unwert,  ihre  ursprünglichkeit  oder  abhängigkeit  ist  nichts  gesagt  Mehrere  hand- 
schriften, zwei  Pariser  G  C,  die  ältere  Petersburger  und  die  Wiener  sind  wahr^ 
scheinlich  von  schreiben!  geschrieben^  welche  das  original  nicht  immer  verstanden 
und  dadurcli  die  sinnlosesten  fehler  in  den  text  brachten.  Joly  macht  es  nnserm 
Frommann  zum  Vorwurf,  die  schlimsten  derartigen  fehler  aus  der  Wiener  handschrift 
abgedruckt  zu  haben.  Ich  hebe  einige  stellen  heraus :  Frommann  Germ.  11.  pag.  G4 
unter  3:  Et  li  boves  ilec  ficha  Ou  Alexandres  les  trova  für  Et  les  hones  (bomes) 
ihiec  ficfia  Ou  Alexandres  les  trova.  Femer:  E  au  sertor  et  au  tomai  ffir  E  en 
estor  e  en  tomoi,  German.  II.  pag.  79  unt«r  36 :  A  vos  meesnie  di  ge  hien  \  Qen  eett 
pais  nena  restes ,  I  se^dement  vos  en  reales  für  A  vos  meisme  di  ge  bien,  Qen  eest 
iHiis  ne  arestis,  Isfielement  vos  en  aUs.  Germ.  n.  p.  66  v.  58:  a  des  tiem  que  tiuU 
ne  li  face  für  Ades  criem  que  mal  li  face.  v.  74:  Ne  veut  amer  nen  ot  ami  für  Ne 
vetU  amer  ne  n'ot  ami.  v.  92 :  Assez  la  colle  et  embrace  für  Assez  Vacolle  et  embrace, 
Lässt  nach  dem  vorstehenden  Jolys  ausgäbe  für  streng  wissenschaftliche  anfordemn- 
gon  in  kritischer  hinsieht  manches  xu  wünschen  übrig,  so  bietet  sie  doch  einen  bes- 
sern und  lesbarcrem  text,  als  wir  bisher  hatten,  und  erleichtert  uns  wesentlich  die 
vergleichung  unseres  deutschen  dichters  mit  seiner  quelle.  Trotz  Frommanns  aner- 
kanter  arbeit  würde  eine  neu  angestellte  vergleichung  keine  wertlose  nachlese  brin- 
gen.   Hoffentlich  erhalten  wir  nun  auch  eine  vollständige  ausgäbe  des  Roman  d'Eneas. 

ST.    APRA   BEI   MBISSEN,   JULI    1870.  DR.    B.   WÖBinER. 

Halle,    Hiichdnirkerri  de«  WaiRcnhaoRe*. 


ZUM    BEOWULF. 

Die  nüchteruheit  und  vorsieht,  womit  Grein  die  recension  der 
angelsächsischen  texte  unternahm ,  kam  keinem  derselben  so  sehr  zu  gute 
wie  dem  Beowulf:  denn  an  keinen  war  schon  so  viel  vorschnelle  conjec- 
turalkritik  verschwendet  worden.  Während  diese  letztere  erst  in  Grundt- 
vigs  ausgäbe  (1861)  den  höhepunkt  erreichte,  wurde  durch  Dietrichs 
„Kettungen"  im  XI.  bände  der  Zeitschrift  für  deutsches  altertum  auch 
Grein  zu  noch  grösserer  Zurückhaltung  gemahnt,  welche  denn  auch  seiner 
Sonderausgabe  des  gedichtes  (1867)  das  gepräge  gab.  Inzwischen  hatte 
Heyne  1863  seine  aufgäbe  in  demselben  geiste  verstanden  und  blieb  ihm 
auch  in  der  zweiten  aufläge  1868  £reu;  so  dass  in  der  kritik  dieses  Wer- 
kes nunmehr  ein  förmlicher  Wetteifer  in  conservativer  tendenz  eingetre- 
ten ist.  Je  einseitiger  und  unbedingter  diese  richtung  wird ,  je  mehr 
hat  auch  sie  ihre  gefahren.  Die  kritik  droht  so  am  ende  zu  einer  art 
Scholastik  zu  werden,  die  an  den  überlieferten  buchstaben  gebunden  die 
aufgäbe  hat,  wol  oder  übel  einen  sinn  für  ihn  heraus  zu  stellen.  Man 
muste  es  darum  willkommen  heissen,  als  in  Bugges  Bemerkungen  zum 
Beowulf  (Tidscrift  far  philologi  og  paecUigogik  VIII)  die  kritik  bei  aller 
besonnenheit  und  ernsten  methodik  wider  freiere  schwingen  regte.  Indem 
ich  mich  dem  urteil  Bugges  fast  in  allen  von  ihm  behandelten  stellen 
anschliesse ,  gebe  ich  im  folgenden ,  untermischt  mit  mehrern  exegetischen 
erörteiomgen ,  neue  beitrage  zur  herstellung  dieses  so  wertvollen  textes. 
In  einer  reihe  von  fällen  nehme  ich  jedoch  nur  emendationen  oder  les- 
arten  der  älteren  bearbeiter  in  schütz,  die  von  Grein  und  Heyne  über- 
einstimmend verworfen  sind  und  daher  unter  einer  sich  feststellenden 
tradition  zu  verschwinden  drohen.  So  oft  ich  Grein  entgegenzutreten 
veranlasst  war,  bin  ich  mir  doch  immer  von  neuem  bewust  geworden 
wie  viel  wir  ihm  verdanken,  da  es  erst  auf  der  breiten  und  sichern 
grundlage  seines  glossars  möglich  geworden  ist,  fragen  der  kritik  und 
exegese  wahrhaft  erspriesslich  zu  verhandeln ;  wie  denn  auch ,  der  ersten 
bahnbrechenden  bearbeitung  in  der  „Bibliothek"  zu  geschweigen,  seine 
Sonderausgabe  für  den  text  manchen  schönen  gewinn  gebracht  hat. 
1.  30  fg.  pemlen  wordum  tveold  tvinc  Scyldinga, 
leof  landfruma  lange  ähte, 

ZEIT8CUB.    F.   DEUTSCHE    PHILOLOGIE.     BD.  UI.  25 


382  M.    RIEOEB 

Hier  stört  der  mangel  des  objectes  zu  (ihte,  Thorpe  suppliert  land  aus 
landfruma,  Grein  wie  es  scheint  gleichfalls.  Hievon  mit  recht  unbefrie- 
digt mutet  Heyne  dem  leser  noch  mehr  zu,  nämlich  aus  dem  vorher- 
gehenden iveold  den  accusativ  geweald  zu  ergänzen.  Er  bringt  hiefür 
einige  stellen  zusammen,  die  bei  weitem  nicht  genügen  eine  so  schwie- 
rige freilieit  zu  rechtfertigen.     Man  lese  lif  für  leof. 

2.  34  aUdon  ])ä  Icofnc  peodmi. 

Das  subject  liegt  hier  in  swcese  gesUtas  29  noch  nahe  genug;  gleichwol 
ergänzt  Grein,  offenbar  aus  metrischen  gründen,  in  seiner  Sonderaus- 
gabe cdvdon  J)ä  [leöde].    Ebenso 

ü52     grette  pd  [glcedmod]  guma  oderne 

1870    gccyste  pä  [cüdltce]  cyning  (edelum  göd; 
wogegen  er  folgende  fölle 
/.  «2  --  ^^^    ymheode  pä  ides  Helminga 

1405     ofereode  pd  ceddinga  bearn 

2516     gegreUe  J)d  gumena  geliwylcne 

3157  geworJdofi  pd  Wedra  Icodc 
unangetastet  lässt.  Heyne,  der  zufrieden  ist  sobald  der  vers  vier  silben 
hat,  bringt  nur  G52  die  ergänzung  giddum.  Diese  sieben  fälle  einer  auf 
pd  fallenden  zweiten  hebung  ohne  darauf  folgende  Senkung  schätzen  ein- 
ander hinlänglich  und  keiner  sollte  mit  einer  ergänzung  heimgesucht 
werden.  Fälle,  wo  pd  ebenso  grosses  gewicht  auch  an  anderer  versstelle 
hat,  wird  es  zur  genüge  geben;  ich  habe  für  jetzt  Gen.  2533  pä  onette 
Abrahamcs  mceg  bemerkt. 

3.  83  fgg.  Nc  wois  hit  Icngc  pd  gm, 
l)mt  sc  sccg  hete  ddtim  siverian 
cefter  wcdnide  ivcßcnan  scolde. 

Die  Schwierigkeit  dieser  stelle  ist  von  Bugge  durch  die  Wahrnehmung 
des  compositums  ddumsiverlan  =  gencri  soceri(pie  in  Verbindung  mit 
Greins  emendation  ecghete  trefflich  gelöst  worden.  Ich  habe  nur  noch 
hinzuzufügen,  dass  Umge  bisher  fölschlich  als  comparativ  von  lange  ver- 
standen wurde.  Nicht  nur  weil  Icnge  eine  anstössige,  wenig  bezeugte 
nebenform  von  leng  ist  (lul.  375.  Güdl.  109),  sondern  weil  der  compa- 
rativ hier  keinen  sinn  gibt ,  er  müste  denn  mit  Heyne  wie  das  neuhoch- 
deutsche länger  =  ziemlich  lang  verstanden  werden,  was  gegen  den 
angelsächsischen,  überhaupt  gegen  den  alten  Sprachgebrauch  verstösst. 
Bei  Grein  ist  dieser  übelstand  aller dmgs  durch  die  emendation  cuium 
wvrum  für  ddum  swerian  vermieden;  versteht  man  aber  die  stelle  wie 
Bugge,  so  muss  man  in  lenge  das  seltne,  mit  ^eZeii^c  und ^eJan^  gleich- 
bedeutende adjectiv  erkennen ,  das  in  derselben  bedeutuug  praesto  einmal 
im  Crist  (1G85  kirn  hid  lenge  hnsel)  vorkomt,  und  man  muss  übersetzen: 


r 


2üM  BEOWULP  383 

es  war  noch  nicht  vorhanden,  d.  li.  die  zeit  war  noch  nicht  gekommen, 
dass  der  schwerthass  dem  eidam  nnd  schwäher  erwachen  sollte.  J 

4.  Ellengeest  86  neben  dem  sonst  (807.  1349.  1617.  1621)  über- 
lieferten ellorgeest  stehen  zu  lassen  war  meines  bedünkens  eine  überflüs- 
sige gewissenhaftigkeit  der  herausgeber.  Ellen  und  ellor  stehen  sich 
graphisch  so  nahe,  dass  nichts  leichter  geschehen  konte  als  ein  verlesen 
zu  gunsten  des  in  der  poesie  gebräuchlicheren  wortes  eilen,  wodurch  frei- 
lich ein  seltsames  wenig  plausibles  compositum  entstand.  Schlimmer 
war  jedoch  dass  die  deutschen  herausgeber  sowie  Grundtvig,  die  spur 
der  Engländer  verlassend,  hier  sowol  als  bei  dlorgeest  und  wcelgcest 
(1331.  1995)  den  zweiten  compositionsteil  für  Spiritus  nahmen;  und  die 
Schreibung  ellorgast  807.  1621  war  dafür  kein  genügender  grund.  Grein 
war  sogar  consequent  genug,  den  gefrässigen  riesen  auch  102,  wo  er 
als  se  grimnia  gcest  bezeichnet  wird,  zu  einem  geist  zu  stempeln,  wäh- 
rend es  Heyne  hier  beim  gast  bewenden  liess.  Wenn  der  erlegte  nicor 
1441  gryrdic  gyst,  wenn  der  drache  2228.  2312  gyst  und  gcest,  2560 
gryregiest,  2670  inwttgcest,  2699  niägcest  genant  wird,  so  liegt  es  doch 
wahi'lich  nahe ,  jene  bezeichnungen  Grendels  als  eines  fremdartigen  wesens 
von  unbekanter  herkunft  (vgl.  cehvihta  eard  1500)  ebenso  aufzufassen. 
Was  daran  irre  machte  war  die  in  unser  gedieht  eingeflossene  theologi- 
sier^de  auffassung  des  riesen  als  eines  teufeis.  Für  teufel  wie  für  engel 
ist  ^e  theologische  bezeichnung  geister  in  der  angelsächsischen  poesie 
geläufig  genug;  daher  konte  der  interpolator  1265  fg.  ohne  umstände  sagen 
panon  (aus  der  wüste  und,  wie  es  scheint,  aus  Kains  samen)  wöc  fela 
geosceaft  gästa,  w(es  pära  Grendel  sunt,  konte  ihn  1275  hdlegäst,  133, 
(wie  1747  den  wii'klichen  teufel)  wergan  gast  nennen,  während  der  erste 
fortsetzer  1356  fgg.  sich  noch  begnügte,  ihm  einen  Ursprung  von  dyrnum 
gast  um  beizulegen,  womit  seine  materialität  so  gut  wie  die  anderer  teu- 
f eissöhne  der  sage  vereinbar  bleibt. 

5.  Wiht  unhdlo  120  zog  Thorpe  verständig  zum  vorhergehen- 
den satz  und  übersetzte  augM  of  unhappiness;  die  deutschen  heraus- 
gfeber  construieren  es  als  subject  zum  folgenden  satz  und  erklären  „der 
dämon  des  Verderbens."  Nun  heisst  bekantlich  wiht  nicht  dämon,  son- 
dern wesen,  und  dient,  zunächst  nur  mit  beigesetzten  attributen,  erst  in 
der  spräche  des  spätem  mittelalters  ohne  solche,  als  euphemismus  für 
elbe,  teufel  u.  dgl.;  auf  alle  fälle  aber  ist  diese  genetivische  structur 
der  alten  spräche  nicht  gemäss.  Dennoch  wird  man  sich  nicht  geni  bei 
Thorpes  abteilung  beruhigen;  denn  der  satz  sorge  ne  cüäon,  tvonsceafl 
wera  gewint  keineswegs  durch  die  zweite  apposition  wiht  tmhdlo.  Ich 
schlage  daher  vor  zu  lesen  wiht  unfäio  und  verweise  auf  die  von  Grein 

25» 


384  M.   RIEGER 

unter  unfreie  und  tüiht  citierte  glosse  Aelfrics  (Wright,  volume  of  voca- 
bularies  p.  17):  satiri  vel  fauni  vel  scUni  vel  fauni  ficarii  unfdh  men, 
tvuduwäsan,  unfcele  ivihtu  (?  wol  wihta). 

G.     135  fgg.  efl  gefremede 

mordbeala  (lies  -healu)  märe  and  no  mearn  fore 
fdehde  and  fyreiie. 

So  mit  ausnähme  Grundtvigs  die  herausgeber,  ohne  sich  zu  fragen ,  ob 
der  vers  äucli  zwischen  der  präpositiorr  und  ihrem  casus  schliessen  dürfe. 
Sie  wurden  bei  der  sorgfältigsten  Umschau  schwerlich  ein  einziges  siche- 
res beispiel  gefunden  haben.  Man  muss  an  den  versschluss  mit  Orundt- 
vig  ein  komma  setzen  und  fore  adverbial  auf  mordbealu  märe  beziehen, 
zu  welchem  f^Me  and  fyrene  in  apposition  steht. 

7.     159     ceglceca  ehfcnde  wres. 

Hier  setzen  die  herausgeber  [afol]  regheca  um  den  vers  vollständig  zu 
machen.  Gerade  so  gebaut  ist  aber  das  zweimal  vorkommende  hemi- 
stich  secg  hetsta  947.  1759,  auch  wenn  man  auf  die  ältere  ausspräche 
hefista  zurückgeht ,  bei  der  die  beiden  ersten  Silben  zusammen  die  hebung 
ausmachen.  Es  müssen  daher  auch  diese  beiden  stellen  emendiert  wer- 
den, was  Heyne  richtig  erkant  hat.  Nur  dass  seine  aushilfen  wenig 
einleuchten:    1759  sccg  [sc]  hetsta  zu  setzen  ist  doch  allzu  wolfeil  und 

946  fgg.  so  abzuteilen 

Nu  ic  JBeowtilf 

J)eCy  secg  hetsta^  me  for  sunu  wylle 

freogan  on  ferhde 

geht  durchaus  nicht  an ,  da  das  stark  betonte  pec  ebensowenig  im  auf- 
iact  als  das  ebenfalls  stark  betonte  hdsta  in  zweisilbiger  Senkung  (oder 
wenn  man  lieber  will  in  nebenhebung)  stehen  kann.^  Ich  halte  das 
Schema  secg  hetsta  durch  das  doppelte  vorkommen  dieser  fonnel  för 
gesichert,  wenn  es  überhaupt  für  die  möglichkeit  seiner  auftactioseu 
erscheinung  eines  besondern  beweises  bedarf:  denn  mit  auftact  ist  es  ja 
häufig  genug.  Gleicliwol  halte  auch  icli  das  liemistich  cvglceca  für  unvoll- 
stämlig.  Das  logische  Verhältnis  des  satzes  zu  den  voniusgegaiigenen 
negationen,  die  er  in  den  positiven  ausdruck  umsetzt,  bleibt  nicht  gut 
unbezeichnet  und  es  wird  geheissen  haben  ac  sc  (egUeea;  vgl.  739.  JOOO. 
Da  aucli  acheca  geschrieben  wurde,  ist  der  irrtum  des  vorauseileudeu 
Schreiberauges  begreiflich. 

1)  Das  honiistich  pegn  heUtan  1871  bleibt  ]iier  ausser  betracht,  weil  mtn 
auch  fegen  sprechen  koute ;  Jupgstealdra  1889  ist  verstümmelt,  heti  Itealle  1926,  wofür 
Heyne  gut  heä  [on]  heaUe,  wahrscheinlich  aueli. 


ZUM  BBOWULP  385 

8.  183  fgg.  Wä  biä  pcem  pe  sceal 

purh  slidne  nid  säwle  bescufan 
in  fyres  fceäm,  fröfre  nc  ivenan, 
tvihte  gewendan. 

Die  deutschen  herausgeber  nehmen  dieses  gewendan  intransitiv  im  sinne 
von  evadere.  Hierauf  hätte  wol  auch  Thorpe  verfallen  können ;  ihn  hielt 
vermutlich  die  erwägung  zurück ,  dass  ivendan  oder  gewendan  in  diesem 
sinne  nicht  leicht  ohne  bezeichnung  des  zustandes  vorkomt,  aus  dem  oder 
in  den  man  „wendet,"  so  wie  auch  dass  es  sonst  nicht  gerade  vom  ent- 
rinnen aus  einem  zustande  des  zwanges  in  die  freilieit  gilt.  Der  aus- 
druck  erscheint  hier  in  der  tat  viel  zu  schwach.  Thorpes  emendation 
freilich  frofre  ne  wene  wilde  geweordan  ändert  viel  und  schafft  doch 
keinen  gefälligen,  rhetorisch  wirksamen  ausdruck.  Ich  glaube  dass  es 
hiess  wUe  gewendan,  appositionell  zu  frofre  ne  ivenan  construiert  und 
mit  daher  fortwirkender  negation. 

9.  296  fgg.  öd  pcet  eft  hyred 

ofer  lagustreämas  leofne  mannan 
wiulu  wundenhals  tö  Wedermearce, 
gödfremmendra  swylcum  gifede  hid, 
peet  pone  hilderces  hol  gediged. 

Der  ausdruck  ledf)ic  mannan  ist  hier  ganz  generell  und  gelit  auf  jedes 
mitglied  der  schiftsmannschaft ,  wie  in  unsrer  militärischen  dienstsprache 
der  mann  für  jeder  mann  gilt:  denn  die  vorhergehenden  werte  des  Wäch- 
ters trennen  nicht  etwa  den  führer  vom  gefolge ,  sondern  gehn  durchaus 
auf  und  an  die  gesamtheit  der  ankömling«.  Der  Sprecher  beschränkt 
aber  alsbald  seinen  ausdruck,  indem  er  hinzufügt:  welchem  der  tapfern 
es  zu  teil  wird,  dass  er  aus  dem  kämpfe  heil  davon  komt.  Das  ist  wirk- 
lich so  einfach  wie  möglich  und  wurde  von  Kemble  und  Thorpe  richtig 
aufgefasst.  Grein  aber  zog  vor ,  auf  diese  eine  stelle  ffir  swyle  die  bedeu- 
tung  qiiisque  zu  begründen  und  machte  aus  dem  satz  eine  sentenz:  jedem 
derer,  die  gut  tun,  ist  es  verliehen,  dass  er  aus  dem  kämpfe  heil  davon 
komt:  eine  sentenz,  gegen  die  alle  tapfem  protestieren,  die  je  im  kämpfe 
gefallen  sind ,  und  deren  Verkehrtheit  man  weder  dem  Wächter  noch  dem 
dichter  zutrauen  darf.  Dies  erkante  auch  ohne  zweifei  Heyne;  statt 
aber  zur  richtigen  auffassung  zurückzukehren ,  änderte  er  god  in  gM  und 
erklärte:  einem  solchen  unter  den  kriegern  ist  es  verliehen  usw.  Abge- 
sehen von  der  unnötigen  änderung  ist  auf  diese  art  der  singular  gediged, 
der  aucli  swyleum  zum  singular  stempelt,  unverständlich,  weil  vorher 
von  keinem  einzeln  die  rede  war  und  auch  leofne  tnantian  dem  sinne 
nach  plural  ist. 


386  M.    aiEQEB 

10.  366  fg.  no  pu  him  wearne  geteöh 

pinra  gegncwida  gicedman,  Hröägär. 

So  liest  Heyne  mit  Thorpe  und  Kemble,  und  die  Übersetzung  ist:  ver- 
sage ihnen  nicht  das  vergnügen  deiner  antwort,  oder  appositioneil:  deine 
antwort ,  das  vergnügen.  Grein  zerlegte  gicedman  in  glced  man.  Schwer- 
lich findet  sich  irgendwo  in  ceremoniöser  oder  nur  in  episch  stilisierter 
anrede  eines  höheren  die  allgemeinste  bezeichnung  des  menschengeschlech- 
tes  gebraucht:  denn  mon  se  mcbra  Cri.  441  geht  auf  den  menschen  in 
geliere,  der  als  der  geistbegabte,  zur  Seligkeit  bestirnte  se  mdra  heisst, 
nicht  auf  einen  vornehmen,  dem  Cynewulf  das  werk  gewidmet  hätte. 
Aber  auch  gicedman  ist  vom  übel.  „Das  vergnügen  deiner  antwort" 
ist  eine  französisch  stilisierte  formel  moderner  höflichkeit,  die  sich  hier 
sehr  fremdartig  ausnimt;  und  gicedman  als  apposition  wäre  gar  zu  unbe- 
holfen. Es  verdient  alle  beachtung,  dass  bei  Tkorkelin  glcednian  steht, 
was  die  unanstössige  Übersetzung  ergibt:  versage  ihnen  nicht  sich  deiner 
antwort  zu  erfreuen.  Leider  erfährt  man  durch  Grundtvig  hier  nicht 
wie  Thorkelins  abschriften  lesen. 

11.  An  zwei  stellen  des  Beowulf,  368  und  2636  finden  sich  in 
composition  mit  ivig  und  güd  die  formen  gcfawum  und  getawa  statt  der 
gewöhnlichen  gcatwum  und  geativa.  Grein  erkent  in  seinem  Glossar  mit 
hinweis  auf  ahd.  gazaiva  ein  von  gcafve  verschiedenes  getave  an;  Heyne 
setzt  an  beiden  angeführten  stellen  die  gewöhnliche  form.  Die  in  der 
mitte  stehende  form  geataivum  395  wird  auch  von  ihm  geduldet.  Gerade 
diese  muss  emendiert  werden,  freilich  nicht  in  gcatwum,  sondern  mit 
EttmüUer,  Grein  ^  und  Bugge  in  gctatvum,  denn 

nü  ge  moton  gangan  in  eowrum  ffüdf/eataivum 

ist  ein  unrichtiger  vers:  das  zweite  hemistich  kann  nicht  zwei  reimstäbe 
haben,  wenn  das  erste  nur  einen  hat.  Durch  diesen  vers  wird  die  form 
gefaw  (nicht  gefawe,  denn  die  llexion  ist  ja  stark)  =  ahd.  gazawa,  mhd. 
gezauwe,  allem  zweifei  entrückt;  aber  da  sie  genau  in  derselben  bedeu- 
tung  und  demselben  gebrauch  erscheint  wie  die  häufigere  geatu  (nicht 
geattve,  was  wider  schwache  flexion  voraussetzen  würde),  so  wird  es  aucli 
höchst  wahrscheinlich,  dass  wir  in  ihr  nichts  als  eine  transpositiou  von 
getaw  vor  uns  haben.  Kundigere  werden  hiefär  analogion  aus  deutschem 
Sprachgebiete  beizubringen  wissen. 

12.  Mit  dem  sinne  der  verse  445**  —  451  steht  es  nicht  so  schlimm 
als  MüUenhoff  (Zeitschr.  f.  d.  a.  XIV,  199)  meint;  nur  darf  man  ymb 
mines  lices  feorme  nicht  mit  den  deutschen  herausgebern  erklären  „um 
meines  leibes  unterhalt,'^  noch  auch  mit  den  englischen  „um  meinen 
leichenschmaus."    Beowulf  sagt:    „ich   denke,   Grendel  wird,   wenn  er 


ZUM  BBOWOLF  387 

kann,  es  den  Geaten  machen  wie  früher  den  Dänen.  Nicht  darfst  du 
mein  haupt  (im  grabhügel)  bergen,  sondern  er  wird,  wenn  ich  sterbe, 
mich  haben,  er  trägt  die  blutige  leiche  davon,  denkt  sie  zu  kosten,  frisst 
sie,  der  eingänger,  ohne  bedauern,  zeichnet  (mit  seinem  tritt?  mit  mei- 
nem blute?)  die  mörhöpu:  nicht  darfst  du  um  die  verzehrung  meiner 
leiche  länger  sorgen."  Hrodhgar  hätte  nämlich  sonst  dafür  zu  sorgen, 
dass  die  leiche  seines  gastes  vom  feuer  verzehrt  würde:  dieses,  ^.gcesta 
gifrost  (1123),  kann  sehr  gut  als  eine  leiche  feormiend  gedacht  und  mines 
Uces  feorm  daher  für  „mein  leichenbrand**  gesagt  werden,  ebenso  gut 
aber  auch  für  eine  andre  art  der  verzehrung ;  und  das  ironische  spiel  mit 
diesem  doppelsinn  scheint  mir  von  guter  poetischer  Wirkung.  Ich  bezweifle 
ob  mines  Uces  feo^'ni  überhaupt  heissen  könne  „meines  leibes  nahrung"; 
denn  lic  ist  doch  immer  nur  der  körper  als  haus  oder  Werkzeug  der 
seele,  im  unterschiede  von  ihr  gedacht,  nicht  aber  der  belebte  Organis- 
mus als  sojcher;  und  tätige,  freiwillige  functionen  desselben  werden,  so 
viel  ich  sehe,  nie  dem  lic  zugeschrieben.  Man  vergleiche  übrigens  die 
widerkehr  desselben  gedankens  bei  Äscheres  tod  2124  —  28. 

13.  Geofon  0tim  weöl  tvintres  wyhn,  wie  515  fg.  überliefert  ist, 
heisst  entweder  mare  undis  aestuabat,  hiemis  aestus  oder  undis  mari- 
nis  aestuabat  hiemis  aestus.  Die  letztere  auffassung  ist  verzwickt  wie 
die  crstere;  zu  ihren  gimsten  jedoch  verschmähen  die  deutsclien  heraus- 
geber  Thorpes  unschuldige  hessornng  tvylme ,  mittelst  der  man  übersetzen 
kann  mare  undis  aestuabat,  hiemis  aestu.  Ich  erinnere  daher  an  1131 
holm  storme  tveöl,  1423  flöd  blöde  weöl,  2139  holm  heölfre  weöl  und 
Andr.  1548  flöd  i/dum  tveöl,  wodurch  die  fügung  geofon  ydum  iveöl  hin- 
länglich gestützt  scheinen  dürfte ;  und  hofl'entlich  wird  niemand  die  Über- 
lieferung dennoch  halten  und  tvintres  wtjlm  in  apposition  zu  geofon  brin- 
gen. Es  versteht  sich,  dass  dann  auch  iveöl  nicht  zu  v.  516  gehören 
kann ,  wo  es  die  allitteration  unschön  überlädt.  Wegen  des  vom  Schrei- 
ber unterdrückten  auslautenden  e  s.  unten  §  33. 

14.  574  hwceäere  me  gesMde  pcet  ic  mid  sweorde  ofslöh. 

Hier  schlägt  Bugge,  weil  durchaus  kein  gegensatz  zu  dem  vorhergesagten 
stattfindet,  zu  lesen  vor  swä  pcer  me  gescblde.  Dadurch  wird  zugleich  die 
anomalie  der  zwei  reimstäbe  im  zweiten  halbvers  auf  einen  im  ersten  besei- 
tigt, freilich  nur  um  den  mindestens  sehr  seltnen  fall  von  vier  gleichen  reira- 
stäben  herzustellen.  Grundsätzlich  erscheint  dieser  fall  indess  nicht  unzu- 
lässig ,  da  zwei  paar  ungleicher  reimstäbe  in  der  Stellung  ab  ab  oft 
genug  vorkommen,  im  Beowulf,  wenn  ich  nicht  irre,  64  mal.  Für  den 
Schwerpunkt  des  verses,  der  nach  dem  gefühl  der  alten  durch  zwei  reim- 
stäbe im  zweiten  halbvers  auf  einen  im  ersten  nachteilig  verrückt  wurde, 


388  M.    RIEGER 

kann  es  nichts  ausmachen ,  ob  vier  gleiche  oder  zwei  paar  ungleiche  auf 
beide  vershälften  gleich  verteilt  werden.  Die  beispiele  des  erstem  fal- 
les  im  Beowulf  hatBugge  s.  61  gesichtet:  nachdem  mehrere  durch  emen- 
dation  beseitigt  sind,  bleibt  ihm  ausser  dem  obigen  nur  noch  übrig 

1351     idese  onltcnres;  oäer  earmsceapen. 

Ein  drittes  unverdächtiges  beispiel  ist  jedoch 

221)6     hat  and  hreölimdd  Jddiv  (hs.  hlcewum)  oft  ymbehwearf. 

Wie  Bugge  574^  dadurch  entschuldigt  finden  kann,  dass  s  hier  in 
zweierlei  consonanten Verbindung  auftritt,  und  1351  dadurch,  dass  hier 
vocale  allitterieren ,  verstehe  icli  nicht. 

Darüber  spricht  sich  Bugge  nicht  aus,  welche  bedeutung  das  swä 
seiner  cmendation  in  574  haben  soll.  Sicher  keine  andre  als  „obgleich," 
unter  ersctzung  des  punktes  nach  nicaras  mgene  durch  ein  komma.  Nur 
so  erhält  man  eine  richtige  gedaukenfolge.  Die  ganze  erzählung  wird 
von  Müllenhoff  beanstandet,  der  nach  549  den  dichter  mit  hwcedcrc 
icfärafcng  578  fortfahren  lässt,  das  zwischenliegende  dem  interpolator 
auf  rechnung  setzend.  Ein  liauptgrund,  den  er  liiefür  beibringt,  der  575 
erwähnte,  aber  nach  539  fgg.  vom  dichter  niclit  beabsichtigte  nichsen- 
kampf  ist  indess  niclit  stichhaltig:  denn  niveras  sind  dieselben  weseu, 
die  540  hronflras  und  549  mercflxas  genannt  werden.  Fisch  ist  nur 
ein  tier,  das  im  wasser  lebt:  daher  bezeichnet  walfisch  ein  Säuge- 
tier, dessen  natur  doch  den  Seefahrern  aller  Zeiten  bekant  war;  daher 
die  beschreibung  des  ior  im  runenlied  als  mflva  smn,  der  doch  sein  fiit- 
ter  auf  der  erde  sucht  und  eine  mit  wasser  umgebene  wohnung  hat. 
Daher  denn  auch  die  nlceras ,  nach  denen  Grendels  see  nicera  tnere 
heisst  (845),  ihre  häuser  (1111)  oder  höhlen  am  lande  haben  und  on 
mfshlcodum  liegend  angetroffen  werden  (1427),  dann  aber  ins  wasser 
springen  (hie  on  wc(j  hruron  1430),  worauf  einer  von  ihnen  im  schwim- 
men geschossen  wird.  Ganz  falsch  wird  nicor  von  Grein  (in  der  Son- 
derausgabe) und  Heyne  mit  Wassergeist  glossiert:  sie  haben  mit  den  nich- 
sen  oder  necken  unsrer  sagen  nichts  zu  tun.  In  althochdeutschen  glos- 
seii  wird  crocodUiis  mit  nihlnis  widergegeben,  im  heutigen  Isländisch 
gilt  nih'  für  hlppopotamus  (Myth.  456);  und  so  werden  die  niceras  143<f 
von  den  vorher  erwähnten  wyrmas  oder  sddracan  als  wildeor  unter- 
schieden, wie  auch  1510  unter  sredcor  verstanden.  Es  sind  offenbar 
wirkliche  seetierc  gemeint,  und  der  ganzen  fanfcistisch  ausgebildeten  Vor- 
stellung wird  am  ende  das  walross  zu  gründe  liegen,  wozu  die  1511 
erwähnten  hildefuxas  passen.  Die  niceras  sind  boshafte  feinde  der  men- 
schen, J)ä  on  nndernmS  off  bcwitiffad  sorhfulne  sht  on  se(jlräde  (1428 fg.): 
und  eben  das  wird,   zum  erweis  ihrer  Identität  mit  den  später  erwähn-* 


ZUM  BEOWÜLP  389 

ten  niceraSf  bei  den  von  Beowulf  erlegten  meerfischen  vorausgesezt : 
ptet  syädan  na  ynih  brontne  ford  brinüiäende  lade  nc  letton  (567  fgg.)» 
Aber  auch  was  Beowulf  bei  der  ersten  erwähnung  eines  nichsenkampfes 
123  sagt  wrcec  Weder a  nid  (weän  ähsodon)  wird  dadurch  klar:  des 
beiden  landsleute  hatten  bei  der  seefahrt  durch  die  nichse  schaden  gelit- 
ten. Orkn  ist  nordisch  phoca,  aber  112  werden  orcneas  auf  eine  linie 
mit  eotenas  und  ylfe  gestellt.  Man  sieht  daraus  wie  die  seetiere  zu 
fabelwesen  werden;  und  als  solche  heissen  die  orcneas,  wie  es  scheint, 
auch  niceras,  Bekant  ist  der  mut  der  walrosse  und  ihre  gefährlichkeit 
für  kleine  fahrzeuge. 

Kann  die  erzählung  550  —  77  wegen  der  nichse  nicht  angefochten 
werden,  so  halte  ich  um  so  gewisser  die  zuletzt  besprochene  stelle 
419  — 2^)  für  eine  Interpolation.  Der  hier  erwähnte  nichsenkampf  muss 
denn  doch,  wenn  das  gegenteil  nicht  ausdrücklich  gesagt  wird ,  für  iden- 
tisch mit  dem  später  erwähnten  gehalten  werden:  hier  aber  heisst  es 
von  den  Geaten,  dass  sie  es  selbst  gesehen  hätten,  wie  Beowulf  aus  dem 
kämpfe  kam  (419),  während  er  nach  580  bei  den  Finnen  ans  land  stieg, 
also  erst  nach  längerer  reise  die  Geaten  wider  erreichen  konte.  Es  ist 
klar,  dass  der  interpolator  hier  einer  abweichenden  tradition  folgt  und 
die  erzählung  550 — 77  nicht  im  äuge  hat,  in  welcher  auch  für  5  gebun- 
dene feinde  (420)  —  niceras  nämlich  —  entschieden  kein  räum  ist. 

15.  525  ponne  wene  ic  tö  pe  wyrsan  gepingea. 

Hier  müste  der  gen.  plur.  gepingea  von  dem  gen.  sing,  wyrsan  in  der 
weise  abhängen ,  wie  dieser  casus  sonst  nur  zum  Superlativ ,  nicht  zum 
comparativ  construiert  wird.  Es  liegt  am  nächsten,  hier,  wie  398  und 
709,  gepimjcs  zu  lesen;  wem  dies  nicht  gefällt,  der  setze  für  wyrsan 
den  gen.  plur.  wyrsa,  lasse  aber  den  dichter  nicht  pejoris  constitutorum 
i>tatt  pejoris  constituti  sagen. 

16.  Die  stehende  formel  Beöwtdf  madeldde,  bcarn  Ecgpeöwes  ist 
631,  nachdem  die  folgende  rede  Beowulfs  schon  zu  voller  genüge  ein- 
geleitet worden,  ganz  gewiss  nur  als  eine  einschaltung  zu  betrachten, 
dm'ch  die  ein  Schreiber  überflüssiger  weise  für  die  deutlichkeit  sorgen 
wollte. 

17.  848  fg.     atol  yäa  geswing  eal  genienged 

hat  on  heolfre. 
Hier  hat  Grein  in  seiner  ersten  ausgäbe  die  auf  der  band  liegende ,  ganz 
unbedenkliche  besserung  hätan  heolfre  vollzogen ,  sie  aber  in  der  zweiten 
wider  zurückgenommen,  nachdem  Heyne  ihm  nicht  darin  gefolgt  war. 
Wer  je  Thorkelins  druck  aufgeschlagen  hat  weiss,  dass  aus  der  band- 
Schrift  durchaus  keine  wortabteilung  zu  entnehmen  ist;  und  wenn  man 
dazu  308    ongyton  für  ongytan,   577  mannon  für  nmnnan,   788  hafton 


390  M.   RIEOEB 

für  lueftan  als  handschriftliche  lesart  bemerkt  findet,  so  kann  die  Schrei- 
bung hat  o?^  far  haian  gar  kein  bedenken  erregen.  Oder  hätte  am  ende 
der  dichter,  'wenn  er  in  ungeheuerlicher  fantasie  annahm  das  wasser  des 
sees  sei  durch  das  beigemischte  blut  heiss  geworden,  in  einer  so  wun- 
derlichen prolepsiö  der  Wirkung,  wie  sie  in  jenem  hat  on  lieolfre  läge, 
eine  rhetorische  Schönheit  gesucht?  Das  wäre  denn  doch  durch  ähnliche 
talle  wahrscheinlich  zu  machen. 

18.  867  fgg.  hwilum  Cyninges  pegn, 

gunia  gilphlceden  gidda  gemyndig, 

se  pc  ecdfela  ealdgcsegefia, 

warn  gemunde,  tvord  öder  fand 

soäe  gebunden,  secg  eft  migan 

sid  Bcowidfes  snyttrum  styrian. 
Das  scheint  doch  auch  für  einen  interpolator  zu  ungeschickt  ausgedrückt. 
Dass  einer  ein  anderes  wort  oder,  nach  Heyne,  andre  werte  findet, 
wenn  vorher  gar  nicht  gesprochen,  sondern  um  die  wette  geritten  wor- 
den, ist  unsinn;  es  ist  auch  dann  verkehrt,  wenn  man  das  Wettrennen 
übersehend  an  das  vorausgegangene  gespräch  über  Beowulfs  heldengrösse 
denken  will,  denn  es  ist  nur  wider  dasselbe  thema,  was  der  Sänger 
vorbringt.  Ich  habe  schon  in  meinem  lesebuche  die  werte  word  öder 
fand  söde  gebunden  mit  recht  als  eine  parenthese  bezeichnet:  „ein  wort 
fand  das  andre,  richtig  gebunden;"  denn  der  mann  erzählte  nicht  nur, 
sondern  er  trug  (wie  die  ausdrücke  872  —  74  deutlich  verraten)  mit  epi- 
scher kunst  vor,  d.  h.  in  allitterierenden  versen,  wofür  wir  in  jener 
parenthese  eine  interessante  technische  bezeichnuug  finden.  Noch  aber 
bleibt  der  satzbau  unerträglich  unbeholfen,  wenn  wir  nicht  dem  ganz 
müssigen  und  leeren  secg  das  hier  so  nahe  liegende,  den  epischen  Vor- 
trag ebenfalls  technisch  bezeichnende  secgan  unterschieben.  Unser  Schrei- 
ber oder  einer  seiner  Vorgänger  hat  fehler  in  den  text  gebracht ,  die  sich 
nur  aus  dem  vorfinden  einer  abkürzung  für  aw  erklären:  158  banum  für 
hanan,  2821  gumiim  für  gunuin;  ein  abkürzungszeichen  aber  konte  so 
gut  übersehen  wie  verlesen  werden. 

19.  985  fgg.  wccs  steda  ncegla  gchwgic  style  gdicost 

hcedenes  handsponi  hiUlerinccs 

egl  unheöru. 
Was  mau  hier  aus  steda  zu  machen  habe  lasse  ich  dahin  gestellt^ 
gestehe  jedoch,  dass  mich  weder  tireins  noch  Heynes  auslegung  ganz 
befriedigt.  Für  handsporu  dagegen  bessere  ich  mit  Zuversicht  handspcru. 
Die  urkundliche  lesart  besagt  nicht,  wie  Heyne  will,  calcaria  manus, 
sondern  vestigla  manus,  was  keinen  siim  hat;  Grein  setzt  dafür  Jia$id^ 
spora  =-  calcar  manus,  aber  welch  ein  verkehrtes  bild  wäre  das!  um  so 


ZUM  BEOWULP  891 

beissen  zu  können  müste  solch  ein  nagel  an  der  handwurzel  heraus- 
gewachsen sein.  Egl  nehmen  dann  beide  herausgeber  als  das  Substantiv 
für  palea  und  es  soll  die  kralle  bedeuten ,  die  unter  dem  bild  einer  ähre 
(und  zwar  einer  ausgedroschenen)  bezeichnet  werde.  Das  glaube  wem  es 
gefällt.  Ich  erkenne  hier  weiter  nichts  als  das  unflectierte  adjectiv  egle 
yndestus  mit  vor  vocalischem  anlaut  elidiertem  oder  nur  durch  nachläs- 
sigkeit  der  Schreibung  weggebliebenem  e;  in  unJiedru  folgt  der  flectierte 
nom.  plur.  neutr.  nach. 

20.  1002  fgg.  Nd  pcet  yde  bid 

tö  befleonne      —  fremnie  se  he  wille!  — 

ac  gesacan  sceal      säwlberendra 

nt/de  genydde      niääa  heama 

grundbüendra      gearwe  stowe, 

peer  Ms  lichoma      legerbedde  feest 

swefed  cefter  synible. 
Grein  fand  hier  bei  seinen  englischen  Vorgängern  die  emendation  gesecan 
für  gesacan,  das  in  der  tat  einen  gedanken  von  beleidigender  Unrich- 
tigkeit ergibt.  Denn  nur  wer  des  lebens  überdrüssig  ist,  „erstreitet" 
sich  etwa  den  tod,  den  man  ihm  versagen  will.  Gleich wol  stellte 
Grein  gesacan  wider  her.  Dafür  emendierte  er  in  seiner  ersten  aus- 
gäbe verständig  genyded,  da  wol  der  mensch  durch  not  genötigt  dem 
grabe,  aber  nicht  einem  durch  not  genötigten  grabe  entgegen  eilt, 
und  ergänzte  hinter  säwlberendra  das  augenscheinlich  fehlende  gdiwylc, 
worauf  Heyne  in  beidem  folgte;  aber  in  der  Sonderausgabe  zog  Grein 
beides  wider  zurück  und  Heyne  in  seiner  zweiten  ausgäbe  folgte  auch 
jetzt  wider.  Die  stelle  ist  kaum  und  nur  in  der  gezwungensten, 
unschönsten  weise  im  verstehn,  aber  die  handschrift  ist  freilich  in 
ihre  ehre  wider  eingesetzt.  Ich  schlage  vielmehr  noch  eine  andre 
ergänzung  vor.  Den  satz  nd  paet  pde  bid  tö  befleonne  muss  man 
wol  als  negative  prolepsis  des  folgenden  gedankens  fassen ,  da  es  zu  viel 
zugemutet  ist,  mit  Thorpe  aus  dem  vorhergehenden  aldres  orwena  für 
pcet  den  beziehungsbegriff  tod  zu  entnehmen.  Aber  schwierig  und  unschön 
ist  auch  das.  Es  komt  dazu  die  bedenkliche  magerkeit  des  hemistichs 
tö  bcflcönfie,  in  dem  eine  präposition  die  erste  hebung  tragen  muss.  Man 
ergänze  daher  [dedd]  tö  befleonne;  indem  der  Schreiber  den  letzten  buch- 
stab  von  bid  zog,  konte  er  meinen  schon  am  ende  von  deäd  zu  sein. 
Das  unentbehrliche  geliwylc  aber  wird  man  schicklicher  hinter  den  mit- 
telsten als  hinter  den  ersten  der  drei  tautologischen  ausdrücke  setzen, 
also  hinter  nidda  beama. 

21.  1022  lesen  Eemble  und  Thorpe  hrodenhilte  cumbor,  ein  feld- 
zeichen  mit  verziertem  (wol  mit  getriebenem  metall  umlegtem)  griffe. 


392  M.    BIEGEB 

Grein  und  Heyne  setzen  dafür,  um  einen  doppelten  stabreira  zu  erhal- 
ten, hroden  hiltecumbor,  ein  geschmücktes  feldzeichen  mit  griff.  Besser 
wäre  noch  EttmüUers  hroden  hildecumbor,  das  sich  Grrein  in  der  ersten 
ausgäbe  aneignete.  Ist  denn  das  eine  irgend  erwähnenswerte  eigenschaft 
eines  feldzeichens ,  dass  es  einen  griff  hat?  oder  gar  eines  Schwertes,  da 
Grein,  ich  weiss  nicht  warum,  im  glossar  das  wort  als  ensis  capulo 
instrudus  erklärt?  wäre  es  poetisch,  weil  der  schild  einen  rand  hat,  von 
einem  randscild  zu  reden?  oder  weil  der  löffel  einen  stiel  hat,  von  einem 
stiellöffel?  Und  weshalb  die  analogie  des  ebenso  gebildeten  adjectivs 
wreodenhiU  1698  verschmähen?  —  Dass  übrigens  auch  das  althoch- 
deutsche und  zwar  gerade  in  der  bedeutung, feldzeichen  eine  form  cÄwm- 
par  neben  chumpal  kaute,  geht  aus  dem  von  Grimm  zu  Andr.  4  ange- 
zogenen chumberra  =  tribus  bei  Notker  (Graff4,  405)  hervor;  nur  vom 
feldzeichen  konte  der  heerteil  so  genant  werden. 

22.  Für  das  sinnlose  for  scotenum  1026  haben  Kemble  undThorpe, 
was  jedem  nahe  lag,  for  sceotendum  gesetzt.  Sceotend  (vgl.  Hldbrl.  51)  ist 
nicht  etwa  der  schütze  in  unserm  sinne,  sondern',  da  der  ger  nach  altem 
Sprachgebrauch  geschossen  wird,  der  krieger  überhaupt;  das  wort  komt  noch 
zweimal,  703  und  1154,  in  diesem  werke  vor.  Auch  hier  verschmähte 
Grein  was  die  Vorgänger  boten,  vermutete  dafür  ein  unbelegtes  scotere 
=  sceotend  und  setzte  es  in  seiner  zweiten  ausgäbe  in  den  text.  Heyne 
nahm  scotenum  mit  einer  erklärung  Leos  auf,  wonach  dieses  particip 
nicht  passivisch,  sondern  neutral  zu  verstehn  wäre  und  die  emporgeschos- 
senen, d.  i.  emporragenden,  vornehmen  bedeutete,  eine  bedeatung,  die 
Leo  in  seiner  schrift  Beowulf  (1839)  s.  66  fg.  schon  dem  präsens  sceotend 
beigelegt  hatte.  So  etwas  ist  geschmacksache  und  schwer  damber  strei- 
ten. Ich  will  hier  nur  darauf  aufmerksam  machen,  dass  for  scotenum 
oder  for  scoterum  ein  metrisch  unmögliches  hemistich  ist.  Eine  präpo- 
sition  kann  vielleicht  überhaupt  keine  hebung  tragen,  jedenfalls  keine 
hinter  der  die  Senkung  fehlt ;  ebenso  wenig  kann  eine  bildungs  -  oder  beu- 
gungssilbe  ohne  darauf  folgende  Senkung  die  hebung  tragen,  auch  zu 
ende  des  verses  nicht.  For  scotenum  und  for  scotenum  ist  also  gleich 
unmöglich. 

23.  1030    ymb  pces  hdmes  hrof      heäfodbeorge 

wirum  bewunden  wdlan  ütan  Jieöld, 
Das  schwierige  tvdlan  will  Grein  durch  das  bei  Ulrich  von  Liechtenstein 
vorkommende  femininum  wcele  erklären.  Unter  diesem  hat  man  die 
Vorrichtung  auf  dem  stechhelme  zu  verstehen,  in  welcher  die  zimierde 
befestigt  war.  Sie  ist  bei  Ulrich  von  gold  oder  vergoldet  und  ist  auf 
miniaturen  leicht  an  der  gelben  färbe  zu  erkennen.  Dass  diese  Vorrich- 
tung, die  offenbar  von  ihrer  föcherförmigen  gestalt  (ahd,  wala  =  fldbel- 


ZUM  BBOWUIiF  893 

lum)  deu  namen  hat,  auf  dem  kegelförmigen  helme  der  AugelBachsen  kei- 
nen platz  finden  konte,  ist  wol  klar;  das  angelsächsische  lautgesetz  würde 
ausserdem  die  form  W(ele  verlangen,  und  der  plural,  den  freilich  Grein 
in  zweifei  zieht ,  wäre  ohne  rechtfertigung.  Heyne  bleibt  bei  Bouterweks 
erklärung  (Ztschr.  f.  d.  a.  11,  85)  stehn,  der  hier  das  als  glosse  vor- 
kommende walu  oder  wala  =  vibex  erkent  und  sich  folgendermassen 
auslässt :  „ich  denke  mir,  dass  die  wcUan,  Schwielen,  beulen,  buckeln 
mit  draht  umsponnen  waren  und,  lings  um  den  kegel  des  helmes  ste- 
hend ,  eine  art  kröne  bildeten."  Wem  diese  blos  auf  unsre  stelle  gebaute 
drahtumsponnene  buckelkrone  zusagt ,  der  sollte  doch  überlegen ,  wie  das 
zwiegestaltige  walu  oder  waia  (ebenso  verhält  sich  ^nagu  und  maga 
puer)  zu  der  bedeutung  vibex  gelangt  Gotisch  heisst  valus  gaßdog^  frie- 
sisch walvhcra  der  wanderer  am  stabe ;  angelsächsisch  tvyrtwcda  die  Wur- 
zel, zunächst  doch  wol  der  wurzelstock,  weallwalan  schwerlich  etwas 
anderes  als  die  senkrechten  pfosten ,  welche  die  wand  des  hölzernen  hau- 
ses  bildeten  und  durch  breitgeschlagene  wtras  oder  eiserne  bänder  zusam- 
mengehalten wurden  (Buine  21).  Die  bedeutung  vibex  ergibt  sich  also 
aus  der  bedeutung  stock  oder  rute,  indem  der  strieme  die  spur  oder 
das  abbild  der  rute  auf  der  haut  ist.  Will  man  nun  aus  der  bereits 
übertragenen  bedeutung  strieme  die  abermals  übertragene  einer  metalle- 
neu buckel  folgern,  so  müste  diese  wenigstens  Striemen-  oder  rutenför- 
mig  gedacht  werden,  was  doch  hier  nicht  möglich  ist,  da  der  untere 
cylindrische  teil  des  helmes,  mit  dem  er  auf  dem  köpfe  aufsitzt,  und 
au  dem  Bouterweks  kröne  gedacht  werden  müste,  zu  niedrig  ist,  um  mit 
anderen  als  runden,  höchstens  kleinen  eirunden  buckeln  besetzt  sein  zu 
können.^  Aber  vor  allem  sollte  man  die  werte  yrnb  pces  helmes  hröf 
nicht  übersehen:  sie  sagen  deutlich,  dass  die  walan  an  dem  kegelförmi- 
gen teile  des  helmes  waren,  der  allein  sein  dach  heissen  kann.  Durch 
sie  komme  ich  auf  folgende  Vermutung.  Die  abbildungen  angelsäch- 
sischer helme  haben  zwischen  den  beiden  zum  auffangen  der  hiebe  bestim- 
ten  kämmen ,  die  in  der  spitze  des  kegeis  zusammenlaufen ,  zwei  von  der 
spitze  nach   dem  untern  cylindrischen  teil  herablaufende  bänder,  in  der 


1)  Ich  beziehe  mich  hier  und  im  folgenden  auf  abbildungen  nach  der  Stickerei 
des  teppichs  von  Bayeux  (11.  jahrh.)  bei  Charles  de  Linas,  les  casques  de  Falaise 
et  d'Amferville  (Arras  et  Paris  1869)  p.  27  fgg. ,  insbesondere  auf  den  darunter  befind- 
lichen heim  des  letzten  Siichsenkönigs  Harold;  femer  auf  eine  miniatur  des  Cod. 
Cotton.  Tib.  B.  V.  (Calendarium  „gegen  anfang  des  11.  Jahrhunderts  geschrieben**), 
abgebildet  bei  Strutt  Angleterre  ancienne  (Übersetzung  des  englischen  Originalwerkes» 
Paris  1789)  taf.  IV,  fig.  4.  Sie  stellt  einen  gerschiessenden  behelmten  krieger  dar 
und  gibt ,  wie  es  steint ,  die  einzige  etwas  genauere  Zeichnung  eines  angelsächsischen 
helmes,  weshalb  der  köpf  auch  bei  Linas  gegenüber  s.  6  nachgebildet  ist. 


B94  M.   RIEOER 

weise,   dass  durch  die  kämme  und  bänder  der  heim  in  vier  quadranten 
zerlegt  wird.    Diese  bänder ,  die  bei  genauerer  Zeichnung  mit  nagelköpfen 
besetzt  und  mit  emporgeschlagenen   oder  wulstartig  verstärkten   rändern 
versehen  erscheinen,  kommen  auch  ohne  kämme  vor,  sie  dienen  wol  zur 
Sicherung  der  stellen,  wo  die  beiden  hälften  des  helmes  zusammengenietet 
sind,  oder  sollen  anstatt  der  kämme  die  unmittelbare  gewalt  des  hiebes 
von  dem  helmdach  abhalten.    Auf  diese  bänder  mochten  nun  mitunter 
noch  hölzerne,  mit  draht  umwickelte  stäbe  aufgelegt  werden,  um  jenen 
zweck  noch  wirksamer  zu   erreichen  und  zugleich  durch  den  weicheren 
Stoff  die  erschütterung  des  kopfes  durch  den  hieb  abzuschwächen;    und 
mit  dieser  Vorstellung  dürften  wir  unsre  stelle  übersetzen:  um  des  hel- 
mes dach  hielten  die  hauptberge  mit  drahten  umwunden  stäbe  von  aus- 
sen.   Hauptberge  ist  liiebei  ganz  concret  als  Umschreibung  für  heim  zu 
nehmen;  sie  ist  ebenfalls  gemeint  wenn  es  2559  heisst  biorn  müler  beorge 
hordrnml  onsiväf:    vergl.  licarä   iinder  helnie   342.    404.    2539.    under 
heregnman  396.   2049.  2605.    Für  den  Singular  heold  bei  vorausgehen- 
dem plural  des  subjectes  kann  man   ausser  dem  von  Dietrich  (Ztschr.  f. 
d.  a.  11,  447)  geschützten  hine  sorlnvylmas  lemede  905   noch  auf  2164, 
schwerlich  aber  auf  2719  verweisen. 

24.     1080  fgg.  mg  ealle  foniam 

Finn4is  pegnas,  nemne  feämn  änum, 
pcet  hr  nc  nielite  on  pdm  meäelstede 

wig  Heyigeste  wiJif  gefeMan 

ne  pä  weiüäfe  wuge  forpringan 
pedänes  pegue. 

Grein  und  Heyne  behaupten  auch  hier  das  recht  einer  fehlerhaften  Über- 
lieferung: „Der  krieg  hatte  Fin  so  sehr  geschwächt,  dass  er  gegen 
Hengest  nicht  mehr  krieg  führen  noch  mit  krieg  den  rest  seiner  man- 
nen gegen  ihn  behaupten  konte":  welcher  dichter  in  aller  weit,  wenn  er 
nur  etwas  mehr  kunstgefühl  als  ein  schulknabe  hat^  wird  sich  so  aus- 
drücken? Und  wenn  man  sich  aucli  den  mangel  der  präposition  bei 
Ilengeste  gefallen  lässt,  so  heisst  doch  gefeohfan  mit  dem  accusativ  durch 
fechten  erlangen,  erfechten,  kann  also  nicht  ein  wort,  das  die  handlung 
des  fechtens  ausdrückt,  zum  object  haben.  Dies  alles  würdigend  haben 
daher  die  Engländer  und  mit  ihnen  Grundtwig  wut  für  nug  gesetzt ,  aber 
freilich  damit  den  reim  verloren.  Ich  halte  nocli  jetzt  die  in  meinem 
lesebuch  vorgenommene  emendation  aufrecht  wiht  Ilengeste  wid  gefeoh- 
tan:  „dass  er  nicht  mochte  auf  dem  versamlungsplatze  (wo  sich  die  Par- 
teien jetzt  zur  Unterhandlung  oder ,  je  nacli  umständen ,  ju  neuem  kämpfe 
gegenüber  standen)  etwas  wider  Hengest  erfechten  noch  auch  im  kämpfe 


ZüM  BEOWULF  395 

den  rest  seiner  mannen  vor  Unterwerfung  oder  Untergang  bewaliren"; 
d.h.  weder  einen  vorteil  gewinnen  noch  das,  was  er  noch  hatte,  erhalten. 
25.  Heyne  Iiält  auch  in  seiner  zweiten  ausgäbe  daran  fest,  dass 
1114  fgg.  die  Verbrennung  eines  lebenden  sohnes  der  Hildeburg  zum  sühn- 
opfer  für  den  gefallenen  Hnäf  berichtet  werde.  Wie  wenig  dies  in 
anschauung  und  sitte  des  altertums  begi'ündet  wäre  hat  Bugge  ausgeführt. 
Hievon  abgesehen  spricht  gegen  die  annähme  erstens,  dass  nach  1074 
die  söhne  wie  die  brüder  der  Hildeburg  im  kämpfe  gefallen  waren,  ohne 
dass  eine  ausnähme  gemacht  wird;  zweitens,  dass  ein  solcher  snhnact 
nach  geschlossenem  frieden  nicht  mehr  denkbar  ist,  mindestens  in  des- 
sen bedingungen  hätte  erwähnt  werden  müssen;  drittens,  dass  nicht 
Hengest,  sondern  Hildeburg  selbst  nach  1114  die  Verbrennung  anord- 
net, wozu,  wenn  sie  wirklich  den  Wahnsinn  gehabt  hätte,  den  fall  ihrer 
brüder  auf  diese  art  freiwillig  sühnen  zu  wollen ,  der  vater  Fin  doch  ein 
wort  hätte  mitsprechen  dürfen.  Wir  dürfen  diese  Schauergeschichte  mit 
Thorpe  und  Grein  getrost  aus  dem  texte  tilgen  und  ohne  zweifei  mit 
Thorpe  1115  auch  suna  für  sunu  lesen,  wie  344:  denn  die  sämtlichen 
nach  1074  gefallenen  söhne  müssen  gemeint  sein.  Aber  Bugges  aus- 
legung  von  gudrinc  ästäh,  wonach  hiemit  die  verbringung  von  Hnäfs 
leiche,  die  vorher  (1109)  nur  07i  hcel  gearu  war,  auf  den  Scheiterhaufen 
berichtet  würde ,  wird  mir  durch  den  hinweis  auf  Vaf|)rüdnism.  54  noch 
nicht  geniessbar.  Dass  nicht  guäriuc,  wie  Grundtvig  zu  lesen  glaubte 
sondeni  gudrinc  im  manuscripte  steht,  glaube  ich  gern,  da  der  Schrei- 
ber sonst  niemals  iti  setzt;  aber  dieses  rinc  muss  eben  für  reo  verlesen 
sein :  vgl.  Uredrinc  für  Hrcdric  1 836.  Der  flamme  geht  der  rauch  vor- 
aus; und  dass  dieser  hier,  wo  die  ernte  der  schlacht  eingebracht  wird, 
schlachtrauch  heisst,  scheint  mir  dem  geschmack  dieser  poesie  ganz  zu 
entsprechen ,  zumal  bei  dem  parallelismus  des  gleich  folgenden  ausdruckes 
ivcclft/r.  Nicht  mehr  noch  minder  kühn  ist  die  bezeichnung  wcdrtc 
(2661)  für  den  todbringenden  qualm  aus  dem  munde  des  drachen.  Über- 
dies findet  sich  derselbe  gang  der  beschreibung  bei  Beowulfs  leichen- 
brand  eingehalten:  wudtirec  ästäh  sweart  of  swiodole,  swogende  leg 
3144  fg.  Schwierigkeit  machen  noch  die  werte  earme  on  eaxle.  Nach 
Grein  und  Heyne  soll  man  übersetzen:  das  arme  weib  weinte  an  der 
achsel  (ihres  sohnes,  d.  i.  neben  demselben).  Ich  verstand  in  meinem 
lesebuch  earme  als  apposition  zu  suna:  die  armen  an  die  achsel  (des 
Hnäf);  am  wahrscheinlichsten  ist  mir  jetzt  Thorpes  emendation  earme 
071  eaxe:  die  armen  in  die  asche.  »Die  prolepsis,  dass  noch  vor  anzün- 
dung  des  Scheiterhaufens  von  asche  die  rede  ist,  scheint  unbedenk- 
lich, wo  der  dichter  im  selben  atem  sagt  bänfatu  hcernan  and  on 
hM  don. 


3%  M.    RIEOER 

2G.    Meine  erkläruug  von  1143  fg.  hat  den  beifall  der  herausgeber 
nicht  ge^den.^    Ich  behaupte  auch  jetzt  noch,   einem  ein  schwert  an 
hearm  dön  kann   durchaus   nicht  heissen  ihn  erstechen,  sondern  nur  es 
ihm  auf  den  schooss  legen  und  dadurch  zum  eigentum  übergeben.  Es  ist 
bekant  wie  hcann  geradezu  den   abstracten  sinn   eigentum  oder    besitz 
gewint:  im  Beowulf  findet  sich  dafür  die  stelle  2404.    Das  schwert  aber 
pflegte  dem  sitzenden  beiden  wirklich  auf  dem  schooss  zu  liegen,  daher 
die  gnome   stveord  sccid  on  hearmc  6n.  Cott  25;    und   so  sass  kOnig 
Äthelstan  auf  dem  hochsitz,  als  der  vom  sieg  heimkehrende  Egil  Skala- 
grimsson  sich  ihm  gegenüber  setzte.     Daher  ist   es  auch  ganz  wörtlich 
zu  nehmen ,  wenn  es  von  dem  schwei-te ,  das  Hygelac  dem  Beowulf  zum 
geschenke  macht,  heisst  ß(et  hil  on  Beowulfes  hearm  äiegde  2194.     Dem 
gegenüber  müste  man  denn  doch  die  gewünschte  bedeutung  des  on  bearfn 
dön  ebenfalls   belegen  können,   damit   sie  nur  in  frage  kommen  dürfte. 
Sie  ist  aber  auch   in  sich   höchst  unwalirscheinlich;   abgesehen  von  der 
seltsamen  Umschreibung  für  den  act  des  erstechens  und  der  hierbei  wahr- 
haft matten  anwenduug  des  wertes  dön  ist  der  schooss,   hier  also  doch 
der  Unterleib  eines  sitzenden ,  wahrlich  kein  geeignetes  ziel  für  die  band 
des  mörders.    Freilich  erkläi*t  man  hearm   neben  gremium  schooss  auch 
durch   sinus  busen;   aber  das  ist  eben  nur  lexicographische  begriffsver- 
wirrung:  der  räum  an  der  brüst  oder  die  l)rust  selbst  zwischen  den  aus- 
gebreiteten armen  ist  fredm,  und  hearm  wol  davon  unterschieden.   Thorpe 
hat  jene  von  Kemble  aufgebrachte  auffassung  des  on  hearm  dön  bereits 
zurückgewiesen,  wie  auch  Hmdafhuj  als  den  namen  des  ausgezeichneten 
Schwertes,   von  dem  hier  erzählt  wird,   erkant;   aber  er  irrt,  indem  er 
mit  bezug  auf  abbildungen,    wo  das  schwert  auf  der  brüst  hängt,    on 
heurm  dön  für  das  umgürten   des  Schwertes   zum  kämpfe  und  llenyesi 
für  das  subject,  Jiim  für  reflexiv  nimt.    Das  subject  ist  vielmehr  Pin  und 
Hengest  der  beschenkte.    Dagegen  vermeidet  Thorpe  nocli  einen  andern 
folgenreichen  irrtum,  indem  er  1142  stva  he  ne  forimjrmle  woroldninlefme 
übersetzt  so  he  refnsed  not  worldly  conrerse,  während  die  deutscheu  her- 
ausgeber im  einklang  mit  der  falschen  auflassung  von  on  Ikcarm  don  sieb 
die  Übersetzung  Kenibles   thua  he  aroided  not  death  zu   eigen  machen. 
Forwyrnan  heisst  weder  entgehn,  wie  Grein,  noch  widerstehn,  wie  Heyne 
dieser  einen  stelle  zu  gefallen  annimt,  sondern  verweigern;  ivoroldrtedtti 
könte  allenfalls  den  tod  als  gemeines  weltgesetz  bedeuten ,  muss  es  aber 
nicht,   und  kann  es  nicht  wo  diese  bedeutung  keinen  sinn  ergibt.     Ä<f- 

l)  Grein  allerdings  vcrlmlt  sich  zweideutig:  im  gloHsar  xii  Reiner  Bibl.  erklärt 
er  unter  don  wie  ieh,  während  ihm  UnnWifiiHj  gleiehwol  der  name  des  kriegers  ist. 
dureh  den  Henkest  fällt.  So  aueh  im  ^lossar  zu  dtT  Konderausgabe ,  während  er  hier 
unter  don  schweigt;  unter  hearm  schwei^ft  er  in  beiden  glosnarien. 


ZX7H  BSOWÜLF  397 

den  =  got.  garaideins  ist  hx,  condicio,  pactum,  foedus,  und  bildet  von 
diesen  bedeutungen  aus  zahlreiche  composita;  in  der  composition  mit 
woruld  aber  wird,  wie  so  oft,  der  begriff  nicht  modificiert,  nur  auf  den 
gemeinen  hergang  des  menschenlebens  bezogen.  Es  wäre  also  zu  über- 
setzen: er  verweigerte  nicht  den  in  der  weit  üblichen,  auf  gesetz  oder 
vertrag  beruhenden  verkehr. 

Der  ganze  Zusammenhang  von  1125  an  ist  hienach  folgender:  „Die 
krieger  gingen  da  nach  hause  (dies  ist  der  sinn  von  loica  neösian,  vergl. 
125  und  Güdl.  1339),  ihrer  freunde  beraubt  zerstreuten  sie  sich  in  die 
dörfer  und  die  hauptstadt  von  Friesland.  Hengest  blieb  noch  den  win- 
ter  bei  Fin ;  ^  er  gedachte  der  heimat ,  wiewol  er  nicht  über  meer  fahren 
konte,  da  die  Jahreszeit  es  verwehrte.  Der  frühÜDg  kam,  jeder  gast 
strebte  aus  dem  hause  (wo  er  im  winter  Zuflucht  gefunden);  Hengest 
dachte  mehr  an  listige  räche  als  an  seefahrt^  ob  er  einen  friedensbruch 
herbeiführen  könte,  der  die  fehde  aufs  neue  zum  ausbruch  brächte  und 
gelegenheit  zur  Vernichtung  des  feindes  gäbe.^  Obgleich  er  den  fried- 
lichen, vertragsmässigen  verkehr  nicht  zurückwies,  als  er  (Fin)  ihm 
das  treffliche  schwort  Hunlafing  zum  geschenk  machte  —  dessen 
schneide  war  den  feinden  bekant  wie  auch  der  mut  des  beiden  (der  es 
führte)  —  so  betraf  den  Fin  abermals  der  schlimme  schwertschade  an 
seinem  eignen  wohnsitz,  als  Gudhlaf  und  Oslaf  nach  der  seefahrt  (d.  i. 
aus  Dänemark  neu  angekommen)  den  fall  Hnäfs  feindselig  erwähnten. 
Der  ruhlose  mut  konte  sich  in  der  brüst  nicht  mehr  halten,  der  kämpf 
brach  wider  aus"  usw.  Es  ist,  wie  die  episode  von  Ingeld,  eine  geschichte 
von  der  hinfälligkeit  solcher  friedensschlüsse ,  die  auf  unterdrückter  blut- 

1)  Das  überlieferte  unhlitme  (für  unJdytwe  von  hleötan)  setzt  voraus,  dass  die 
übrigen  Dänen  landloose  bekommen,  also  das  land  mit  den  Friesen  geteilt  hätten, 
während  Hengest  im  condominat  mit  Fin  lebte.  In  den  friedensbedingnngen  ist  von 
einer  solchen  landteilung  nichts  gesagt;  dort  soll  den  Dänen  (deren  nach  dem  liede 
vom  kämpf  in  Finnsburg  v.  40  nur  sechzig  waren)  nur  die  andere  der  in  Finnsburg 
erbauten  hallen  (1086  f.)  eingeräumt  werden.  Auch  erscheint  eine  Zerstreuung  der 
^  beiden  in  das  feindliche  land  aus  gründen  der  klugheit  undenkbar.  Ich  glaube 
daher  dass  1125—27  nur  von  den  Friesen  die  rede  ist  und  nehme  1129  statt  unhlitme 
mit  Grein  eine  widerholung  der  formel  eine  unflitme  aus  1097  an,  deren  sinn  nur 
sein  kann  mit  streitloser,  also  mit  ruhender  tapferkeit,  friedlicher  weise. 

2)  Den  vers  p(et  he  eotena  bearn  inne  gemunde ,  wenn  er  recht  überliefert  ist, 
weiss  ich  nur  als  elliptischen  ausruf  zu  verstehn:  vergl.  Andr.  203.  Sat.  168,  wo  frei- 
lich ein  eälä  vorausgeht.  Die  finale  auffassung:  ,,auf  dass  er  (bei  dem  torngemöt) 
der  feinde  im  Innern  gedächte''  scheint  mir  ganz  unpassend,  denn  das  torngemöt  ist 
vielmehr  eine  Wirkung  des  gedankens,  als  eine  gelegenheit  dazu.  Zulässig  wäre  der 
finale  sinn,  wenn  man  läse:  pat  he  eotena  bearnum  incan  gemundet  denn  hiebe!, 
aber  nicht  bei  einem  persönlichen  object,  ginge  gemunan  ganz  in  die  bedeutung 
lilcisci  über,  vgl.  2391.  2488. 

ZBITSCHR.    F.   DSUTBCHS  PHILOL.    BD.  lU.  26 


398  M.  BIEGEB 

räche  beruhen.  Fin  hatte  nach  1102  den  Huäf  erschlagen;  er  war  durch 
den  vertrag  verpflichtet;  die  Dänen,  die  ihn  nun  als  herren  erkanteiu 
ebenso  wie  seine  Friesen  mit  gaben  zu  bedenken,  und  um  nichts  an  klu- 
ger Versöhnlichkeit  fehlen  zu  lassen,  um  solchen  aufreizungen  vorzubeu- 
gen, wie  sie  2041  fgg.  in  Ingelds  falle  so  lebendig  vorgeführt  werden, 
schenkt  er  dem  nunmehrigen  führer  der  Dänen  das  schwert,  womit  er 
den  frühern  erlegt  hatte.  Hierin  liess  Heugest,  wie  der  dichter  uicht 
ohne  sarkasmus  bemerkt,  den  vertrag  sich  gefallen.  Er  liess  aber,  um 
dessen  bruch  herbeizuführen ,  neue  leute  aus  Hnäfs  mannschaft  von  Däne- 
mark kommen,^  die  nicht  mit  geschworen  hatten,  und  diese  entfachten 
durch  erwähnung  des  grimmen  griflFes  (denn  das  schwert  greift,  s.  1566. 
1765),  den  Fin  duich  Übergabe  des  Schwertes  in  Vergessenheit  bringen 
wollte,  den  streit  von  neuem. 

Die  fragliche  stelle  ist  also  nach  meiner  auffassung  so  zu   inter- 
pungieren : 

Sivä  he  ne  forwyrmle        tvoroldrddenne, 

ponne  him  Hünläßng        hildeleomaUy 

billa  seiest        on  hearm  dyde 

(ßees  ivmon  mid  eotenum        ecge  cuäe, 

sivylce  ferhä  frecan):        Fin  eft  heifcat 

swcordbealo  sliden        ret  liis  seif  es  Itäm, 

siddan  usw. 
Hiebei  ist  eigentlich  nichts  schwierig  als  die  zunmtung,  das  subject  f&r 
dyde  1144  aus  dem  objecte  des  durch  eine  parenthese  getrenten  nach- 
satzes  zu  entnehmen;  aber  icli  berufe  mich  auf  die  für  unkundige  leser 
verwirrende  weise,  Avie  der  zweite  interpolator  in  seinen  episoden  mit 
dem  pron.  pers.  III  umspringt  (vgl.  Ztschr.  f.  d.  a.  XIV,  202.  228),  und 
mache  darauf  aufmerksam,  dass  die  parenthese  selbst  schon  dem  kun- 
digen über  den,  der  das  schwert  schenkt,  keinen  zweifei  lässt.  Die  länge 
dieser  parenthese  darf  keinen  anstoss  geben;  eine  eben  so  lange  findet 
sich  bei  demselben  interpolator  2995  f.  Eotcnas  habe  ich  einstweilen 
stillschweigend  gegen  die  herschende  auslegung  durch  feinde  äbersetzt 
und  gebe  darüber  im  folgenden  paragraphen  auskunft. 

27.  Von  den  riesen,  nord.  iötmir,  ags.  eoterms,  gab  es  zwar  auch 
eine  mildere  und  edlere  Vorstellung;  überwiegend  und  besonders  wol 
durch  die  Verehrung  Thors,  ags.  Thunors,  befördert  ist  die  gehässige. 
Sie  gelten  für  feinde  der  götter  und  menschen;   sie  werden  wegen  ihrer 

1)  Hier  fdUt  ein  Widerspruch  mit  dein  bruchstttcko  vom  kämpf  sa  Finnsburg 
auf,  indem  dort  v.  18  Ordlaf  und  Gudhlaf  sclion  bei  dem  ersten  kämpfe  gegenw&rti|( 
♦erscheinen.  Aber  schon  der  abweichende  name  für  Gudhlafs  geffthrten  deutet  auf 
eine  verschiedene  tradition. 


ZUM  BBOWULF  899 

Wildheit  und  tücke  gehasst,  wegen  ihrer  plumpheit  und  dummheit  ver- 
achtet. Sie  konteu  für  die  christliche  Vorstellung  vom  teufel  so  man- 
chen zug  herleihen.  Wenn  nun  einerseits  die  Völker  für  ihre  Stammväter 
und  ihre  regierenden  geschlechter  göttlichen  Ursprung  annahmen ,  so  muss 
es  ganz  natürlich  und  wahrscheinlich  dünken,  dass  sie  andrerseits  ihre 
feinde  als  riesenbrut  —  gleichbedeutend  mit  teufelsbrut  in  christlichem 
munde  —  brandmarkten.  Im  mund  erschrockener  weiber  und  kinder 
wie  höhnender  krieger  mochten  die  ausdrücke  eotena  heam,  eotena  cyn 
geläufig  werden.  Ein  schritt  weiter  konte  dazu  fuhren,  dass  eoten 
geradezu  für  feind  galt,  wie  umgekehrt  feind  im  christlichen  ideenkreis 
für  teufel  —  besonders  wenn  die  Vorstellung  von  eofenas  im  mythologi- 
schen sinne  schon  verblasste.  Im  Altnordischen  bilden  wenigstens  die 
kenningar  iötunn  vandar  =  gigas  arhoris  für  ventus,  und  iöttinn  hafra- 
kiöts  =-  gigds  carnis  hircinae  für  cerdo,  coriarius  (Sveinb.  Egilss.  lex. 
453')  ein  denkmal  dieses  gebrauches.  Im  Beowulf  aber  zeigt  sich  der- 
selbe ganz  geläufig.^  Im  eigentlichen  sinne  zwar  heisst  es  112  eotenas 
aml  ylfe  and  orcneas,  und  derselbe  sinn  erscheint  in  dem  adjectiv  eoto- 
nisCy  auch  wol  wenn  Grendel  761  als  eoten  (wie  426  dls  pyrs)  bezeich- 
net und  668  Beowulf  gegen  ihn  die  eofonweard  erbietet.  Nun  aber  die 
stelle  419  fgg. 

seife  ofersäwon ,        pä  ie  of  searwum  cwom, 

fäll  from  feömlum,      pdr  (lies  ^eera)  ic  ßfe  gebond, 

j/äde  eotena  cyn        and  on  0um  slog 

niceras  nihtes,        nearopearfe  dreäh, 

wrtec  Wedera  nid        (weän  ähsödon), 

forgrand  gramutn: 
sie  bringt  eotenas  und  fyfid  in  einen  parallelismus ,    der   sie  völlig  als 
Synonyma  erscheinen  lässt,  eben  wie  die  andre  902  f. 

he  mid  eotenum  wearä 

on  feonda  geweald  forä  forläcen. 
Beidemal  ist  nicht  von  riesen  die  rede.  Niceras  sind  halb  tierische ,  halb 
dämonische  ungeheuer,  mit  welchen  die  fantasie  die  gewässer  bevölkerte 
und  die  ganze  fassung  der  stelle,  die  erwähnung  des  von  Beowulfs  lands- 
leuten  erlittenen  und  räche  fordernden  Schadens  nach  den  niceras j 
beweist  dass  die  vorher  erwähnten  feinde  und  eotenas  nichts  von  den 
niceras  verschiedenes  sind,  wie  denn  der  nw?re^a:  oder  wicor  auch  554 /ViÄ 
fedndsceada  heisst.  Die  feinde  und  mörderSigemunds,*  der  hier  wie  beim 

1 )  Vgl.  auch  Leo ,  Beowulf  s.  67.  80  fgg. 

*J)  Ich  interpungiere  und  verstehe  hier  wie  MüUenhoff  Ztschr.  f.  d.  a.  XIV,  202 
und  nehme  den  in  meinem  lesehuch  gemachten  versuch ,  Hereraod  aus  der  stelle  ganz 
zu  beseitigen ,  zurück. 

26* 


400  H.  BIEGER 

drachenkampfe  mit  Siegfried  in  eine  person  vermischt  ist,*  sind  Nibelonge, 
Pi*anken ,  Burgunden ,  wie  man  will ,  nur  keine  riesen  —  und  keine  Jflten, 
welche  den  herausgebem  hier  bereits  herhalten  müssen,  wie  den  engli- 
schen ganz  folgerichtig  schon  883  f. ,  wo  es  von  Sigemund  und  Fitela 
heisst:  hrefdon  ecdfela        eofena  cynnes 

sweordum  gestsged. 
Aber  unter  diesen  erschlagenen  hat  man  sich  doch  wol  Untertanen  Sig- 
geirs  zu  denken ,  der  nach  Völsunga  saga  über  Gatdland  und  nicht  über 
Jotland  herschte;  mit  Grein  und  Heyne  an  riesen  zu  denken  fehlt  jeder 
anlass. 

Ich  komme  endlich  zu  den  stellen  in  der  episode  von  Fin,  die 
durch  die  Übersetzung  von  eotenas  mit  Juten  (die  herausgeber  sollten 
wenigstens  Eotenas  schreiben !)  in  heillose  Verwirrung  gebracht  wird.  Die 
beiden  Völker,  die  hier  auftreten,  sind  nach  der  meinung  des  dichter» 
Friesen  und  Dänen  oder  Scildinge ,  für  die  Juten  ist  schlechterdings  kein 
räum.  Denn  dass  Fin  ausser  den  Friesen  auch  noch  die  Juten  beherscht 
hätte  und  dass  in  den  woi*ten  gewiton  Mm  pä  —  Frysland  geseon  ein 
zweck-  und  sinnloser  Überzug  der  scheinbar  versöhnten  feinde  aus  Jüt- 
land  nach  Friesland  ausgedrückt  sei,  ist  eine  jener  wohlfeilen  auskünfte, 
mit  denen  man  am  ende  alles  ins  geleise  bringen  kann;  schade  nur  dass 
1070  ausdrücklich  gesagt  wird,  dass  Hnäf  in  Frestocele  gefallen  sei. 
Einer  genaueren  betrachtung  ergibt  sich  nun  aber  auch ,  dass  mit  eotenas 
wechselnd  die  beiden  parteien  bezeichnet  werden.  Heisst  es  1071  f.  dass 
Hildeburg  die  treue  der  eotenas  zu  loben  nicht  Ursache  hatte,  so  müs- 
sen die  Dänen  gemeint  sein ,  auf  deren  treue  die  Friesenkönigin  begrün- 
deten anspruch  hatte,  weil  sie  ihnen  von  geburt  angehörte;  dagegen 
sind  ohne  zweifei  1088  und  1141  die  Friesen  gemeint,  die  ja  der  düni- 
sche  Sänger  an  und  für  sich  Ursache  hatte  als  feinde  zu  bezeichnen.  Aber 
wenn  von  Fins  Schwerte,  womit  er  den  Hnäf  erschlagen,  und  von  ihm 
selbst  gesagt  wird  pces  W(Pron  mid  eotenum  ecge  cMe,  stvylee  ferhd 
frecan^  so  ist  hier  offenbar  wider  vom  friesischen  Standpunkt  aus  gere- 
det und  mit  eotenas  die  Dänen  gemeint.  Das  gegenteil  wäre  in  diesem 
Zusammenhang  allzu  matt  und  unbedeutend. 

Der  volksname  der  Juten,  von  dem  im  Wandrersliede  die  form 
Ytum,  in  der  angelsächsischen  chronik  a.  449  Jotum,  Jutumnni  Jutna, 
in  Alfreds  Beda  4,  16  Eota^  nach  dem  Cod.  Bened.  aber  Ytena  vor- 
komt,  konte  allerdings,  wie  man  aus  Jutna  und  Yfena  sieht,  schwach 
flectiert  werden,  und  er  komt  so  im  Beowulf  wirklich  einmal  vor:  Oeatena 

1)  Wenn  nicht,  wie  ich  geneigt  bin  zu  glauben,  884  Sigemunde  nur  durch 
einen  fehler  der  i\berlieferung  für  Sigeferäe  steht. 


ZUM  BBOWULF  401 

leöde  =  Itdarum  getUües  ist  dem  Schreiber  443  für  Oeäta  leöde  in  die 
feder  gekommen.  Hieran  siebt  man  jedoch,  dass  er  den  anlaut  des 
namens  bereits  consonantisch  auffasste  ^  und  bei  der  form  eotena  nicht 
an  Juten  denken  konte.  Ein  weiter  und  durch  nichts  belegter  schritt 
ist  dann  aber  noch  von  Eötan  zu  der  hybriden  bildung  Eotenas,  die 
durch  den  dativ  eotenum  gefordert  wird.  Man  müste  sich  dabei  auf  die 
altnordische  analogie  von  gumnar,  gotnar,  skatnar  neben  guniar,  gotar, 
skatar  von  gumi,  goti,  skati  berufen;  da  aber  im  Altnordischen  die 
schwache  flexion  des  plurals  durch  die  starke  verdrängt  ist,  so  hat  die 
analogie  wenig  wert.  Wir  haben  in  jenen  beispielen  reste  der  schwachen 
flexion,  die  sich  dadurch  erhielten,  dass  sie  sich  mit  der  herschend 
gewordenen  starken  verbanden ;  im  Angelsächsischen  war  bei  ungefUhrde- 
tem  bestände  der  schwachen  flexion  hiezu  keine  veranlassung. 

28.  1247  f.    ptet  hie  oft  wtBron  an  wig  gearwe 

ge  cet  häm  ge  an  herge  ge  gehwceder  pära. 
„Sowol  zu  hause  als  im  felde  als  in  jedem  von  beiden  fällen":  dieses 
logische  cuiiosum  haben  nach  Ettmüller ,  der  das  störende  dritte  ge  aus- 
warf, merkwürdiger  weise  die  herausgeber  wider  sorgfältig  aufbewahrt. 
Im  gründe  ist  kein  wort  darüber  zu  verlieren.  Man  beachte  nur  den 
unterschied  des  scheinbar  ähnlichen  falles  581  fgg.,  wo  das  auf  Hunferdh 
ilochmals  zurückblickende  tie  gehwceder  incer  einen  gewissen  huraor  hat. 

29.  1278  hat  schon  Ettmüller  die  notwendige  und  auf  der  band 
liegende  emendation  mit  einem  fragezeichen  an  den  rand  gesetzt;  das 
sprachwidrige  compositum  peodtvrecan  hat  sich  aber  bis  jetzt  in  allen 
texten  und  glossarien  behauptet,  obwol  Gramm.  2,  582  fgg.  das  nötige 
darüber  zu  finden  ist.  Zum  überfluss  verweise  ich  daher  noch  auf  eine 
stelle,  wo  die  emendation  ihre  bestätigung  findet:  2119  heisst  es  von 
Grendels  mutter  stdode  sorhfuU;  sunu  deäd  fornam,  mit  andrer  fügung, 
aber  deutlicher  reminiscenz  der  werte  sorhfulne  siä,  suna  deäd  wrecan, 

30.  1290  f.  heim  ne  gemunde, 

hyrnan  side  pä  hine  se  hroga  angeat 
Grein  hat  in  seiner  ersten  ausgäbe  die  besserung  pe  für  pä  wenigstens 
frageweise  vorgebracht;  in  der  zweiten  und  bei  Heyne  ist  sie  unbegreif- 
licher weise  nicht  zu  finden.  Ohne  sie  hat  gemunde  kein  subject  und 
der  satz  keinen  sinn.  Dieselbe  relativische  structur,  die  hier  herzustel- 
len ist  und  die  jeder  leser  des  Heljand  aus  dessen  erstem  vers  im  gedächt- 
nis  haben  muss,  begegnet  auch  1436  J5e  hine  swyJt  fornam -=  quem  nex 

1)  Wie  schon  Alfred,  in  dessen  Beda  I,  15  Geata  Geatum  und  in  dessen  Oro- 
sins  GotlcMd  steht,  beides  verschrieben  für  Geota  Geotum  und  GeotJandj  aber  den 
anlaut  g  bestätigend. 


402  M.   RIEOEB 

consimipsit;  ferner  Wids.  133  sepe  him  god  syleä=^  cui  deus  largitur,  and 
Wand.  10. 

31.  Dem  vers 

1903  yrfeläfc.  (rcwät  him^  on  yiacan 
fehlt  die  allitteration.  Grein  half  ihm  durch  die  ergänzung  on  [0J  nacan  aof 
und  fand  darin  Heynes  beifall.  Es  ist  aber  nichts  nötig  als  das  auslau- 
tende n  von  nacan  zu  streichen:  (jewät  him  on  naca  ist  einer  der  nicht 
häufigen  fälle  von  rein  adverbialem  on,  wie  man  sie  in  Greins  glossar  2, 
339  verzeichnet  findet.  Ein  andrer  fall  ist  2523  forpon  ic  me  on  hafu 
hord  aml  bf/nian,  wo  man  mc  nicht  als  abhängig  von  on,  sondern  als 
freien  dat.  commodi  wie  dort  him  fassen  muss,  wie  man  auch  im  alten 
und  neuen  deutsch  kleider  nicht  an  sich,  sondern  an  hat.  Überflüssi- 
ges n  hinter  dem  auslaut  a  findet  sich  noch  375  und  2769. 

32.  In  die  episode  von  Thri/(to,  der  gemahlin  Oifas,  ist  durch  das 
zutun  mehrerer  allmählich  licht  gekommen ;  doch  wird  noch  immer  wider- 
holte betrachtung  einiges  erhellen  können. 

Den  vermeintlichen  namen  Mddprf/äo  1931  betrachte  ich  nach  dem, 
was  MüUenhoif  Ztschr.  f.  d.  a.  14,  216  darüber  gesagt  hat,  als  abgetan. 
Aber  mod  kann  nicht ,  wie  MüUenhoff  meint ,  ohne  weiteres  für  zorn  oder 
hochmut  stehn.  Es  kann,  an  sich  neutral,  beide  begriflFe  vertreten, 
wo  sie  sich  aus  dem  Zusammenhang  ergeben;  ein  solcher  Zusammenhang 
ist  aber  hier  nicht  vorhanden,  und  wäre  er  vorhanden,  so  würde  sich 
der  satz  mod  pr(/do  waeg  doch  mit  nichts  auf  ilm  beziehen.  Er  ist  so 
unmöglich  wie  ein  lateinisches  animnm  habere  ffir  superbire,  und  der 
unvermittelte  anhang  firen  ondn/sne  bessert  nichts.  Hier  war  Grein  auf 
dem  rechten  wege,  als  er,  noch  in  der  meinung  Hygd  sei  subject  und 
mödprydo  object,  in  seinem  glossar  das  compositum  fren-ondrysne  mit 
der  bedeutung  nimis  ferribiUs  ansetzte ;  nur  hätte  er ,  statt  firen  mit  dem 
folgenden  wort  in  wenig  wahrscheinlicher  weise  zu  verbinden,  firenum  » 
lalde  emendieren  sollen.  Da  3139  ganz  unzweideutig  hdm  fQr  helmum 
steht,  wie  umgekehrt  2296  hlmvum  für  hlcbwy  so  darf  man  annehmen, 
dass  in  einer  vorläge  -um  sich  öfter  abgekürzt  fand  und  der  Schreiber 
das  zeichen  sowol  übersehen  als  zu  sehen  glauben  konte.  Man  hat  also 
zu  übersetzen:  aninmm  Thryda.  habebat  valde  terribilem. 

Aus  fremu  1932  wird  ein  adjectiv  frcme  =  fram,  from  entnommen. 
Aber  dieses  beispiel,  wie  eine  königin  nicht  sein  soll,  kann  unmöglich 
mit  den  werten  uHlis  po/ndi  regina  eingefülirt  werden.  Es  ist  etwas 
ganz  anderes,  wenn  Heremod,  das  entsprechende  beispiel  eines  königs, 
1715  mcere  peoden  heisst:  damit  wird  nur  seiner  königlichen  würde  ehre 

1)  Bei  (^rein  steht  in  beiden  ausgaben  durch  versehen  Jte  för  hm  des  mior. 


ZUM  BEOWULF  403 

erwiesen.  Das  einzige  beispiel,  das  Grein  ausser  dem  fraglichen  für  das 
iiijectiv  freme  =  fram ,  /ro/w  verzeichnet,  ist  nur  scheinbar :  denn  wenn  Gen. 
2828  fgg.  gott  von  dem  verheissenen  Isaak  sagt:  ic  päm  magorince  mine 
sylle  godcunde  gife  gästes  miJdum,  freöndsped  fremtim,  so  hat  man  in 
fremunu  lediglich  den  instrum.  plur.  von  fremu,  heneficmniy  conmiodum 
zu  erkennen.  Nach  1949  fgg.  und  nach  der  erzählung  des  Matthaeus  Pari- 
siensis  dürfte  man  fremde  folces  cwen  zu  lesen  erwarten ;  aber  ich  denke, 
fremu  ist  ganz  richtig,  und  verrät  uns  in  freme^  got.  framjis  ein  älteres 
und  einfacher  gebildetes  synonym  von  fremede,  fremde  y  got.  framapis, 
das  vielleicht  Wörterb.  4,  125  mit  einigen  neuhochdeutschen  beispie- 
len  bezeugt  ist:  denn  wenn  mitten  in  correcter  Schriftsprache  fremh  mit 
den  cass.  obl.  fremem  und  frenieii  vorkomt ,  so  dürfte  darin  kaum  mund- 
artliches frcmm  =  fremde  zu  erkennen  sein. 

Was  mit  den  werten  cefter  mundgripe  gemeint  ist,  scheint  mir  noch 
nicht  recht  verstanden  zu  sein.  Wäre  es  etwa:  nach  dem  handgriff  der 
Schergen,  welche  die  fesseln  anlegen,  so  begrifle  man  nicht  recht,  warum 
der  unglückliche,  der  die  königin  anzusehen  gewagt,  sich  1936  nur  auf 
fesseln  und  nicht  gleich  auf  den  tod  gefasst  macht.  Oder  wäre  es  nach 
Heyne:  zum  zweck  des  ergreifens  (des  Schwertes),  oder  nach  Greins 
Übersetzung  (die  Sonderausgabe  gibt  keine  erklärung)  auf  grund  der  frü- 
hern conjectur  gepiged:  mit  handgriff,  so  hätten  wir  in  beiden  fällen  nur 
ein  überaus  armseliges  fullsel  vor  uns,  während  der  interpolator ,  der  sehr 
oft  (187.  885.  1149.  1606.  1680.  1943.  2030.  2052.  2060.  2066.  2261. 
2463.  2581.  3005)  das  erste  hemistich  aus  einer  structur  mit  cefter  bildet, 
sonst  immer  einen  bedeutungsvollen  gebrauch  davon  macht,  und  gerade 
durch  dieses  mittel  seinem  bedürfnis  nach  kürze  des  ausdrucks  zu  genü- 
gen weiss.  Ich  glaube ,  es  ist  mit  jenen  werten  ein  neuer ,  noch  stärke- 
rer fall  von  Thrydhos  grausamkeit  angedeutet:  wer  sie  ansah  hatte  fes- 
seln, wer  sie  aber  mit  der  band  berührte,  den  tod  durchs  schwort  zu 
erwarten.  Durch  seoddan  wäre  dann  hier,  wie  es  bei  temporalpartikeln 
leicht  geschieht,  im  sinne  von  „sodann,  ferner,"  der  leicht  in  „aber"  über- 
geht, nicht  die  zeitliche  aufeinanderfolge  der  handlungen,  sondern  die 
logische,  mehr  oder  minder  adversative  anreihung  einer  sache  oder  einer 
aussage  an  die  andre  ausgedrückt;  wie  z.  b.  Güdl.  465,  wo  der  heilige, 
nachdem  er  die  anklage  des  teufeis  zurückgewiesen,  seine  positive  gegen- 
rede  begint  ic  edw  söd  siddon  secgan  wille. 

Wie  1004  gesacan  für  gesecan,  so  steht  1942  onscece  für  otisece. 
Angenommen  der  conjunctiv  onscece  von  onsacan  sei  formell  zulässig, 
so  muss  doch  erst  auf  grund  dieser  stelle  für  onsacan  die  bedeutung 
„ bestrafen "•  in  anspruch  genommen  werden,  da  es  sonst  die  der  Zusam- 
mensetzung   mit    and    entsprechende    bedeutung    contradicere ,    negare 


404  M.    RIBGBR 

hat.  Eine  stelle  der  Juliana  sollte  es  wol  ausser  zweifei  stellen ,  welches 
wort  der  dichter  wirklich  gebraucht  hat;  es  heisst  dort  678  fgg.:  p€kr 
prUig  was  and  fedwere  eäc  feores  onsöhte  purh  wmges  wylm. 

33.  2029  fgg.  Oft  sddan  htvdr 

cefter  leödhryre  lytle  htvüe 

bongär  Mged,  peak  seo  hrOd  duge. 
Hier  emendiert  Bugge  im  anschluss  an  Heynes  verschlag  oft  [n6es]  sd- 
dan, erklärt  aber  abweichend:  det  drcebende  spyd  vender  sig  et  eXler 
andet  sted  hen.  Diese  ausleguug  wird  wol  der  bedeutnng  von  bAged 
gerecht;  aber  sie  fordert  noch  immer,  wie  die  früheren;  för  htadr  die 
bedeutung  ohwcer  (s.  1737.  2870),  irgendwohin,  da  wir  es  docli  nur  als 
fragewort  kennen.  Überdies  ist  der  ausdruck,  den  wir  so  erhalten,  zu 
wenig  treffend:  denn  was  ist  damit  gesagt,  dass  sich  der  tötliche  speer 
irgendwohin  wende  ?  Es  könte  ja  also  gegen  einen  dritten  sein ,  wodurch 
die  geschlossene  söhne  gar  nicht  berührt  würde.  Hier  muss  doch  wol 
tiefer  liegende  Verderbnis  im  spiele  sein.  Grundtvigs  einfall  est  sddan  ^ 
liivcer  usw.  scheitert,  wenn  man  auch  das  compositum  seldan-hw^  sich 
gefallen  lässt,  doch  daran,  dass  est  nicht  amor,  sondern  favor,  ffrcUia, 
mtinificenfia  ist,  und  dass  es  in  diesem  Zusammenhang  nicht  l^e, 
sondern  longe  hwile  heissen  müste.  Bis  ein  besserer  komt,  möge  man 
daher  folgenden  verschlag  gestatten: 

Oft  nces  seldan  wcere 

cefter  leödhryre  lytle  hwUe 

bongär  briceä. 
Vgl.  1100  p(et  pcer  cenig  nian  wcere  ne  brdbce.  Für  wdere  Iftsst  sich 
anführen,  dass  der  Schreiber  mehrfach  falschlich  h  vor  consonanten  in 
den  anlaut  bringt:  hncegan  für  ncegan  1318.  2916,  hraäe^rra^  1390, 
hroden  fiir  roden  1151;  ferner  dass  er  das  auslautende  flexivische  e  vor 
vocalen  wie  consonanten  zuweilen  unterdrückt:  wen  ic  442,  edwer  leode 
597;  ivylm  516,  frofor  698,  gi\d  1658,  drillten  1830,  peodm  2032, 
cyning  2503,  für  wylme  fröfre  gude  drihtne  peödne  cyninge. 

34.  2035  drylitbearn  IJena  duguda  biwenede,  das  heisst  nach 
Heyne :  (während)  ein  edler  spross  der  Dänen  die  ritter  bewirtete.  Schon 
allein  die  incongruenz  im  tempus  zwischen  biwencde  und  gdä  im  vor- 
hergehenden verse,  zweien  doch  gleichzeitig  zu  denkenden  handlung^en, 
macht  diese  erklärung  unmöglich.  Es  komt  aber  hinzu  das&  nicht  Ingeld, 
sondern  das  drtfhtbearn  offenbar  der  ist,  der  2034  mit  der  kOnigin  in 
den  saal  geht :  denn  er  heisst  2059  se  frenman  pegn ,  und  nur  in  dieser 
eigenschaft,  als  persönlicher  diener  der  königin,  nicht  als  schenke,  ist 
ein  Däne  hier  am  platze;  und  nur  so  ist  der  Inhalt  von  2034  plastisch 
und  bedeutungsvoll,  ein  verwirrender  gebrauch  von  M  aber  bei  diesem 


ZUM  BBOWULF  406 

interpolator  gewönlich.  Man  übersetze  also :  benefidis  adsuef actus.  Sowie 
Fin  im  friedensvertrag  vei-pflichtet  wurde,  dass  er  Hengestes  heäp  hrin- 
gum  wenede  (1091)  ebenso  wie  seine  Friesen,  so  ist  es  auch  Ingeld  die- 
sem nun  in  seinem  dienste  stehenden  Dänen  gegenüber,  und  das  wird 
hier  hervorgehoben,  weil  dadurch  der  anblick  des  Schwertes,  das  er 
trägt,  den  Headhobearden  desto  empfindlicher  werden  muss.  Der  gene- 
tiv  duguda  darf  nicht  irren:  es  ist  nicht  schwer  das  object  hier  partitiv 
statt  instrumental  zu  denken  (vgl.  die  verba  mit  instrum.  gen.  bei 
Grimm  4,  673  fg.),  und  das  Angelsächsische  gewährt  überhaupt  dem 
genetiv  eine  reichliche  concurrenz  mit  dem  ablativ.  Die  schwache  form 
des  adjectivs  ist  in  der  apposition  selten ,  aber  nicht  unerhört :  vgl.  Uon- 
denfexa  2962.  Greins  emendation  bi  werede  ist  hiemach  ebenso  vom 
übel  wie  Kembles  und  Thorpes  bipenede. 

35.  2076     pdr  wces  Hondscio  hilde  onseege, 

feorhbealu  fdeguni. 
Hier  verstehe  ich  nicht  wie  man  unterlassen  konnte ,  nach  2482  fg.  Hted- 
cynne   weard  güd  onsdge  zu  bessern:    schon   die  apposition  berechtigt 
hild  zu  lesen,   wepn  man  nicht  einen  verzwickten  Wechsel  der  construc- 
tion  nicht  nur,  sondern  der  bedeutung  von  onsdge  gut  heissen  will. 

36.  Mit  solchen  decompositis  wie  eaforheäfodsegn  2152,  sigehred- 
secg  490,  änmggearu  1247,  geösceaßgäst  1266  sollten  doch  herausgeber 
die  spräche  nicht  bereichern.  Sie  würden  die  Überlieferung  verdächtig 
machen,  wenn  sie  das  einzige  mittel  wären,  verstand  in  eine  stelle  zu 
bringen;  wie  aber,  wo  sie  zum  Verständnis  ganz  unnötig  sind?  So  lange 
ein  compositum  etymologisch  und  begrifflich  als  solches  lebhaft  gefühlt 
wird,  widerstrebt  es  dem  geist  der  alten  spräche,  es  abermals  mit  einem 
dritten  wort  zu  componieren.  Jeder  muss  den  unterschied  zwischen  den 
angeführten  Ungeheuern  und  solchen  Zusammensetzungen  fahlen  wie 
ambehtpegn,  agldcmf,  ecddhläford  mit  entstellten  bestandteilen ,  oder 
rergestreon,  mänfordddla,  edmtlif  mit  untrennbaren  partikeln. 

Für  bedenklich  halte  ich  nicht  minder,  obgleich  sie  wirklich  über- 
liefert scheinen,  solche  composita  wie  wiggeweordad  1783,  lyftgeswenced 
1913,  fcerbefongen  2009.  Unsre  moderne  dichtersprache  nimt  sich  die 
freiheit ,  jede  beliebige  instrumentale  structur  des  partic.  praeter,  in  ein 
compositum  umzusetzen.  Der  alten  spräche  entspricht  dies  nur  in  weni- 
gen fällen  und  nur  mit  der  reinen  (meist  starken)  participialform  ohne 
präfix,  wie  gilpMceden,  bedghroden,  gddhroden,  handlocen  (vgl.  Gr.  2, 
590  fg.).  Über  den  häufigen  Wegfall  eines  auslautenden  e  in  der  hand- 
schrift  vgl.  §  33. 

37.  2157  hatte  Grein  früher  ganz  richtig  erkannt,  dass  man  derist 
mit  der  deutung  origo  für  drest  lesen  müsse.     Warum  nun  in  der  son- 


406  M.  BIEGBB 

derausgabe  und  nach  ihr  bei  Heyne  die  überflüssige  ergänzung  [or]  vor 
(er est,  mit  dem  schwächlichen  sinne,  dass  Beowulf,  bevor  er  die  rüstung 
übergebe,  erst  ihren  Ursprung  sagen  solle?  Wir  kennen  cktist  aller- 
dings nur  mit  der  bedeutung  resurrectio;  aber  das  präfix  cc-,  hochdeut- 
schem ä  in  äJcust,  ämaht  usw.  entsprechend,  vor  verben  in  unbetontes 
ä'  übertretend  und  mit  ahd.  ar-,  ir-  auf  einem  verschollenen  as-  =  got 
US-  beruhend  (Gr.  2,  819),  hat  von  haus  aus  nur  die  bedeutung  des 
anfanges  und  gewinnt  erst  mittelbar  die  des  wideranfanges.  Die  Wörter 
(esprlnge  und  cewylm  für  fons  heben  für  t^rist  =  origo  jeden  zwei- 
fei auf. 

38.     Mit  MüUenhoffs   kritik   des  Beowulf  im  14.  bände  der  Zeit- 
schrift f.  d.  altertum  flnde  ich  mich  der  hauptsache  nach  und  fast  in 
allen  einzelheiten  in  voller  Übereinstimmung.     Den  schluss  der  zweiten 
fortsetzung  glaube  ich  jedoch  etwas  anders  bestimmen  zu  dürfen.     Die 
bemerkuug  2196  —  99:  „ihnen  beiden  (dem  Hygelac  und  Beovnilf)  war 
das  reich  angestammt,  dem  einen  mehr,    der  der  bessere   (glücklichere, 
vornehmere)  war,"   ist  in  dem  was  vorausgeht  durch  nichts  begründet 
und  wurde,  ehe  das  lied  vom  drachenkampfe  mittelst  der  einleitung  des 
zweiten    interpolators   angefügt   war,    nach    meinem   gefuhl   einen    sehr 
befremdlichen  schluss  des  gedichtes  gebildet  haben.     Sie  erscheint  dage- 
gen vollkommen  im   zusammenhange  begründet,    wenn  noch  zehn  verse 
mehr  zu  der  fortsetzung  gehören;  und  mit  diesen  erhält  das  ganze,  soweit 
aufgebaute  werk  zugleich  einen  sehr  angemessenen  schluss.    Der  dichter 
wirft,  nachdem  sein  gegenständ  erschöpft  ist,    noch  einen  blick  auf  das 
spätere  leben  seines  beiden;    er  sagt,    dass  er  nach  dem  erlöschen  von 
Hredhels   mannsstamm   noch   könig   geworden   sei  und  lange  rühmlich 
regiert  habe.    Der  satz  ist  freilich  ein  anakoluth:    nxxt  peef-  geiode  sollte 
der  subjectivsatz  imt  peet  folgen,   statt  dessen  folgt   nach  dem  unver- 
hältuismässig  langen  nebensatzo  der  hauptsatz  2207  mit  einem  sUtään^ 
das  zu  dem  in  2201  correlativ  gedacht  ist;    die  herausgeber  verschlim- 
mern aber  die  sache  ohne  not ,  indem  sie  nacli  2206  einen  punkt  setzen. 
Unerträglich  ist  nur  der  schluss  wccspä  frod  cijuing:  hier  muss  es  gestattet 
sein  Jicet  för  ]iä  zu  setzen ,  wobei  natürlich  feöd  im  sinne  von  strenuus  ver- 
standen wird.    Die  legende  von  Andreas  schliesst  mit  ähnlicher  formel  J!^ 
is  cedele  c^nhig;  Beowulf  11  heisst  es  zum  abschluss  der  erzählung  von 
Scili  Jieef  wcesgod  cyning,  und  ebenso  2390  von  Beowulf  Aber  auch  im  sinne 
des  weiterspinnenden  interpolators  taugt />«  nichts  und  ist  Ptef-  zu  verlangen: 
denn  wer  hier  pä  brauclite  und  fröd  für  seticx  nahm ,  muste  nicht  mit  dA 
p<et,   sondern  mit  ponne  fortfahren.     Ebenso  steht  2629  pä  irrtümlich 
für  pa*!.     Ein  fall ,    wo  pä  ollenbar  an  die  stelle  von  ^«pr  getreten ,   ist 
402   snyredon  (etsonme  pä  secg  tvisode;    umgekehrt   ist  pä   durch  ptei 


ZUM  BEOWÜLF  407 

verdrängt  2699,  wo  man,  um  nicht  dem  dichter  ein  migeheuerliches 
satzgeschiebe  zur  last  zu  legen ,  mit  Thorpe  einen  neuen  hauptsatz  begin- 
nen muss  mit  pä  he  pone  nidgcest. 

39.  Aus  dem  im  mauuscript  2227  vorfindlichen  wortrest  syn . .  sig 
machen  die  herausgeber  ein  adjectiv  synleäsig,  das  nach  Grein  culpae 
expers  bedeutet,  nach  Heyne  aber  für  sinleäsig  steht  mit  der  bedeutung 
„sich  verbergend."  Woher  diese  letztere  kommen  soll  vermag  ich  nicht 
zu  ersinnen;  die  von  Grein  beliebte  halte  ich  für  unmöglich,  weil  leäsig 
doch  nicht  von  dem  adjectiv  leäs,  expers,  sondern  nur  von  dem  Substan- 
tiv IcäSf  mendacium  abgeleitet  sein  könnte.  Die  bedeutung  wäre  also 
vielmehr  culpose  fallax,  was  hier  keinen  sinn  gibt.  Man  hat  aber  auch 
keinen  grund  die  bedeutung  cmT/;^  expers  zu  fordern,  noch  über- 
haupt ein  neues  unbezeugtes  wort  herzustellen.  Man  lese  synhysig,  was 
den  sinn  gibt  culpa  lahorans,  in  folge  einer  schuld  durch  Verfolgung 
bedrängt;  vgl,  Ufbysig,  lahorans  de  vita  966.  ngdbysig,  viridis  lahorans 
Jul  423. 

.  40.  Thorpes  emeudation  leng  für  long  2240  ist  von  den  deutschen 
lierausgebern  verschmäht  worden.  Hat  aber  das  einen  sinn:  der  letzte 
besitzer  wünschte  es  hinzuhalten ,  dass  er  eine  kleine  zeit  lang  die  schätze 
besitzen  möchte?  Allein  wie  er  ist  kann  er  sie  nicht  verteidigen;  er 
ist  in  gefahr  sie  alsbald  zu  verlieren;  er  verbirgt  sie  also,  um  sie  noch 
eine  kleine  zeit  (nämlich  den  kurzen  rest  seines  lebeus)  länger  zu 
besitzen. 

Dasselbe  loos  hatte  Kembles  emendation  feä  worda  cwceä  für  fec 
tvord  äcwced.  Auf  die  gefahr  hin,  dass  dem  unverstandnen  fecword 
statt  der  rater  noch  ein  retter  erstehe,  wage  ich  auch  hier  die 
emendation  zu  verteidigen.  Wir  finden  die  formel  fed  tvorda  cwceäy 
die  auf  den  folgenden  wortreichen  erguss  nicht  besonders  passt,  2662 
wider,  und  wenn  es  im  Hildebrandsliede  heisst  her  fragen  gishio}it' 
föhem  wort  um,  so  wird  es  wahrscheinlich,  dass  sie  im  epischen  gebrauch 
eingebürgert  war. 

41.  Mit  recht  verschmäht  wurde  Thorpes  conjectur  niwol  für  niwe 
2243 ,  aber  ohne  dass  die  richtige  erklärung  des  wertes  gefunden  wurde. 
Heyne  sieht  darin  mit  Leo  ein  sonst  unfindbares,  mit  niwol  verwantes 
Substantiv  7nwe  =  abschüssige  stelle;  Grein  emendiert  niäe  ==  infra, 
was  man  gleichfalls  sonst  nicht  liest,  als  wäre  der  beorh  auf  flacher 
seeküste  am  fusse  des  Vorgebirges  gewesen.  Niwe  heisst  aber  bekant- 
lich  neu,  und  der  dichter  spricht  ganz  einfach  von  einem  neu  aufgewor- 
fenen grabhügel.  Warum,  das  ist  im  grund  eine  türwitzige  frage;  viel- 
leicht nur  um  einen  Stabreim  zu  gewinnen.    Aber  es  Hessen  sich  auch 


408 


M.  BIEGEB 


wol  gründe  angeben:    z.  b.  dass  der  neue  hügel   vor  nachforschangen 
sicherer  war  als  ein  alter  eines  längst  vergessenen. 

42.  Sdedreäm  ohne  die  nähere  bestimmung  heisst  nicht  die  him- 
lische,  sondern  die  irdische  freude.  Sinnlos  lesen  wir  daher  2251  fg. 
pära  pe  J)is  [Uf]  ofgeaf^  gesäwon  seledreäm.  Es  sollte  swegles  dream 
oder  swcgldreäm  heissen.  Aber  vielleicht  steckt  auch  der  fehler  in  gesä- 
won  und  sdedreäm  hängt  als  apposition  zu  Uf  von  ofgeaf  ab,  wie  es 
2469  heisst  gumdreäm  ofgeaf.  Dann  dürfte  man  für  gesäwon  Yermuten 
gesippa.  Das  nianuscript  ist  gerade  in  dieser  gegend  sehr  viel  verschrie- 
ben oder  sehr  schwer  zu  lesen. 

43.  Der  vers 

2298  on  pcbre  westenne.  Hwceäere  hilde  gefeh 
ist  ohne  reim,  und  Greins  emendation  on  hceäe  westenne,  durch  die  er 
ihn  herzustellen  glaubt,  hat  nichts  wahrscheinliches.  Sie  hilft  auch  nicht 
dem  sinn  der  nächstfolgenden  worte  auf:  hwcedere  hUde  gefeh,  hectdo- 
iveorccs  kann  doch  nicht  von  dem  drachen  gesagt  werden,  indem  er  die 
Verfolgung  aufgibt  und  zu  seinem  horde  zurückkehrt.  Nach  2298*  ist 
offenbar  eine  lücke  von  mindestens  zwei  halbversen,  deren  Inhalt  etwa 
so  zu  2298**  überführte:  der  dieb  war  entronnen,  er  gab  nicht  zu  erken- 
nen, hwceäer  (ob  er)  hilde  gefeh,  headoweorces ;  d.  h.  er  hielt  zum 
kämpfe  nicht  stand.  Mit  hivilmn  begann  dann  ein  neuer  satz,  in  dem 
der  drache  wider  als  subject  eintritt. 

44.  Ein  überblick  der  composita  mit  hcoru  (abzüglich  derjenigen, 
wo  hearu  mit  here  concurriert  und  für  dieses  nur  verschrieben  ist)  lehrt, 
dass  die  Wörter  durch  diese  composition  keineswegs  auf  den  begriff 
Schwert,  sondern  auf  den  begriff  verderben,  tod  bezogen  werden.  Die 
einzige  ausnähme  würde  hiorodrync  bilden,  das  zu  2358  von  den  heraas- 
gebern  als  schwerttrunk  erklärt  wird.  Ich  leugne  gar  nicht,  dass  die 
wunde  als  ein  bluttrunk  des  Schwertes  poetisch  gedacht  werden  könne, 
wol  aber  dass  die  hörer  unsers  werkes  nach  der  sonstigien  analogie  von 
heoro  das  wort  so  auffassen  konnten.  Hiorodrync  ist  nichts  weiter  als 
2>otiis  Idalis,  und  wenn  wir  lesen  dassHygelac  hiorodryncum  sweaU,  bitte 
gebeäten,  so  sollten  wir  daraus  entnehmen,  dass  er  durch  wunden  ent- 
kräftet bei  dem  versuche  sich  schwimmend  zu  retten  ertrunken  ist,  wäh- 
rend Beowulf  glücklich  davon  kam  und  sogar  seine  beute  davon  brachte. 
Nach  den  fränkischen  quellen  wartete  bekautlich  Chochilaich  den  aoslauf 
seiner  beutebeladenen  schiffe  aus  der  Bheinmündung  ins  meer  am  ufer 
ab^  um  mit  der  nachhut  die  letzten  selbst  zu  besteigen,  und  vnirde  hier 
von  Theodebert  ereilt.^    Geschlagen  muste  er  also  notwendig  nach  sei- 

1)  Greg.  Tnron.  III,  3:  rex  eoram  in  littus  residebat,  donec  nctvea  aUnrnmare 
comprehenderettt ,  ipse  deitvceps  seaUuriis.     Gesta  reg.  Franc  19:   Dani  —  piemoB 


ZUM   BEOWULP  409 

nen  schiffen  fliehen;  und  die  schiffe  waren  offenbar  auch  das  ziel,  das 
Beowulf  schwimmend  erreichte,  während  unser  dichter,  wenn  er  ihn  das 
meer  überschwimmen  lässt  eft  to  leoduni  2368  und  fortfährt  p(h'  him 
Sygd  gebead  usw.,  sagen  will,  dass  er  bis  nach  Gautland  schwamm, 
und  so  ein  gegenstück  zu  dem  siebentägigen  Wettschwimmen  mit  Breca 
herstellt. 

Greins  ergänzung  von  2361  fg. 

hcefde  him  on  earme  [an  and]  XXX 
hüdegeatwä 

wird  von  Heyne  nicht  ohne  grund  mit  einem  ausrufungszeichen  mit- 
geteilt. Eine  zahlangabe  wie  einunddreissig  ist  in  der  poesie  nicht  zu 
erwarten,  ist  geradezu  stilwidrig.  Da  im  manuscript  nicht  nur  vor,  son- 
dern auch  hinter  XXX  eine  lücke  ist  (wonach  sich  auch  Grund tvig 
bei  seinem  sonst  nicht  glücklichen  verschlag  richtete),  so  wird  man  zu 
lesen  haben 

Juefde  him  on  earme  [an]  XXX[es] 

hildegeatwa : 

er  trug  schwimmend  die  brünnen  von  30  erschlagenen  Franken  mit  sich; 
woran  die  folgenden  verse  mit  ihrem  Inhalt  sich  trefflich  anschliessen. 
Die  physische  Unmöglichkeit  verantwortet  die  sage,  die  Beowulfs  persön- 
lichkeit noch  sonst  ins  ungeheuerliche  ausmalt. 

45.  Nirgends  kann  eine  lücke  deutlicher  verraten  werden  als  die 
von  Thorpe  hinter  2395  angegebene  durch  den  mangel  des  objectes  zu 
gewrcec.  Dieses  object  ist  Heardred,  der  von  Onela  beim  gastmahl  {on 
feorme  2385),  also  verräterisch  bei  friedlicher  Zusammenkunft,  erschla- 
gene gebieter  Beowulfs.  Aber  lieber  ergänzen  Grein  und  Heyne  aus  der 
luft  ein  hine  oder  hit,  als  dass  Thorpe  recht  haben  dürfte. 

46.  In  dem  satze  2435 

wtes  päm  yldestan  ungedefdice 
mceges  dcedum  mordorhed  stred 

liegt  eine  kühne,  aber  nicht  edle  plastik.  Man  sieht  das  Strohlager 
streuen,  auf  das  die  leiche  bis  zur  bestattung  gelegt  werden  soll.  Ver- 
gleicht man  die  andern  in  diesem  werk  erscheinenden  composita  von  bed, 
so  sind  sie  ohne  solche  plastik  in  ganz  allgemeinem  sinne  verstanden: 
ic  hine  heardan  dammum  on  wcelbedde  wridan  pdhte  964.  P(er  Ms 
lichoma  legerbedde  fast  (im  grabe)  swefed  1007.     nü  is  dryhten  Qeäta 

naves  de  capHvis  habentes,  alto  mare  intranUs,  rex  eorum  ad  litiis  moHs  resedit. 
Im  10.  Jahrhundert  wurden  die  angeblichen  knochen  des  Hniglaucus  auf  einer  au  in 
der  Rheinmündung  gezeigt  (Zeitschr.  f.  d.  a.  5,  10). 


410  M.  BIEOER 

(leuäbcdde  fcest  2901.  fumlon  pa  an  sande  säwulleäsne  Jilinhed  hecUdan 
;^034.  Hier  hat  mau  nirgends  ein  wirkliches  bette  vor  äugen,  es  wird 
mit  hed  nur  der  ort  oder  gar  der  zustand  des  liegens  bezeichnet.  Und 
darum  glaube  ich,  dass  an  unsrer  stelle  stißred  =  bestirnt,  verordnet,  för 
strcd  herzustellen  ist ,  wie  es  Andr.  1094  heisst  durupegnum  tcearä  hild- 
hedd  stf/red. 

47.  2586  fgg.  Nc  ivres  p(Bt  ede  sid, 

pcet  sc  mcera  maga  Ecgpedives 
grimdwong  pone  ofgijfan  wolde, 
sceolde  [wyrmcs]  mllan  tvic  eardian 
dies  hwergen. 

„  Das  war  kein  leichter  weg ,  dass  Beowulf  dieses  leben  verlassen  sollte," 
mit  andern  worten:  „es  war  hart,  dass  Beowulf  sterben  muste";  diese 
bemerkung ,  an  und  für  sich  trivial ,  ist  hier  mitten  in  der  erzählung  des 
kämpf  es  so  übel  angebracht,  dass  verdacht  entsteht.  Die  magerkeit  des 
hemistichs  pcef  se  mcera  unterstützt  ihn : .  prd  als  conjunction  pflegt  bei 
seinem  geringen  tonwert,  so  oft  es  auch  den  vers  begint,  nur  im  auf- 
tact  zu  stehen.  Liest  man  [od]  pcet  se  mdra,  so  ist  dieses  metrische 
bedenken  beseitigt  und  wir  haben  dann  eine  ganz  passende  und  durch 
viele  ähnliche  beispiele  wahrscheinliche  Zwischenbemerkung  über  die  härte 
des  kampfes,  die  dem  interpolator  gelegenheit  gibt,  seiner  liebbaberei 
gemäss  bei  dem  in  den  nebensatz  verlegten  gedanken  des  todes  länger 
zu  verweilen.  Auch  1911  hjit  das  manuscript  unverkennbar  ptßt  för 
öd  pcet. 

Noch  muss  ich  hier  die  von  Grein  und  Heyne  beliebte  ergäuzung 
[tvyrmes]  beanstanden.  Die  erwähnung  der  todesart  gehört  nicht  in  diese 
allgemein  reflectierende  Zwischenbemerkung ,  und  sie  käme  wenig  geschickt 
heraus.  Das  fehlende  wort  scheint  mir  ofer  zu  sein ,  also  der  sinn  inri- 
tus;  vgl.  2409. 

48.  Die  herausgeber  nehmen  2633 — 46*  für  eine  einzige  periode, 
zu  grossem  schaden  der  syntaktischen  Schönheit,  aber  ganz  ohne  not. 
Man  setze  nach  dem  ersten  hemistich  von  2638  einen  punkt.  Das  pe, 
mit  welchem  das  zweite  hemistich  begint,  wird  sich  dann  nicht  mehr 
auf  eine  überlästige  und  schlotterige  weise  an  p(et  mdil  in  2633  hänfnen, 
sondernde,  wie  1273.  2067  j&j^,  demonstrativ  an  die  spitze  des  satzes 
treten  und  pe  2841  als  relativ  aufnehmen:  darum  wählte  er  uns  zum 
gefolge  auf  diesem  wege ,  weil  er  uns  für  tüchtige  krieger  hielt 

49.  Bugges  nachweis  einer  lücke  von  mindestens  zwei  bcmistichien 
zwischen  2660'  und  ^  ist  gewiss  wol  begründet;  nur  hat  seine  ergäu- 
zung healdre  forgtüden  keine  Wahrscheinlichkeit,   da  Imddor  immer  mit 


ZDM  BBOWULF  411 

einem  genetiv  (gumena,   wigena  usw.)  verbiuaden  vorkomt.     Die  stelle 
könte  so  gelautet  haben: 

sceai  urum  pat  sweord  and  heim, 

hyrne  and  h^wdu  scrüd  [beadwe  for gülden; 

hüru  unc  sceal  hdles  broga]  harn  gemmie. 
Bcel  vom  feuer  des  drachen  gebraucht  s.  2308.  2322. 

50.  Bekant  ist  die  construction  von  helpan  mit  dem  genetiv  der 
person,  und  man  liest  2879  mdeges  helpan.  Demgemäss  haben  Kemble 
und  Thorpe  die  stelle  p(er  he  his  meegenes  healp  2698  emendiert,  wozu 
der  umstand,  dass  wir  2628  denselben  fehler  mcegenes  für  nuBges  fin- 
den, noch  ganz  besonders  berechtigte.  Aber  in  den  deutschen  ausgaben 
ist  his  tn^egenes  gleichwol  wider  hergestellt  und  ihm,  ohne  beleg  noch 
analogie,  in  den  glossarien  die  bedeutung  „nach  kräften"  beigelegt, 
unbekünmiert  um  die  Überflüssigkeit  dieser  nebenbestimmung,  während 
helpan  sonst  niemals  ohne  persönliches  object  gefunden  wird. 

51.  2717  fgg.  seah  on  enta  geweorc, 

hü  ]}ä  stänlogan  stapulum  fceste 

ece  eor^reced  innan  healde. 
Von  dieser  schönen  consecutio  temporum  haben  sich  nur  Kemble  und 
EttmüUer  anfechten  lassen,  die  heöldon  für  healde  setzten.  In  healde 
treffen  drei  arten  der  Verderbnis  zusammen,  die  alle  in  unsrer  hand- 
schrift  ihre  beispiele  haben.  Erstens  die  Verwechselung  zwischen  ea  und 
eoy  die  der  zweite  Schreiber  in  fealo  für  feola  2757,  Eafores  für  Eofo- 
res  2964,  heold  für  heald  2247,  heoldon  für  healdan  3084  sich  zu 
schulden  kommen  lässt.  Zweitens  die  abschwächung  der  flexionssUbe  zu 
en,  wofür  sich  frecnen  1104,  reäfeden  1212  anführen  lässt.  Drittens 
die  Unterdrückung  eines  nasals  durch  übersehen  des  compendiums,  die 
inlautend  erscheint  in  mine  für  mtnne  255.  418,  herertc  für  -rinc  1176. 
swecte  für  swencte  1510,  äged  für  ägend  1883,  lag  fiir  leng  2307, 
auslautend  in  rt^swa  60,  gcbolge  2221,  während  umgekehrt  der  nasal 
irrig  zugefugt  wird  in  eaforan  375,  nacan  1903,  päm  2347,  l^otnan 
2769.  Man  dürfte  heolde  setzen  als  sing,  verbi  zum  subject  im  plural, 
wenn  es  nicht  zu  wenig  angemessen  erschiene ,  den  abhängigen  satz  hier 
überhaupt  subjectiv  zu  fassen. 

52.  Das  dem  altsächpischen  suigli  entsprechende  adjectiv  swegle 
scheint  im  Angelsächsischen  genau  betrachtet  keine  andere  stütze  zu  haben 
als  die  Überlieferung  swegle  searogimmas  2749.  Denn  was  Grein  sonst 
dafür  beibringt,  swegle  dreämas  Fat.  Apost.  32  sind  sicherlich  keine 
lucida  somnia,  sondern,  wie  es  anderwärts  heisst,  sioegles  dreänias  oder 
swegldreämas,  gaudia  codi.    Auch  das  von  Grein  angesetzte  adverb  swegle 


412  M.   RIEGEB 

hält  nicht  stich:  Cri.  393  ist  es  iustrumentaler ,  Cri.  1103  locativer  abla- 
tiv,  bedeutet  dort  simphoniä  (abhängig  von  weoräian,  nicht  von  gehyr- 
sie),  hier  coelo;  und  mit  hat  verbunden  ist  es  als  composition  zu  neh- 
men wie  stveglbeorht  und  swegltorM.  Unter  solchen  umständen  ist  es 
wol  geratener,  an  unsrer  stelle  ein  misverständiüs  für  die  aus  1158 
bekante  Verbindung  sigle,  searogimnias  anzunehmen. 

53.  Es  ist  schade  um  das  erzgeschuhte  schwort  mit  eiserner  klinge 
2777  fg.;  aber  ich  furchte  dass  hinter  beorhtost  ein  punkt  zu  setzen  und 
dann  fort  zu  fahren  ist  Bill  ehr  gescod  {ecg  wces  iren)  ealdhlaforde  ßäm 
pära  nmäma  mundhora  wces  usw.  Eine  änderung  ist  ja  hier  unerl&ss- 
lich,  und  es  wird  nicht  gewagter  sein  ein  auslautendes  s  zu  streichen  als 
pe  aus  pä  zu  machen.  Man  vergleiche  1587  fg.,  wo  es  von  Grendel 
heisst  swä  him  cbr  gescod  hild  (et  Hearote;  und  andrerseits  2828  oc 
hine^  irenna  ecgc  foniamon. 

54.  Auch  die  interessante  rection  wceteres  weorpan  2791  ist  mir 
zweifelhaft.  Einen  mit  wasser  werfen  bleibt  doch  für  aspergere  im  An- 
gelsächsischen wie  im  Deutschen  ein  wunderlicher  ausdruck.  Sollte  der 
dichter  nicht  gesagt  haben  wceterc  swcorfan?  An  den  wenigen  stellen, 
wo  dieses  wort  im  Angelsächsischen  vorzukommen  scheint,  bedeutet  es 
allerdings  liniare,  poUre;  aber  got.  bimvairban  Luc.  7,  38.  44,  Joh.  11,2. 
12,  3  alts.  swerban  E.  H.  4508  bedeutet  mit  einem  tuch  abtrocknen, 
got.  afswairban  Col.  2,  14  etwas  geschriebenes  ausstreichen;  und  wamm 
sollte  das  wort  nicht  so  gut  von  nassem  wie  von  trocknem  abwischen 
gelten  können?  Wenn  Wiglaf  seinem  herm  die  wunde  aufs  neue  abwusch, 
so  war  es  das  klügste  was  er  tun  konnte ,  und  darüber  mochte  dem  ster- 
benden die  spräche  so  gut  widerkommen  wie  wenn  er  gesprengt  wurde. 
Der  Schreiber  verwechselt  die  ähnlich  gestalteten  buchstaben  oft  genug, 
dass  man  ihm  hier  ein  }>  för  /*  zutrauen  darf;  gleich  2814  sezt  er  for- 
sweof  für  forswedp,  wie  Kemble,  Thorpe  und  Grein  in  der  ersten  aus- 
gäbe richtig  emendierten,  während  später  die  Überlieferung  hergestellt 
und  das  übele  wort  forswäfmi,  pellere,  ins  Wörterbuch  aufgenommen  wurde. 

55.  2844  fg.    heefde  dghwcedre  ende  gefered 

Icemtn  Ufes. 
Hier  emendierte  Kemble  dghwcecter,  und  man  sollte  meinen,  damit  wäre 
die  Sache  abgetan.    Grein  aber  fand  es  weniger  gewagt,  auf  diese  stelle 
die  annähme  eines  plurals  von  dghwceder,  uterquc,  zu  begründen,   und 
Heyne  interpretiert  ihm  nach  ad  utrosque  pervetierat  finis  viiee. 

1)  So  muss  man  für  him  lesen,  wie  Grein  in  der  ersten  ausgäbe  richtig 
erkannte.  Der  zweite  schreiber  unsres  nianuscripts  ist  wahrlich  am  wenigsten  die 
autorität,  um  gegen  einen  herschenden  gebrauch  aufzukommen. 


ZUM  BEOWÜLP  413 

56.  Für  fyran  swUtor,  wie  2881  in  der  handschrift  steht,  ist  es 
offenbar  leichter,  fyr  unsmdor  als  ßr  ran  swiäor  zu  emendieren;  beson- 
ders da  unswutor  2578  wirklich  vorkomt.  Gleichwol  haben  Grein  und 
Heyne  jene  in  meinem  lesebuch  gegebene  besserung  ignoriert.  Nur  mit 
ihr  ergibt  sich  die  einzig  unanstössige  Übersetzung:  „immerhin  war  er 
(der  drache)  desto  schwächer,  nachdem  ich  ihn  mit  dem  Schwerte  getroffen, 
das  feuer  wallte  weniger  heftig."  Dagegen  wird  durch  das  von  den  heraus- 
gebern  beliebte  fffr  ran  stvidor  erstens  ein  mutwilliger  Widerspruch  mit 
2701  fg.  hereingebracht,  wo  die  von  Wiglaf  dem  drachen  beigebrachte 
wunde  zur  folge  hat  pcet  pai  fyr  ongon  sweärian  syääan;  zweitens 
irgend  eine  verkehrte  auflfassung  der  worte  synde  tvcpfi  py  stemra  bedingt. 
Grein  wagt  nämlich  hier  zu  übersetzen:  „nur  schlimmer  war  er,  wenn  ich 
mit  dem  Schwerte  traf  den  lebensbestürmer ,"  indem  er  für  sdmra  gerade 
das  gegenteil  seiner  wirklichen  bedeutung  in  anspruch  nimt;  Heyne 
bezieht,  wie  ich  selbst  ohne  not  fi-üher  wolte,  w(ps  als  erste  person  auf 
Wiglaf  und  erklärt  ,, immer  noch  war  ich  zu  schwach,"  während  py 
srhnra  nur  „desto  schwächer"  heissen  kann,  was  freilich  keinen  sinn 
ergäbe. 

57.  Hygenueäum  2909  bedeutet  nach  (xrein  „mit  geziemender 
gesinnung,  aufmerksamer  Sorgfalt"  Mdit  =^  condicio,  fnodus,  honor,  ist  ein 
in  der  prosa  übliches,  der  poesie  fremdes,  nur  in  dem  späten  Byrhtnodh 
einmal  begegnendes  wort,  das  nie  als  zweiter  teil  von  compositen 
erscheint.  Warum  nicht  hygemedum  den  geistmüden  (vgl.  2412),  d.  i. 
hier  den  toten?  Der  constructionswechsel  „er  hält  den  geistmüden  die 
hauptwache,  des  freundes  und  des  feindes"  hat  nichts  anstössiges ;  ö»  für 
e  findet  sich  in  tvcelrcec  2661,  Hrcedlan  454,  Ilrcedles  1484,  für  e 
öfter.  Was  Heyne  von  Grein  abweichend  hier  zum  besten  gibt  kann  ich 
mich  nicht  entschliesseu  ernsthaft  zu  erörtern. 

58.  2918  fgg.    p(Bt  se  byrnwiga  hugan  sciolde, 

feöll  on  fedan:  nalles  fraetive  geaf 

eahlor  dugode. 
Mit  dieser  angehängten,  die  erzählung  beschliessenden  negation  weiss 
ich  mich  nicht  zu  befreunden.  Grein  übersetzt  zwar  ganz  gefällig  „der 
fürst  gab  nicht  mehr  schmuck  dem  gefolge";  aber  „mehr"  steht  eben 
nicht  da.  Es  heisst  einfach  „er  fiel:  keineswegs  gab  er"  usw.,  als  solte 
fallen  und  geschenke  geben  als  gegensatz  gedacht  werden.  Icli  glaube 
dass  gar  nicht  vom  besclieuken  des  gefolgcs  die  rede  ist,  dass  duyode 
nicht  dativ ,  sondern  geuetiv  zu  ealdor  ist  und  dass  der  dichter  von  jener 
frcetwe  spricht,  die  nach  1207  Hygelac  übers  meer  trug,  als  er  den 
unglücklichen  zug  nach  Friesland  unternahm.  Da  der  sieger  dem  erschla- 
genen vhmuck   und  waffen  raubt,   kann  sine  ealgian,   wcdreäf  werian 

ZBIT8CHR.    F.  DBUT8CHB    PHILOLOOIR.     BD.  III.  27 


414  M.    RIEGER 

geradezu  iils  Umschreibung  für  kämpfen  stehn,  und  nijihstan  siäe,  sid- 
(tan  l\r  Wider  scffue  sinr,  eaJijode,  wrelrmf  weredfi  1203  fgg.  heisst  nichts 
andres  als  „das  letzte  mal,  wo  er  in  den  krieg  zog";  ein  beweis  wie 
nah  es  dorn  dichter  liegen  muste,  bei  dem  fall  eines  beiden  an  das  scliick- 
sal  seines  schmuckes  zu  denken.  Hier  gibt  uns  nun  den  commentar  die 
stelle,  wo  es  von  dem  von  Heowulf  erschlagenen  Däghräfn  heisst  2503  fg. 

7i(dlcs  he  Jfä  fraiwe  Frcmfnimje, 

hreostwcordmKje  hrin(/an  moste  : 
das  ist  doch  ofienbar  ein  bekanter  schmuck,  den  der  dichter  so  ohne 
weiteres  mit  <lem  bestimten  artikel  in  erinnerung  bringt,  und  kanu  kein 
andrer  sein  als  der,  von  dem  er  früher  schon  in  Verbindung  mit  dem- 
selben kam[)fe  gesprochen  hat.  Wir  erlialten  durch  combination  der 
verschiedenen  stellen  über  Hygelacs  Untergang  mit  ziemlicher  Sicherheit 
diesen  Sachverhalt:  Hygelac  ward  durch  Däghräfn  mit  einem  schwerthieb 
(2;55ü)  niedergestreckt,  aber  nicht  beraubt,  weil  Beowulf  ihm  beisprang, 
den  Däghräfn  ohne  Schwertstreich  mit  der  band  (250G  fg.)  erlegte  und 
ilim  das  schwort  Nägling  (2680)  abnahm,  das  er  von  da  an  immer 
führte  (2500  fg.).^  Der  verwundete  Hygelac  verunglückte  aber  auf  der 
flucht  im  wasser  (2;558)  und  so  geriet  endlich  doch  seine  leiche  mit  samt 
dem  schmuck  in  die  gowalt  der  Franken  (1210  fg.). 

59.  Dass  man  2921).  2972  wegen  der  allitteration  nicht  hmidslylUy 
sondern  omlsh/M,  gegenschlag,  mittelliochdeutsch  widerswanc,  zu  lesen 
hal)e,  gibt  Grein  wenigstens  als  moglichkeit  zu  verstehn,  während  Heyne 
durch  mehrere  wenig  zutreffende  beispiele  beweisen  will,  dass  spiritus 
asper  und  spiritus  lenis  in  der  tat  mit  einander  allitterieren.  Mich 
wundert  dass  ihm  hiebei  folgende  drei  verse  unsres  gedichtes  entgan- 
gen sind: 

499     Ildnferä  madelode  Eq/Iafe.s  bearn 

1165     rcifhivplc  ödrmn  trt/nr.     Hic^iflee  pdr  llunferä  Pyle 

1488  and  J)ii  Ilnuferd  IrH  ealdc  läfe. 
Andere  werden  aus  ihnen  freilich  entnehmen,  dass  der  held,  der  niemals 
in  allitteration  auf  h  vorkomt,  eigentlicli  IJnferd  hiess,  ein  name  wie 
Vnwen  Wids.  114;  vgl.  Unfrid  Unfrit  Umfrid  \m  Forstemann  1214. 
Ein  drittes  beispiel  von  misverständlich  vorgesetztem  h  glaube  ich  in 
handlcan  neben  andican  (Jen.  22Gt,  Cri.  832  zu  erkennen: 

1541     heo  lihn  eft  hrade  handleiin  forgv<d<l 
(irimman  gr/ijmm 

1)  Dies  liest  man  unschwer  zwisclieii  den  /.eilen,  wenn  man  nur  nicht  250U 
iiint^r  (jeUpHie  mit  (irein  einen  ]iunkt  setzt,  wodurch  die  ful^^endc  onahlang  aus  aller 
Yerliinduiii^  ^cnonnnon  und  zum  tot^'n  anhän^sel  >feniacht  wird.  ^ 


2üM  BEOWULF  410 

2093  hü  ic  päm  hodsceactan 

yfia  geliivylces  hondleän  forgeald. 
Beidemal    wenigstens    wird    durch    die   vergröberung    des    andleän   zu 
Immllmn  hinsichtlich  der  poetischen  Wirkung  nichts  gebessert ;  nur  scheint 
es  fast,    der  dichter  selbst  habe   sich  und  andern  hier  die  wähl  lassen 
wollen ,  auf  spiritus  asper  oder  lenis  zu  allitterieren. 

60.  Der  ausdruck  hund  püsenda  landes  and  locenrn  heäga  2994  fg. 
liiitte  uns  wol  in  den  glossarien  erläutert  werden  dürfen;  wenigstens 
wird  er  dadurch  noch  nicht  klar,  dass  Grein  die  seofon  Jmscndo  2195 
durch  den  beisatz  „geldes"  erklärt.  Den  Schlüssel  gibt  der  im  wandrers- 
lied  V.  90  erwähnte  ring ,  ort  päm  siexhund  wces  smmtes  goldes  gesegred 
sceatta  scillingrinie.  Man  sieht  daraus,  dass  die  werteinheit,  wonacli 
Sachen  berechnet  wurden,  der  seeat  war,  der  in  den  gesetzen  Aedhel- 
byrhts  von  Kent  den  zwanzigsten  teil  eines  scilling  beträgt  (s.  Schmid, 
gesetze  der  Angelsachsen^  594).  Bei  gegenständen  aus  edlem  metall 
mochte  er  unmittelbar  als  gewichtseinheit  dienen,  bei  andern  als  einheit 
des  tauschmittels  oder  der  münze  gelten.  Es  ist  also  hier  die  rede  von 
einem  wert  von  100000  seeattas  =  5000  seillingas  an  land  und  ringen: 
eine  königliche,  aber  för  den  geleisteten  dienst  nicht  unverhältnismässige 
belohnung.  Beowulf  erhielt  nach  seinen  heldentaten  in  Dänemark  von 
seinem  herrn  7000  seeattas  =  350  seillingas  nebst  einem  haus  und  flir- 
stenstuhl  2195  fg.:  aber  es  ist  nur  die  anerkenuung  eines  dienstes,  den 
er  einem  fremden  geleistet  und  den  dieser  bereits  belohnt  hat.  Hienach 
gewinnt  es  auch  erst  das  rechte  licht,  wenn  Hrodhgar  1685  fg.  der  seligste 
heisst  para  pe  on  Seedenigge  seeattas  dcelde.^ 

61.     3074  fg.     necs  hc  gold  hwcete  gearwor  heefde 

ägendes  est  dr  geseeäwod. 
Dieser  stelle  hat  zuletzt  noch  Bugge  einen  sinn  zu  entlocken  gesucht, 
aber  ich  bezweifle  ob  er  das  rätsei  besser  gelöst  hat  als  die  herausgeber. 
Wie  kann  man  doch  bei  dgend  an  gott  als  den  obersten  eigentümer  aller 
schätze  denken,  ohne  dass  der  Zusammenhang  irgendwie  darauf  führt? 
Oberall  sonst  ist  dgmd,  wo  es  auf  gott  geht,  mit  einem  genetiv  ver- 
bunden ,  und  an  der  einzigen  stelle ,  die  eine  ausnähme  bildet  und  daher 
von  Bugge  citiert  wird,  Exod.  295,  ist  der  Zusammenhang  unzweideutig: 

1)  EttmüUer  zu  v.  2210  seiner  Übersetzung  des  Beowulf  denkt  an  tausende 
landes,  wovon  eines  10  angelsächsische  hundrede  begriffe.  Siebenzig  hunderte  wären 
schon  ein  ganzes  reich,  tausend  würden  völlig  ins  märchenhafte  fallen.  Aber  man 
bedarf  in  obiger  stelle  einer  einheit,  auf  die  sich  sowol  land  als  ringe  reduciereu 
lassen.  Schliesslich  wissen  wir  gar  nichts  vom  tausend  als  landmass;  die  einheit,  die 
über  dem  hundred  steht,  ist  die  scir,  dem  festländischen  gau  entsprechend,  und  hat 
keinen  systematisch  geregelten  umfang.  « 

27* 


416  MAHLY 

HÜ  se  ägend  up  ärcerde  reäde  streämas  —  der  herr  natürlich ,  dem  das 
rote  meer  gehört.  Ist  aber,  wie  nach  dem  Zusammenhang  nicht  anders 
möglich,  unter  dem  ägend  der  drache  verstanden,  so  komt  man  wider 
nicht  mit  est  zurecht;  und  auf  keine  weise  gewinnt  man  eine  richtige 
gedankenverbindung,  sondern  die  verse  schleppen  fremd  und  störend  nach. 
Ich  glaube  durch  folgende  emendation  wort  und  sinn  richtig  her- 
zustellen : 

n(PS  he  gold  hwreäre  gvarivor  hrefde 

[ofer]  ägendes  est  cer  gesceäwod. 

Indem  ich  3068  hinter  sceolde  einen  punkt  setze,  gewinne  ich  nun  fol- 
gende Übersetzung:  obgleich  die  alten  eigentümer  den  hord  mit  einer 
Verwünschung  bis  zum  jüngsten  tage  belegt  hatten,  dass  sein  rauher 
der  hölle  und  ihren  quälen  verfallen  solte ,  hatte  doch  Beowulf  kein  gold 
vorher  ohne  des  eigentümers  gunst  lieber  geschaut  (als  dieses);  d.  L 
hatte  ihm  kein  erkämpftes  gold  jemals  grössere  freude  gemacht.  Die 
verse  enthalten  eine  deutliche  reminiscenz  des  interpolators  an  die  werte 
des  dichters  2748—51.  Das  aus  diesen  widerholte  gearwor  wie  geor^ 
vor  zu  verstehen  halte  ich  für  ganz  unbedenklich :  diese  bedeutung  ergibt 
sich  unmittelbar  aus  der  grundbedeutung  parafns,  promptuSy  und  es  ver- 
schlägt nichts,  dass  gearo  2748  oüenbar  nicht  „gern,"  sondern  „voll- 
ständig"  heisst. 

ALSBACII  A.  D.  BERGSTRASSE,   IM  JINI  1870.  M.   RIEGER. 


ZUR    ALEXANDERSAGE. 

IL 

zu  JULIl  VALERII  EPITOME. 
(Vgl.  b(l.  I.  s.  lli)fKg.) 

Wenn  der  herausgeber  der  Epitome  des  Julius  Valerius  —  herr 
prof.  J.  Zacher  in  Halle  -  s.  XII  der  vorrede  mit  recht  bemerkt,  dass 
man  in  bezug  auf  toxtesänderungen  sich  bei  einem  schriftdenkmale  die- 
ses Charakters  immer  gern  beschriinkc,  „zumal  der  herausgeber  ohnedies 
bestandig  gefahr  läuft,  nicht  die  Schreiber,  sondern  den  Verfasser  zu  cor- 
rigieren,"  so  tritt  als  zweites  hinderndes  moment,  die  conjecturalkri- 
tik  in  ihrem  vollen  umfang  anzuwenden,  die  verhältnismässig  geringe 
bedeutung  des  Schriftwerkes  selber  hinzu,  welches,  zudem  dass  seine 
entstehung  eine  sehr  späte  und  von  den  Jahrhunderten  der  classicität  weit 
abliegende  ist,  nicht  einmal  eine  selbständige  arbeit,  sondern,  wie  der' 
titel  besagt,  der  auszug  aus  einem  grösseren  werke  ist.  Indessen  wie  es 
ja  nichts  als  billig  und  dem  wissenschaftlichen  bedürfnis  angemessen  ist, 


zu  J.    VALEMl   EPITOMB  417 

dass  jedes  aus  dem  altertum  überlieferte  denkmal ,  sei  dessen  wert  auch 
ein  höchst  geringer,  möglichst,  und  bis  auf  kleinigkeiten  herab,  in  der 
form  erscheine ,  welche  sein  autor  ihm  gegeben  hat ,  so  möge  es  verstat- 
tet sein ,  im  folgenden  eine  anzahl  von  Vermutungen  mitzuteilen ,  welche 
ein  aufmerksames  lesen  des  Zacherschen  textes  erweckte.  Sie  treten  ohne 
weiteres  rüstzeug,  ohne  gelehrten  apparat  von  parallelstellen  auf.  Bei 
einem  autor,  wie  der  vorliegende,  wird  dies  auch  kaum  jemand  verlan- 
gen, besonders  wenn,  wie  in  diesem  falle  geschehen,  die  überaus  fleis- 
sige ,  gewissenliafte  und  erschöpfende  arbeit  des  herausgebers  ihre  nichts 
weniger  als  dankbare  aufgäbe  auf  eine  weise  erfüllt  hat,  dass  nur  von 
einer  spärlichen  kritischen  nachlese  die  rede  sein  kann.  Viel  wird, 
besonders  in  rücksicht  auf  die  ziemlich  grosse  divergenz  der  handschrif- 
ten ,  deren  keine  unbedingt  das  prinzipat  beanspruchen  kann ,  unentschie- 
den, d.  h.  geschmacksache  bleiben  müssen.  So  würde  ich,  gleich  zu 
anfang,  selbst  ohne  das  massgebende  criterium  des  bezüglichen  griechi- 
schen textes  —  Pseudo-Callisthenes  —  schreiben: 

I,  1.  p.  1.     Aegyptii aniblfum  codi  sfellarumquc  nume- 

rum  adseciäi,    statt,    wie   Z. ,    Aegt/jdli ambitum  coeli  stellarum 

nuniero  adsecuti.  Gleich  darauf  heisst  es:  Quorum  omnium  Nectana- 
btis  prudentissimus  fuisse  comprobatur,  quip2)e  qui,  quod  alii  arniis  ille 
ore  potuisse  convincitttr.  Ich  würde,  um  das  anacoluth  zu  vermeiden, 
unbedingt  schreiben:  quij^pc,  quidquid  alii  armis,  ille  orc potuisse con- 
vincitur,  selbst  wenn  nicht  eine  der  handschriften  qtiippe  quicquid  Uli  böte. 

I,  8.  p.  3.  Mox  autem,  raso  capite  et  barba,  collectis  omnibus 
quaeque  sibi  erant  pretiosarum  opuni ,  appulit  Macedoniac,  Ich  meine 
quaecunque  sibi  erant  prctiosarmn  opum. 

I,  4.  p.  4.  Die  ergo,  quanam  usus x)eritia  adeo  veri  amicus  cluis. 
Der  griechische  text  lautet:  7roi(^  oiv  axeifm  xgcof^ievog  to  dXrjd^eg  e7ray'' 

yelXeig;   wonach  man  vermuten  darf,    dass  der  Epitomator  schrieb 

veri  nun  eins  cluis. 

1 ,  4.  p.  5.  Et  cum  verbo  promit  tabulas  quas  huius  peritiae  docti 
pinacem  nominant,  Auro  enim  et  ebore  variatum  pretium  cum  sui 
operis  admiratione  contenderat.  Völlig  unmotiviert  ist  hier  enim; 
bedenkt  man,  dass  das  griechische  original  diesen  Tilva^  i^  ilicpavTog 
xat  ißavov  aal  xQ^'^ov  xai  aQycQOv  gearbeitet  sein  lässt,  so  möchte 
man  vermuten:  auro  ebeno  et  ebore  variatum  pretium  (oder  wol  va- 
riati  pretium).  Aber  auch  der  schluss  scheint  verdorben;  und  ich 
weiss  mir  denselben  nicht  zurechtzulegen,  wenn  nicht  wenigstens  cum 
summi  operis  admiratione  contenderat  (contendebat ?)  gelesen  wird, 
(was  so  viel  heissen  würde  als:  „der  hohe  preis  wetteiferte  mit  der 
bewunderung  des  vorzüglichen  werkes,  kam  dieser  gleich"). 


418  MÄIILY 

I,  4.  p.  (>.  Quin  Necfanebus  statim  suam  adhibet  constdlationefn.  — 
Hier  ist  fiir  die  partikel  quin  durchaus  kein  platz  und  es  ist,  wie  denn 
auch  eine  pariser  handschrift  bestätigt,  cui  zu  schreiben,  dessen  ver- 
weclislung  mit  quin  vor  folgendem  n  (Nectanebus)  so  leicht  möglich  war. 

1 ,  1.  p.  7.     Nam  fatale  tihi  est misceri  te  Deo  getiituranigue 

filiiim  ultorvm  omnium.  Hier  ist  die  copula  que  hinter  f/ewi^tiraw  uner- 
träglich (vielleiclit  entstanden  aus  dem  schluss  des  cap.  5 :  genituramque 
filium  vindicem).  Wenn  es  ferner  bald  darauf  heisst:  Quare  paraveris 
tete  velim,  tit  fcminis  mos  est  et  reginae  dccorum,  ad  huiusniodi 
nuptias,  so  scheint  aus  der  lesart  der  mehrzahl  der  besten  bandschiif- 
ten  feminas  eher  feminae  herzustellen  zu  sein;  vgl.  reginae, 

1,  7.  p.  8.  Insequenti  igitur  die  locus  destinatur  mago,  isque  prth 
uldit  ex  arte  vellus  arietis  mollissimum  simul  cum  cornibus.  Ob  nicht 
2)rocudit? 

I,  8.  p  10.  Sed  Nectanabus  accipitrem  sibi  sacratum  parat.  Hier 
hätte,  meiner  ansieht  nach,  nach  angäbe  des  Juretus,  dessen  mannscript 
an  dieser  stelle  secretim  enthielt,  letzteres  adverbium  statt  des  weniger 
verständlichen*  sacratum  anfgenommon  werden  sollen;  secretim  pro  sccreio 
sagt  Juretus  richtig,  und  naheliegende  analogieen  lassen  diese  bildung 
als  ganz  unzweifelhaft  erscheinen. 

I,  8.  p.  11.  Aegyptium  igitur  semen  est  qui  couceptus  est; 
non  tarnen  humile  sed  }yraeclarum.  Möglich  ist  es,  dass  qui  conceptas 
est  (Alexander,  als  subject)  neben  humih  und  praeclarum  (epitheta  zu 
dem  prädicat  semen)  bestehen  kann,  aber  nicht  eben  wahrscheinlich, 
also  eher  quod  eonee2)tum  est.  Ausserdem  war  nach  den  bessern  hand- 
schrit'ten  nee  tarnen  zu  schreiben.  Bald  darauf  heisst  es:  Sed  quofiiam 
signaculum,  quod  solis  forma  visebatuTj  subter  leonis  captd  hastili  suh- 
jecto:  is  ipse,  qui  nascetur^  usque  in  orientis  perceniet  2>osscssiof^efn. 
Soll  hier  einige  Ordnung  in  die  syntax  kommen,  so  wird  zu  schreiben 
sein:  sed  quoniam  in  signaculo  solis  forma  visebatur  subter  leafün 
Caput  hastili  subjecto  — 

Im  folgenden  ist  für  enimvero  quoniam  dcum  cajnte  aridino 
testaris  keine  berechtigung  vorhanden,  es  wird  dein  vcro  zu  corrigie- 
ren  sein. 

I,  lu.  p.  12.  Nectanabus  vcro  praesens  sed  incisus  agebai  nee 
vidcri  sc  ex  arte  magica  concesserat.  Ich  vermag  dieses  coficcsseraf 
nicht  zu  deuten  und  vermute  confecerat, 

I,  12.  p.  15.  Mane,  inquit,  quaeso,  mi  mulier  ...  quippe  si 
nunc  fiat  editus  partus,    servilem-   quidem  ...    illum   futurum  astra 

1)  Psoudoc.  1,  S:  W()«x(t  jnhtytar.  vgl.  J.  (jriiimi,  pesoh.  d.  deutsch,  spräche 
1.  ausj^.  s.  50.  51.  Z. 


zu  J.   VALERII   EPITOME  419 

minnntur.  Der  sprechende  liatte  kaum  das  recht,  mea  (oder  mi)  muUcr 
zu  sagen:  überliefert  ist  beides;  mulier  allein  wird  richtig  sein;  unmög- 
licli  ist  aber  fiat  editus  partuSy  wahrscheinlich  fucrit  cditns  parttiSy 
wie  auch  eine  handschrift  bietet. 

Am  ende  des  capitels  nach  Schilderung  der  wunder  und  zei- 
chen bei  geburt  Alexanders,  lesen  wir:  uti  visercs,  omni  mundo 
hac  partitudine  ciiram  dabo  rat  am  —  ein  sonderbarer  ausdruck. 
Pseudo - Calliöthenes  drückt  sich  so  aus:  üütb  tov  oviinavia  Y.6(5\.iov 
ovyKivrjd^rjvai,  Etwa  omni  mundo  hac  partitudine  cur  am  et  lahorem 
natu  m  ? 

I,  13.  p.  15.  Ergo  ait  et  Vhilippus:  „Utile, ^^  i)U[uit,  „consilium 
0  mulier,  mihi  profttehory  non  nutriendi  quod  natum  estJ^  Hier  ist  ait 
zu  streichen  als  dittographie  von  et^  welches  einige  handschrift^n  nicht 
haben;  ferner  ist  utile ,  das  ganz  widersinnig,  mit  f utile  zu  vertau- 
schen; drittens  glaube  ich  nicht,  dass  fuisse  (hinter  inquit  ausgefal- 
len?) entbelirt  werden  kann.  Wenn  bald  darauf  fortgefahren  wird  sed 
cum  videam  sobolem  esse  divinam  diis  quoque  aique  elementis  cordi  fuisse, 
votis  educationis  accedo  —  so  ist  sehr  auffallend,  nach  divinam,  diis 
quoque^  um  so  mehr,  da  der  offenbar  übersetzte  griechische  text  nichts 
davon  weiss :  aXk'  hteidt]  ogco  Trjv  jtiiv  a7toQaj'  oiaar  -d^eov ,  zöv  de  Toxe- 
tov  htior^^iov  xoaiiUTtdv,  Daraus  könte  man  schliessen  auf  die  fas- 
sung  sed  cum  videam  sobolem  esse  divinam,  edi  quoque  elementis  cordi 
fuisse,  —  Als  leibliche  und  geistige  pfleger  Alexanders  werden  genant 
(ibid.)  nutrix  Älacrinis,  pacdagogus  Leonides,  liiteraiurae  Folinicus 
magister,  musicus  Alcipxms,  gemuctriae  Meneclcs,  oratoriue  Anaxime- 
nes,  philosophiae  Aristoteles.  Hier  erfordert  der  parallelismus  durch- 
aus musices  Aloippus.  Dasselbe  gesetz  des  parallelismus  verlangt  auch 
gebieterisch  eine  textesilndermig  im  vorhergehenden:  erat  autem  vultu 
et  forma  pulcerrimus ,  subcrispa  ptaulidum  et  flavente  eacsarie  et  comae 
leoninae,  oculis  egregii  decoris,  altero  admodum  nigro  usw.,  wie 
dies  auch  der  Schreiber  des  cod.  D.  fühlte,  welcher  coma  leonina  corri- 
gierte;  allein  diese  änderung  ist  kaum  richtig,  da  flavente  eacsarie  und 
coma  leonina  nicht  zwei  verschiedene  glieder  bilden  können.  Der  grie- 
chische text  lautet  (.loqq^r^v  (tiiv  el^sv  avO^Qi07COv  ^  Tt]v  de  xaiTtjV  XiovTog, 
wonach  wahrscheinlich  herzustellen  flavente  eacsarie  ut  comae  leoni- 
nae. —  Eine  amme  Älacrinis  also!  Welches  monstrum  hybridum!  iimait- 
ten  acht  griechischer  namen!  Irre  ich  nicht,  so  wird  sie  wöl  in  Eili- 
crinis  {EDj'AQivig^)  umzutaufen  sein. 

1)  oder  EiXixQivtjg ,   so  gut  wie  bei  Homer  die  Nereiden  NtjfitQTtjg  und  J'/i/^*i.'- 
6r}g  sich  finden. 


420  MÄHLY 

Erat  quidem  —  heisst  es  weiter  ibid.  p.  17  —  ille  ad  omnes  lii- 
feras  p crif  u s.  Etwa  2^ (^ ^ atus ?  Vom  ßuceplialus  berichtet  der  aator 
(ibid) ,  er  sei  gewesen  armcnti  regalis  gcntis  formatum  2)€dibus  ad  Fe- 
gasi  fahulam.  —  Glaubwürdiger  ist  ad  Pegasi  figuram  oder  Sta- 
tur am. 

I,  18.  p.  22.  In  der  antwort  des  jungen  Alexander  an  Nicolaus: 
qtüd  , . .  prodest  tibi  ista  vana  imperii  jactatio  de  secundis  crastinis 
fluctiians  ist  ohne  zweifei  zu  lesen  fluctuanti   {cod.  B  flucttuU). 

1,  21.  p.  24.  Sed  rex  eff'ervesccnte  ira  j^^osiUetis  in  Alexandrum 
cntrequc  vnhierato  lyrocnmhit.  —     Hier  ist  que  zu  streichen. 

r,  22.  p.  24.  Quacso,  lnquity  0  Philij>pe,  quid  tandeni  rei  est, 
quod  te  averterit  a  coniugc'^  Hier  ist  unbedingt  die  lesart  der  be- 
sten handschrift  avertity  welche  sie  mit  noch  zwei  andern  gemein- 
schaftlich hat,  aufzunehmen,  und  eben  so  nötig,  ja  wo  möglich  noch 
nötiger  hätte  im  folgenden  die  Verbesserung  A.  Mais  aveocnitn  scire 
statt  der  handschriftlichen  fi herlief erung  habco  platz  greifen  sollen.  Fer- 
ner hätte  icli  1 ,  24.  p.  26  unbedingt  der  lesart  der  bessern  handschriften' 
Pausanias  ...  oplhus  et  delictis  affluens  den  Vorzug  gegeben  (vor 
divitiis).  In  demselben  kapitel  (p.  27  oben)  lässt  der  herausgeber  die 
Olympias  zu  ihrem  söhne  sagen:  Jaculare  ..  fdi!  jactdare  7W  duhites! 
Es  war  aber  zu  interpungieren  Jaculare!  fili!  jaculare!  ne  dubites! 
,,Wirf!  mein  söhn!  Wirf!  Zögere  nicht!*'  jactdare  darf  nämlich  nur 
als  imperativ  des  deponens  jaculari,  nicht  aber  als  inlinitiv  act.  gefasst 
werden.  Ebenso  muss,  wie  mir  scheint,  im  folgenden  capitel  1,  25. 
p.  27  durch  Veränderung  der  interpunction  geholfen  werden:  En  tenipus 
est,  ut ,  quicumquc  Alerand ro  cupit  mUitare,  focdiis  inire  cum  illo  festi- 
vet.  Ich  meine  En  tempiis  est,  ut,  quicumquc  Alexandra  cupit  („wol 
will**),  militare  foedus  inire  cum  illo  festinet. 

1 ,  3(3.  p.  30.     Tgro  dehinc  satrapam  praeficit.     Tumque  Syriam 

perrcxity    accepitque   litteras.      Alexander  war    bereits   längst   in 

Syrien  (vgl.  cap.  35  init.:  Syriae  per  quascunquc  sihi  tramitus  fuerat 
civitates)  und  hatte  schon  Tyrus  erobert;  daher  muss  es  heissen  Tum 
2) er  Syriam  pcrrccit  cett. 

I,  39.  p.  33.  Miramur  adeo,  rcx^  te  hactenus  talia  latuissc,  atquc 
e  multitudinis  impetu  tanta  nostratihus  sujyervenisse.  Das  ist  kaum  ver- 
ständlich und  darum  auch  kaum  glaublich.  Ich  lese  atquc  multitudinü^ 
i mp ctu m  tantae  nostratihus  su2>ervenisse. 

I,  41.  p.  34.  Tandem  repentino  imhre  procedcnte  Persae^  c ac- 
utus sihi  adrcrsari  dicentes,  fugam  capessunt.  Wahrscheinlich  .... 
imhre  procidcnte  Persae  coelites  sihi  advcrsari  dicentes  eqs. 


zu  J.   VALEIUI  EPITOME 


töl 


I,  46.  p.  36.  Bofii  igitur  consules  et  ab  hac  tarn  sacrilega 
actione  quiesces.  Das  ist  richtig,  und  darum  muss  auch  zu  ende  des 
39.  kapitels  gelesen  werden  Boni  igitur  consules  (statt  consulas)  et 
quam  primum  cum  ex&icitu  potentissimo  eidem  obviabis. 

I,  47.  p.  37.  Alexander  edici  per  praeconem  iuhet^  reaedificari 
Thebas  esse  permissum  in  honore  (doch  wol  honorem)  trium  deorum, 
Herculis,  qui  pug Hiatus  invenerit,  et  Mercurii  qui  repertor  luctandi 
cluit  (doch  wol  cluat),  PoUucis  etiam,  qui  cestihus  sit  niagister, 

II,  1.  p.  38.  Der  brief  Alexanders  an  die  Athener  begint:  Equi- 
dem  S2)erOy  vos  mihi  fidos  dextrosque  futuros,  quorum  doctrina  imbutum 
me  reminiscor,  atque  ideo  mihi  Europa  omnis  subdita  est.  Vor  atque 
idco  scheint  denn  doch  eine  lücke  angenommen  werden  zu  müssen ,  denn 
bei  allem  respect  vor  der  gelehrsamkeit  konte  ein  Alexander  sich  doch 
kaum  zu  dieser  behauptung  versteigen.  Im  folgenden  at,  quia  vos  non 
secus  meum  vdle  sentire  comperi,  accipite  usw.  —  muss  etwas  ver- 
dorben sein;  am  einfachsten  scheint  die  änderung  at,  quia  vos  secus  vdle 
sentire  comperi;  allein  paläographisch  wahrscheinlicher  ist  at,  quia  vos 
non  secundum  me  sentire  comperi, 

II,  1.  p.  39.  Quae  res  cum  mox  in  curiam  Universum  coetum 
contraxisset,  percunctatus  Äeschines  orator  in  haec  verba  conciona- 
tur.  Nicht  vielmehr  haud  cunctatus?  Ich  kann  leider  im  augenblick 
den  griechischen  text  nicht  vergleichen ,  zweifle  aber  sehr ,  ob  er  ftiad^aiv 
öi  ^iayjvr^g  lauten  wird.  His  dictis  ab  Aeschine  canfestim  Demades  . . . 
subsequens  hinc  exoritur.  Hier  war,  mit  der  besten  handschritt, 
exorditur  unbedingt  aufzunehmen. 

II,  3.  p.  40.  0  cives  viri ,  agitur  haec  curia,  uti  video,  super 
tractatu  —  doch  wol  hac  curia. 

II,  3.  p.  41.  Demades  ita  peroravit,  ut  putaret,  fws  olim  feli- 
cium  gloriarum  rcminisce^ites  ...  arma  in  hostcm  esse  sumpturos. 
Ich  denke  felicium  uictoriarum. 

II ,  5.  p.  41.  Idcirco  prudentissimos  vestrum  convenire  colloquio 
mco  m<ilui.     Nicht  mecum  malui? 

II,  6,  p.  42.  uti  boni  consulerent  et  navibus  derdictis  armisque 
amissis  amicitiae  suae  potius,  quam  armorum  caperent  experimentum. 
Das  richtige  wird  sein  armisque  missis  („bei  seite  lassend**). 

ibid.  Ad  quos  rex  ait.  Scio  me  integris  etiam  rebus  id  consu- 
lere  voluisse.  Alexander  kann  nichts  anderes  sagen  als  scitote  (oder 
wenigstens  scite), 

II,  8.  p.  43.     Quippe  calente  tunc  ..  corpore  ineidens rigore 

nervis  tantam  iniuriam  perniciemque  tradidit,  ut  vix  expiabilis  vide- 
rdur.    Hier  wäre  selbst  ohne  Vincent.  Bellovac.  traxit  statt  tradidit 


•122  K.    U.   MEYKE 

ZU  schreiben  geweson.  Merkwürdiger  weise  tiiulet  sicli  bei  demselben 
Vincontius  mox  expirahllis  statt  vlx  cjpiahilis.  Die  bildung  expi* 
rahilis  widerspricht  nun  iillerdings  der  analogie,  aber  auch  expiabi- 
lis  ist  bedenklich,  der  bedeutung  wegen.  Hiess  es  ursprünglich  im  texte 
ut  m  0  X  e  xp  i  r  a  r  c  s  u  i  s  vidcretur  .^ 

Verderbt  muss  sein  (gleicli  darauf)  Philippus  quidam  nommCy 
(loci  HS  urtis  eins  dem  —  denn  ciusdam  hat  durchaus  kein  praecedens, 
worauf  es  sich  bezielien  könte.  Ist  hinter  fafigaretur  eine  lücke  anzu* 
nehmen,  wo  von  der  ratlosigkeit  der  medicl  die  rede  war? 

II,  8.  p.  11.  rexque  Fanncnionem  proiinus  pocna  capitis  dcpen- 
dlt  Diese  construction  ist,  so  viel  ich  sehe,  unmöglich;  statt  depen- 
dit  möchte  mit  cod.  D  dampitavit  zu  sclireiben  sein. 

II,  21.  p.  51.  Itahco  tarnen  grattam  condignam  rcpmderchis.  — 
Icli  denke  aveo  tarnen  us^v. 

III,  2.  p.  52.  F<det  qaippc  uosse ,  quls  die  ego  sim^  Porus ,  et 
an  ulll  advcrstim  nos  liearrit  ex  furtltudute.  Quare  inhco  usw.  Hinter 
fortitudine  muss  etwas  ausgefallen  sein,  walirscheinlicli  certare,  wel- 
ches dann  durch  das  honioeoteleuton  qnare  verschluckt  wurde. 

III,  2.  p.  53.  Addis  praeterea  oprrae  pretium  cousidcrari 
militantibns,  ne  frustya  lahoretur.  Es  muss  heissen  op orter c  pretium 
considerari  usav.  (vgl.  den  schlussatz  des  Porus  p.  52  unten). 

III,  3.  p.  53.     Cain econfra  Fersae  sagdtis  eos  praevcnirei}^^ 

Macedones  quoqae  iaculis  diversi  gener is  nee  minus  eos  pracirent, 
equus  taudem-  Alexandri  usw.     Etwa  premerent:^ 

liASEL.  J.   MÄllLY. 


ÜIJER   (iKRIIAPtl)   VON   VIKNNE. 

EIN  BEITRAG  ZUR  RüLANDSSAliE. 

Indem  ich  aus  dem  altfraiizösischen  lUtman  de  Gerard  de  Viaue 
neues  licht  über  das  wesen  der  llolandssage  zu  scliöpfen  mich  anschicke, 
nmss  ich  leider  gleich  zu  anfang  bekennen ,  dass  ich  zu  solcher  arbeit 
mehrerer  notwendiger  Werkzeuge  entbehrte.  Denn  weder  waren  mir  die 
umfassenden  untersuclmngen  von  P.  Paris  in  der  Histoire  lit^raire  de 
la  France.  Bd.  22,  von  G.  Paris  in  der  Ilistoiro  poetiquo  de  Charle- 
magne,  von  L.  Gautier  in  Les  epopte  franyaises  zugauglicli,  noch 
konte  ich  Tarbes  ausgäbe,  Le  Koman  de  Girard  de  Viane.  Keims  1850. 
benutzen.  Meine  betrachtung  dieses  teiles  der  altfranzösischen  sage  ruht 
allein   auf  Imm.  Bekkers   ausgäbe  in  seinem  Roman  von  Fierabras, 


Cb£b  gebhabd  von  vienne  423 

provenzalisch.   1829.    S.  XII  — LIII  und   s.  156  — 169,   der  nach  W.  L. 
Hollands  bemerkung  nur  die  ersten  2600  verse  fehlen.^ 

Unser  Roman  de  Gerard  de  Viane  gehört  einem  grossen  geschlechts- 
gedichte  an,  das  nach  seiner  ersten  abteilung  gewöhnlich  Garin  de  Mont- 
glaive,  von  einigen  nach  seinem  haupthelden  Chanson  de  Guillaume  au 
court  nez  genant  wird  und  aus  folgenden  meistens  auch  für  die  deutsche 
litteratur  wichtigen  epen  besteht:  1)  Garin  de  Montglaive.  2)  Girart  de 
Viane.  3)  Aimeri  de  Narbonne.  4)  Les  enfances  Guillaume.  5)  Le 
couroimement  du  roi  Looys.  6)  Le  charroi  de  Nismes.  7)  La  prise 
d'Orange.  8)  Beuve  de  Comarchis.  9)  Guibert  d'Andrenas.  10)  La 
mort  d' Aimeri  de  Narbonne.  11)  Les  enfances  Vivien.  12)  La  cheva- 
lerie  Vivien  und  La  bataille  d'Aleschans.  13)  Le  moniage  Guillaume. 
14)  Kainouart.  15)  Bataille  de  Loquifer.  16)  Le  moniage  ßainouart. 
17)  ßenier.  18)  Foulque  de  Candie.  Diese  gewaltige  geste  scheint  noch 
im  12.  Jahrhundert  von  Bertrand,  einem  clerc  in  Bar  sur  Aube,  behan- 
delt zu  sein.^  Wir  sehen  hier  vom  hauptstoffe  derselben,  der  anziehen- 
den sage  Wilhelms  von  Orange,  ab  und  widmen  unsere  aufmerksam- 
keit  vor  anderen  der  zweiten  abteilung  des  gedichtes,  dem  Gerard 
de  Viane.     Der  inhalt  ist  folgender: 

1)  V.  1  —  48.  Gerard  von  Viane  ist  mit  seiner  gattin  Gui- 
borc  schon  sieben  jähre  (v.  521  fgg.)  lang  von  kaiser  Karl  dem 
Grossen  belagert.  Ihn  unterstützen  seine  brüder,  namentlich  ßai- 
nier  von  Genes  in  begleitung  seines  sohnes  Olivier  und  seiner  toch- 
ter  Aude. 

2)  V.  49  —  347.  Über  einen  falkcn,  der  dem  Eoland  über  die 
Khone  hin  entflogen  und  von  Olivier  aufgefangen  ist,  geraten  beide 
vor  der  stadt  in  streit,  bis  Olivier  ihn  herausgibt. 

:^)  V.  348  —  721.  Bald  darauf  zu  ostern  lässt  Koland  für  eine 
quintaine  mitten  auf  einer  wiese  drei  pfilhle  aufrichten,  jeden  mit 
einem  starken  doppelpanzer  bekleidet.  Olivier,  anfangs  mit  Aude  dem 
waftenspiele  zusehend,  reitet  dann  heimlich  hinaus,  durchbohrt  unerkant 
zwei  Schilde  und  die  panzer  und  wirft  das  ganze  pfahlwerk  über  den  häu- 
fen. Nun  entbrent  ein  kämpf  zwischen  Olivier  und  Roland,  der 
die  Aude  o  le  der  vis,  aufsein  ross  hebend,  rauben  will;  doch 
Olivier  entreisst  ihm  die  Schwester. 

4)  V.  722  —  1239.  Lanbers,  gi'af  von  Baris  (auch  Berri)  et 
Bourgogne,  bietet,  um  Roland  zu  rächen,  Olivier  einen  Zweikampf  an. 
Aude  will  ihn  vergeblich   verhindern,    Lambert  wird  besiegt  und  geht, 

1)  Vgl.  ühland,  über  das  altfranzösiscbe  epos,  in:  Schriften  4,  336. 

2)  ühland  Sehr.  4,  334  fgg. 


424  E.    H.    MEYER 

von  Audes  Schönheit  bezaubert,  nach  Vienne  und  versucht  daraur  mit 
Olivier  im  lager  der  Franken  zwischen  Karl  und  Gerard  frieden  zu 
machen. 

5)  V.  1240—  1884.  Da  ihre  vorschlage  abgevnesen  werden,  for- 
dert Olivier  den  Roland  auf  die  Khoneinsel  unterhalb  Yiane 
zum  Zweikampf.  Siegt  Koland,  so  soll  Gerard  die  stadt  ausliefern; 
unterliegt  er,  so  hat  der  kaiser  die  belagermig  aufzuheben.  Doch  bei 
Oliviers  weggang  entsteht  neuer  streit,  die  Vianer  eilen  herzu,  Gerard 
bläst  das  hörn  zum  rückzug.  Karls  beer  bestünnt  die  stadt,  von  deren 
mauer  die  von  Roland  bewunderte  Aude  einen  stein  her- 
abwirft, der  einen  Gascoguer  fast  zu  tode  trifft.  Schliesslich  treibt 
Oliviers  ausfall  das  beer  der  stürmenden  zurück. 

6)  V.  1885 —  3101.  Karl  träumt  von  einem  falken,  der  ans 
Viano  geflogen  mit  seinem  liabicht  kämpft,  dann  friedlich  sich  schnä- 
belt. Jener  wird  morgens  auf  Olivier,  dieser  auf  Roland  gedeutet 
Vor  dem  Zweikampf  auf  der  Rhoneinsel,  der  nun  beginnen  soll,  stösst 
Olivier  dreimal  ins  Hörn  und  Roland  setzt  zu  ross  über  den  ström. 
Nun  ersucht  Olivier  Roland,  den  Vianeru  beim  kaiser  frieden  zu  erwer- 
ben, wofür  ihm  Aude  zum  weihe  gegeben  werden  soll.  Aber  Boland 
will  Aude  und  Viane  mit  dem  schwert  erringen ,  sodass  nun  unter  Audes 
und  Karls  äugen  der  kämpf  entbrent.  Als  Roland  Oliviers  ross  geftUt 
hat,  sinkt  Aude  in  Ohnmacht  und  Guiborc  trauert.  Dann  zerhaut  Koland 
auch  Oliviers  schwert,  erlaubt  ihm  jedocli  sich  ein  anderes  holen  zn 
lassen,  heischt  aber  für  seinen  durst  einen  trunk.  Als  Olivier  sich 
mit  einem  neuen  Schwerte  versehen,  wird  er  von  Roland  bei  erneuerung 
des  kampfes  zu  boden  gehauen.  Aufgesprungen  bedrängt  er  aber 
Roland  so,  dass  dieser  aus  müdigkeit  um  ruhe  bittet.  Da  dies  vorwei- 
gert mrd,  obgleich  schon  der  abend  hereinbricht,  stellen  sie  sich  von 
neuem  mit  gezücktem  Schwerte  gegenüber.  Da  senkt  sich  eine  wölke 
zwischen  sie,  ein  engel  steigt  heraus,  mjihnt  sie  von  weiterem  kampÜB 
ab  und  fordert  sie  zu  gemeinsamem  streite  gegen  die  Sarazenen  auf. 
Nun  versöhnen  sich  die  beiden  unter  einem  bäume,  und  Roland  will 
Aude  zum  weihe  nehmen  und  den  kaiser  zum  frieden  bewegen.  Nach 
einem  küsse  gehen  sie  auseinander. 

7)  V.  3102  — 3955.  Karl  hält  sich  nicht  dadurch  gebunden  und 
setzt  die  belagerung  fort.  An  einem  maientag  jagt  er  bei  Viane  in 
Clermon,  einem  grossen  walde,  was  ein  böte  dem  Gerard  meldet. 
Nachts  steigt  dieser  mit  seinen  rittern,  unter  andern  mit  dem  Lombar- 
den Desieirs  de  Pavie  in  einen  unterirdischen  gang,  ein  bau- 
werk  der  beiden,  und  gelangt  so  zum  hause  des  ßrsters  Bertran. 
Sie  überraschen  den  kaiser,  wie  er  an  einer  quelle  einem  erlegten  eher 


Cbbr  gbbhard  von  vibnke  425 

die  haut  abzieht.  Gerard,  der  entweder  sein  land  widerhaben  oder  zu 
den  Aral^rn  gehen  will,  wird  vom  kaiser  begnadigt  und  führt  ihn  durch 
den  geheimen  gang  mitten  auf  einen  platz  in  Viane.  Karl 
bittet  fiir  Roland  um  Audes  band  und  Quiborc  ffihrt  sie  ihm  zu.  In< 
gegenwart  des  erzbischofs  reichen  sich  Boland  und  Aude  die 
band. 

8)  V.  3956  —  4060,  In  diesem  augeublicke  treffen  boten  ein  vom 
guten  könig  Ys  von  Qascogne,  welche  den  einfall  von  vierzehn  feind- 
lichen königen  melden ,  die  Tarascon  geschleift  haben  und  Bordeaux 
belagern.  Seguins  von  Bordeaux  fragt  sie,  ob  sie  die  Wahrheit 
sagen.  Nach  genauer  meidung  entbietet  Karl  sein  beer  zum  kämpf  nach 
der  Gascogne.  Roland  küsst  Aude  und  übergibt  ihr  seinen 
ring.    Dann  scheiden  sie  auf  immer  von  einander. 

Schon  diese  dürftige  Inhaltsangabe  führt  zu  der  Vermutung,  dass 
in  diesem  gedichte  geschichtliche  und  sagenhafte  bestandteile  mit  ein- 
ander verbunden  seien,  indem  der  erste,  vierte,  siebente  und  letzte 
abschnitt  einen  mehr  historischen,  die  andern  vier  einen  sagenhaften 
Charakter  tragen.  Den  haupthelden,  den  aufständischen  grafen  Ger- 
hard von  Vienne,  nennen  nun  auch  verschiedene  fränkische  annalen 
des  neunten  Jahrhunderts.  Graf  Gerhard  von  Paris,  anhänger  kaiser 
Lothars ,  wurde  nach  der  Schlacht  bei  Fontenay  841  durch  Karl  den  Kah- 
len seiner  grafschaft  beraubt,  dafür  aber  durch  Lothar  zum  herzog 
oder  grafen  von  Burgund  erhoben.  Nach  Lothars  tode  residierte  er 
zu  Vienne  als  allmächtiger  vormund  des  schwachen  königs  Karl,  von 
der  Provence  und  verjagte  um  860  die  Normannen  aus  der  Camargue.* 
Darauf  entbrante  ein  krieg  zwischen  Gerhard  und  seinem  alten  feinde 
Karl  dem  Kahlen,  und  ums  jähr  870  übertrug  dieser  die  grafschaft 
Bituricum  von  Gerhard  auf  Acfrid,  aber  da  es  diesem  nicht  gelang  den- 
selben daraus  zu  vertreiben,  so  erschien  Karl  selber  vor  Vienne,  das 
Gerhards  gattinBertha  verteidigte,  während  Gerhard  sich  in  eine  andere 
bürg  zurückgezogen  hatte.  Als  Karl  die  einwohner  Viennes  für  sich  zu 
gewinnen  wüste ,  rief  Bertha  ihren  mann  zu  hilfe ;  dieser  kam  auch  her- 
bei, aber  nur,  um  die  Stadt  dem  könige  auszuliefern.*  Er  zog  sich  darauf 
mit  seiner  gattin  auf  seine  guter  in  der  Bourgogne  zurück.^  Nach  einem 
andern  berichte  wurde  Gerhard  von  Karl  gezwungen,  geisein  zu  stellen, 
und,  mit  seiner  gattin  auf  drei  schiffen  die  Rhone  hinunterfahrend,  Vienne 
zu  räumen,  das  Karl  seinem  schwager  Boso  übergab.^    Auf  diesen  aus- 

1)  Fauriel,  bist.  d.  1.  p.  prov.  3,  34  ff. 

2)  Pertz,  Mon.  1,  476.  2,  491.  493. 

3)  Hist.  d.  Languedoc  1,  577. 

4)  Pertz  a.  a.  o.  2,  491. 


42n  E.   II.   MKYEB 

giiiig  scheint  auch  sclioii  unser  godicht  in  den  v.  3553  —  3555:  de  Im' 
tnnmi  ma  ferro  et  mim  pah,  FA  sil  nel  fait,  par  le  cors  S.  Mori$. 
ie  m' en  irai  on  raiijne  as  Arrahis  anzuspielen. 

Der  provenzalische  ronian,  in  welchem  der  held  Gerhard  von 
iloussillon,  nach  einem  bei  Chatillon  an  der  Mai'ne  gelegenen  schlösse, 
sein  königlicher  gegner  Karl  M  arteil  heisst,'  hat  zum  hauptinhaltc  die 
Irrfahrten  Gerliards  und  seiner  frau  Bertha  wälirend  seiner  verbannungs- 
zeit,  die  auf  22  jähre  angegeben  wird/  aber  in  französischen  gegenden 
sich  abspielt.  In  einem  Koman  de  Roncevaux  ist  er  ein  Paladin  Karls 
des  Grossen  und  wird  von  Marsilius  erschlagen.'*  In  den  späteren 
italienischen  heldenromanen  erscheint  er  unter  dem  namen  Gerhard  von 
Fratta  als  rebell  und  zugleich  als  renegat,  dann  wider  auf  der  seite 
der  Christen  im  kami>ie  gegen  den  heidenkönig  Agolänte.* 

Es  zieht  mich  hier  nicht  an,  die  romanische  Weiterbildung  der 
sage  von  Gerliard  von  Vienne  zu  verfolgen;  icli  will  in  der  kürze  nur 
noch  auf  einige  andere  gcscliichtliche  anhaltspunkto  derselben  liinwei- 
sen.  Die  im  vierten  abschnitte  unseres  gedichtes  neu  auftretende ,  etwas 
zweideutige  gestalt  Lamberts,  des  grafen  von  Berry  und  Bonr* 
gogne,  der  auch  im  elften  capitel  Turpins  als  fürst  von  Beny  mit 
2()()o  kriegern  auftritt,  deutet  walirschchilich  auf  einen  Zeitgenossen  Ger- 
hards, den  herzog  Lambert  zurück,  der  zwischen  Seine  und  Loire  ein 
herzogtum  besass,  sicli  verräterisch  mit  den  Bretanen  verband  und  den 
Franken  unter  Vivianus  um  85u  eine  furchtbare  niederlage  beibrachte.^ 
Diese  annähme  ist  um  so  begründeter,  als  auch  der  tragische  untergaug 
Vivians  in  die  Rhonesage  aufgenommen  ist,  und  zwar  in  die  der  Ger- 
hardsage innerlich  verwante  und  durcli  IJertnmd  auch  ausserlich  mit  ihr 
vertiochtene  Überlieferung  von  Wilhelm  von  Orange. 

Der  letzte  abschnitt  erwähnt  den  Seguin  von  Bordeaux ,  der 
als  Saguin  oder  Sanguin  auch  in  den  Keali  di  Francia  vorkomt.  Er  ist 
ohne  zweifei  dem  geschichtlichen  gi'afen  von  Bordeaux  Saguins  gleich  za 
achti^n,  welcher  den  an  deutsche  hauskoboldsagen  erinnernden  beinamen 
Mostellanicus  trug  und  815  oder  841)  von  den  Normannen  orschlageu 
ward.  •'• 

1)  tjhrij^cns  lit'^'t  auch  «'in  I^o ussil lo n  diolit  boi  Vioniic  mit  ilon  miiien 
viiH's  Schlosses,  dessen  schönhi-it  ^'C^cii  ende  des  12.  jahrbundertK  der  troubadour 
Cjnillein  von  Saint -Didier  preist.  Mvlius.  lussreise  durch  duH  südliche  Frankreich 
II.   1,2.    Diez,  Lohen  und  werke  der  Troubadours  s.  324. 

:>)  Fauriel,  hist.  d.  1.  ijocsie  prov.  2,  'M  IV. 

;j)  W.  (irimm,  Holandslied  s.  LXXII. 

•t)  IJe^'is  zu  Hojardo  s.  405.   127. 

r»)  Pertz.  Mon.  1,  r»70.    2,  253.  3():».  «;r»3. 

())  Hist.  d.  liun^'uedoc  1,  513.    Tertz,  Mon.  2,  253. 


ÜBER   GERHARD  VON    VIENNB  427 

Jüngere  ereignisse  als  die  augeführten  haben  in  unserer  Gerjiard- 
sage  keine  spuren  hinterlassen,  so  dass  wir  annehmen  dürfen,  dieselbe 
ha])e  am  ende  des  neunten  Jahrhunderts  ihren  abschluss  gefunden.  Wol 
aber  bemerkt  man  einige  etwas  ältere  einwirkungen  der  geschichte.  So 
kann  in  dem  Lombarden  Desieirs  de  Pavie,  einem  gegner  des  kai- 
sers ,  der  unglückliche  Langobardenkönig  Desiderius ,  der  feind  Karls  des 
Grossen,  nicht  verkant  werden.  Überhaupt  wird  ein  schärferer  unter- 
sucher  leicht  auch  hier  Verschmelzungen  und  vertauschungen  weitentfern- 
ter Personen,  ereignisse  und  Völker  des  karolingischen  Zeitalters  nach- 
weisen, wie  ja  in  dieser  gedichtgattung  z.  b.  die  drei  bedeutendsten 
Karle,  Karl  Martell,  Karl  der  Grosse  und  Karl  der  Kahle,  oft  für  ein- 
ander eintreten  und  die  heidnischen  Normannen  oft  unter  dem  namen 
der  gleich  furchtbaren  Sarazenen  vorkommen.  Alle  diese  angaben  über- 
blickend ,  müssen  wir  allerdings  einräumen ,  dass  der  Gerhard  von  Vienne 
und  die  meisten  karolingischen  heldengedichte  einen  hauptteil  ihrer  nah- 
rung  aus  den  wilden  kämpfen  des  Karolingertums  gesogen  haben,  und 
dass  sie  erst  in  einer  zeit,  wo  die  Germanen  mehr  oder  minder  roma- 
nisiert  waren,  zu  voller  reife  gelangten.  Aber  andererseits  behaupte 
ich,  dass  die  meisten  dieser  sagen  in  einem  weit  älteren,  echt  germa- 
nischen Zeitalter  geboren  und  zu  kräftiger  Jugend  emporgediehen  sind. 
Das,  was  Treitschke  das  „liömertum"  der  Franzosen  nent,  „diese 
nationale  verirrung  ihrer  phantasie,"  hat  sich  nicht  nur  seit  der  revolu- 
tion  ihrem  staatsieben  mitgeteilt,  es  hat  sich  früher,  wie  albekant,  in 
ihre  schöne  litteratur  gedrängt  und  auch  ihre  geschichtsforschung  wesent- 
lich beeinflust,  sowol  die  litterarische  Fauriels  wie  die  politische  Gui- 
zots.  Einem  Fauriel,  der  doch  wenigstens  in  der  derbheit  der  romane 
des  kärlingischen  Sagenkreises  eine  erinnerung  an  den  altfränkischen 
cliarakter  erblickt,^  wäre  es  sonst  unmöglich  gewesen,  in  der  echt  ger- 
manischen Waltharisage  den  ausdruck  einer  galloromanischen  feindschaft 
wider  das  Frankentum  zu  finden.  Unter  solcher  misgunst  gegen  deut- 
sches wesen  hat  die  Untersuchung  aller  jener  chansons,  in  deren  mehr- 
zahl  eine  viel  tüchtigere  germanische  heldenhaftigkeit  steckt  als  in  den 
meisten  mittelhochdeutschen  rittergedichten ,  schwer  gelitten,  indem  sie 
sich  gewönlich  mit  der  romanischen  schale  begnügte,  den  germanischen 
kern  dagegen  unberührt  liess.  Zwar  unter  den  Deutschen  hat  schon 
ühland  in  seinem  klassischen  aufsatze  Über  das  altfranzösische  epos 
1812  2  gesagt:    „Es  darf  zum   voraus   als   wahrscheinlich  angenommen 

1)  Fauriel,  bist.  d.  1.  poesie  prov.  2,  276. 

2)  In  ühlands  sehr.  4,  329  ff.   durch   W.  L.  Holland  von  neuem  heraus- 
gegeben und  mit  schätzenswerten  anmerkungen  bereichert. 


428  E.    H.   MEYER 

werden,  dass  mit  den  Franken,  so  wie  später  den  Normannen,  auch  ger- 
manischer gesang  nach  Gallien  übergewandert  sei,  und  dass,  so  wie 
deutsche  Verfassung,  deutsche  sitte,  überhaupt  deutsches  leben  in  Gal- 
lien Wurzel  gefasst,  so  auch  geist  und  weise  des  deutschen  gesanges." 
Aber  von  den  Franzosen  soll  für  den  deutschen  Ursprung  des  altfranzö- 
sischen heldenliedes  entschiedener  erst  L.  Gautier  in  seinen  oben  ei'wähn- 
ten  Epopöes  franfaises,  1865,  eingetreten  sein.^  Und  doch  gewint  man 
erst  das  völlige  Verständnis  für  diese  französischen  sagengewebe,  wenn 
man  ihren  dunkelen  grund  enträtselt,  den  germanischen  mythus.  Denn 
dann  erst  wird  einem  das  ursprüngliche  wesen  des  volksgeistes  und  seine 
spätere  entfaltung  deutlich  und  zugleich  die  litterarische  tatsache  begreif- 
lich, dass  die  kärlingischen  romane  weit  populärer  waren  in  Frankreich 
als  die  Artusromane. 

Den  versuch  zu  einer  geschieh te  der  deutschen  sage  auf  französi- 
schem boden  zu  unterstützen,  möge  die  hier  folgende  betrachtung  des 
grundstocks  unserer  Vienner  sage  bestimt  sein. 

Sowie  die  eroberung  Viennes  durch  Karl  den  Kahlen  einen  bedeu- 
tenden wandel.der  politischen  läge  hervorrief,  indem  auf  sie  die  Stiftung 
des  arelatischen  reiches  durch  Boso  sich  gründete,  so  spielt  auch  eine 
frühere  belagerung  dieser  Rhonestadt  eine  hervorragende  geschichtliche 
rolle.  Denn  der  kämpf  Gundobads  und  Godegisels,  der  beiden 
burgundischen  königssöhne,  bei  Dijon  und  Vienne  im  jähre 
500  ist  als  der  anfang  des  endes  des  altburgundischen  reiches  anzu- 
sehen. Dieses  ältere  Vienner  ereignis,  das  neben  der  historischen  eine 
tief  tragische  bedeutung  hat ,  halte  ich  für  den  punkt  der  geschichte ,  an 
den  sich  der  germanische  mythus  ansetzte. 

König  Gundobad  nämlich,  von  seinem  bnider  Godegisil  und  dem 
mit  diesem  verbündeten  Frankenkönig  Chlodovech  bei  Dijon  500  geschla- 
gen ,  floh  bis  nach  Avignon  hinab ,  raffte  sich  hier  aber  noch  in  demselben 
jähre  auf  und  rückte  vor  Vienne,  den  bruder  zu  belagern.  Als  nun  fttr 
die  ärmeren  in  der  stadt  die  lebensmittel  zu  fehlen  anfieugen,  da  jagte 
sie  Godegisil  nach  Gregor  von  Tours  II.  c.  33  aus  dem  tore.  Unter  den 
vertriebenen  befand  sich  aber  auch  der  aufseher  über  die  Wasserlei- 
tung, und  im  ärger  über  die  erfahrene  unbill  verriet  er  dem  Gundobad 
einen  unterirdischen  gang,  durch  den  dieser  mit  seinen  leuten 
mitten  in  die  stadt  hmeindrang.  Nun  ward  die  stadt  erobert  und  Gode- 
gisil in  einer  kirche  erschlagen.  Nach  dem  älteren  berichte  des 
Marius  aber  erlag  Godegisil  dem  Schwerte  des  eigenen  bru- 
der s;   dagegen  fehlt  hier   der  eigentümliche  zug  von   dem   eindringen 

1)  Uhland  a.  a.  o.  4,  3G3.  364. 


ÜBER  OEBHABD   VON   VIENNE  429 

• 

Qundobads  durch  die  Wasserleitung.  Mag  das  nun  dichterischer  Über- 
lieferung oder  geschichÜichor  Wirklichkeit  angehören,  worüber  selbst  der 
genaueste  darsteller  dieser  ereignisse,  Biuding,*  kein  entscheidendes 
urteil  abgibt,  so  viel  scheint  unzweifelhaft,  dass  die  siebente  abteilung 
unseres  Gerhard  denselben  zug  diesem  sechsten  Jahrhundert  entlehnt  hat, 
wenigstens  meldet  kein  Jahrbuch  von  einer  derartigen  Überraschung  des 
Vienners  durch  Karl  den  Kahlen.  Vielleicht  war  auch  damals  jenes 
römische  bauwerk,  das  erst  im  jähre  1820  widerhergestellt  ist,^  schon 
so  schadhaft  geworden,  dass  es  nicht  einmal  zu  solchen  kriegerischen 
zwecken  dienen  konte.  Unsere  ansieht  von  dem  Zusammenhang  unseres 
gedichtes  mit  jenen  altburgundischen  ereignissen  scheint  auch  noch  bestä- 
tigt zu  werden  durch  einen  blick  auf  Gerhard  von  Roussillon,  ein  von 
Fauriel*  ausführlich  besprochenes  gedieht.  Denn  in  diesem  flieht  Ger- 
hard zu  pferde  von  Roussillon  (bei  Vienne?),  nachdem  Riquier  Viennes 
tore  verräterisch  dem  kaiser  geöffnet  hat ,  nach  Avignon ,  um  dann  gleich 
Gundobad  sein  schloss  wider  zu  erobern.  Hier  sind  zwar  die  persönlich- 
keiten verschoben,  aber  die  hauptort«  des  Schauplatzes  stehen  genau  in 
demselben  Verhältnisse  zu  einander  wie  in  der  sage,  und  die  Übergabe 
der  Stadt  durch  einen  Verräter  hat  sich  noch  aus  altburgundischer  zeit 
erhalten. 

Noch  einflussreicher  zeigte  sich  aber  die  andere  tatsache  der  Bur- 
gundergeschichte, nämlich  der  brudermord,  von  dem  uns  Marius  mel- 
det. Die  Vita  Sigismundi  nämlich,  die  um  das  jähr  700  entstanden  ist, 
erzählt  abweichend  von  Marius,  Gregor  und  Fredegar,  Gundobad  habe 
seinen  bruder  Godegisil  samt  seiner  gattin  verbrant.  Mit 
recht  weisen  die  geschichtsforscher  diese  seltsame  angäbe  eines  weit 
jüngeren  werkes  zurück,  wir  aber  glauben  darin  das  walten  der  götter- 
sage  zu  erkennen. 

Bruderkämpfe  und  brudermorde  stehen  am  anfange  und  in  der 
mitte  unserer  geschichte  und  gehören  in  unserer  früheren  wie  späteren 
litteratur  zu  ihi-en  lieblingsstoffen.  Ich  erinnere  nur  an  Wolfdietrich  und 
Parzival ,  an  Julius  von  Tarent  und  Klingers  Zwillinge ,  die  beide  gleich- 
zeitig den  brudermord  zum  gegenstände  wählten,  obgleich  Schröder  bei  der 
preisstellung  nicht ,  wie  man  früher  annahm ,  die  behandlung  gerade  die- 
ses Stoffes  verlangt  zu  haben  scheint,*  und  endlich  an  die  Räuber  und 
die  Braut  von  Messina.  Ja  die  gewaltigste  wendung  des  scliicksals  der 
germanischen  götter  wurde  durch  einen  brudermord  herbeigeführt;  denn 

1)  Bin  ding,  Gesch.  d.  bürg. -rom.  königr.  s.  154  fgg. 

2)  K I  ö  d  e  n ,  Lehrb.  der  geogr.  2 ,  502. 

3)  Fauriel,  bist  d.  1.  p.  prov.  3,  34  fgg. 

4)'Kobor8tein,  Grundr.  d.  gesch.  d.  d.  nationallitteratur.   4.  auil.    2,  1494. 

ZBITRCHR.    F.   DEUT8CHB  PHILOL.    BD.  III.  28 


430  E.  H.   HEYEB 

den  Untergang  des  Asenreiches  leitet  der  kämpf  Balders  und  Hödurs  ein. 
Dasselbe  geschick  bereitete  ein  bruderkrieg  dem  Thüringerreiche,  und 
deshalb  verschmolz  das  volk  diese  tragische  menschengeschichte  mit  dem 
kämpfe  des  tagesgottes  Irmin  und  des  nachtgottes  Iring.  Dasselbe  ein- 
greifen der  göttersage  in  die  geschichtliche  künde  von  dem  bruder- 
kampfe  der  burgundischen  könige  und  dem  untergange  ihres  reiches, 
der  dem  des  thüringischen  nach  vier  jähren  folgt,  gewahren  wir  auch 
hier.  Es  ist  bekant ,  dass  Qundobads  Verhältnis  zu  seiner  nichte  Hrothe- 
hilde^  der  gemahlin  Hlodwigs,  selbst  in  der  mächtigen  nationalsage  von 
den  Nibelungen  sich  noch  geltend  gemacht  hat.^  Wie  sollte  nicht  des- 
selben königs  bruderfeindliche  oder  gar  brudermörderische  tat  den  stam- 
mythus  an  sich  gezogen  haben?  Dass  dem  so  gewesen,  dafiar  bürgt 
eben  die  lebensgeschichte  des  königs  Sigismund,  denn  ihre  angäbe  von 
der  Verbrennung  Godegisels  und  seiner  gattin  durch  seinen  bruder  kann 
nur  aus  dem  sagenhaften  volksbeiicht  geschöpft  sein  und  dieser  widerüm 
nur  aus  dem  mythus.  Eine  der  germanischen  göttersagen  aber  meldet 
uns,  dass  Balder  und  seine  gattin  vereint  im  feuer  umgekommen  seien, 
und  nach  Saxo  Grammaticus  ist  es  der  eigene  bruder  Hödur,  der  Qel- 
ders  d.  h.  Balders  Scheiterhaufen  in  brand  steckt.^ 

Weitere  gründe  für  diese  ansieht  gewährt  uns  nun  die  sage  von 
dem  doppelkampf  der  beiden  Roland  und  Olivier,  die  ich  in  meiner 
abhandlung  über  Koland  dem  Balder  und  Hödur  -  UUer  sowie  dem  Irmin 
und  Iring  gleichgestellt  habe.  Denn  diese  sage  wird  eben  darum  in  die 
Gerhardsage  eingeschoben ,  weil  sie  auf  einem  in  und  um  Yienne  bekan- 
ten  d.  h.  burgundischen  mythus  beruht,  der  sich  uns  schon  in  der  Vita 
Sigismundi  verraten  hat.  Die  Vienner  heimat  dieser  göttersage  bezeugt 
auch  der  ältere ,  hier  aber  viel  ungenauere  bericht  der  Turpinischen  Chro- 
nik. Turpin  ist  der  erste  berichterstatter  über  Rolands  und  Oliviers 
Schicksale.  Er  verschweigt  zwar  ihren  Zweikampf,  aber  auch  nach  ihm 
sind  sie  die  tapfersten  Streiter  wider  die  beiden,  brüderlich  verbunden 
im  tode.  Nun  halten  Vossius,  Gönin  und  Gervinus  den  papst  Calixtus  II. 
1 1124,  den  bekanten  feind  unseres  kaisers  Heinrich  V.,  der  im  jähre  1122 
die  Chronik  Turpins  für  authentisch  erklärte,  für  deren  lügenhaften  Ver- 
fasser oder  anstifter.*  Calixtus  aber  hiess  vor  seiner  papstwahl  Guy  von 
Burgund  und  war  seit  1088  erzbischof  von  Vienne,  und  bereits  1092 
kündete  Geoffroi,  priester  zu  St.  Andrö  in  Vienne,  in  einem  briefe  das 
werk  an,  weshalb  Gui  Allard,  Ciampi  und  Daunou  diesen  für  den  ver- 


1)  W.  Müller,  Versuch  einer  mythol.  crklärung  der  Nibeiungensa^  8,31  fgg. 

2)  J.  Grimm,  Mytli.  s.  201.    Saxo  Gramm,  ed.  Müller  1,  11». 

3)  Gervinus,  Gesch.  d.  d.  nat. -lit.  1,  236. 


ÜBER  OERHABD  VON  VIENNE  .    431 

fasser  halten,*  nicht  jenen  papst.  Es  mag  auch  sein,  dass  verschiedene 
bände  an  dem  werke  gearbeitet  haben ,  wie  G.  Paris  will ,  und  die  ersten 
fünf  capitel  sogar  von  einem  spanischen  kleriker  herrühren,*  jedenfalls 
muss  menschlichem  ermessen  nach  der  hauptchronist  aus  Vienne  stam- 
men oder  hier  gewohnt  haben.  Darum  lässt  er  cap.  31  den  kaiser  nach 
der  Schlacht  von  ßoncevalles  zur  erholung  nach  Vienne  gehen,  und  in 
einer  Vienner  kirche  ist  es  auch ,  wo  Turpin  vor  dem  altar  stehend  den 
schwarzen  geisterzug  nach  Lothringen  eilen  sieht,  der  des  sterbenden 
kaisers  seele  rauben  will ,  s.  cap.  32.  Noch  ein  anderes  dichtwerk ,  der 
provenzalische  Fierabras,  enthält  einen  einzelkampf  Oliviers  gegen  den 
genanten  Sarazenen ,  der  fast  dieselben  züge  wie  Oliviers  kämpf  mit  Roland 
trägt,  und  auch  diese  sage  scheint  aus  burguudischer  gegend  zu  stam- 
men ,  denn  neben  jenen  beiden  tritt  als  hauptperson  ein  6ui  de  Bourgogne 
auf,  der  also  den  weltlichen  namen  jenes  papstes  führt  und  hier  die 
Floripar,  die  Schwester  des  Fierabras,  samt  dem  halben  Spanien  erliei- 
ratet,  und  in  einem  anderen,  Gui  de  Bourgogne  betitelten  epos  sogar 
die  hauptroUe  übernommen  hat.*  So  tragen  denn  verschiedene  Überlie- 
ferungen des  Bhonethales ,  sowol  gescliichtliche ,  wie  poetisclie ,  die  deut- 
liehen  spuren  eines  alten  glaubens  an  einen  Zweikampf  göttlicher 
beiden. 

Oliviers  und  Rolands  kämpf  in  den  Bolandsgedichten  habe  ich  aus 
mehreren  gründen  auf  das  herbstliche  ringen  des  sommergottes  mit  dem 
wintergotte  gedeutet,  besonders  auch  deswegen,  weil  Roland  hier  dem 
Schwerte  seines  freundes  erliegt  und  gleich  darauf  Aude  ihm  in  den  tod 
nachfolgt.  Im  Gerhard  von  Vienne  dagegen  haben  wir  die  Frühlings- 
schlacht jener  beiden  heroen  vor  uns,  denn  Roland  siegt  und  gewint 
hier  erst  Audes  band.  In  meiner  Rolandsabhandlung  wagte  ich  noch 
nicht  dieser  göttin  näher  ins  antlitz  zu  sehen;  jetzt  aber,  glaube  ich, 
muss  gerade  sie  uns  tiefer  in  das  verständniss  des  burgundischen  mythus 
hineinführen.  Schon  nach  den  eben  gegebenen  andeutungen  muss  sie 
eine  frühlingsgöttin  sein ,  welche  der  sonnengot  den  ihr  verwanten  mäch- 
ten des  winters  entführt.  Aude  oder  Aide,  wie  auch  bei  Turold,  Kon- 
rad ,  in  den  spanischen  romanzen  *  und  in  den  italienischen  gedichten  Ro- 
lands braut  oder  gemahlin  genant  wird,  woneben  Strickers  Alite  kein 
gewicht  hat,  trägt  einen  germanischen  namen,  der  zwar  spater  auch  noch 
häufig  vorkomt,  aber  schon  durch  seinen  begriflF  „vetus"  wie  die  ähn- 
lichen namen  Ute,   das  Mömeken,   Babia,   Eische,  Bermutter, 

1)  Ideler,  Handb.  s.  81. 

2)  Uhland,  Sehr.  4,  354.  35G. 

3)  Holland  in  Uhlands  Sehr.  4,  341. 

4)  F.  Wolf  und  C.  Hof  mann,  Primaver  y  flor  de  romances  2,  314. 

28» 


432  E.  H.    HEYEB 

worüber  ich  anderswo  sprechen  werde ,  auf  einen  mythischen  sinn  hinzu- 
weisen scheint.  Dieser  Alten  begegnen  wir  nun  aber  auch  mehrfach  in 
den  deutschen  Volksgebräuchen.  So  führten  die  Angelsachsen,  Franken 
und  Alemannen  zu  anfang  Januars  den  ccrvidus  seu  mtiila  oder  vetula, 
d.  h.  vermummungen  in  hirsch  und  hindin  oder  in  eine  Alte  auf,  und 
ähnliche  spiele,  wie  der  hirt  und  das  wilde  weib,  wurden  zur  fasten- 
zeit  veranstaltet.^  Die  göttin  der  schönen  Jahreszeit  entschlummert  im 
herbste  gleich  der  Brunhild  oder  dem  Dornröschen,  oder  sie  zieht  sich 
alternd  in  die  tiefe  des  waldes  zurück,  bis  sie  im  nächsten  lenze  als 
Alte  (oder  als  wildes  weib  oder  als  hirschkuh)  zu  den  menschen  wider- 
kelirt,  um  sich  hier  zu  verjüngen  gleich  einer  neugeborenen.  Daher 
gebietet  das  langobardische  gesetz  im  siebenten  und  achten  Jahrhundert: 
Wer  eine  fremde  oder  eine  Aldia  (halbfreie)  zur  ehe  nehmen  will,  soll 
sie  zur  Wiedergeborenen  machen  und  zwar  durch  die  morgengabe, 
falls  die  von  ihr  geborenen  söhne  als  echt  gelten  sollen.  Weder  Bluhme 
liat  also  recht,  die  langobardische  aldia  in  eine  haldia  zu  vei-wandeln 
und  das  wort  aus  dem  Zeitwert  haldan  halten  zu  erklären,^  nochUhland, 
wenn  er  jene  bestimmuug  fiir  eine  märchenhafte  ausrankung  einer  recht- 
liclien  sinnbildsprache  liält,  deren  ältere  form  sich  noch  in  den  lango- 
bardischen  rechtsquellen  erhalten  habe.^  Umgekehrt  —  die  langobardi- 
sclie  reclitssprache  bedient  sich  hier  einer  mythischen  ausdrucksweise, 
indem  ihr  hier  verliältnisso  aus  einer  allbekanten  göttersage  vorschwe- 
ben.  Ahnlich  stammen  im  Rigsmal  von  Ai  und  Edda,  den  urahnen,  die 
knechte,  von  den  grosseltern  Aft  und  Amma  die  bauern,  dagegen  von 
vater  und  mutter  die  Edclen  ab,  so  dass  auch  hier  die  begriffe  alter  und 
Unfreiheit,  Jugend  und  freiheit  enge  verknüpft  erscheinen. 

Beide  langobardische  rechtsausdrücke,  die  Alte  wie  die  Wider- 
ge boren e,  finden  sich  nun  auch  in  offenbar  mit  mythen  zusammenhan- 
genden sagen  auf  romaniscliem  boden  wider.  So  trifft  in  einer  wallo- 
nischen sage  her  Ameil  bei  der  schattigen  quelle  von  Lexhy  eine  schöne 
frau,  die  ilire  herkunft  niclit  angeben  will,  bei  ihm  auf  dem  schlösse 
schläft  und,  nach  ihrem  namen  gefragt,  sicli  teufel  nennt,  ihm  das 
reclite  äuge  ausreisst  und  verschwindet.  Wie  heilig  sie  trotz  dieser  grau- 
samen tat  war,  zeigt  der  name  der  quelle,  fontaine  Sainte  Oude.* 
Dem  zweiten  namen,  der  Widergeborenen,  begegnen  wir  in  einer  der 
weitverbreiteten  sagen  von  der  aus  Scheintod  erwachenden  frau,  die  seit 
Chr.  Petersens  abhandlung  über  die  pferdeköpfe  als  frühere  mythen  von 

1)  Kuhn  in  dieser  zeitschr.  1,  110. 

2)  Pertz,  Mon.  Leg.  4,  ()72.     Ziivncke,  Liter.  Centralbl.  1809.  s.  142r). 
:i)  Pfeiffer,  Germ.  8,  71. 

4)  Wolf,  Ndrl.  S.  H.  287. 


ÜBER  OBRHABB  VON   VIENKE  433 

einer  frühlingsgöttin  anerkant  sind.  Eine  französische  sage  des  16»  Jahr- 
hunderts nämlich  nent  die  solcher  weise  auferstandene  gattin  Ronöe 
Taveau.^ 

Eine  solche  befreite  und  verjüngte  lenzgöttin  ist  auch  unsere  Aude 
im  Gerhard  von  Vienne.  Zwar  darf  man  auf  ihre  beinamen  la  belle 
und  0  le  clair  vis  kein  gewicht  legen,  da  diese  zu  den  stehenden  bei- 
wörtern  der  frauen  im  altfranzösischen  epos  geliören.^  Aber  in  solchen 
versen  wie  v.  1771:  e  vos  Attdain  la  bde  leschevie,  vestue  fuit  (Tun  paile 
dematie,  ä  un  fil  d*or  tressie  pur  rnaistrie,  les  oelz  ot  vairs,  la  face 
coloric,  und  wie  v.  3928  fgg.,  die  Audes  erscheinen  in  der  maienzeit  schil- 
dern: Attde  fut  vestue  (Vun  paille  sujnori,  de  sa  biaute  li  palais  rcsplandi, 
mag  noch  etwas  vom  mythischen  glänze  erhalten  sein,  wie  im  Nibe- 
lungenlied Kriemhilde  echt  mythisch  der  morgenröte  verglichen  wird. 

Vielleicht  lässt  sich,  wie  für  Olivier  und  Roland,  auch  für  Aude 
Vienne  als  heimat  nachweisen.  Die  eben  schon  erwähnten  schein- 
toten frauen  steigen  aus  dem  grabe  zu  neuem  dasein  empor,  wie 
sonst  die  frühlingsgöttinnen  einem  türm,  einer  höhle  oder  einem  walde 
entrissen  werden.  Man  hielt  auch  tiefe  gruben ,  dornenbewachsene  gra- 
ben, unterij'dische  gänge  für  ihre  winterlichen  wohnstätten,  wie  beson- 
ders Panzer  in  seinen  beitragen  erwiesen  hat.  So  finden  wir  in  der  Wit- 
tenwiwerskule  unweit  Bochum  zusammen  mit  drei  weissen  weibern  eine 
frau,  die  erst  nach  sieben  jähren  wieder  zu  ihrem  manne  zurückkehrt;  "^ 
so  mrd  der  Elpendrötsch  oder  Hilpentritsch ,  p]lfenkönig  (auch  die  elfen- 
königin?) hinter  der  Stadtmauer  im  Stadtgraben  zu  Hersfeld  gejagt.*^  Das 
letzte  wesen,  ob  weiblich  oder  männlich  gedacht,  wird  jedenfalls  eine 
frühlingsgottheit  sein ,  denn  auch  jene  Alte  oder  Hindin  wird  verfolgt ,  und 
in  demselben  Osthessen  komt  auch  als  frühlingsspiel  Häkel  die  Geiss 
vor.^  Eine  der  bekantesten  widererstandenen  frauen  ist  aber  die  Kölnerin 
Richmodis  von  Aducht,  deren  sage  Petersen  ausführlich  besprochen,  am 
treuesten  aber  wol  Firmenich ^  widergegeben  hat.  Vom  habgierigen  toten- 
gräber,  der  ihr  einen  kostbaren  ring  rauben  will,  erweckt  geht  sie  mit 
dessen  leuchte  zum  überraschten  gatten  zurück,  der  ihr  aber  nicht  eher 
das  liaus  öffnet,  als  seine  zwei  pferde  ihren  köpf  aus  dem  giebelfenster 
strecken.  Sieben  jähre  lebt  sie  noch  mit  ihm,  gebiert  ihm  kinder ,  lacht 
aber  nie,    spint  ein  grosses  flachstuch,    das  noch  immer  in  der  kirche 

1)  Pfeiffer,  Germ.  13,  167. 

2)  ühland,  Sehr.  4,  345.    Lazarus  und  Steinthal,  Ztschr.  4,  157. 

3)  Firmen  ich,  Germ,  völkerst.  1,  370. 

4)  Vilmar,  Hess,  idiot.  168.  249. 

5)  Vilmar  a.  a.  o.  s.  145. 

6)  Firmenich,  Germ,  völkerst.  1,  448. 


434  E.   U.   MEYEB 

zur  fasteuzeit  aufgehängt  wird  und  lässt  bei  ihrem  begräbnisse  den  armen 
eine  ganze  last  stuten  austeilen.  Uns  fällt  hier  besonders  der  name 
Aducht  auf;  denn  im  Mittel-  und  Niederdeutschen  bedeutet  er  einen  mit 
stein  und  dorn  gefüllten  graben.^  Er  stamt  aber  ab  vom  römischen 
aquaeductus.  Dieser  lateinische  ausdruck  ist  nicht  nur  für  die  alte  römi- 
sche Wasserleitung  bei  Mainz  nachweisbar,  wo  noch  heute  eine  flur, 
durch  welche  sie  lief,  das  Addach  heisst,  sondern  auch  für- die  weit 
grossartigere,  durch  die  Kömor  von  der  Eifel  nach  Köln  hergestellte 
leitung,  die  der  volksmund  teufelskalle ,  d.  h.  teufelskanal,  oder  auch 
in  übereinstinmiung  mit  den  Urkunden  Aducht  nent.  Nun  aber  sieht 
die  sage  dieser  landschaft  in  diesem  bauwerk  einen  Schlupfwinkel  der 
feen;  zahlreiche  fundstücke  beweisen  femer,  dass  die  muttergöttinnen 
hier  in  hohem  ansehen  standen ,  und  zwar  gerade  in  unmittelbarster  nähe 
der  Wasserleitung.  Denn  mindestens  sechs  Ortschaften  des  Feybachstales, 
über  welche  sie  führt,  tragen  mythische  namen,  nämlich  ürfey,  Eiser- 
fey,  Burgfey,  Katzfoy,  Satzfey  und  Voynau.  Dazu  komt  noch  dem  Bheine 
näher  bei  Brühl  Walberberg,  der  Walpurgisberg.^  In  diesen  namen  wal- 
tet sicherlich  gormanische,  nicht,  wie  das  Bonner  Winckelmannspro- 
gramm  von  1863  meint,  celtische  anschauung.  Noch  heute  erbaut  man 
am  fastensontag ,  dem  schoofsoutag,  in  der  Eifel  eine  sogenante  hütte 
oder  bürg,  die  man  abends  in  brand  setzt,  um  dann  einen  Strohmann 
hineinzuwerfen.^  Was  also  die  Burgfei  bedeutet,  ist  hiernach  ganz  klar. 
Ebenso  leicht  erklärt  sich  auch  die  Katzfei,  wenn  wir  uns  des  katzen- 
opfers  erinnern,  das  an  mehreren  orten  gerade  zu  fastnacht  gebracht 
wurde.'*  Ferner  liegt  südlich  von  Urfey,  gerade  am  beginne  des  aqoae- 
ductes ,  der  Roscnbuschberg  in  der  gemeinde  Nettersheim.  Unter  diesem 
finden  wir  die  Kosenthaler  mühle,  deren  namen  anf  ein  rosenthal,  d.  h. 
ein  germanisches  paradies,  wie  ich  später  beweisen  werde,  hindeutet 
In  der  nähe  der  Groene  Pütz,  der  vielleicht  den  grünen  frühlingsbrun- 
nen  bezeichnet.  Von  der  öden  bergmasse  der  höheren  Eifel,  dem  reiche 
des  winters,  ist  dieser  sitz  der  göttin  des  neuen  Jahreslebens  umgeben. 
Im  lenz  aber  entrint  sie  (mit  ihren  beiden  Schwestern)  der  haft,  von  ihrem 
eigenen  bruder  Dagobert  verfolgt.^  Aus  dem  geheimnisvollen  gewölbe 
der  Wasserleitung,  dessen  inneres  der  krystallisierte  kalksinter  mit  der 
zeit  so  gewaltig  umkleidete,  dass  marmorartige  steine  zum  bau  rhei- 

1)  Vilmar  a.  a.  o.  s.  4.    F.  Bech,  Zeitzer  progr.  18G8. 

2)  Mitthcil.  d.  ver.  f.  gcsch.  in  Frankf.  a.  M.  3,  140—154.    Reymann, 
Specialk.  v.  Dcutschl. 

3)  Leipz.  illustr.  zeitung  1870  s.  171. 

4)  Simrock,  Myth.»  s.  565. 

5)  Ebd.  8.  369. 


ÜBEB   GBBHA&D   VON  VIBMNE  435 

üischer  kirchen  herausgehauen  wurden,^  trat  sie  da  und  doii  hervor,  um 

die  Auren  des  Feybaches  zu  segnen ,  bis  sie  in  Köln ,  städtischer  gedacht, 

als  die  widergeborene  frau  Richmödis,   die  Reichgemuthe,   von  Aducht 

zum  Vorschein  kam. 

Ich  denke  mir,  ähnliche  Vorstellungen  knüpften  die  Burgunder  der 

Stadt  Yienne  an  den   dortigen  aquaeduct.    Vielleicht  weiss  noch  heute 

die  ortssage  näheres  davon.    Auch  unser  gedieht  bewundert  die  durch 

den  niederschlag  des  kalkhaltigen  wassers  bewirkte  pracht  im  Innern  des 

bauwerkes,  die  wir  auch  in   der  Kölner  leituug  trafen,   in  den  v.  3467 

bis  3469 : 

an  la  crote  antrent  par  desoß  Ic  terrier, 

paiefn  la  firent  lonc  tans  sai  cn  arier: 
ansi  est  blanche  come  nois  sor  gravier. 
Durch  dies  gewölbe  komt  Aude ,  die  ja  auch  von  ihrem  bruder  Olivier 
zur  fruhlingszeit  verfolgt  wird,  nach  Vienne  in  leuchtender  Schönheit 
vom  Glairmont,  dem  klai'en  Glasberg  her,  wie  so  oft  in  deutschen  und 
skandinavischen  sagen  das  unnahbare,  rings  von  kahlen  felsen  oder  öder 
haide  oder  düsterem  walde  umgebene  paradies  genant  wird.  Auch  auf 
französischem  boden  muss  diese  germanische  anschauung  wurzol  geschla- 
gen haben,  finden  wir  doch  einerseits  im  altfranzösischen  Tristan  ein 
glasschloss  in  der  luft*  und  andrerseits  im  Parzival  den  waldumwach- 
senen Montsauvage. 

Brunhildens  wohnung  ist  der  glasberg  oder  die  Guitaheide,  die  vom 
Myrkvidr  umstanden  ist^  und  Rassmann  ^  hat  diesen  namen  glücklich 
samt  dem  niedersächsischen  gneterstdn  und  gneterswaii;  und  dem  hoch- 
deutschen Gneiss,  wie  auch  die  faröische  Glitraheide  auf  den  begriff  des 
glanzes  zurückgeföhri  Glänzende  naturgebilde  glaubte  man,  wie  es  scheint, 
der  obersten  germanischen  göttin  zu  verdanken.  Hildas  rosenbaum  wächst 
mitten  im  schnee ;  „  frau  Holle  schüttelt  die  betten  aus  ,^^  sagen  wir  noch 
heute  in  Bremen  beim  Schneefall ;  viele  kirchen  wurden  auf  heidnischen 
Verehrungsstätten  der  Maria  im  schnee  geweiht.  Ein  glänzendes  mine- 
ralisches gebilde  heisst  bekantlich  marienglas  oder  fraueneis.  Schon  der 
name  deutet  mythische  bezüge  an,  noch  mehr  aber  der  umstand,  dass 
da,  wo  westlich  von  Sondershausen  ganze  oft  zu  tage  tretende  marien- 
glasfelsen  sich  finden,  die  Ortsnamen  Klein-,  Gross-  und  München  loh  ra 
den  namen  einer  alten  göttin  verraten,  dass  Gross-  und  Kleinlohra  am 
berge  Himmelbette  liegen,  der  alte  Wallfahrtsort  Müuchenlohra  aber  bei 
der  propstei  Paradies.  An  der  Marienkapelle  des  nahen  Elende  fanden 
sich  ausserdem  174  rosen  in  stein  gehauen,   denn  hier  waltete  hilfreich 

1)  Mittheil.  d.  ver.  f.  gesch.  in  Prankf.  a.  M.  s.  153. 

2)  Grimm,  Myth.  s.  781.  796.  1225.      3)  Rassmann,  HS.  1,  151  fgg. 


436  E.   H.    MEYEB 

statt  der  heidnischen  Lohra  später  die  mutter  gottes,  die  in  der  not 
rosen  aus  dem  boden  zu  zaubern  verstand.^  Auch  die  gänge  der  drei 
Jungfern  zu  Mergenthau  bei  Augsburg  verzweigen  sich  in  festen  weissen 
sand,  wie  die  zu  Reichersdorf,  Kockenstein  und  Almering.*  Umgekehrt 
weist  man  der  schlafenden  wintergöttin  in  Oberitalien  die  schmutzig  gel- 
ben kreideschichten  zur  lagerstätte  an,  die  man  dort  Bett  oder  Nest 
der  Alten  nent.^  Auch  über  den  Zusammenhang,  in  welchem  die  Jah- 
res -  und  paradiesesgöttin  mit  den  kalk  -  und  gipsbergen ,  den  tropfstein- 
höhlen  und  Salzquellen  unseres  landes  steht,  könte  ich  noch  viele  bemer- 
kungen  machen,  riefe  mich  nicht  von  diesem  umwege  der  wünsch  ab, 
unserer  Vienuer  sage  tiefer  ins  herz  zu  sehen.  Wir  müssen  zu  diesem 
zwecke  Audes  Schicksale   im  einzelnen   betrachten. 

Rolands  und  Oliviers  Zweikämpfe  bilden  zwar  den  hauptstoflF  unseres 
gedichtes ,  aber  der  mittelpunkt  derselben  ist  doch  Aude  und  ihr  wohnsitz. 
Nun  trägt  schon  gleich  der  anfang  des  Streites ,  der  zank  der  beiden  beiden 
um  einen  falken,  den  uns  der  zweite  abschnitt  erzählt,  mythischen  anhauch. 
Uralt  deutsch ,  schon  dem  lieidnischen  Zeiträume  angehörig  ist  die  jagd 
mit  dem  falken  oder  dem  habicht.  Diese  raubvögel  genossen  eines  hei- 
ligen ansehens,  worauf  der  deutsche  ausdruck  wio  für  wtho,  milvus^  d.  h. 
der  heilige  vogel,  und  der  französische  falkenname  sacrc^  hinweisen, 
vielleicht  aucli  nocli  der  sehnsüchtige  anruf  des  vogels  durch  die  geliebte, 
wie  er  in  unseren  älteren  minneliedern  ertönt.  Noch  deutlicher  aber 
spricht  die  sage  dafür.  Sigurds  habicht  setzt  sich  in  ein  fenster  von 
Brynhilds  türm  und  leitet  so  ihren  bund  ein;  ^  Sigurd  aber  gleicht 
Roland  wie  Brynhild  der  Aude.  Ein  über  die  Unstrut  entwischter  habicht 
führt  zum  kämpfe  zwisclien  Irminfried  und  Iring,^  wie  der  über  die 
Rhone  entflogene  falke  zu  Rolands  und  Oliviers  gleichbedeutendem  streite. 
Der  falke  scheint  wie  der  adler  ein  bild  des  windes,  und  Windspiele 
heissen  noch  heute  falken.'  In  dem  Zusammenhang  unserer  sage  würde 
er  sich  leicht  als  schneller  morgenwind  einfügen,  den  der  lichtgott  sei- 
ner morgonroten  göttin  zum  grusse  zusendet.  So  neigt  sich  im  Moior 
Helmbrccht  der  raubritter  Lomberslint  dem  winde,  der  von  seiner  lieb- 
sten herweht,®  wie  vor  einem  grusse.    Dass  auch  französische  sagen  von 

1)  Thür.  u.  d.  Harz  1,  152.  7,  17  —  40.  Schinaliug,  Hohenstein.  maga- 
zin  1791  8.  279  —  321.    Grimm,  Kindcnn.  2,  557. 

2)  Panzer,  Beitr.  1. 

3)  Ebcrt,  Roman. -engl,  jahrb.  5,  374. 

4)  J.  Grimm,  GDS.  s.  4(3.  50.  54. 

5)  Völsungas.  c.  24. 

6)  Widiikind  1,  10. 

7)  J.  Grimm,  GDS.  s.  52.    Myth.  s.  600. 

8)  M.  Helmbrccht,  v.  1461.  1462. 


ÜB£B  GBRHARD  VOM  VIBMNE  437 

der  frühlingsgöttin  diesen  zug  bewahrten,  beweist  der  roman  des  Perce- 
forest  von  1528  — 1532.  Ein  vogel  trftgt  den  Troilus  ans  ostfenster  eines 
turmes  des  Castel  Jumel ,  in  welchem  die  tochter  des  fursten  Seeland 
mit  zwei  muhmen  gleich  unserem  Dornröschen  (Brunhild)  in  tiefen  schlaf 
versmiken  ist.  Er  steckt  der  freundin  einen  ring  an  den  finger,  den*  er 
früher  von  ihr  erhalten.^  Ebenso  flog  im  neapolitanischen  Pentamerone 
von  1637  einem  jagenden  könige  der  falke  von  der  band  in  ein  schloss, 
in  welchem  er  die  in  Schlummer  verfallene  Talia  fand.* 

Die  schlafende  königstochter  ist  der  ixxr  widergeburt  bestirnten 
Alda  und  der  scheintoten  frau  gleich,  und  so  ist  es  möglich,  dass  der 
namo  der  wohnung  zweier  dieser  frauen,  die  beide  noch  sieben  jähre 
nach  ihrer  voreiligen  bestattung  leben,  auf  denselben  sagenhaften  vogel 
hinweisen.  Denn  eine  widergeborene  war  herrin  der  Arnsburg  d.  h. 
Adlersburg  bei  Buckeburg ,  und  jene  Kölnerin  ßichmodis  wohnte  in  einem 
hause ,  das  der  Papagei  von  Aducht  genant  wurde.  Durch  diesen  fremd- 
ländischen vogel  aber  wurde  auch  wol  in  englischen  Streitgesprächen 
zwischen  winter  und  sommer  der  heimische  fruhlingsbote,  der  schlichte 
kukuk,  verdrängt,^  wie  auf  den  frühlingsfesten  älterer  Schützengesell- 
schaften der  falke  oder  adler.  Es  lag  nicht  fern ,  den  papagei  mit  seinem 
frisch  leuchtenden  gefieder  als  lenzvogel  aufzufassen,  wird  doch  in  der 
goldenen  schmiede  Maria  dem  papagei  verglichen ,  der  sich  nie  beregnen 
lässt  und  doch  schöner  grünt  als  eine  blumige  wieso.  Hätte  ich  räum 
genug,  so  würde  ich  auch  die  westfälische  stadt  Arnsberg  und  die  thü- 
ringische Arnstadt  als  sitze  der  frühlingsgöttin  hier  wahrscheinlich  zu 
machen  suchen. 

Auch  der  dritte  abschnitt  des  gedichtes,  den  wir  jetzt  ins  äuge 
fassen ,  führt  uns  in  altgermahisches  frühlingsleben  zurück.  Das  waflfen- 
splel  der  Quintaine  steht  nämlich  im  engsten  zusammenhange  mit  dem 
kreise  der  lenzsagen.  Die  Quintaine,  englisch  quintain,  mittellateinisch 
quintana,  ward  nach  Zeugnissen  des  dreizehnten  Jahrhunderts  in  Frank- 
reich und  England  viel  geübt  und  wird  von  Ducange  folgendermaassen 
beschrieben:*  Decursio  equestris  ludicra  ad  metam ,  hominis  armati  figu- 
rain  exhibcntem,  ad  umbilicum  mobilem  et  versatile^n,  sinistra  dypeum^ 
dextra  ensem  aut  haculum  tefientem.  Quae  si  alitcr  quam  in  pedorc 
lancea  percutialur,  statim  qui  a  scopo  dberrai,  bactdo  reperciUientem 
ßguram  soUit.  Auf  bUdern  vom  jähre  1344  zum  roman  d'Alexandre 
wurde  dies   spiel  abgebildet,    und  es  ist  bis  in  die  neuere  zeit  hinein 

1)  Pfeiffer,  Genn.  8,  74. 

2)  Herrig 8  Arcliiv  45,  25. 

3)  Pfeiffer,  Genn.  5,  270. 

4)  Ducange,  s.  v.  quintana. 


438  B.   H.   MEYKB 

draussen  im  freien^  oder  in  reitschulen  aufgeführt  worden.*  Der  fasten- 
sontag  war  der  haupttag  dieser  quintaine,  so  in  der  Picardie,  und  an 
demselben  tage  werden  oder  wurden  in  der  Provence  und  in  Belgien 
turniere  gehalten,  weshalb  man  diesen  tn,g  jour  du  bouhourdis  oder 
hour dich zon dag  nante.^  Dies  fastenspiel  stimt  nun  aber  einerseits 
mit  dem  spanischen  tahlado  in  der  romanze  vom  Condc  Guarinos 
almirante  de  la  niar^  und  dem  Jugar  las  tahlas  der  aus  dem  drei- 
zehnten jahrlmndert  stanmienden  Cronica  general  von  Alfons  X.  ^  überein, 
andrerseits  mit  dem  von  mir  beschriebenen  Eolandsreiten  der  Nordalbin- 
gier  und  dem  Schildekenbaumspiel  der  Ostfalen.^  Obgleich  die  meisten 
dieser  deutschen  feste  auf  pfingsten  angesetzt  waren  und  der  Tablado 
der  Guarinosromanze  sogar  auf  Johanni  fällt,  auch  im  Gerhard  von 
Vienne  auf  ostern  die  quintaine  geübt  wird,  so  wird  doch  die  &stenzeit 
als  die  ui*sprüngliche  zeit  dieses  Spieles  anzusehen  sein.  Denn  auch 
eines  der  bekantesten  Bolandsreiten  Deutschlands,  das  Meldorfer,  hielt 
noch  1827  am  fastnachtsmontag  fest.  Und  der  romanische  name  des 
Spieles  weiset  ebenfalls  auf  die  fastenzeit  zurück.  Allen  anderen  künst- 
lichen deutungen  desselben  zuwider  erkläre  ich  nämlich  einfach  die  quin- 
tana  als  fastensontag ,  denn  dies  wort  wird  auch  für  quinquagesimae  im 
jähre  1202  gebraucht,'  d.  h.  für  den  sontag,  der  der  quadragesimae,  fran- 
zösisch careme,  voraufgeht,  und  in  Ponthieu  heisst  der  erste  fastenson- 
tag dimanche  de  la  Quintaine.^  Wer  in  Magdeburg  bei  diesem 
spiele  siegte,  erhielt  als  preis  ein  schönes  mädchen,  frau  Feie,  in  der 
man,  wenn  man  sich  des  alten  namens  der  stadt,  ihrer  wappenrose  und 
ihrer  sagen  von  der  aus  Scheintod  auferstandenen  frau  erinnert,  ebenso 
wie  in  der  Jungfer  Phaie  der  rosenstadt  Hildesheim  unsere  Vienner  Ande 
widererkennen  wird,  Rolands  kampfpreis  in  unserem  gedichto.  Olivier 
ist  der  starke,  aber  hilflose  gott  des  winters,  auf  den  der  lenzgott  stunn 
läuft.  Er  ist  der  Mamuilus  der  Kömer,  der  am  14.  märz  als  ein  mit 
einem  lederpanzer  bedeckter  mann  aus  der  stadt  geprügelt  ward,  wäh- 
rend Eoland  mit  Mars  übereinstimt,  Aude  aber  mit  der  buhlerin  des 
Mars,  der  Nerio  oder  der  Anna  Perenna,  die  alt  und  jung  erscheint* 
Noch  verlockender  ist  es,  das  argivische  frühlingsfest,  das  schildstechen 

1)  Brand  und  Ellis  2,  233.  234.     1,  103—105.  212. 

2)  Schwan,  Dict.  fran^. 

3)  Loipz.  illustr.  zcitg.  1870.  s.  171. 

4)  Wolf  und  Hof  manu,  Primaver  y  ilor  do  romanccs  2,  322. 

5)  Lcmcke,  Handb.  d.  span.  lit.  2,  27.  28. 

6)  Koland  s.  15. 

7)  Maignc  d'Arnis,  Lex.  med.  et  iuf.  latin.  h.  1853. 

8)  Ebert,  Roman. -engl,  jahrb.  5,  385. 

9)  Prellcr,  Köm.  myth.  s.  303—321.    Haupt,  Zeitschr.  5,  492. 


ÜBER    OBBHABD  VON  VISNNE  489 

an  den  Heräen,^  zur  vergleichung  heranzuziehen,  doch  halte  ich  damit 
hier  lieber  zurück.  Soviel  darf  man  aber  vorläufig  getrost  annelimen, 
dass  alle,  diese  hellenischen,  römischen  und  germanischen  wafienspiele 
einer  einzigen  quelle,  einem  uralten  arischen  frühlingsfeste,  entspinm- 
gen  sind. 

Einen  namen  des  fastensontags,  den  die  Dauphinö  anwendet,  dür* 
fen  wir  hier  aber  nicht  übersehen.  Er  heisst  nämlich  le  dimanche  de 
la  chanobiere,  und  grosse  feuer  entzündet  man  an  diesem  tage.*  Ich 
irre  wol  nicht,  wenn  ich  das  wort  der  schriftfranzösischen  cheneviere^ 
dem  hanfifelde ,  gleichsetze  und  weiter  als  einen  elliptischen  ausdruck  für 
epauvantaü  de  cheneviere,  d.  h.  Vogelscheuche,  Strohmann,  popanz  nehme. 
Es  müssen  darnach  auch  in  der  umgegend  Viennes  zur  fastenzeit  Stroh- 
puppen ins  feuer  geworfen  sein,  die  verhassten  götter  des  winters,  wie 
\m  oben  diese  sitte  auch  in  der  Eifel  fanden ,  in  der  ja  auch ,  wie  wahr- 
scheinlich um  Vienne ,  eine  heilige  scheu  vor  der  römischen  Wasserleitung 
bestand.  Ob  endlich  der  name  der  hauptstrasse  in  Marseille ,  die  Canne- 
biere,  mit  jenem  brauch  in  Verbindung  steht,  ist  mir  unbekant. 

Yon  hier  aus  blicken  wir  noch  einmal  auf  die  mehr  kriegerischen 
fastenspiele  zurück.  Ich  habe  in  der  vorliegenden  Untersuchung  wie  in 
der  über  Roland  öfter  diesen  heros  mit  Irmin  verglichen,  seine  säule 
mit  der  Irminsäule.^  Ich  glaube  jetzt  auch  dem  Bolandsreiten  ein  Irmins- 
reiten  zur  seite  setzen  zu  können.  Den  an  einem  feiertage  im  jähre  994 
im  regierungsbezirke  Düsseldorf  aufgerichteten  pfähl,  der  oben  ein  rad, 
d.  h.  ein  sonnensymbol,  und  auf  diesem  einen  in  seide  gehüllten  und  fär 
einen  abgott  gehaltenen  bock,  d.  h.  Hermen,  ein  tier  des  Sonnengottes 
Irmin,  trug,  habe  ich  dort  für  eine  Irminsäule  ausgegeben.  Für  diese 
uiederrheinische  aber  war  nur  ein  tanz ,  kein  ritt  nachzuweisen ,  wie  ja 
auch  Kolandstänze  ohne  reiten  vorkommen ,  z.  b.  in  Halle  a.  d.  Saale  und 
im  liolsteinischen  Bramstedt  (a.  a.  o.  s.  15).  Ich  kann  jetzt  aber  auch  ein  rei- 
torstechen  auf  einen  solchen  in  niederrheinischer  weise  ausgestatteten  pfähl 
angeben.  In  England  nämlich  wird  im  dreizehnten  Jahrhundert  mehr- 
fach das  spiel  arieteni  levare  untersagt;  so  1233  an  aliciü)i  leven- 
tur  arietes  vel  fiant  scotallae,  1240  nee  sustineant  ludos  fieri  de 
rege  et  regina  nee  arietes  levari  nee  palaestras  public 
eas  fieri,  und,  msujyer  interdicimus  levationes  arietum  super 
rotas  et  ludos,  quibus  deeertatur  ob  br avium  exeque'ndum.  Schon 
Kennet  verglich  dies  widderspiel  mit  der  quintana.*    An  dem  einen  ende 

1)  Welcker,  Griech.  götterl.  2,  318. 

2)  Leipz.  illustr.  zeitg.  1870.  s.  171. 

3)  Roland  s.  18. 

4)  Ducange  1,  691  (1733). 


440  E.    H.   MEYER 

des  wagerechten  balkens,  der  auf  einem  senkrechten  pfähl  drehbar  war, 
fand  sich  ein  mit  asche  und  kot  angefüllter  widderkopf  angebracht 
und  zwar  auf  einem  rade,  am  anderen  ein  zapfen,  gegen  den  der  rei- 
ter  mit  seiner  lanze  zu  stossen,  dann  aber  dem  schlag  des  herum- 
geschwenkten widderkopfes  zu  enteilen  hatte.  In  der  vom  kühnen  rei- 
ter  angegriffenen  und  mit  asche  um  sich  werfenden  pfahlfigur  erkent  man 
leicht  den  wintergott,  im  sieghaften  angreif  er  den  sommergott  zur  zeit 
des  frühlings.  Vielleicht  lassen  sich  noch  heute  derlei  spiele,  die  auch 
wol  bei  uns  z.  b.  auf  Schützenfesten  getrieben  werden,  in  Vienne  nach- 
weisen; jedenfalls  wurde  noch  in  unserem  Jahrhundert  in  dieser  gegend 
ein  ähnlicher  brauch  festgehalten,  der  hier  ebenso  mit  dem  schildstechen 
zusammengehangen  haben  wird,  wie  im  mittelalterlichen  England  das 
oben  mit  der  widdererhebung  zusamraengenante  spiel  vom  könig  und  der 
königin  mit  dem  widderspiele  und  dem  aufrichten  des  maibaumes.  Cham- 
pollion  nämlich  führt  aus  dem  Iseredepartement ,  also  aus  der  umgegend 
Viennes,  an:  ma'ie,  ßte  que  les  enfans  celelrretü  aux  premiers  jours 
du  mois  de  mai,  en  paratü  un  d'entre  eux  et  lui  donnaiü  le  türe  de 
roL^  Der  winter  wird  verjagt  oder  abgesetzt,  der  sommer  oder  mai 
dagegen  zum  könig  gekrönt.  Beide  aber  sind  brüder,  wie  schon  eine 
S.  Galler  Urkunde  vom  jähre  858  zwei  brüder  Wintar  und  Sumar  nent.* 
Auch  in  einem  niederländischen  bühnenstücke  treten  sie  als  zwei  feind- 
liche brüder  auf,  deren  kämpf  frau  Venus  entscheidet.^  Zu  diesem  kreise 
von  Vorstellungen  gehört  auch  Htidifie  et  Eglantine  ou  le  Jugeniefif 
d^Amour  ou  Florence  et  Blmieheflor,  die  Schilderung  des  Streites  zweier 
frauenzimmer  mit  einander,  von  denen  die  eine  einen  ritter  (sommer), 
die  andere  einen  clerc  (winter)  liebt.*  Die  Verbindung  zwischen  jener 
mythischeren  und  dieser  moderneren  einkleidung  vermittelt  ein  altfran- 
zösisches Streifgespräch  des  14.  Jahrhunderts  zwischen  dem  pagen  Luci- 
fers,  dem  winter,  und  dem  paradiesbeherscher ,  dem  sommer.^ 

In  rheinischen  frühlingsliedern  ^vird  nun  der  sommer  aufgefordert, 
dem  winter  die  äugen  auszuschlagen,®  also  auch  hier,  wie  im  norden 
Hödur  und  im  Süden  Olivier ,  wird  der  gogner  des  somraergottes  als  blind 
oder  geblendet  aufgefasst.  Am  Laetaresontag  pflegt  dies  kampflied 
gesungen  zu  werden.  An  demselben  tage  hat  der  Italiener  und  der  Spa- 
nier den  brauch,  eine  puppe  zu  binden,  die  das  älteste  weib  des  dor- 

1)  Grimm,  Myth.  s.  738. 

2)  Grimm  a.  a.  o.  s.  719. 

3)  Uhland,  Sehr.  3,  21—23. 

4)  Grässe,  Sagenkr.  s.  277. 

5)  Uhland  a.  a.  o.  s.  22. 

6)  Pfeiffer,  Germ.  5,  257  ff. 


ÜBER   GERHARD   VON  VIENNE  441 

fes  vorstellt,  vom  volke  hinausgeführt  und  mitten  entzwei  gesägt  oder 
verbrant  wird.  Das  heisst  in  Friaul  arder  la  veccia,  in  Venedig 
siegär  la  veccia,  in  Toscana  segar  la  monaca,  in  Barcelona  und 
Sevilla  aserrar  la  vieja.^  Nach  einem  in  Barcelona  gesungenen 
kinderliede  befreit  ausserdem  ein  held  eine  taube  alte  frau  aus  dem 
türme,  während  ihr  gemahl  (der  winterriese)  todt  niedersinkt.^  Was 
bei  den  Langobarden  Italiens  und  den  Westgoten  Spaniens,  wird  auch 
bei  den  Burgundern  Frankreichs,  welche  ja  ganz  ähnliche  gebrauche, 
wie  das  schildstechen  und  das  strohmannverbrennen  kanten,  im  schwänge 
gewesen  sein.  Aus  der  sterbenden  alten  wird  im  frühling  eine  jugend- 
liche, aus  der  gefangenen  eine  freie  göttin. 

Im  fünften  abschnitte  unseres  gedichtes  erscheint  Aude  als  wun- 
derbar geschmückte  und  als  streitbare  Jungfrau,  auch  darin  anderen 
germanischen  göttinnen  ähnlich,  besonders  den  Hilden.  Denn  mitten 
im  kämpfe  zeigt  sich  auch  Kriemhilde  im  Rosengarten,  Brunhilde  auf 
dem  Isenstein,  die  Hilde  in  der  Gudrunsage  auf  dem  Wülpensando 
und  die  gleich  den  Hilden  mit  der  rose  geschmückte  Erka  von  Erke- 
lenz, „das  mannlich  weib.**^  Gleich  diesen  göttlichen  heldinnen  betei- 
ligt auch  Aude  sich  am  kämpfe  und  schleudert  wie  Brunhilde  einen 
stein.  Im  ersten  lenze  erscheint  die  frühlingsgöttin  einmal  verschleiert, 
d.  h.  von  nebeln  noch  verhüllt,  und  darauf  deutet  ja  auch  wol  jene 
widergeborene  Renöe  Taveau  hin.  Wie  aus  dem  lateinischen  caput ,  -itis 
ein  spanisches  cabal  entstand,  kann  auch  aus  tapes,  -etis,  decke,  ein  fran- 
zösisches tabal  und  tabau  sich  entwickelt  haben,  das  einen  ähnlichen 
begriff  hatte  wie  das  demselben  werte  entsprungene  tabard,^  welches  ein 
wallendes  kleid  bedeutet.  Mit  jener  anderen  form  hängt  dann  weiter 
zusammen  das  französische  tavaiolle,  ein  mit  spitzen  besetztes  leintuch. 
Renee  Tabeau  wurde  nach  ihrem  kopQ)utze  benaut,  wie  man  nach  dem 
bavolct,  dem  schleier  normannischer  bauermädchen ,  auch  diese  kurzweg 
bavolets  zu  nennen  pflegt.'»  Sie  gleicht  also  etwa  unseren  verschleierten 
weissen  frauen,  unseren  schleierweiblen,®  d.  h.  früheren  göttinnen.  — 
Aber  andrerseits  kann  das  vom  Sonnenlicht  durchstrahlte  nebelgewand 
der  göttin  auch  als  goldene  rustung  aufgefasst  werden,  dann  nimt  sie 
wie  jene  Hilden  und  Erka  einen  kriegerischen  Charakter  an ,  den  wir  also 
im  fünften  abschnitte  des  Gerh.  v.  Vienne  auch  an  Aude  nachweisen  können. 

1)  Grimm,  Myth.  s.  741.    Ebert,  Jahrb.  f.  rom.  u.  engl.  litt.  5,  374  —  379. 

2)  Mannhardt,  Germ,  mythen  s.  503.  510. 

3)  Eckertz,  die  chron.  der  stadt  Erkelenz. 

4)  Diez,  Rom.  wb.'  s.  405.  40G. 

5)  Schwan,  Dict.  fran9. 

(>)  E.  Meier,  Schwab,  sag.  s.  306. 


442  E.   H.  MEYER 

Nach  dem  siebenten  abschnitte  unseres  gedichtes  endlich  gibt  Karl  die 
schöne  Aude  dem  Roland  zum  weibe ,  der  ihr  am  Schlüsse  desselben  einen 
ring  schenkt.  Dieser  ring  ist  mythisch  betrachtet  doch  wol  derselbe,  den 
Olivier  im  Gallien  restaurö  sterbend  dem  Roland  in  Roncevall  reicht.  Dies 
muss  femer  der  ring  sein,  der  die  scheintote  frau  mit  dem  galten,  dem 
frühlingsgotte,  aufs  neue  verbindet,  den  Troüus  jenem  französischen 
Dornröschen  an  den  finger  steckt.  Wie  oben  die  göttin  als  hindin, 
erscheint  auch  der  gott  öfter  als  hiisch,  und  zwar  mit  einer  goldkette 
um  den  hals.^  Und  gerade  in  Magdeburg,  welches  die  schon  oben 
erwähnten  sagen  von  der  scheintoten  frau,  im  Wappen  eine  Jungfrau 
(magd)  mit  rosen  und  das  Rolandsspiel  um  die  Feie  in  sich  schloss, 
stand  vor  dem  Roland  auf  einer  steinsäule  ein  hii-sch  mit  goldhalsband, 
den  kaiser  Karl  gefangen  haben  sollte.*  Ein  hirsch  führt  den  Thomas 
von  Ercildoune  nach  sieben  jähren  zur  feenkönigin,  den  Pipin  zur  Ber- 
tha,  den  Odin  zur  Hulda.*  Diese  drei  weiblichen  wesen  sind  nur  ver- 
schiedene gestaltungen  einer  und  derselben  göttin ,  die  wir  auch  in  Aude 
widererkant  haben.  Über  Audes  weitere  Schicksale  berichtet  der  Gurard 
von  Vienne,  soweit  ihn  J.  Bekker  mitgeteilt  hat,  nichts,  doch  erfahren 
wir  aus  einigen  französischen  Rolandsromanen ,  besonders  aus  der  Turolds 
text  erweiternden  handschrifl  zu  Versailles,  dass  sie  nach  der  schlacht 
von  Roncevaux  in  den  annen  des  kaisers  und  ihres  oheims  Girard  von 
Vienne  gestorben  sei.* 

Überblicken  wir  das  ganze,  so  glauben  wir  etwa  folgende  haupt- 
punkte  der  sage  aufstellen  zu  müssen:  Alda,  Ollers  Schwester,  sitzt 
alternd  im  festen  eisturme  des  wintergottes ,  ihres  bruders,  gefangen.  Da 
rauscht  der  frühlings  wind,  der  falke,  werbend  in  ihr  gemach,  den  der 
kühne  sommergott  Roland  oder  Rodo  ihr  sendet.  Anfangs  sträubt  sie 
sich  heftig  und  Roland  sucht  sie  vergebens  den  starken  armen  Ollers 
zu  entreissen ,  ja  Alda  selber  schleudert  einen  stein  auf  den  verwegenen 
freier  hinab.  Oller  zieht  hinaus  mit  sehiem  harten  eisschilde,  aber  auf 
der  milden  aue  im  ströme  wird  er  durch  Rolands  lichtstrahlendes  schwert 
besiegt;  doch  dieser  muss,  ehe  das  eis  in  wasser  sich  wandelt,  grossen 
durst  erleiden.  Aber  als  Oller  erlegen ,  springen  fröhlich  die  quellen  auf, 
und  leuchtend  steigt  Alda  aus  geheimnisvoll  schimmerndem  gange  der 
winterburg  hervor,  um  von  Roland  den  vermählungsring  zu  erlangen. 
Dieser  burgundische  frühlingsmythus  kehrt  in  hundert  und  aberhundert 
formen  wider,  auf  den  schneefeldern  des  höchsten  nordens,  wie  im  blü- 

1)  Zacher,  Zeitschr.  1,  lOG,  107. 

2)  Grimm,  DS.«  iio.  445. 

3)  Simrock,  Mytli.  s.  354.  355. 

4)  W.  Grimm,  Ruolandes  liet  s.  IJX.  £  b  e  rt,  Jahrb.  f.  roui.  u.  engl,  litt  4,  213. 


ÜBER  QBBHABD  VON  VIENNB  44B 

henden  Arnotale  und  auf -den  zacken  des  Monserrat.  Er  erhebt  sich  bald 
zum  grossen  stile  der  Nibelungensage,  bald  sinkt  er  hinab  zu  dem  ein- 
fachen tone  der  Stadtgeschichten  von  der  scheintoten  frau,  bald  versteckt 
er  sich  unter  das  liebliche  geplauder  des  Volksmärchens.  Die  kinder- 
turmspiele  wie  die  Eolandsritte  endlich  stellen  den  mythus  plastisch  im 
spiele  der  kinder  und  männer  dar. 

Dieser  mythus  bildet  das  gegenstück  zu  demjenigen,  der  uns  in 
der  Rolandssage  aufbewahrt  ist,  der  den  herbstlichen  ringkampf  zwi- 
schen Olivier  und  Roland  erzählt  und  nach  meiner  auffassung  (vgl.  Roland 
s.  13)  etwa  folgendeimaassen  gestaltet  war:  Nachdem  Roland,  Berthas 
söhn ,  sich  mit  Alda  verbunden ,  zieht  er  mit  hörn  und  schwort  in  den 
kämpf  wider  die  im  herbste  von  neuem  herandringenden  unholde  des  win- 
ters, wird  vom  altfeinde  der  götter,  Gamalo,  verraten,  von  seinem  bru- 
der  oder  schwager  OJler  wider  dessen  willen  tötlich  verwundet,  und  endet, 
nachdem  er  vergeblich  sein  schwort,  den  Sonnenstrahl,  zu  vernichten 
gesucht,  im  domentale  unter  dem  weltbaum.  Die  sonne  bleibt  nach  sei- 
nem tode  stehen,  die  steine  weinen  über  den  verstorbenen,  die  geliebte 
folgt  ihm  in  den  tod. 

Es  fragt  sich  nun ,  ob  noch  in  andern  Sagenkreisen  des  Rhonetales 
diese  alten  gottheiten  ihr  antlitz  zeigen.  Ich  glaube ,  dass  bald  die  Par- 
zivalsage,  deren  kern  auch  zu  den  Überlieferungen  der  Vienner  grafschaft 
gehört,  eine  kräftig  bejahende  antwort  darauf  geben  wird.  Ob  noch 
heute  erinnerungen  an  Aude  im  dortigen  Volksglauben  zu  entdecken  sind, 
weiss  ich  nicht.  Doch  scheint  mir  beachtenswert,  dass  vielleicht  in  kei- 
ner gegend  Frankreichs  der  Marienkultus  so  ausgebildet  und  so  alt  ist 
wie  im  Rhonetal  von  Lyon  herab  bis  nach  Marseille.  In  Viviers ,  A vignon 
und  Yienne  steht  das  bild  der  mutter  gottes,  weit  über  das  tal  schau- 
end, auf  beherschender  höhe,  freilich  alle  drei  erst  im  zweiten  kaiser- 
reiche  errichtet ,  ^  aber  an  alten  statten  des  Mariendienstes.  In  Vienne  ist 
ihr  als  der  Notredame  de  la  Vie  eine  kirche  in  korinthischem  tempelstile 
geweiht,  in  deren  heiligem  schütze  zahlreiche  gräber  lagen,  wie  um  die 
Madonna  de  Fourvieres  in  Lyon.*  Und  in  Marseille  und  im  felsumstarr- 
ten  Puy  in  ünterlanguedoc  finden  wir  die  schwarzen  Marienbilder,^  die 
auf  schreckhaft  freundliche  gebilde  des  heidentums,  wie  deren  Aude 
eines  ist,  zurückdeuten. 

Wenn  wir  endlich  zur  nordischen  götterweit  hinnberblicken,  so 
möchte  keine  gestalt  in  derselben  der  winterlichen  Aude  ähnlicher 

1)  Treitschke,  Hist-polit.  aufs.  2,  311. 

2)  Stark,  Städteleben  in  Frankr.  s.  20.  5.  Mylius,  Puasreise  d.  d.  südl. 
Frankr.  I.  2,  265. 

3)  Grimm,   Myth.  s.  289. 


444  E.   H.   METER 

sein  als  Skadhi,  keine  der  sommerlichen  als  Nanna^  beide  zusam- 
mengefasst  in  Freya- Gerda,  die  Freyr - Skirnir  mit  Schwert  und  ring 
erkämpft,  nachdem  er  ihren  bruder  Beli  erschlagen  hat.  Skadhi  näm- 
lich, die  eisen waldfrau ,  die  schrittschuhläuferin  des  gebirgs,  die  nicht 
lacht  und  mit  dem  bogen  im  walde  jagt,  die  tochter  des  sturmriesen 
Thiassi,  der  nach  einer  anderen  sage  Idun,  die  ja  Iwaldis,  des  eibeu- 
walds  tochter  ist,  d.h.  die  verjüngte  Skadhi ,  entführt,  ist  ohne  frage  eine 
Wintergöttin  und  gleicht  dem  UUer,  der  in  düstern  eibentälem^  wohnt, 
mit  dem  bogen  umherschweift  und  über  das  eis  auf  Schlittschuhen  dahin- 
eilt, wie  eine  Schwester  dem  bruder.  Und  ein  männliches  seitenbild  zu 
Skadhi  scheint  es  auch  in  Deutschland  gegeben  zu  haben ,  nach  dem  hel- 
denhaften althochdeutschen  scado,  zumal  nach  dem  angelsächsischen 
uhtsceaäa,  einem  namen  des  teuf  eis,  zu  urteilen.^  Auch  erscheint  in 
deutschen  märchen  nicht  nur  ein  riesenweib,  die  räuberin  Hansels  und 
G reteis,  mit  Schlittschuhen,  sondern  auch  ein  böser  mann,  mit  gleichem 
fusszeug  versehen,  tritt  den  beiden  königskindem  drohend  entgegen.' 
Wie  dort  der  vater  Tlüassi  der  eigenen  tochter  nachstellt,  so  entflieht 
die  nimmer  lachende  Beaflor  den  gelüsten  ihres  erzeugers  zu  Mai,*  dem 
frühlingsgotte.  Endlich  aber  enteilt  Skadhi  ihrem  gatten  Niördr,  um 
sich  einem  andern,  dem  Odin,  hinzugeben.  So  entfliehen  in  unsem  mär- 
chen frauen  aus  räubers  band  zum  Roland,^  und  die  scheintote  entzieht 
sich  dem  angriffe  des  totengräbers ,  der  in  einigen  sagen  dem  gemalile 
gleichgesetzt  wird.®  Hieraus  ersehen  wir,  dass  der  wintergott  bald  als 
vater,  bald  als  gatte,  bald  als  bruder  der  verjüngten  lenzgöttin  aufge- 
fasst  wird.  Solche  sittlich  bedenkliche  Vielseitigkeit  der  gottheit  stiess 
auch  noch  in  viel  späteren  christlichen  zeiten  nicht  ab,'  man  denke  nur 
an  die  Inschrift  auf  dem  portale  der  Certosa  bei  Pavia:  Der  Jung- 
frau Maria,  der  mutter,  der  tochter,  der  braut  gottes. 

Auf  Aldas  ähnlichkeit  mit  der  geliebten  Balders  und  Hödurs ,  mit 
Nanna,  habe  ich  schon  in  der  abhandlung  über  Koland  s.  12  hingewie- 
sen. Ein  paar  neue  verwantschaftszüge  mögen  hier  hinzugefügt  werden. 
Aus  Hels  reich  sendet  Balders  gemahlin  Nanna  andenken  herauf,  der 
Frigg  einen  schleier  (ripti)  und  der  FuUa  einen  ring  (fingrguH).  Und 
gerade  ring  und  schleier  sind  ja  die  wichtigsten  abzeichen  jener  mit  Alda 
eng  verwanten   scheintoten  frauen,   Avenn  sie   aus  der  unterweit  zurilck- 

1)  Uhland,  Sehr.  :{,  5Ü.  142. 

2)  Grimm,  Myth.  s.  :U7.  941. 

3)  örimm,  KHM.  iio.  15.  113. 

4)  Germ.  1,  435. 

5)  Roland  8.  14. 

6)  S.  unten. 

7)  Wackern agül,  Wessobrunner  gebet  ».  39  fgg. 


ÜBRR  GBBHARD  TOK   VISNNB  445 

kehren.  Dann  aber  hat  schon  Quitzmann  bemerkt,  der  volkstömliche 
ausdruck  Nandl  für  Anna  habe  mit  letzterem  nichts  gemein  und  weise 
auf  Nanna  zurück,  wie  auch  im  ganzen  westlichen  Deutschland  Nannchen 
und  in  Prankreich  Nannette  für  Annette  gebräuchlich  ist.^  Nun  aber 
spielt  in  einem  weitverbreiteten  volksliede  ein  meist  Anneli  genantes 
mädchen  eine  ganz  ähnliche  rolle,  wie  unsere  Nanna -Alda.  Bereits 
Lütolf  verspürte  in  diesem  Anneli  des  bekanten  Ulingerliedes  eine  nach- 
wirkung  des  mythus  von  der  Nanna,*  und  andrerseits  erkante  schon 
Wolfg.  Menzel  im  deutschen  Ulinger  und  Ulrich  den  nordischen  winter- 
gott  Ulier  wider.*  Die  vom  grausamen  Ulinger  (Ullrich,  Olleger, 
Olbert,  Hilfinger  usw.)  geraubte  Jungfrau  Anna  oder  Odilia  wird  nach 
sieben  jähren*  von  ihrem  bruder  befreit  und  der  räuber  getötet.  Dies 
Volkslied  schildert  in  der  ersten  hälfke  den  sieg  des  wintergottes,  in  der 
zweiten  den  des  lenzgottes.  Dass  uns  dieser  frühlingskampf  in  dem  fünf- 
ten abschnitte  unseres  gedichtes  in  den  hauptzügen  vorgeführt  wird, 
unterliegt  nun  doch  wol  nicht  mehr  berechtigtem  zweifei.  In  derEonce- 
valler  schlacht,  welche  den  herbstkampf  darstellt,  ist  es  Eoland,  der 
Aude  besitzt,  dreimal  ins  hom  stösst,  sein  schwert  einbüsst  oder  es  ein- 
zubüssen  nahe  daran  ist  und  von  Olivier  besiegt  wird;  vor  Vienne  ist 
es  Olivier,  der  Aude  besitzt,  dreimal  ins  hom  stösst,  sein  schwert  ein- 
büsst und  von  Boland  besiegt  wird.  Von  der  zweiten  form  des  Streites 
zwischen  dem  winter-  und  dem  sommergotte,  Baidur  und  Hödur,  wissen 
die  Edden  allerdings  nichts  genaueres,  wol  aber  kennt  sie  8axo  Gram- 
maticus.  Denn  nachdem  Hother  sich  Nanna  errungen ,  besiegte  ihn  Bal- 
der  in  neuer  schlacht,  in  der  er  seinem  dürstenden  beere  einen  quell 
aus  der  erde  springen  liess,  der  noch  seinen  namen  trägt.  Dann  aber 
wurde  Balder  so  krank,  dass  er  nicht  mehr  zu  fiisse  gehen  konte,  den- 
noch schlug  er  Hothern  noch  einmal,  bis  dieser  in  unwegsamen  wald 
floh.  Wer  erkent  nicht  in  Balder  den  siegreichen  Boland  wieder,  der 
um  Aude  streitet,  nach  wasser  dürstet,  und  der,  obgleich  siegreich,  plötz- 
lich V.  2972  gesteht:  je  suix  nmlaides ,  nd  vos  puis  plus  noier,  si  nie 
vodr&ie  un  petit  couchier  por  reposer:  car  fen  ai  grant  niestier?  Dazu 
ist  schon  in  der  Bolandsabhandlung  s.  14  auf  die  Bolandsquelle  im  amte 
Apenrade  hingewiesen,  die  also  dem  Baldersbrönd  zwischen  Kopenhagen 
und  Boeskilde,*  dem  Tisvelde,  dem  Tyrsquell,  auf  Seeland,^  der  zu  Johanni 
von  kranken  besucht  wird ,  dem  Tyburn ,  an  dessen  free  Londoner  verbre- 

1)  Quitzmann,  heidn.  religion  der  Baiw.  s.  133.      Simrock,  Myth.*  s.  397. 

2)  Lütolf,  Sagen  aus  d.  Pünforten  s.  75. 

3)  W.  Menzel,  D.  dichtung  1,  151. 

4)  Uhland,  Sehr.  4,  66. 

5)  Lex.  myth.  8.29.         6)  Lex.  myth.  s.  757. 

ZEITSCITR.    7.  DBUTSCHE    PH1L0L0GIR.     BD.  III.  29 


446  fi.  H.   KETBR 

eher  gehängt  wurden ,  und  am  ende  auch  Koeskilde ,  wo  Saxo  wahr* 
scheinlich  propst  war,  d.  h.  der  quelle  Hrodos  entspricht.  Wenn  Saxo 
weiter  erzählt,  der  besiegte  Hother  habe  auf  den  rat  von  waldjungfrauen 
dem  Balder  eine  kräfte  mehrende  wunderspeise  zu  entreissen  gesucht, 
statt  deren  aber  nur  einen  siegkräftigen  gilrtel  erhalten  und  dann  Bai- 
dem  wirklich  getötet ,  so  erinnert  Balders  feind  wider  deutlich  an  Olivier, 
der  im  Fierabras  seinem  gegner  zwei  stärke  spendende  balsambüchsen 
raubt. ^  Dunkler  bleibt  das  im  frühjahr  dem  Olivier,  im  herbst  dorn 
Roland  beigelegte  hörn  blasen.  Bezeichnet  es  dort  den  brausenden  lenz- 
und  hier  den  herbststurm?  Oder  steht  das  hom  in  Zusammenhang  mit 
Homung,  dem  uralten  namen  des  februars,  der  den  unechten  söhn  bedeu- 
tet, dem  ein  nach  dem  echten  sonnensohne  benanter  januarsnaroe  Vol- 
born  des  Herbort  von  Fritslar  gegenüber  stünde,  in  Niederhessen  auch 
wol  b rüder  Hartmann  nach  dem  Hardemonat  genant?  Beim  beginne 
des  nächsten,  des  lenzmonatcs,  gerieten  diese  in  kämpf  um  die  göttin 
des  vierten  monats,  die  Ostara.* 

In  allen  diesen  sagen  sind  die  verwantschaftsgrade  der  gottheiten 
bald  so,  bald  so  verschoben,  und  wie  diese  verwantschaftsgrade  werden 
auch  ihre  namen  gewechselt  haben.  Das  zeigt  auch  unsere  sage,  wenn 
auch  nicht  unmittelbar  durch  Aude ,  so  doch  durch  die  frau  ihres  oheims. 
Denn  es  muss  auffallen ,  dass  Gerhards  gattin  nur  im  Roussilloner  gedieht 
ihren  geschichtlichen  namen  Bcrtha  führt,  dagegen  im  Vienner  und  in 
einigen  französischen  Kolandsgedichten  Guibor c  oder  Qu i bor'*  und 
im  Agolante  (Bekker  s.  173a)  Ameline  heisst.  Der  frauenname  Ber- 
tha,  den  auch  eine  göttin  trug,  scheint  hier  durch  andere  namen  der- 
selben göttin  ersetzt  zu  sein.  Wenigstens  Guiborc  hat  mythischen 
klang  und  tritt  auch  in  anderen  sagen  nicht  nur  als  kriegerisches  weib, 
wie  die  gräfin  von  Vienne,  auf,  sondern  auch  mit  unverkennbaren  eigen- 
schaften  eines  göttlichen  wesens.  Im  Auhri  li  Borgonnon  nämlich  heisst 
so  eine  Jungfrau,  die,  wahrscheinlich  die  tochter  könig  Auris  zu  Kaine- 
borc  (liegensburg),  einen  türm  gcjgen  Sarazenen  standhaft  verteidigt,  wäh- 
rend der  gefangene  Auri  vor  iliron  äugen  geblendet  wird  (Bekker  LXVIIl). 
Später  cntreisst  Aubri  sie  der  liand  der  Sarazenen  und  heiratet  sie«  die 
mit  feengewande  angetan  ist.  Dieser  Aubri  aber  wird  herzog  vou  Dijon 
(B.  lG9b)  oder  lierzog  von  Burgund  und  Genf  (B.  lG7b.  170a.  vgl. 
B.  lG2b.)  genant.^    Er  gehört  also  dem  burgundischcn  Sagenkreise  und 

1)  Fierabras  v.  Bekker.  v.  13S5  fjrK- 

2)  J.  Grimm,  CJDÖ.  s.  83  fg^. 

M)  W.  Grimm.  Ruolamlcs  Hot  LVIII. 

4)  Um  nach  forschem  die  müht;  zu  erleiohtorn ,  orduc  idi  hier  die  von  Bekker 
mitgeteilten    hrnchKtücke  Ides  Aubri,   die   in   seiner  ausgäbe  hier  and  .da  xorstrcut 


ÜBEB  OXERABD  VON  YlBNNB  447 

genauer  der  heiinat  der  Oliviersage  an^  denn  auch  Olivier  stamt  nach 
der  älteren  sage  aus  Vienne  oder  Genf.  Eine  dritte ,  den  anderen  widemm 
ganz  ähnliche  Goiborc  ist  die  gemahlin  des  berühmten  Sarazenenbesiegers 
herzog  Wilhelms  von  Toulouse ,  dessen  tapfere  taten  in  der  schlacht  von 
Orbie  793  ebenso  vielen  sagen,  wie  schon  die  Histoire  g^n^rale  de  Langue- 
doc  1730^  sagt,  den  Ursprung  gab,  als  die  niederlage  von  Eoncevall, 
nicht  nur  weil  die  heldentaten  von  mindestens  vier  anderen  kriegern 
Frankreichs  nach  Jonckbloets  nachweis  auf  ihn  übertragen  wurden ,  son- 
dern weil  auch  hier,  wie  mir  scheint,  der  göttermythus  mächtig  nach- 
gfewirkt  hat  An  andrer  stelle  werde  ich  diese  in  Deutschland  durch 
Wolframs  Willehalm  so  bekant  gewordene  sage,  ihre  germanischen  bestand- 
teile  und  ihren  Zusammenhang  mit  der  Gerhardssage  genauer  untersu- 
chen, hier  beschränke  ich  mich  darauf,  auf  die  stiftungsurkunde  der 
abtei  Gellone  vom  jähre  804  hinzuweisen,  in  welcher  in  der  tat  die  eine 
von  Wilhelms  gemahlinnen  Guitburge  genant  wird.^  Wilhelms  eine 
Schwester  heisst  hier  Bertha,  seine  mutter  Alda.  Alle  seine  nächsten 
weiblichen  verwanten  tragen  also  namen ,  die  in  jener  zeit  gewiss  noch 
gleich  Kolands  namen  mythische  erinnerungen  wachriefen.  Und  so  Avird 
sich  auch  die  Guiburg  der  dichtung  erklären.  Nach  Wolfram  nämlich 
war  sie  ursprünglich  heidin  und  gemahlin  Tybalts  und  hiess  Arabel  W.  7, 
27  fgg.  Sie  wird  durch  Willehalm  den  Sarazenen  geraubt  und  lässt 
sich  taufen.  Um  sie  erhebt  sich  der  doppelkampf  auf  Alischanze.  Sie 
trägt  oft,  als  sie  belagert  wird,  waflfen  auf  Orange  W.  215,  7.  229,  26 
und  nimt  die  armbrust  zur  band,  sie  lehnt  tote  krieger  an  die  zinnen 
und  weiss  sie  so  geschickt  in  bewegung  zu  setzen ,  dass  die  feinde  dieselben 
wie  lebendige  fürchten  W.  230.  Sie  heisst  403 ,  1  eine  heilige  frau  und 
ist  Schwester  Kennewarts,  dessen  aschenhülle  und  wilde  kampfeslust  um 
so  mehr  an  Olivier  erinnert,  als  auch  Kennewart  schwertlos  seinen  bru- 
der  erschlägt  W.  442,  20.  Man  erinnere  sich  nur,  dass  in  der  verderb- 
ten Wielandssage ,  die  uns  das  gedieht  von  Friedrich  von  Schwaben 
erhalten  hat,  Wielands  geliebte,  Angelburg,  aber  früher  als  heidin 
Arvel  (also  Arabel)  geheissen,  ein  halb  geisterhaftes  wesen,  ihm  an 
einer  quelle  mit  zwei  gefährtinnen  als  taube  erscheint  Die  erde  berüh- 
rend werden  alle  drei  zu  Jungfrauen ,  sie  werfen  ihre  kleider  ab  und  sprin- 

stehcn ,  bei  dieser  gelcgenheit  nach  der  folge  der  erzählten  begebenheiten :  blatt  1 
steht  bei  Bekker  s.  169a  (dazu  B.  175b.  167b.),  bl.  9b.  B  175b,  bl.  IIb.  B.  175a, 
bl.  21b.  B.  152b,  bl.  24b.  B.  153b,  bl.  45b.  B.  167a,  bl.  49b.  B.  l?4a,  bl.  64b. 
B.  154b,  bl.  71b.  B.  158a,  bl.  90b.  B.  167b,  bl.  117b.  B.  174a  und  LXVI,  bl.  143b. 
B.  169  a.    Dann  B.  182a  zu  Pierabr.  v.  2948. 

1)  1 ,  454. 

2)  Hist.  g.  d.  Langued.  1,  443.  446.  464.  705.    PreuTes  31. 

29* 


448  E.  H.   METER 

gen  ins  wasser.  Wieland  nimt  sie  ihnen,  und  gibt  sie  erst  zurück,  als 
Angelburg  ihm  zur  ehe  sich  anbietet.  ^  Gerade  ein  solches  göttliches  wesen 
unter  dem  namen  Guiborc  kante  man  also  auch  an  der  unteren  Rhone,  und 
der  mythische  Charakter  ihres  namen,  altgermanisch  Wicburc  lautend,  steht 
um  so  sicherer  fest,  als  in  den  Nibelungen  bekantlich  eine  der  von 
Hagen  ihres  gewandes  beraubten  schwanjungfrauen  den  gleichbedeutenden 
namen  Hadburc  fuhrt.  Das  Verhältnis  dieser  einer  Hilde  gleich  kampf- 
bereiten und  tote  krieger  belebenden  Guiburg  oder  Wieburg  zu  ihrem 
eigenartigen  bruder  Rennewart  halte  ich  für  ein  im  mythus  begründetes. 
Denn  auch  der  riesenstarke  Däne  Haveloc ,  ein  küchenjunge ,  wie  Renne- 
wart, bläst  ein  wunderhom,  das  auch  im  wappen  von  Orange,  dem 
Wohnsitze  Guiburgs,  vorkomt^  und  im  frühlingskampfeOlivier,  im  herbst- 
lichen Roland  gebührt,  und  veimählt  sich  mit  Argentille,  die,  wie  Gui- 
burg belagert,  ähnlich  wie  sie  grosse  pfähle  in  der  nacht  schneidet,  die 
dazu  dienten,  die  gefallenen  auf  dem  schlachtfelde  lebenden  ähnlich  auf- 
recht hinzustellen.*  Nach  den  früheren  bemerkungen  können  wir  keinen 
anstoss  daran  nehmen,  dass  Haveloc  als  der  gatte  und  Rennewart  als 
der  bruder  der  kriegsgöttin  auftritt.  Dann  aber  müssen  wir  auch  Gui- 
burg und  Aude  einander  gleich  stellen,  obgleich  die  erste  im  Vienner 
Gerhard  die  taute  der  anderen  genant  wird.  Beide  namen  bezeichnen 
ursprünglich  eben  nur  verschiedene  lebensstufen  der  einen  burgundischen 
göttin  Bertha.  Vielleicht  wird  diese  ansieht  auch  durch  den  Agolante 
gestützt,  welcher,  wie  oben  bemerkt,  Gerhards  gattin  Ameline  nent. 
Die  gattin  oder  Schwester  eines  germanischen  gottes  fQhrt  öfter  einen 
mit  dem  seinigen  wurzel-  oder  stammverwanten  namen,  wie  bekant  ist. 
Ameline  würde  einem  Amilo  oder  Amelius  entsprechen,  und  wir  geden- 
ken hier  wider  jenes  herrn  Ameil ,  der  an  einer  wallonischen  waldquelle 
die  schöne  und  doch  so  gefährliche  Oude  findet  und  sich  zur  gattin 
erwählt.  Und  ebenso  wie  hiemach  Oude  und  Ameline,  also  auch  Gui- 
burg  einander  gleich  zu  achten  wären,  müste  andrerseits  Amelius  die- 
selbe person  wie  Olivier  sein.  Auch  das  scheint  erweisbar,  da  die 
'berühmte  freundschaftssage  von  Amicus  und  Amelius  höchst  wahrschein- 
lich aus  einer  germanischen  Dioskurensage,  also  aus  einer  sage  von 
einem  götterpaar,  wie  es  nach  unserer  ansieht  von  Roland  und  Olivier 
gebildet  wird,  erwachsen  ist.  Beachtung  verdient  hier  vielleicht,  dass 
gerade  im  altburgundischen  Genf  im  jähre  1482  Philipp  Camus  einen 
lateinischen  roman  von  der  treuen  freundschaft  Oliv i er s  von  Gastilien 


1)  W.  Grimm,  HS.  s.  401.    v.  d.  Hagen,  Germ.  7,  95. 

2)  Hist.  d.  Langncd.  1,  447. 

3)  Keller.  Altfrz.  sagen  1,  1—25. 


ÜBBR  OBRHABD    YOV  YIENNE  449 

und  Artus  von  Algarve  übersetzte,  der^«  in  den  romanischen  ländern 
sehr  beliebt,  auch  von  Hans  Sachs  1556  zu  einer  comödie  von  den 
trewen  gesellen  Olivier  und  Artus  verarbeitet  wurde.*  —  Anfang  und 
ende  dieser  langen  kette  von  folgerungen  und  Vermutungen  fügen  sich, 
wie  mir  scheint ,  nicht  übel  zu  einem  mythenkreise  zusammen ,  wenn  wir 
schliesslich  von  der  schöneren  hälfte  der  götterweit  zu  den  männlichen 
Charakteren  derselben  hinüberblicken.  Wenn  es  wahr  ist,  dass  um  die 
gattin  des  Vienner  forsten  der  mythus  sich  spann,  so  wird  auch  der 
gatte  dessen  einflusse  sich  nicht  ganz  entzogen  haben,  und  da  Guiburg 
und  Aude  dasselbe  göttliche  wesen  bedeuten,  so  wird  auch  Gerhard, 
ihr  genösse,  dem  genossen  Audes,  dem  Olivier,  gleich  oder  ver- 
want  sein. 

Es  ist  nicht  unmöglich,  dass  auch  Gerhard  zugleich  name  eines 
gottes  und  eines  menschen  war,  wie  Guiburg.  Simrock  vergleicht  die 
bekante  märkische  redensart  von  dem  herrgott,  der  Hermen  heisst,  mit 
der  niederrheinischen:  „Du  wellst  mich  wis  mache,  Gott  hSsch  Ger- 
ret." Gerade  in  niederrheinischer  sage  heisst  auch  der  schwanritter 
Gerhard,  und  gerade  in  dieser  kauft  der  Gute  Gerhard  eine  königs- 
tochter  aus  der  gefangenschaft  los.*  Auch  der  burgundische  Gerhard 
von  Vienne  entstammt  mythischem  geschlechte.  In  der  grossen  chan- 
son^  von  der  Girart  de  Viane  nur  einen  teil  bildet,  wird  sein  vater  Gue- 
rin  oder  Garin  de  Montglaive  genant.^  Dieser  in  Lyon  wohnende 
fttrst,  der  ebenso  wie  Gerhard  von  Vienne  sein  vorbild,  so  weit  es 
geschichtlich  ist,  in  einem  teilnehmer  an  der  Schlacht  von  Pontenay  841 
gehabt  haben  mag,  in  dem  herzog  Warin  von  der  Provence,  einem 
hauptgegner  Lothars,*  herscht  in  unserem  gedichte  als  herzog  über 
Aquitanien,  bei  Bojardo^  und  im  Aubri  über  Burgund.®  Noch  andere 
beiden  gleichen  namens,  Guerin  Ilmesse  und  Guerino  il  Meschino,  von 
dem  ausführliche  reiseabenteuer  erzählt  wurden,  gehören  als  bruder  und 
enkel  Gerhards  demselben  hause  an.''  Ja  schon  Tm*pin  nent  im  elften 
capitel  einen  lothringischen  herzog  Guarinus ,  der  sich  hier,  wie  im  Aubri 
Garin  von  Burgund ,  als  ein  verräterischer  vasall  Karls  des  Grossen  erweist. ' 
Doch  dieser  herzog  von  Lothringen,  von  dem  der  grosse  roman   Garin 

1)  Grässe,  Sagenkr.  s.  350.    W.  Menzel,  D.  dichtung  1,  392. 

2)  Simrock,  Myth.«  s.  308.  478. 

3)  Ideler,  Handb.  1,  97.    Grässe,  Sagenkr.  s.  345. 

4)  Pertz,   Mon.  Scr.  2,   253.      Hist.   gen.   d.   Languedoc  1,  528  —  530. 
537.   710. 

5)  Begis,  Bojardo.  Stammtafel  zw.  s.  448  und  449. 

6)  Bekker,  Fierabras  s.  175. 

7)  Begis,  Bojardo  s.  451.    Grässe  a.  a.  o.  s.  368. 


450  E.    H.  MEYBK 

le  Loherain  geht,  muss  hier  wol  vorläufig  wenigstens  von  enem  geschieden 
werden ,  obgleich  auch  er  widor  mehr  mythisch  der  gatte  einer  Blanchefior 
ist.^  In  der  chanson  Bertrands  nimt  Garin  die  stadt  Lyon  den  Saraze- 
nen ab  und  heiratet  die  getaufte  tochter  des  dortigen  sultans.  Also  auch 
seiner  frau  geschicke  fallen  im  wesentlichen  zusammen  mit  denen  der 
einen  Guiburg  im  Wilhelm  von  Orange  und  ähneln  jedenfalls  denen  der 
andern  Guiburg,  der  gattin  Aubris.  Möglich,  dass  auch  Gerhards  Gui- 
burg,  deren  Vergangenheit  mir  bei  mangelnden  hülfsmitteln  dunkel  geblie- 
ben ist,  dieselben  abentouer  bestand.  Auch  hier  waltet  das  mythologi- 
sche gesetz  ewiger  widerholung  derselben  grundanschauungen.  Wie  um 
einen  ins  wasser  geworfenen  stein  sich  viele  ringe  bilden,  die  ersten 
klein,  ebenmässig  und  kräftig,  die  späteren  weit,  aber  durchbrochen  und 
.schwächer,  bis  die  äussersten  matt  ausschwingen,  so  erzeugen  sich  um 
einen  grundgedanken  des  Volkes  immer  neue^  ähnliche,  je  grössere,  desto 
unklarere  Sagenkreise.  Auch  die  spätere  volkssage  von  Garin  bestätigt 
dies.  Petrus  de  Marca  ^  nämlich  erzählt  uns  von  der  Stiftung  eines  klo- 
sters  auf  dem  Monserrat  um  800  folgendes.  Auf  diesem  von  drei  sel- 
ten unzugänglichen  berge  hatte  der  einsiedler  Johannes  Garinus  eine 
tochter  des  markgrafen  von  Barcelona,  besiegt  durch  ihre  Schönheit, 
entehrt,  dann  getötet  und  in  eine  höhle  geworfen.  Sieben  jähre  tat  er 
darauf  busse ,  nach  wilden  tieres  art  im  walde  lebend.  Seiner  bemäch- 
tigte sich  dann  der  jagende  markgraf ,  und  das  noch  stammelnde  söhn- 
lein desselben,  als  es  den  waldmenschen  erblickte,  rief  plötzlich  wunder- 
bar aus:  „Garin,  deine  Sünden  sind  dir  vergeben!"  Garin  gestand  seine 
schuld  und  erhielt  Verzeihung.  Nun  forschte  man  der  leiche  nach,  aber 
siehe!  unverwest,  in  lebendiger  schöne  steigt  die  tochter  aus  der  höhle 
empor.  —  Nach  einer  andern  sage  gewahrten  hirten  nachts  einen  licht- 
schein  in  dieser  höhle  und  fanden  hinzutretend  ein  schwärzliches  bild 
von  der  heiligen  Jungfrau  mit  dem  kinde.  Darum  wurde  hier  ein  klo- 
ster  gegründet,  in  welchem  man  die  gebeine  Garins  bewahrte,  die  noch 
im  dreizehnten  Jahrhundert  häufig  von  wallfahrorn  besucht  wurden.^  Nach 
Ticknor  ^  singen  noch  heutigen  tages  die  spanischen  maultiertreiber  nicht 
nur  romanzcn  von  der  schlacht  bei  lionceval,  sondern  auch  vom  Guari- 
nos.     In  der  von  F.  Wolf  und  C.  Hofmann  ^  mitgeteilten  Guarinosromanze 

1)  Mo  11  e,  HS.  s.  204.  215. 

2)  P.  de  Marca,  Marca  Hispanica.  1688.  ß.  336— 3;{i). 

3)  P.  de  Marca  a.  a.  0.  8.  339. 

4)  Ticknor,  Gesch.  der  schönen  lit.  in  Spanien.  Deutsch  von  Jalios.  1867. 
1,  120.  Vgl.  die  ähnliche  romanze  vom  Conde  Dirlos,  el  salvajo,  F.  Wolf  und 
C.  Hofmann,  Primaver  2,  129  und  Jahrb.  f.  rom.  u.  engl.  litt.  4,  112. 

b)  F.  Wolf  und  C.  Uofmann,  Primaver  y  flor  de  romances  2,  821. 


ÜBBB  GBJKHAIU)   VON  VIBNNE  451 

fuhrt  der  Sarazeneufürst  Marlotes  nach  der  schlacht  von  Boncevall  den 
Guarinos  gefangen  hinweg,  bietet  ihm  vergebens  seine  töchter  zur  ehe, 
denn  Guarinos  will  seinem  glauben  und  gemahl  treu  bleiben.  Dafür 
muss  er  sieben  jähre  in  feuchtem  kerker  sitzen,  bis  er  an  einem 
Johannestage  den  T a b  1  a d o  des  försten  niederwirft  und  nach  Frank- 
reich zm*ückfiieht.  Guarinos  siebenjähriges  elend,  seine  Stellung  zwischen 
der  Sarazenin  und  Christin,  seine  befreiung  bei  einem  frühlings-  oder 
Johannisfeste ,  alle  diese  züge  sind  dem  beiden  dieser  romanze  mit  jenem 
älteren  urbilde  der  volkssage  gemein.  Doch  eine  zu  demselben  weit 
genauer  stimmende  sage,  die  auch  den  namen  Johann  Guarin  hat,  über- 
liefert das  Schweizer  volk  vom  kloster  fiinsiedeln  mit  seinem  schwarzen 
Marienbilde.  ^  Nach  dem  einen  berichte  tötet  hier  Guarin  die  frau 
aus  gier  nach  ilirem  kostbaren  ringe,  und  nach  dem  dritten  verwandelt 
sich  der  schuldige  selber  nach  einer  busszeit  von  sieben  mal  sieben  jäh- 
ren in  ein  holdes  knäblein,  das  sich  dann  als  weisse  taube  auf  zum  him- 
mel  schwingt,  und  das  grab  der  widererstehenden  Jungfrau  wird  duich 
eine  wunderherliche  blume  mitten  in  abgehauenem  gestände  angedeutet. 
Kein  zweifei,  dass  diese  klostersagen  und  diese  geheimnisvollen  Marien- 
kulte ihren  Ursprung  germanischem  heidentume  verdanken.  Ich  sehe 
hier  davon  ab ,  die  wunderbar  geformten  berge  Monserrat  und  den  Pila- 
tusberg in  jener  Schweizer  gegend  mit  dem  Montsauvage  im  Parzival  zu 
vergleichen,  unseren  Garin  von  Montglaive  mit  jenem  Garin  le  Loherain 
und  diesen  wieder  mit  dem  schwanritter  Loherangrin  (f.  Loheran  Garin), 
der  im  Parzival  aus  dem  Montsauvage,  im  Loheugrin  aus  dem  Sibillen- 
berge  des  könig  Artus  hervorkomt,  endlich  jene  Jungfrau  und  iliren  plötz- 
lich zur  rede  gelangenden  bruder  mit  der  mishandelten  Kunneware  und 
Antanor  zusanmxenzuhalten.  Mir  ist  es  hier  wichtiger  den  catalonischen 
brauch,  eine  Alte  zu  zerschneiden,  und  das  Barceloneser  kinderlied, 
welches  die  befreiung  einer  Alten  aus  dem  türme  ihres  gemahls  durch 
einen  beiden  verherlicht,  ins  gedächtnis  zurückzurufen.  Jene  Jungfrau 
von  Monserrat  und  diese  Alte  von  Barcelona  sind  ohne  zweifei  der  bur- 
gundischen  Alda  gleich,  zumal  da  auch  Barcelona  die  stadtsage  von 
einer  Maria  kent,  die  unglücklich  vermählt  verstarb,  aber  wider  erwachte 
und  dem  geliebten  Don  Juan  ihre  band  schenkte.^  Der  milde  christ- 
liche name  des  Johannes  wird  dem  freundlichen  sommergotte  gegeben, 
wie  in  dem  einen  schottischen  ülingcr  -  oder  Blaubartsliede  der  mordgie- 
rige räuber  des  mädchens  Pause  John,  der  falsche  Johann,  in  einem 
andern   ihr   befreiender    bruder  John    heisst;^   unter   dem   heidnischen 

1)  Lütolf,  Sagen  aus  den  Fünforten  s.  534—587. 

2)  Germ.  13,  170. 

3)  Uhland,  Sehr.  4,  63.  64. 


452  £.  H.   METEB 

Garin  verbirgt  sich  avoI  der  in  tiergestalt  zum  Vorschein  kommende  gott 
des  winters.  Auch  in  der  südfranzösischen  Aucassinsage  lässt  ein  Qa- 
rin,  graf  von  Beaucaire ,  die  Nicolette  samt  einer  Alten  in  einen  türm 
sperren.  Sein  angenommener  söhn  Aucassin  aber  heiratet  schliesslich 
dies  getaufte  Sarazenenmädchen  Nicolette  ^  das  erst  licht  und  schön  in 
der  freiheit  ist,  dagegen  schwarz  aus  der  Verbannung  heimkehrt.^  Im 
Montglaiver  roman  ist  es  Garin  selber,  der  das  heidenkind  aus  der  burg 
erlöst. 

Dies  halb  wilde,  halb  liebliche  wesen  Garins  erklärt  sich  wie  das 
der  Alda  daraus,  dass  beide  gottheiten  dem  frühlihg  angehören  und  als 
solche  den  wintergraus  wie  die  sommerlust  teilen.  So  berührt  sich  auch 
der  nordische  frühlingsgott  Freyr  einerseits  mit  Skeaf-Wali,  andrerseits 
mit  deren  gegenbildern  Skiöld-UUer.^  Eine  skaldische  bezeichnung  des 
winters  ist  „nacht  des  hären,"  des  sommers  „tag  des  hären,"'  und  so 
erscheint  an  stelle  des  schön  geschmückten  maigrafen  in  Dänemark  auch 
der  gadebasse^  der  gassenbär,  im  frühling,  ein  frühliugsbär  auch  in  Hal- 
berstadt, Mainz  und  Strassburg,^  wie  denn  auch  Garin  als  wildes  tier 
aus  dem  walde  hervortritt.  In  einigen  märchen,  die  offenbar  dem  lenz- 
sagenkreise  angehören,  muss  die  bedrängte  Jungfrau  einen  hären  heira- 
ten, der  sich  aber  dann  zu  einem  schönen  königssohne  entzaubert*  — 
Auch  Garins  name  scheint  mir  auf  einen  lenzgott  am  ersten  deutbar  zu 
sein.  Der  stamm  des  aufs  deutsche  Warin  zurückführenden  Guarin  oder 
Guerin  ist  vieldeutig.  Man  dachte  bisher  an  althochdeutsch  wari ,  wehr, 
oder  toaron,  servare,  oder  war,  wohnung,  oder  wer,  mann,  oder  war,  wahr.* 
Allen  diesen  wenig  befriedigenden  erklärungen  möchte  ich  hier  eine  neue 
entgegensetzen.  Es  muss  auffallen,  dass  von  den  drei  Jahreszeiten,  Win- 
ter, frühling  und  sommer,  welche  die  Germanen  schon  zu  Tacitus  Zeiten 
kanten,  die  mittlere  in  unserer  spräche  nur  die  so  nüchternen  bezeich- 
nungen  des  frühlings  und  lenzes  aufweist,  da  doch  die  anderen  arischen 
sprachen  ein  sinnliches ,  naturfrisches  wort  dafür  besitzen.  Ob  dem  indi- 
schen vasanta,  griech.  feaQ,  lai  ver,  slav.  wesna,  litth.  wasara^  wie 
Grinma  meint, ^  das  got.  jer,  althochd.  jär  vergleichbar,  ist  doch  zwei- 
felhaft. Wie  wäre  es  aber,  wenn  neben  dem  griechischen  iaQtvog  und 
dem  römischen  v^r{i)nus  ein  gotischer  Verina,  ein  althochdeutscher  Wa- 
rino,  ein  frühlingsgott  sich  einstellte,  dessen  haupteigenschaft  sich  in 
einer  adjectivbildung,  tcarmy  althochd.  wäram  erhalten  hätte!  Ja  im 
norden,    der  auch  noch  den  altarischen  ausdruck  vär  für  frfihling,  mit 

1)  Fauriel,  h.  d.  1.  p.  prov.  8,  186  fgg.        2)  Simrock,  Myth.«  8.  315. 
3)  Pfeiffer,  Germ.  5,  273.        4)  Grimm,  Myth.  8.  736.  743. 

5)  W.  Menzel,  D.  dichtung  1,  153. 

6)  Förstemann,  Altd.  namenb.  1,  1258.       7)  Qrimm,  Myth.  8.  718. 


ÜB£B  eEEHABD   VON  VIENNE  ibS 

welchem  altn.  vaerr  heiter  zusanunenhangen  mag,  und  für  den  april  den 
namen  värant  bewahrt  hat,  finden  sich  auch  noch  spuren  einer  ähnlich 
benanten  gottheit.  Den  WcUs,  den  ahnherm  der  Wölsungen,  setzt  Sim- 
rock  dem  Wali,  einem  germanischen  Dioskuren,  gleich.  Dessen  vater 
heisst  in  der  vorrede  zur  jüngeren  Edda  Waerir,  den  schon  der  genante 
forscher  durch  Lenzer  übersetzt.^  Waerirs  gemahlin  wird  von  Odin 
heimlich  geschwängert  derart,  dass  ihr  das  kind  ausgeschnitten  werden 
muss.  Auch  hier  wider  das  nebenbuhlerische  ringen  eines  winter-  und 
eines  sommergottes  um  dieselbe  göttin,  auch  hier  die  ewig  sich  neu 
gebärende  sage  von  dem  Wechsel  der  Jahreszeiten,  welche  diese  ganze 
provinz  der  dichtung  beherscht. 

Gleich  Yienne  scheint  auch  Lyon  eine  hauptstätte  burgundischer 
sage  gewesen  zu  sein.  An  beiden  orten  mündete  eine  römische  Wasser- 
leitung in  der  nähe  eines  altheiligen  Marientempels,  um  den  hier  wie 
dort  ein  alter  fiiedhof  lag.  Und  etwas  weiter  nördlich  von  dem  hügel 
von  Four vieres,  auf  den  ein  15  stunden  langer  aquaeduct  das  wasser 
des  Mont  Pilat  brachte,*  erhob  sich,  einst  wild  und  steil,  aus  paradie- 
sischer gegend  der  burggekrönte  fels,  die  Pierre  scise,  die  Petra  scissa 
der  Römer,  die  jetzt  gröstenteils  gesprengt  und  abgetragen  ist.  Dies 
wird  der  Mont  glaive ,  der  aus  einem  germanischen  Eccinperc  oder  Eckin- 
stein^  übersetzte  Mens  gladii  des  mittelalters  sein,  der  wohnsitz  Garins, 
zumal  da  ihm  gegenüber  liegt  la  tour  de  la  belle  Allemande,  von  der 
folgende  sage  geht:  Der  geliebte  einer  schönen  Deutschen  wurde  von 
deren  gatten  in  die  Pierre  scise  gefangen  gesetzt,  während  sie  selbet  in 
einem  hohen  türm  am  anderen  ufer  eingesperrt  wird.  Da  stürzte  sich 
der  Jüngling  vom  felsen  in  den  fluss,  um  den  türm  zu  erklettern,  aber 
von  den  Schlosswächtern  entdeckt  wurde  er  vor  den  äugen  der  geliebten, 
die  auf  dem  türme  stand,  tötlich  verwundet.*  Ich  denke,  wir  haben 
hier  wider  nur  eine  Aldasage  vor  uns,  und  vielleicht  ist  die  Allemande 
nur  eine  spätere  entstellung  des  unverstandenen  Aide.  Auch  hier  streit 
zweier  nebenbuhler  um  ein  auf  hohem  türm  stehendes  weih,  für  das  der 
geliebte,  wie  auch  Roland  vor  Vienne,  den  ström  durchschwimt,  während 
Garin  -  Olivier  ihm  die  Werbung  verwehrt.  Für  die  nahe  berührung 
Garins  mit  Olivier  scheint  auch  der  umstand  zu  sprechen,  dass  im  Ger- 
hard von  Vienne  (v.  19Y6)  Oliviers  schildhalter  Garin  heisst,  ja  im  Fie- 
rabras  Olivier  sich  selber  als  Garin  (v.  896)  ausgibt.  Und  jetzt  kehren 
wir  zur  Gerhardssage  zurück. 

1)  Simrock,  M}i;h.«,  s.  317. 

2)  Mylius,  Pussreise  d.  d.  südl.  Frankreich  I.  1,  278  fgg. 

3)  Forste  mann,  Altd.  namenb.  2,  232.  1298. 

4)  Mylius,  a.  a.  o.  I.  1,  237.  301.   2,  84. 


454 


B.    H.  MEYEB 


Von  Garin  von  Montglaive  also  stamt  Gerhard  von  Rousaillon 
oder  Yienne  ab.  Dass  Gerhard  am  Khein  för  ein  mythisches  wesen  gegol- 
ten hat,  ist  oben  angedeutet  Seine  verwan tschaft  mit  Garin  wird  noch 
dadui'ch  bestätigt,  dass  auch  er  als  Schwanritter  auftritt.  Während  Ger- 
hard in  dem  mir  bekanten  teile  des  grossen  gedichtes  von  Garin  de  Moni* 
glaive  hinter  Bolaud,  Olivier  und  Aude  zurücktritt,  zeigt  sich  sein  mythi- 
scher Charakter  deutlich  in  dem  von  Fauriel  widererzählten  Gerhard  von 
Boussillon.^  Als  sich  kaiser  Karl  mit  Gerhards  geliebter,  einer  tochter 
oder  verwanten  des  kaisers  von  Constautinopel ,  vermählt,  heiratet  unser 
held  deren  Schwester  Bertha,  erhält  aber  von  der  kaiserin  zum  zeichen 
ewiger  liebe  beim  abschied  einen  ring.  Sein  marschall  Riquier  öffnet 
verräterisch  die  tore  Yiennes  dem  belagernden  kaiser,  Gerhard  flieht  bis 
nach  Avignon,  um  dann  seine  stadt  widerzuerobern.  Nun  kämpf,  Ver- 
söhnung und  neuer  stielt  mit  dem  kaiser.  Gerhard  und  Bertha  müssen 
22  jähre  in  der  Verbannung  in  den  Ardennen  leben,  er  unter  dem  namen 
Joland.  Nach  dieser  zeit  gibt  er  sich,  in  bettlerkleid  gehüllt,  an  einem 
charfreitag  der  geliebten  kaiseiin  in  einer  kiiche  zu  Orleans  durch  jenen 
ring  zu  erkennen  und  erhält  durch  ihre  hilfe  sein  schloss  wider.  Doch 
von  neuem  entbrent  der  kämpf  gegen  Earl^  bis  endlich  ein  siebenjähri- 
ger Waffenstillstand  geschlossen  wird. 

Gerhards  doppelliebe,  sein  durch  den  ring  an  die  eine  geknüpftes 
leben,  sein  waldleben  mit  der  andern,  seine  rückkehr  aus  dem  elend  anir 
frühlingszeit,  die  frist  von  sieben  Jahren,  die  den  einen  kämpf  vom  andern 
trent,  den  herbstlichen  vom  lenzlichen,  dies  alles  sind  zügo,  die  auch 
der  Garinssage  eigen  sind.  Jene  verräterische  auslieforung  Viennes  mid 
Gerhards  flucht  von  Yienne  nach  Avignon,  und  die  siegreiche  Umkehr 
vou  hier  nach  Vienne  sind,  wie  schon  oben  bemerkt,  wahrscheinlich  der 
altburgundischen  geschichte  entlehnt,  ebenso  wie  die  durch  ein  wunder 
gestillte  Schlacht,  die  Karl  und  Gerhard  sich  bei  Vaubeton  liefern,*  an 
einen  ähnlichen  wunderkampf  vom  jähre  537  erinnert.^  Vielleicht  hat 
der  name  Joland  den  sinn  von  Ivolant ,  d.  h.  Eibenbewohner ,  wie  ja  auch 
der  winterliche  Ulier  nach  nordischer  Überlieferung  in  den  Eibentälern 
haust  Hierzu  passt  auch  die  Wildheit,  die  dem  Gerhard  im  Agolant 
beigelegt  Avird,  wo  er  in  Viane  im  marmoi*palast  sein  stahlmesser  auf 
Karl  wirft.*  Ja  im  italienischen  Aspramonte  erscheint  er  als  wütender 
renegat,  der  das  cruciflx  zerbricht,  und  wird  von  seinen  eigenen  kindern 
in  einen  türm  gesperrt,  wo  er  stirbt.^    Auch  auf  Gerhard,  wie  auf  Alda 

1)  Fauriel,  bist.  d.  1.  p.  prov.  3,  35  fgg. 

2)  Fauriel  a.  a.  o.  3,  4;3.        3)  Gregor.  Tur.  3,  28. 

4)  Bekker,  Fierabras  s.  173. 

5)  liegiSy  Bojardo  s.  427. 


ÜBER  nBRHARD  VON  VIBNNE  455 

und  Garin,  wirft  die  spätere  christliche  sage  helleres  licht  Vienne  ist 
nämlich  einer  der  hauptsitze  der  Pilatuslegende,  und  diese  scheint  nicht 
viel  mehr  als  eine  Christianisierung  des  Gerhardsmythus  zu  sein.  Vor 
der  kirche  der  Notre  dame  de  la  vie  in  Vienne  kent  Zeiller  ein  Bicht- 
haus  des  Pilatus.  Nahe  dem  landungsplatze  am  kai  zu  Vienne  sah 
Mylius  1812  den  platz,  wo  einst  ein  alter  türm  stand,  der  türm  des 
Pilatus  genant,  weil  Pilatus,  auf  Caligulas  befehl  eingesperrt,  sich  hier 
erhenkt  hatte.  Nach  einer  anderen  sage  sass  Pilatus  im  fort  Salo- 
mon  bei  Vienne  gefangen.  Ferner  erhebt  sich  bei  Vienne  mitten  im 
grün  eine  72  fuss  hohe,  auf  einen  Janusbogen  gesetzte  pyramide, 
Aiguille  genant.  Hier  ruht  nach  der  sage  Pilatus,"  der,  nach  sei- 
nem aufenthalt  in  Jerusalem  auf  der  Vienner  bürg  ansässig,  sich  hier 
vom  felsen  in  die  Bhone  gestürzt  haben  soU.^  Dass  dies  bauwerk,  das 
wahrscheinlich  ein  grabmal  aus  der  späteren  kaiserzeit  ist,  auf  einen 
germanischen  mythus  und  auf  eine  biblische  figur  bezogen  ward^  darüber 
darf  man  sich  nicht  wundern.  Wird  doch  einerseits  auch  in  Arles  eine 
ganz  ähnliche  steinpyramide ,  die  auf  dem  amphitheater  sich  befindet, 
nach  einem  andern  germanischen  heros  derSolandsturm  genant,^  und 
werden  doch  andierseits  nach  Vienne  ausser  Pilatus  auch  Herodes  und 
Herodias  und  Archelaus  von  der  christlichen  legende  versetzt,*  lauter 
bösartige  Charaktere  des  evangeliums,  die  doch  wol  auf  den  höhen  Vien- 
nes  nur  die  sitze  verdrängter  älterer  gottheiten  eingenommen  haben. 
Wie  mächtig  gerade  in  dieser  Bhonelandschafb  der  alte  Germanenmythus 
von  christlichem  geiste  erfasst  und  durchdrungen  wurde ,  dafür  legt  kaum 
eine  litterarische  Schöpfung  ein  so  herliches  zeugnis  ab  wie  die  Parzi- 
valssage.  Ja  ich  glaube  nun  weiter,  dass  auch  die  klassische  kunst  eine 
engere  Verbindung  mit  der  germanischen  sage  und  der  christlichen  reli- 
gion  an  diesem  orte  eingieng,  vielleicht  nirgendwo  so  innig  als  in  Vienne 
und  etwa  noch  in  Trier,  wodurch  eine  seltsame  färbung  über  die  bau- 
werke ,  sagen  und  dichtungen  dieser  beiden  städte  ausgegossen  ist.  Nörd- 
licher schwächt  sich  der  antike,  südlicher  der  germanische  einfluss  zu 
sehr  ab.  Ein  Sinnbild  dieser  dreieinigkeit  ist  die  schon  oben  erwähnte, 
im  korinthischen  tempelstil  erbaute  kirche  der  Notre  Dame  de  la  Vie,  die 
über  Burgundergräbern  waltete ,  wie  einst  die  göttin  des  frühlings  und  des 
lebens.  Ähnlich  räumte  die  Diana  ihren  tempel  in  Jilarseille  der  St  Marie 
Majeure  ein ,  von  dem  aus  ein  unterseeischer  gang  nach  den  katakomben 
von  St.  Viktor  führen  soll,   in  denen  der  sarazenischen  habgier  das  hei- 

1)  Zeiller,  Topogr.  Galliae.  1661.  13,  24.  25.    Stark,  Stadteleben  inFrankr. 
s.  21.    Mylius,  Fussreise  d.  d.  südl.  Frankr.  I.  2,  257  —  271. 

2)  Stark  a.  a.  o  s.  74. 

3)  Lütolf,  Sagen  aus  den  Fünf  orten  s.  18. 


456  E.   H.   MEYER 

lige  bildnis  der  Vierge  Noire  entgieng.  Auch  hat  die  in  Vienne  stark 
fortwirkende  griechisch-römische  kunst  sich  nicht  gescheut,  nach  ihrer 
alten  Überlieferung  auch  fremde  gottheiten  zu  gestalten.  Wie  wir  im 
Bheingebiet  so  oft  die  muttergöttinneu  klassisch  dargestellt  finden,  so 
hat  sich  uns  auch  in  Vienne  ein  grosser  sitzender  torso  mit  vollen  brü- 
sten erhalten,  dessen  vorgestreckter  rechter  arm  die  sachverständigen 
auf  eine  mütterliche  thronende  göttin  hinweist.  Zwei  andere  bedeutende 
bruchstücke  des  Vienner  museums  gehören  ebenfaUs  einer  weiblichen 
ortsgottheit  an.  Ausserdem  hat  man  noch  in  einem  Weinberge  bei  Vienne 
eine  gruppe  von  zwei  knaben  entdeckt,  von  denen  der  eine  mit  einer 
taube  davoneilen  will ,  während  der  andere  ihn  in  den  arm  beisst ,  wobei 
als  Symbole  der  durch  die  sonne  widererweckten  erdkraft  eidechse  und 
schlänge  erscheinen.^  Doch  wird  es  richtiger  sein,  in  diesem  bildwerk 
einen  kämpf  zwischen  Eros  und  Anteros  als  einen  antik  aufgefassten 
streit  des  germanischen  winter-  und  sommergottes  um  den  frühlingsvogel 
zu  erkennen.  Wir  kehren  auf  etwas  festeren  boden  zurück ,  wenn  wir  uns 
wider  der  Vienner  Aiguille  nahem.  Sie  schien  wol  in  alter  zeit  nur  ein 
kleines  abbild  des  nahen  gewaltigen  dreiköpfigen  Mont  Pilat,  der  süd- 
westlich von  der  stadt  aufragt,  zu  sein.  Auf  ihm  aber  liegt  ein  see, 
aus  dem  ungewitter  entstehen ,  gerade  so  wie  aus  dem  see  des  Schweizer 
Pilatusberges.  Ich  will  hier  auf  die  geschichte  der  bis  ins  vierte  Jahr- 
hundert zurückreichenden  Pilatuslegenden ,  die  Lütolf  ausführlich  bespro- 
chen hat,*  nicht  näher  eingehen.  Nur  das  verdient  hier  hervorgehoben 
zu  werden,  dass  nach  der  deutschen  fassung  der  Pilatussage  aus  dem 
zwölften  Jahrhundert  Pilatus  der  söhn  eines  königs  und  einer  einsam  im 
walde  wohnenden  müllerstochter  war  und  der  mörder  seines  eigenen  bru- 
ders  wurde.  Wir  bewegen  uns  hier  offenbar  in  dem  Sagenkreise  von 
Pipin  und  Bertha,  d.  h.  in  einem  fränkischen,  dem  burgundischen  von 
Garin,  Alda  und  Gerhard  nah  verwanten.»  Jener  bruder  wäre  Karl, 
dessen  leben  ja  auch  von  seinem  vetter  Gerhard  mit  dem  messer 
bedroht  wird,  verjüngt  aber  Roland,  dem  der  bruder  Olivier  nachstellt. 
Mir  scheinen  die  Pilatusberge,  vielleicht  auch  der  Montpellier  romani- 
sierte  Beleben  und  Bilsteine  zu  sein,  die  von  ganz  ähnlichen  sagen 
umgeben  sind  und  ihren  namen  einem  mythischen  Bil  verdanken,  der 
im  wesentlichen  mit  Garin,  Gerhard  und  Olivier,  vielleicht  auch  mit 
Beli,  dem  bruder  Gerdas,  identisch  ist.  Diese  bergnamen  wie  die  ähn- 
lichen des  Montsauvage  und  Monserrat  gedenke  ich  an  einem  anderen 

1)  Stark,  Stödteleben  Frankreichs  s.  576.  577. 

2)  Lütolf,    Sagen    aus  den  Fünforten  s.  4  — 2<>.    Rochholz,  Naturmythen 
8.  3.  6.  175. 

3)  Lütolf  a.  a.  o.  s.  19. 


ÜBEB  GEBHABD  VON  VIBNNE  457 

orte  im  zusammenhange  mit  den  entsprechenden  deutschen  zu  besprechen. 
Jene  andeutung  gebe  ich  schon  hier  nur  deswegen,  weil  Olivier,  dessen  hei- 
mat  auch  nach  Vienne  oder  nach  Genf  gesetzt  wird,  nach  Turpins  berichte 
cap.  29  in  der  villa  Beiini  bestattet  wurde.  Dies  wird  das  heutige 
Belley  sein,  das  im  mittelalter  auch  Belisium  und  Belica  genant  wird 
und  in  der  südlichsten  Khonekrümmung  liegt,  ebensoweit  von  Vienne 
wie  von  Genf  entfernt.  Etwas  weiter  nördlich  im  Juradepartement  finden 
wir  am  Ain  das  Städtchen  Condes,  in  dessen  nähe  unzugängliche  berge 
sich  erheben,  wo  baren  hausen  und  die  ruinen  eines  Schlosses  von  Holo- 
fernes  liegen  sollen,  der  hier  noch  nach  dem  Volksglauben  als  wilder 
Jäger  jagt^  An  dieser  stelle  aber  lag  im  fünften  Jahrhundert  in  der 
enge  des  Juragebirges  ein  hochangesehener  heidentempel,  Jsarnadori 
genant,*  ein  name,  der  nur  dem  eingang  in  die  germanische  unterweit 
gebührt.  So  leitet  uns  auch  dieser  hinweis  Turpins  auf  Oliviers  grab- 
stätte  in  eine  landschaft  Burgunds,  in  der  die  gottheiten  der  unterweit 
hohes  ansehen  genossen.  —  Im  italienischen  Aspramonte  taucht  Olivier 
noch  unter  andern  namen  auf.  So  heisst  er  nicht  nur  mit  geringer 
ab  weichung  auch  Uliviero,  sondern  auch  Don  Chiaro  oder  Donclair.' 
Auch  hat  Olivier  nach  Bojardo  die  zwillingssöhne  Aquilant  den  Schwar- 
zen und  Grifon  den  Weissen,  jener  von  schwarzer,  dieser  von  weisser 
fee  erzogen,  jener  schwarz,  dieser  weiss  gewaffhet  und  beritten.*  Wider 
und  wider  spaltet  sich  also  der  doppelseitige  gott  in  zwei  besondere  göt- 
ter.  Oliviers  söhn  Galien  le  Kestor^  endlich  scheint  bloss  ein  langweiliges 
erzeugnis  litterarischer  erfindung  zu  sein.**  Solche  fortgesetzte  Zersplit- 
terungen lassen  sich  auch  bei  Roland  wahrnehmen;  aber  indem  ich 
glaube,  Aldas,  Rolands  und  Oliviers  Stellung  innerhalb  unserer  mytho- 
logie  vorläufig  genügend  gesichert  zu  haben,  verzichte  ich  hier  darauf, 
die  schon  so  weit  ausgesponnene  Untersuchung  noch  mehr  zu  ver- 
längern. 

Nachdem  Ad.  Kuhn  in  dieser  Zeitschrift  mein  Rolandsprogranmi 
besprochen,  hat  auch  herr  G.  Paris  demselben  in  der  Revue  critique 
12.  F^vrier  1870  eine  eingehende  kritik  gewidmet,  für  die  ich  ihm  den 
wärmsten  dank  sage.  Herr  Paris  hat  einspräche  gegen  die  herleitung  der 
französischen  Rolandssage  aus  einem  germanischen  mythus  erhoben ;  aber 
ich  bin  überzeugt,  dass  die  schaar  seiner  einwände  bei  näherer  betrach- 
tung  stark  zusammenschmelzen  wird.  Auf  eine  solche  leiste  ich  hier 
verzieht,   weil  ich  abwarten  will,  ob  er  nicht  in  diesem  neuen  beitrage 

1)  Klöden,  Handbuch  der  geogr.  2,  498. 

2)  Grimm,  Myth.  s.  70. 

3)  Regis,  Bojardo  s.  427.  405. 

4)  Regis  a.  a.  o.  s.  376.        5)  ühland,  Sehr.  4,  339. 


458  SUPHAN 

zur  Kolandssage  einen  vollkommen  ausreichenden  beweis  meiner  froheren 
ansichten  anerkennen  wird.  Auch  unterdrücke  ich  hier ,  so  sehr  sie  mich 
reizt,  eine  allgemeine  betrachtung  der  geschichte  des  Burgundermythns, 
die  sich  besser  einer  Untersuchung  der  Parzivalsage  anzuschliessen  hat 

BREMEN,  MÄRZ  1870.  ELARD  HUGO  MEYER. 


HERDERS  VOLKSLIEDER  UND   JOHANN  VON  MÜLLERS 
„STIMMEN  DER   VÖLKER   IN  LIEDERN." 

Die  „Volkslieder"  erschienen  1778  und  1779  in  zwei  bändchen 
ohne  Herders  namen  (Leipzig,  in  der  Weygandschen  buchhandlung).  Von 
den  beiden  redactionen,  die  heutzutage  Herders  namen  tragen^  ist  die 
ältere  von  J.  v.  Müller  für  die  Cottaische  ausgäbe  der  sämtlichen  werke 
Herders  (1807)  unter  dem  titel  „Stinmien  der  Völker  in  Liedern"  gelie- 
ferte eine  gänzliche  Umarbeitung  der  Originalausgabe;^  die  jüngere,  von 
Johannes  Falk  1825  im  auftrage  der  Weygandschen  buchhandlung  besorgt, 
bleibt  im  texte  der  lieder  der  Originalausgabe  treu,  während  sie  in  der 
textconstitution  des  anhanges  abweicht. 

Die  MüUersche  redaction  behauptet  sich  als  vulgata  in  allgemeiner 
anerkennung,  wiid  sogar  nicht  selten  bei  litterargeschichtlichen  arbeiten 
wie  eine  Originalausgabe  gebraucht;  um  so  nötiger  erscheint  es  durch 
eine  vergleichung  derselben  mit  der  ausgäbe  von  1778/79  auf  ihre  abwei- 
chungen  und  änderungen  aufmerksam  zu  machen. 

Die  Originalausgabe  enthält  im  L  teil  zwei  und  siebzig  lieder  in 
gleicher  zahl  auf  drei  bücher  verteilt;  der  zweite  band  enthält  in  eben 
solcher  dreiteiluug^  neunzig  lieder.  Das  princip  der  anordnuug  ist  ein 
ästhetisches,  der  zweck  derselben  befriodigung  des  Schönheitssinnes 
und  moralische  erhebung.^  In  der  Müllerschen  redaction  ist  von  der 
öconomie  der  ersten  ausgäbe  nur  die  teilung  in  sechs  bücher  beibehal- 
ten; es  herscht  aber  ein  ganz  anderes,  ein  wissenschaftliches  prin- 

1)  Dio  jüngste  (1846)  in  Cottas  vorlag  erschienene  specialausgabo  ist  bis  auf 
geringfügige  berichtigungen  eine  widerbolung  der  ausgäbe  von  18()7.  Wir  citieren 
nach  der  verbreiteteren  taschenausgabe  (1827  fgg.).  Die  „St.  d.  V."  nehmen  B.  VII. 
Vm  (Zur  seh.  liit.  u.  K.)  ein. 

2)  Diesem  ebenmass  zu  liebe  hat  Herder  das  lied  „Jörra"  in  die  cinleitiing 
des  II.  B.  im  II.  teil  der  VL.  eingerückt,  da  durch  die  aufnähme  unter  die  lieder 
das  bucli  einunddreissig  nnmmem  erhalten  hätte.  Deswegen  ist  wol  auch  das  „  krie- 
gerische lied  dos  Hybrias  von  Kreta"  in  den  anhang  des  I.  teihj  der  VL.  (s.  227) 
verwiesen. 

3)  Siehe  Herders  Adrastea  V,  271  fgg.  277.  287  fgg. 


ZUB  TEXTKRITIK  VON  HBlU>BBS  V0LK8LIEDBBN  459 

cip  der  anordnung  (geographisch  und  historisch);  die  samlung  soll  dem- 
nach zu  beförderung  culturhistorischen  wissens  beitragen.  Müller 
gibt  also  die  harmonie  des  ganzen  und  das  äussere  ebenmass  auf  und 
bringt  in  das  I.  buch:  vier  und  zwanzig  „Lieder  aus  dem  hohen  Nord  " 
in  buch  II:  acht  und  dreissig  „Lieder  aus  dem  Süd";  in  buch  ÜI  (mit 
dem  der  VIII.  teil  der  sämtlichen  werke  begint)  fünfzig  ^  „  Nordwestliche 
Lieder";  das  buch  IV  enthält  vierzehn  „Nordische  Lieder";  buch  V  vier 
und  dreissig  „Deutsche  Lieder";  buch  VI  zwölf  „Lieder  der  Wilden"; 
zusammen  also:  hundert  zwei  und  siebzig. 

Unter  dieser  zahl  sind  vier  und  zwanzig  lieder,  welche  die  Origi- 
nalausgabe nicht  enthält;  dagegen  sind  fünfzehn,  die  sie  enthielt,  aus- 
geschieden. Jene  sind  nach  mitteilung  des  herausgebers  (in  der  „Vor- 
erinnerung") aus  Herders  handschriftlichem  nachlass;  diese  sind  als 
„neuere  und  eigene  lieder  Herders"  entfernt. 

Aber  unter  den  hinzugekommenen  finden  wir  einige  bereits  von 
Herder  selbst  in  späteren  Schriften  (Zerstreute  Blätter,  Adrastea)  veröf- 
fentlichte lieder;  und  von  den  ftmfzehn  fehlenden  sind  allerdings  sechs 
als  „eigene  lieder,"*  zwei  als  „sehr  freie  Übersetzungen"  (also  halb- 
eigen) *  abgesondert  und  unter  Herders  gedichte  (teil  IE.  IV  der  gesamt- 
ausgabe)  verteilt;  zwei  andere  kann  der  herausgeber  nur  aus  einer  fal- 
schen rücksicht  auf  den  anstand  unterschlagen  haben;*  eins  scheint  aus 
persönlicher  abneigung  gegen  den  dichter  beseitigt  zu  sein;^  drei  viel- 
leicht als  lieder  weniger  wertvollen  gehaltes;^    eins  ist  etwa,   weil  man 

1)  Das  buch  enthält  freilich  ein  und  fünfzig  stücke;  aber  unter  nuramcr  17 
verbirgt  sich  eine  prosaische  einleitung  an  statt  eines  liedes. 

2)  Diese  sechs  und  die  zwei  folgenden  befinden  sich  sämtlich  im  II.  T  der 
VL.  (Daher  der  titel  desselben:  „VL.  Nebst  untermischten  andern  stücken.").  In 
der  vorrede  (II,  29)  erklärt  Herder,  er  habe  (aus  rücksicht  auf  die  artigen  leser  und 
kunstrichter)  „den  ton  dieses  teils  ganz  geändert  und  hie  und  da  stücke  geliefert, 
die  freilich  —  nicht  Volkslieder  sind,  meinethalben  auch  nimmer  Volkslieder  werden 
mögen."  Die  sechs  lieder  sind:  Nothund  Hoffnung  VIj.  II.,  274.  Werke  (z.  seh.  L. 
u.  K.)  m,  119.  Das  lied  vom  Bache,  VL.  ü,  73.  W.  m,  137.  Abendlied.  VL. 
U,  78.  W.  m,  140.  Der  einzige  Liebreiz.  VL.  H,  152.  W.  HI,  223.  Das  Lied 
vom  Schmetterlinge.  VL.  U,  281.  W.  HI,  120.  Der  Eistanz.  VL.  II,  287. 
W.  IV,  39. 

3)  Klaglied  über  Menschenglückseligkeit.  VL.  11,  46.  W.  III,  130.  Der  Lor- 
beerkranz.    VL.  II,  48.    W.  in,  211. 

4)  Bettlerlied.     VI..  II,  264.    Der  entschlossene  Liebhaber  l,  276. 

5)  Goethes  Lied  vom  Fischer ,  dem  Herder  den  ehresplatz  zu  anfang  des  zwei- 
ten teils  angewiesen  hatte.  Die  „neueren  lieder'*  anderer  dichter  sind  beibehalten. 
Vgl.  Von  und  an  Herder  HI,  346.  brief  24. 

6)  Das  strickende  Mädchen.  VL.  II,  21.  Ulrich  und  Aennchen  VL.  I  16. 
(hat  in  zwei  Strophen  lücken).    Vom  verwundeten  Knaben.    VL.  I,  118. 


460  SÜPHAN 

V 

es  nicht  für  ein  lied  im  eigentlichen  sinne ,  sondern  für  ein  dramatisches 
stück  ansah,  ausgelassen.* 

Mit  besonderer  freiheit  hat  der  herausgeber  die  prosaischen  zuga- 
ben behandelt,  die  einleitungen,  nach  werte  und  anmerkungen. 

Die  Originalausgabe  bringt  (I,  5  — 11)  als  einleitung  „Zeugnisse 
über  Volkslieder,"  (I)  empfehlungen  also  von  der  art  der  testimonia  in 
alten  classikerausgaben.^  Der  teil  schliesst,  wie  mehrere-  unter  den  fro- 
hen Schriften  Herders,  mit  einem  nachwort  (II)  s.  331 — 333.  Erst  der 
zweite  teil  hat  ein  längeres  vorwort  (III)  s.  3  —  36  über  volkspoesie 
und  über  methode  und  zweck  der  samlung.  Vor  dem  zweiten  buche 
dieses  teils  steht  eine  einleitung  (FV)  ethnographischen  Inhalts  (s.  83  — 
95),  vor  dem  dritten  buche,  das  einige  historische  Volkslieder  enthält, 
eine  aphoristische  Vorbemerkung  (V)  über  historischen  wert  der  Volkslie- 
der. Auch  der  zweite  teil  schliesst  (s.  313  — 15)  mit  einem  apologe- 
tischen nachworte  (VI).  Ausser  dem  IV.  und  V.  stücke  tragen  alle  diese 
prosaischen  zugaben  den  apologetischen  Charakter,  und  nur  mit  rücksicht 
auf  ihren  zweck  —  publicum  und  kunstrichter  auftnerksam  zu  machen 
—  kann  form  und  Inhalt  derselben  genügend  gewürdigt  werden. 

Statt  dieser  einzelneu  stücke  finden  wir  in  der  vulgata  eine  „Vor- 
rede der  Volkslieder,"  welche  aus  stück  II  und  HI  zusammengesetzt  ist, 
stück  V  als  anmerkung  unter  den  text  mitnimt  und  eine  stelle  aus  stück  I 
interpoliert  enthält.^  Zur  bindung  so  disparater  teile  bedurfte  es  einiger 
auslassungen,  änderungen  und  zusätze.  Stück  VI  fehlt  ganz;*  stück  V 
dient,  in  fünf  teile  zerlegt,  zu  einzeleinleitungen  im  ersten  buche  der 
neuen  ausgäbe,  wo  sie  jedoch  auch  nicht  ohne  änderungen  und  kürzun- 
gen  aufgenommen  sind.^ 

Der  text  der  lieder  erscheint  in  der  ersten  ausgäbe  fast  durchweg 
rein  von  anmerkungen,  wie  Herder  grundsätzlich  bei  Veröffentlichung 
poetischer  stücke  verfährt.  Alles,  dessen  es  zur  erläuterung  bedurfte 
(bemerkungen  über  fundort  und  dichter,  über  frühere  Übersetzungen  und 
rechtfertigung  eigener  änderungen ,  endlich  wenige  ästhetische  und  moras^ 

1)  Einige  Zauberlieder.    Aus  Shakespeare  Sturm.    VL.  1 ,  146. 

2)  Voran  stehen  auf  zwei  getrenten  blättern  (nach  Herders  sitte)  zwei  mottos. 
Den  schluss  des  teils  bilden  widerum  zwei  getrent  gedruckte  poetische  stellen  aus 
Shakespear. 

3)  Die  meisten  übrigen  bestandteile  des  ersten  stücks  bildea  nummer  17.  des 
in.  buchs. 

4)  Auch  Falk  hat  dasselbe  nicht  aufgenommen. 

5)  Die  ,, Einleitung"  zu  den  Litthauischon  liedcm  (Buchl.  stück  11)  ist  zusam- 
mengesetzt aus  dem  zugehörigen  abschnitt  von  stück  V  (YL.  II,  92),  aus  einem 
der  ,, Zeugnisse'*  (VL.  I,  10  fg.)  und  aus  einer  anmerkung,  die  dem  „Verzeichnisse' 
(VTi.  I,  316)  —  und  zwar  übel  verstümmelt  —  entnommen  ist. 


ZtTB  TEXTKRITIK  VON  RBBDEBS  VOLKSLIBDBRN  461 

lische  beobachtungen),    wurde  in  dem  „Verzeichniss "    (T.  I,  315  —  330. 
T.  II,  299  —  312)  zusammengestellt 

Da  Müller  eine  neue  reihenfolge  der  gedichte  einführte,  konte  er 
auch  die  an  den  alten  index  angeschlossene  Ordnung  der  anmerkungen 
nicht  bestehen  lassen.  Er  versetzte  diese  also  sämtlich  „an  gehörige 
stelle/'  d.  h.  unter  den  text.  Dadurch  kam  er  mit  ihrem  inhalt  und 
ausdruck  nicht  selten  in  collision^  am  empfindlichsten  bei  denjenigen,  die 
zur  begründung  der  alten  anordnung  dienten.  Am  schluss  des  zweiten 
teils  z.  b.  fand  Claudius,  wie  am  anfang  Goethe,  eine  ehrende  crwäh- 
nung.  Als  letztes  lied  war  „Abendlied.  Deutsch"  (von  Claudius)  auf- 
genommen. Bei  Müller  steht  das  lied  als  XXY  im  Y.  buche.  In  den 
„Stinmien  d.  V."  aber  wie  in  den  „Volksliedern"  (11,  312)  lautet  die 
zugehörige  anmerkung:  „Von  Claudius.  Das  lied  ist  nicht  der  zahl 
wegen  hergesetzt,  sondern  einen  wink  zu  geben,  welches  Inhalts  die 
besten  Volkslieder  seyn  und  bleiben  werden."  In  der  vulgata  hat  die 
erste  hälfte  der  bemerkung  keinen  sinn  mehr.  Andere  der  neuen  anord- 
nung ¥riderstrebende  bemerkungen  sind  ausgelassen.  Im  II.  buch  des 
II.  teils  z.  b.  sind  zwischen  esthnische  (1.  2),  ein  litthauisches  (4)  und  ein 
lappländisches  lied  (5)  eingeschoben  als  nr.  3:  „Hochzeitlieder.  Grie- 
chisch." Dazu  ist  bemerkt  (11,  304):  „Die  griechischen  lieder  sind  ein- 
gemischt, um  zarte  griechische  seelen  über  die  barbarei  der  vorhergehen- 
den und  folgenden  zu  trösten."  Zwischen  nr.  5  (lappl.)  und  nr.  7.  8 
(lettisch)  sind  eingereiht  als  nr.  6:  „Fragmente  griechischer  lieder  der 
Sappho,"  mit  der  bemerkung  (11,  305):  „Sie  stehen  hier  zu  entschuldi- 
gung  der  folgenden  fragmente."  Dergleichen  hat  Müller  getilgt;  anderes 
Hess  er  als  unnütz  aus,  wie  die  notiz  (I,  316):  „Die  litthauischen  Dai- 
no*s,  die  in  diesem  theile  vorkommen,  sind  dem  Sammler  von  herrn 
P.  K.  in  K.  worden."  Überhaupt  aber  erlegte  ihm  der  neue  ort,  den  er 
den  anmerkungen  angewiesen  hatte,  die  pflicht  auf,  möglichst  an  ihnen 
zu  kürzen ,  und  seine  eigene  verliebe  für  knappen  ausdruck  auch  in  abän- 
derung  des  Wortlauts^  walten  zu  lassen.  Dagegen  sah  er  sich  veran- 
lasst die  wenigen  und  sehr  kurz  gehaltenen  sachlichen  bemerkungen,  die 
schon  Herder  unter  den  text  gesetzt  hatte,  dui'ch  eine  anzahl  (etwa  zwan- 
zig) eigener  anmerkungen  gelehrten,  meist  historischen  inhalts*  zu  ver- 
mehren. 

1)  In  die  knappheit  seines  Schweizerdeutsch  hat  Müller  sogar  viele  Überschrif- 
ten eingezwängt.  Die  ächten  Überschriften  sind  in  der  Cottaschen  ausgäbe  der  St. 
d.  V.  wider  eingesetzt. 

2)  Auch  in  den  index  hat  Müller  zwei  bemerkungen  ^  die  persönliche  empfin- 
dungen  aussprechen,  eingeschoben.  Diese  sind  in  der  neuesten  Cottaschen  ausgäbe 
entfernt. 

ZEIT8CHR.    P.   DEUTSCHS  PHILOL.    DD.  III.  30 


462  SUPHAN 

Die  oben  (s.  460)  erwälmte  „Vorrede  der  Volkslieder"  steht  in  der 
vulgata  an  dritter  stelle.  An  erster  und  zweiter  hat  Müller,  „um  die 
geschichte  seiner  (Herders)  ansieht  solcher  gedichte  vollständig  vorzu- 
legen ...  die  briefe  über  Ossian  ^  und  eine  abhandlung  über  brittische 
und  deutsche  dichterei  ...^  (s.  9  — 46.  49  —  66)  vorausgeschickt,"  einen 
Zuwachs ,  der  freilich  dem  Inhalte  nach  mit  der  vorrede  nahe  genug  ver- 
want  ist,  aber  ---  wenigstens  in  anbetracht  des  ersten  aufsatzes  —  seine 
stelle  anscheinend  nur  dem  umstände  zu  verdanken  hat,  dass  man  mit 
dem  material  der  Volkslieder  für  zwei  bändchen  ausreichen  wollte.  Man- 
cherlei ist  auch  hier  am  ausdruck  verändert;  besonders  sichtbar  ist  das 
bestreben ,  veraltetes  und  dem  fortgeschrittenen  Zeitgeschmack  nicht  mehr 
zusagendes  (und  dessen  ist  bei  der  an  Idiotismen  reichen  Schreibart  der 
frühesten  Herderschen  aufsätze  nicht  wenig)  durch  modernen  aosdrack 
zu  ersetzen. 

Es  ist  klar ,  dass  auch  durch  die  behandlung  der  prosaischen  stftcke 
die  vulgata  einen  von  der  Originalausgabe  abweichenden  Charakter  ange- 
nommen hat.  Die  schweren  demente,  die  Herder  möglichst  zu  vertei- 
len gesucht  hatte,  sind  hier  zu  eiuer  compacten  masse  zusammengerou- 
nen  und  um  das  doppelte  vermehrt,  und  gegen  Herders  absieht  haben  sie 
sich  auch  zwischen  und  neben  den  poetischen  stücken  eingedrängt 

Auf  die  dreifache  prosaische  einleitung  folgt  in  der  vulgata  unmit- 
telbar vor  dem  ersten  buche  eine  „Zueignung  der  Volkslieder,"  ein  gedieht 
in  vierzehn  distichen,  das  aus  Herders  handschriftlichem  nachlass  schon 
im  letzten  bände  der  Adrastea  (1804,  VI,  159  fgg,)  Herders  ältester 
söhn,  W.  G.  V.  Herder,  veröffentlicht  hatte.  Dieser  Veröffentlichung  ist 
die  bemerkung  beigefügt  (159  a.):  „Der  Verfasser  wollte  einen  au&ats 
über  das  deutsche  Volkslied  und  den  Charakter  der  Deutschen  schreiben, 
dem  diese  Zueignung  vorangehen  sollte."  Offenbar  beruht  diese  angäbe 
auf  irtum;  denn  das  gedieht  bekundet  sich  deutlich  genug  als  versudi 
einer  dedication  der  Volkslieder.  Auffallend  stimt  dieses  gedieht  in  gedan- 
kengang  und  wörtlichem  ausdruck  überein  mit  einem  prosaischen  -stflcke« 
das  Herder  selbst  im  jähre  1808  (Adrastea  V,  269  —  273)  veröffentlicht 
hat.  Ohne  zweifei  liegt  uns  im  gedichte  die  frühere  fassung  der  gedan- 
keu  vor ;  der  prosaaufsatz  ist  flüssiger  und  umgeht  manchen  eckigen  aus- 
druck des  gedichts.  Dieses  scheint  mir  ein  ziemlich  früher ,  wahrschein- 
lich schon  für  die  ausgäbe  von  1778  bereit  gewesener,  dann  zurückgeleg- 
ter entwurf  zu  sein,  dem  abrundung  und  letzte  feile  fehlt  Schwer- 
lich würde  es  Herder  selbst,  nachdem  er  einmal  in  der. prosaischen  fas- 

1)  Aus  der  schrift  Von  Deutscher  Art  und  Kunst:  ,,Aubzu{^  aus  einem  Brief- 
wechsel über  Ossian  und  die  Lieder  alter  Völker/'  (gröstenteiis  schon  1769  getehrieben). 

2)  Hierüber  siehe  unten  s.  460.  468. 


2üB  TBXTKBITIK  VOK  BEBBKRS  VOLKSLIBDERK  46^ 

sung  einen  adaequaten  ausdruck  gefunden  hatte,  nachträglich  dem  publi- 
knm  vorgelegt  haben. 

Jener  aufeatz  aber ,  mit  dessen  Inhalt  der  jüngere  Herder  die  Zueig- 
nung in  Zusammenhang  bringt ,  oder  wenigstens  ein  aufsatz  gleicher  ten- 
denz  war  schon  von  Herder  selbst  veröffentlicht  (Adrastea  V,  274  —  77. 
287  —  92)  als  fortsetzung  des  eben  angeführten  prosastücks,  und  in  dem- 
selben heisst  es  s.  275:  „In  Deutschland  wagte  man  im  jähr  1778,  1779 
zwei  samlungen  Volkslieder  verschiedener  sprachen  und  Völker  herauszu- 
geben; wie  verkehrt  die  aufnähme  sein  würde,  sah  der  samler , vorher. 
Da  er  indess  seine  absieht  nicht  ganz  verfehlt  hat,  so  bereitet  er  seit 
Jahren  eine  palingenisierte  samlung  solcher  gesänge,  vermehrt,  nach  län- 
deiTi,  Zeiten,  sprachen,  nationen  geordnet  und  aus  ihnen  erklärt  als  eine 
lebendige  Stimme  der  Völker,  ja  der  menschheit  selbst  vor,  wie  sie 
in  allerlei  zuständen  sich  mild  und  grausam,  frölich  und  traurig,  scherz- 
haft und  ernst,  hie  und  da  hören  liess,  allenthalben  aber  für  uns 
belehrend." 

Wir  entdecken  in  dieser  äusserung  grund  und  anlass  zu  allen  den 
durchgreifenden  änderungen  der  MüUerschen  redaction.  Widerholt  fin- 
den wir  zur  motivierung  der  änderungen,  welche  die  herausgeber  der 
Herderschen  werke  für  notwendig  erachteten,  die  angäbe,  dass  Herder 
selbst  eine  neue  redaction  beabsichtigt  habe,  und  dass  man  Herders 
Intentionen,  so  weit  es  tunlich  sei,  ausfQhren  wolle. ^  Wenn  aber  die 
herausgeber  in  dem  gi'undsatze  einig  waren,  nicht  mit  kritischer  treue 
die  Originalausgabe  aufzunehmen,  sondern  mit  rücksicht  auf  die  Schick- 
sale der  einzelnen  werke  (ihre  aufnähme  beim  publicum ,  ihre  bekämpfung 
durch  die  kritiker)  eine  teilweis  neue  und  verbesserte  gestalt  herzustel- 
len: so  muste  dieser  grundsatz  um  so  ausgedehnter  wirken,  wenn  ein 
plan  zur  neugestaltung  von  dem  autor  selbst  überliefert  war. 

Der  vorarbeiten  zu  der  ausgäbe  der  Volkslieder  unterzog  sich  bald 
nach  Herders  tode  sein  ältester  söhn,  der  „den  poetischen  teil"  unter 
der  beihilfe  Knebels  (Knebels  Literarischer  NachlassH,  353)  und  seiner 
mutter,  einer  ffir  beui-teilung  und  anordnung  poetischer  stücke  mit  fei- 
nem Verständnis  und  geschick  ausgestatteten  frau,*  för  die  gesamtaus- 

1)  Von  und  an  Herder  HI,  335.  (br.  5),  337.  (br.  9),  341.  (br.  13),  348.  (br.29). 
Vorrede  Heynes  zu  den  Fragmenten  und  den  Krit.  Wäldern,  Johann  Georg  Müllers 
zu  der  Ältesten  Urkunde  und  zur  Metakritik.  Die  i)läno  zu  durchgreifenden  ände- 
rungen wurden  aber  meistens  aufgegeben  und  man  begnügte  sich  mit  einzelnen  ände- 
rungen. Am  tiefsten  gehen  die  änderungen  in  den  Kritischen  Wäldern,  die  um  ein 
drittel  verkürzt  sind. 

2)  Ihr  werk  ist  zum  grossen  teil  die  anordnung  der  gedichte  in  den  Zerstreu- 
ten Blättern  (Vorrede  der  II.  samlung.  1785.  s.  Ul).  Knebels  Lit.  Nachl.  II,  236. 
Hamanns  Schriften  VII,  262.  271.    Herders  Reise  nach  Italien  (1859)  s.  61. 

30* 


464  SÜPHAN 

gäbe  besorgen  wollte.  Seine  arbeiten  gelangten  indess  zu  keinem  abschlnss; 
er  starb  (mai  1806),  ehe  es  zur  sichtung  sämtlicher  poetischer  werke 
crekommcn  war,  die  noch  einen  erheblichen  zuschuss  zu  dem  mateiial 
der  neuen  aufläge  geliefert  haben  wurde.  Wahrscheinlich  aber  hatte  er 
oder  Caroline  Herder,  die  mit  Herders  planen  genau  vertraut,  und,  so 
weit  es  ihre  fahigkeiten  gestatteten,  unermüdlich  für  die  neue  ausgäbe 
tätig  war,  schon  eine  Zusammenstellung  der  vorhandenen  gedichte  nach 
den  von  Herder  angegebenen  kategorien  begonnen,  als  J.  v.  Müller  die 
ausführung  der  redaction  übernahm.  An  mancherlei  unrichtigem  und 
willkürlichem  ^  in  der  anordnung  möchte  man  eher  einen  samler  von 
weniger  tiefer  gelchrsamkeit  als  J.  v.  Müller  erkennen;  wahrscheinlich 
hat  also  Müller,  der  über  Herders  plan  sich  aus  nachrichten  Caroline 
Horders  unterrichtet  hat,*  sich  mit  der  vorgelegten  anordnung  im  gan- 
zen begnügt,  und  nach  leichter  revision  nur  einzelnes  geändert;  ähnlich 
wie  sein  bruder  Johann  Georg  bei  herausgäbe  der  eigenen  gedichte  Her^ 
dcrs  eine  Vorarbeit  Carolinens  benutzte,  an  der  er  nur  selten  zu  ändern 
fand.     (Vorrede  des  III.  teils  der  W.  z.  seh.  L.) 

Zu  dem  handschriftlichen  material,  welches  J.  v.  Müller  zur  Ver- 
fügung stand ,  gehörte  auch  ein  bändchen  mit  der  aufschrift :  Alte  Volks- 
lieder. I.  Theil.  Englisch  und  Deutsch.  Altenburg  177(3)4.3  „Vielleicht 
ists  Ihnen  nicht  uninteressant  zu  sehen,  wie  der  vater  die  nachmalige 
ausgäbe  verändert  hat,"  schrieb  Caroline  Herder  bei  der  Sendung,  um 
dem  gelehrten  freunde  einen  wink  in  betreif  der  anordnmig,  für  die  er 
sich  zu  entscheiden  hatte,  zu  geben.  Schon  Gervinus  (IV,  430)  erwähnt 
(wahrscheinlich  nach  einer  stelle  in  den  briefen  an  Merck,  s.  56),  dass 
Herder  im  jähre  1774  beabsichtigt  habe  die  Volkslieder  herauszugeben; 
ausreichenden  aufschluss  darüber  gewährte  erst  die  von  Düntzer  veröf- 
fentlichte correspondenz  Herders  mit  seinem  Verleger  Hartknoch.  (Von 
und  an  Herder  II).  Im  September  1773  bereits  stellte  Herder  seinem 
Verleger  „ein  bändchen  alte  Volkslieder,  englische  und  deutsche,  jene, 
versteht  sich,  übersetzt"  zur  Verfügung  (Von  und  an  Herder  II,  45). 
Nachdem  indes  der  anfang  des  druckes  sich  bis  in  den  sommer  des  fol- 
genden Jahres  hinein  verzögert  hatte, ^  zog  Herder  im  december  das 
manuscript  zurück.     Über  die  gründe  persönlicher  art  enthält  der  brief- 

1)  Eine  „böhmische  gcschichte*'  steht  unter  den  „Deutschen  liedcm"  (B.  V. 
N.  32);  die  Morlakenliedcr  bilden  den  schluss  der  „Lieder  aus  dem  hohen  nord*' 
(B.  I.  21  -  24)  u.  a. 

2)  In  der  Vorerinnerung  wenigstens  druckt  er  sich  unbestimter  ans  als  Her- 
der in  der  Adrastea. 

3)  Die  3  in  der  jahrzahl  hat  Herder  selbst  ausgestrichen  und  eine  4  darüber 
geschrieben. 

4)  Dies  ist  der  grund  der  Veränderung  der  Jahreszahl  auf  dem  titeL 


ZTJB  TBXTKBITIK   VON   HBBDEBS   VOLKSLIEDEBN  465 

Wechsel  das  nähere.^  Zusamt  dem  druckfertigen  manuscript  ist  auch 
der  erste  druckbogen  erhalten,  über  den  hinaus  der  druck  nicht  vorge- 
rückt ist.*  Dieser  enthält:  I.  Lied  vom  jungen  Grafen,  II.  Die  schöne 
Kosemunde.  Es  begann  also  diese  redaction  genau  wie  die  vom  jähre 
1778.  Die  redaction  von  1774  bringt  aber  vor  jedem  der  beiden  Heder 
eine  kurze  Vorbemerkung  und  bei  dem  zweiten  liede  den  englischen  text 
vollständig  neben  dem  deutschen.  Dasselbe  verfahren  (wie  es  der  zuerst 
angeführte  brief  angibt)  ist  bei  allen  aus  dem  englischen  übersetzten 
Volksliedern  in  dem  bändchen  eingehalten. 

Dieser  erste  teil  zerfällt  in  vier  bücher ;  jedes  buch  hat  eine  eigene 
vorrede.  I.  Buch.  Englisch  und  Deutsch,  n.  Buch.  Lieder  aus  Shake- 
spear.  Vorrede :  Wäre  Shakespear  unübersetzbar  ?  III.  Buch.  Englisch 
und  Deutsch.  Vorrede:  Von  Ähnlichkeit  der  mittlem  Engli- 
schen und  Deutschen  Dichtkunst.  IV.  Buch.  Nordische  Lie- 
der.   Vorrede:  Ausweg  zu  Liedern  fremder  Völker. 

Also  schon  hier  ist  eine  gliederung  nach  ethnographischem  princip 
versucht  Dass  dabei  englisch  und  deutsch  als  äste  eines  Stammes 
betrachtet  und  gemeinsam  aufgeführt  werden,  rechtfertigt  Herder  eben 
in  der  vorrede  des  dritten  buchs.  Geschickt  sind  die  lieder  der  nor- 
dischen Völker  (von  „hohem  nord,"  einem  wunderlichen  begriflf,  weiss 
Herder  nichts)  den  englisch -deutschen  als  bindeglied  für  die  lieder  fernerer 
Völker  angereiht.  Die  Ordnung  also,  die  für  die  palingenisierte  samlung 
in  aussieht  genommen  war,  war  die  ursprünglich  beabsichtigte.  Da  es 
Herder  —  aus  einem  gründe,  den  wir  unten  ermitteln  wollen  —  für 
rätlich  hielt,  diese  Ordnung  für  die  ausgäbe  von  1778  nicht  beizubehal- 
ten, so  veröffentlichte  er  eben  die  vorrede  des  dritten  buches  abgeson- 
dert im  Deutschen  Museum  von  1777  (november.  II,  421 — 434,  vergL 
Von  und  an  Herder  I,  51).  Die  Überschrift  hat  hier  den  zusatz  erhal- 
ten: „nebst  verschiedenem,  das  daraus  folget,**  und  die  anläge  wie  der 
ausdruck  des  ganzen  aufsatzes  zeigt  deutlich  genug,  dass  er  aus  einem 
organischen  zusammenhange  herausgerissen  \m\  in  den  jähren  des  Stur- 
mes und  dranges  geschrieben  ist.  In  diesem  programm^  erklärt  sich 
Herder  über  methode  und  zweck  seiner  samlung  folgender  massen.   „Eine 

1)  Von  und  an  Herder  H,  45  —  47.  50—52.  57.  60.  65.  69.  70  fg.  Brief  48 
gehört  vor  nr.  46. 

2)  Schon  im  februar  1774  schreibt  Herder ,  dass  er  sein  manuscript  auf  kurze 
zeit  zurückgenommen  habe ,  „  wegen  der  grässlichen  druckfehler  .  . .  auf  dem  ei^fen 
..  zugeschickten  bogen**  (52).  Im  juni:  „Die  VL.  lasse  mir  zurückkommen;  ich 
muss  noch  ändern  und  den  druckfehlem  vorkommen;  sonst  ists  ein  greuel." 

3)  Am  Schlüsse  des  aufsatzes  steht  eine  von  Boie  verfasste  (B  signiert)  empfeh- 
lende hinweisung  auf  eine  „  ganze  samlung  solcher  Volkslieder  ...  die  bald  . .  - 
erscheinen  wird." 


466  SUFHAN 

kleine  samlung  solcher  lieder  aus  dem  munde  eines  jeden  volks,  ober 
die  vornehmsten  gegenstände  und  handlungen  ihres  lebens,  in  eigner 
spräche  (I),  zugleich  gehörig  verstanden  (11),  erklärt  (EU),  mit  masdk 
begleitet  (IV) :  wie  würde  es  die  artikel  beleben  . . .  von  denkart  and 
Sitten  der  nation!  von  ihrer  Wissenschaft  und  spräche!  von  spiel  nnd 
tanz,  musik  und  götterlehie!''  Mythologie,  fahrt  Herder  fort,  geschichts- 
und  Sprachforschung  würden  hieraus  am  meisten  nutzen  ziehen.  Als 
erfordernis  der  samlung  führt  er  noch  einmal  auf:  (I)  Ursprache  • . .  mit 
(11)  genügsamer  erklärung  (uiigeschimpft  und  unverspottet,  so -wie  unver- 
scliönt  und  unveredelt)  *  wo  möglich  (HI)  mit  gosangweise  und  (IV  als 
culturhistorische  zugäbe)  „alles,  was  zum  leben  des  volks  gehört"* 

Dem  ideal  einer  volksliedersamlung,  welches  hierin  aufgestellt  war, 
steht  die  bearbeitung  von  1773  viel  näher,  als  die  ausgäbe  von  1778, 
und  aus  einzelnen  belegen  lässt  sich  erkennen,  dass  Herder  bei  einer 
^späteren  ausga))e  es  versucht  haben  würde,  sich  diesem  ideal  widenun 
möglichst  anzunähern;  an  eine  in  allen  vier  kategorien  vollständige  lei- 
stung  liess  sich  freilich  im  jähre  1803  fast  ebenso  wenig  denkejn  als  im 
jähre  1773.  Auf  den  ersten  punkt  z.  b.,  dessen  notwendigkeit  Herder 
sich  schon  bei  der  früliesten  aufnähme  seines  planes,  in  Königsberg  1764,' 
klar  gemacht  hatte,  scheint  er  auch  für  die  letzte  redaction  geachtet  za 
haben.*  Wir  finden  den  Originaltext  der  Übersetzung  vorangestellt  nicht 
nur  in  dem  sicilianischen  schiiferliede ,  das  Müller  aufgenonunen  hat 
(W.  VII,  152,  Stimmen  d.  V.  1846  s.  144),  sondern  auch  bei  der  ersten 

1)  Hier  begreift  punkt  II »  was  oben  in  II  und  III  aus  einander  gehalten  ist. 

2)  Diese  letzte  fordoruug  formuliert  Herder  später  (in  dem  oben  angeführten 
aufsatzo  der  Adrastea) :  ,,  die  lieder  sollen  aus  länderu ,  zeiten ,  sprachen ,  uationen 
erklärt  sein." 

3)  „Frühe  ficng  ich  an,  zu  einer  geschichte  des  lyrischen  gcsanges  zu  sani- 
len  und  vorschmähete  nichts,  was  dazu  diente.  Auch  dieser  zweig  (volkBÜeder) 
gehörte  dazu  ../'  berichtet  Herder.  VL.  II,  314.  Sanüungcn  und  erster  entwnrf 
zu  dieser  schrift  sind  in  dem  jalirc  17G4  gemacht.  (Herders  Lebensbild  I,  3,  1,  s.  XV. 
()1  fgg.).  Eins  von  den  gesammelten  stücken  veröffentlichte  Herder  in  den  Königs- 
bcrgschen  Gelehrten  und  Politischen  Zeitungen  von  17G4.  (Stück  37  s.  146)  mit  einer 
kurzen  einleitenden  bemerkung  als  „Beitrag  zu  unbekanten  anakrcontischen  gesän- 
gen  noch  roher  Völker/*  Es  ist  das  aus  Kelchs  Liefländischer  Kriegs-  und  Friedens- 
goschichto  entnommene  esthnische  lied  ,,Jörru/'  Zuerst  der  Originaltext  widergege- 
ben, darunter  „Eine  alte  deutsche  Übersetzung"  (paraphrase) ,  die  Herder  bei  seiner 
Hp|teren  eigenen  Übersetzung  (Volkslieder  II ,  84.  vgl.  s.  83)  benutzt  hat.  Auch  zu 
dem  „Litthauischen  Brantliedo"  (V.  L.  II,  104)  kent  Herder  ,,eine  schöne  umschmel- 
zung  nach  dem  sylbenmasso  eines  alten  deutschon  liedes/'  aus  der  zeitscbrift  „Der 
Hypochondrist**  (s.  304). 

4)  In  der  ausgäbe  von  1778  ist  der  Originaltext  (ohne  Übersetzung)  nur  bei 
einem  liede  (II,  35.)  gegeben. 


ZUB  TBXTKBITIK  VO»   BXBi>£RS  VOLKSLIEDE&N  467 

publication  des  siciUanischen  liedchens  „Sage,  sag'  o  kleine  biene''  in 
der  Adrastea  IV,  254  fgg. ,  das  MfiUer  nicht  von  dieser  stelle  (sonst 
hätte  er  auch  den  italienischen  text  mit  hinüber  genommen),  sondern 
nach  einer  abschrift  hat  drucken  lassen.  Wahrscheinlich  indessen  gedachte 
Herder  nur  dann,  wenn  der  Originalausdruck  dem  höher  gebildeten  ver- 
ständlich war,  sein  princip  vollständig  in  anwendung  zu  bringen;  bei  ent- 
legenen sprachen  würde  er  sich  mit  sprachproben  begnügt  haben,  etwas 
ausführlicher  als  die  vor  dem  zweiten  buche  des  zweiten  teils  gegebenen 
(s.  83  -  95). 

Die  dritte  Forderung  —  beifugung  der  gesangweise  —  hat  Herder 
in  der  ausgäbe  von  1778  in  so  weit  berücksichtigt,  als  er  möglichst  oft 
den  Charakter  der  melodie  in  kurzem  ausdruck  beschreibt.  Hätte  er 
selbst  eine  neue  ausgäbe  veranstaltet,  so  wäre  wahrscheinlich  häufiger 
die  weit  angemessenere  beifugung  der  melodie  in  musiknoten  zur  anwen- 
dung gekommen.^  In  den  „Stimmen  der  Völker"  zeigt  eins  von  den 
neu  aufgenommenen  liedern,  das  sicilianische  scbifferlied,  die  neue,  voll- 
'konminere  methode.  Freilich  nimt  es  sich  nun  als  das  einzige  seiner  art 
sonderbar  genug  unter  den  übrigen  aus.  Fand  oder  suchte  Müller  nicht 
mehr  proben  dieser  neuen  methode,  so  hätte  er  wenigstens  nicht  unter- 
lassen dürfen  bei  den  neu  aufgenommenen  liedern  die  ältere  methode  da, 
wo  Herder  ihr  treu  geblieben  war,  beizubehalten.  Dem  aber  hat  er  »ich 
entzogen.  Das  neunzehnte  der  „lieder  aus  dem  hohen  nord,"  „klage 
um  eine  gestorbene  braut,  ein  tartarisches  lied"  hat  Herder  selbst 
in  der  VI.  samlung  der  Zerstreuten  Blätter  (1797)  s.  192  fg.  bekant 
gemacht  als  ein  lied  der  Eamtschadalen.^  Er  bemerkt  dabei:  „Von  der 
ente  Aanguisch,  einem  singenden  seevogel,  der  sich  in  grossen  schaaren 
auf  ihren  gewässern  versamlet  und  die  accorde  c,  e,  g  und  c,  f,  a  in 
chören  anstimt,  haben  sie  die  musik  erlernt;  nach  seinem  ton  machen 
sie  Aanguischlieder.  So  z.  b.  klagt  der  liebende  über  seine  gestorbene 
braut ,  die  er  jetzt  in  einen  solchen  singevogel  verwandelt  glaubt  . . ."  ^ 
Hierauf  folgt  das  lied.    Bei  Müller  fehlt  die  bemerkung. 

1)  Auf  die  beigäbe  der  noten  legte  Herder  schon  früh  wert.  (Aus  Herders 
Nachlassl,  29). 

2)  Jedenfalls  hat  Müller  auch  hier  nur  eine  abschrift  benutzt  und  der  ange- 
führten stelle  nachzuspüren  unterlassen.    An  dieser  lautet  die  erste  zeile: 

Auf  den  blanken  see  bist  du  gefallen. 
Bei  Müller:  „Auf  dem  . .  see."    Letzteres  ist  eine  übel  angebrachte  correctur  Müllers. 

3)  In  den  St.  d.  V.  hat  das  lied  die  kurze  bemerkung  erhalten:  ,,Sie  glauben, 
dass  die  verstorbeneu  see-enten  würden;  darauf  beruhet  die  idee  des  liedes."  Die 
aUgemeine  bemerkung  aber,  die  Herder  s.  192  über  die  unterweltsvorstellungen  der 
Kamtschadalen  (Itälmenen)  machte   ergibt  etwas  andres:   die  ente  ist  eins  von  den 


468  SUFHAN 

Audi  in  dem  zuletzt  angegebenen  punkte  würde  Herders  neue  aus- 
gäbe nach  dem  aufgestellten  kanon  sich  gerichtet  haben,  und  gerade  in 
dieser  richtung  scheint  Herder  in  den  letzten  jähren  für  seinen  plan  tätig 
gewesen  zu  sein.  Die  oben  genanten  aufsätze  (s.  462  fg.)  „über  das  deut- 
sche Volkslied  und  den  Charakter  der  Deutschen'^  sind  in  diesem  sinne 
geschrieben;  so  auch  der  aufsatz  „Romanze"  (Adrastea  V,  243  —  263),* 
und  die  „Gemähide  aus  der  Preussischen  Geschichte"  (Adrastea  III, 
106  fgg.),  die  (s.  110 — 112)  über  Volkslieder  und  volkscharakter  in  der 
provinz  Preussen  schöne  und  durch  die  folgezeit  köstlich  bestätigte  bemer- 
kungen  enthalten. 

Für  einen  herausgeber  also,  der  auf  neugestaltung  und  neue  aus- 
stattung  nach  des  autors  absiebten  ausgieng  und  darin  seinen  hauptsäch- 
lichen beruf  sah,  fehlte  es  weder  an  antrieb  noch  an  material.  Müller 
ordnete  nach  massgabe  des  manuscripts  von  1773  die  widervereinigong 
des  aufsatzes  über  die  mittlere  englische  und  deutsche  dichtung  mit  der 
samlung  der  Volkslieder  an  und  sah  sich  zur  annähme  der  neuen  anord- 
nung  ermächtigt.  Die  ausführung  ist  freilich  oberflächlich  genug;  sie 
hält  sich  nicht  einmal  genau  an  Herders  einzelne  angaben.  Im  dritten 
buche  sind  als  „nordwestliche  lieder"  gerade  diejenigen  vereinigt,  die 
Herder  hatte  trennen  wollen,  nämlich  gälische  und  englische  lieder 
(D.  Mus.  1777.  n.  421.  Von  Deutscher  Art  und  Kunst  s.  17):  englische 
und  deutsche  lieder  wurden  dagegen  wider  getrennt  Die  sonderbare 
Zusammenordnung  der  Völker  nach  himmelsgegenden,^  die  der  heraus- 
geber beim  sechsten  buche  *  als  unpraktisch  wider  verwerfen  muste ,  war 
ein  sehr  dürftiger  ersatz  für  die  von  Herder  beabsichtigte  „Ordnung  nach 
ländern,  zeiten,  sprachen,  nationen.'i  Überhaupt  aber  war  eine  neue 
Ordnung  ohne  Vermehrung  des  poetischen  bestandes  der  samlung  ein  arger 
misgriff  und  nichts  weniger  als  eine  besserung  der  ersten  ausgäbe. 

Mit  gutem  gründe  hatte  Herder  1778  die  schon  ethnologisch  geord- 
nete samlung  aufgelöst  und  sich  zu  einer  nicht  mühelosen  (Von  und  an 
Herder  I,  51.  53)  neuen  anordnung  bequemt    Sein  material  war  noch 

ticren,  in  welche  die  seelen  der  verstorbenen  übergehen.  Die  bemcrkung  mag  mit 
der  fehlerhaften  Verkürzung  von  demjenigen,  der  das  lied  für  den  herausgeber  abschrieb, 
zugesetzt  sein. 

1)  Dieser  aufsatz  schliesst  sich  an  die  s.  167  —  240  veröffentlichte  Übersetzung 
der  ersten  zweiundzwanzig  Cidromanzen  an  (vgl.  s.  275). 

2)  Die  kategoricn  „lieder  aus  dem  hohen  nord/*  ,,nordwestlicfae/'  „südliche" 
sind  eine  ungeschickte  nachbildung  der  misverstandenen  aufschrift  des  vierten  buchea 
der  samlung  von  1773. 

3)  Die  Madagassen ,  die  hier  als  „Wilde ''  in  einem  besondern  bezirk  abgezäunt 
sind ,  verdienen  nach  Herder  diesen  namen  nicht  mehr  als  die  Grönländer,  die  Sohot- 
ten,  die  Letten  usw. 


ZUB  TEXTKRITIK  VON  HBBDBBS  VOLKSLISDEBK  469 

m 

viel  zu  dürftig,  als  dass  es  auch  nur  in  bescheidenem  massstabe  zu  einer 
„karte  der  menschheit"  ausgereicht  hatte,  zu  einem  werke,  wo  „die 
Völker  sich  selbst  schilderten,  wie  naturgeschichte  kräuter  und  thiere 
beschreibt."  (D.  Mus.  a.  a.  o.  432).  Herder  verstand  es  aus  der  not 
eine  tugend  und  durch  die  neue  anordnung  sein  werk  einem  zwecke 
dienstbar  zu  machen,  der  ihm  nicht  minder  am  herzen  lag  als  der  cul- 
turhistorische ,  der  hebung  vaterländischer  poesie.  Dieser  zweck  trat  somit 
in  den  Vordergrund.  (VL.  II,  27.  28.  313.  314).  Sollte  die  samlung 
hauptsächlich  ästhetisch  anregend  wirken,  so  muste  auch  ihrem  bau  ein 
ästhetisches  gesetz  zu  gründe  gelegt  werden.  Verbindung  des  in  Stim- 
mung und  Wirkung  gleichartigen,  geschicktes  überleiten  von  gegensatz 
zu  gegensatz ,  auf  ausgleichung  und  läuterung  der  geffihle  berechnet ,  ist 
die  kunst  des  Ordners ,  der ,  selbst  mit  hoher  feinheit  des  gefuhls  begabt, 
durch  den  sicheren  tact  einer  kunstsinnigen  gehilfin  unterstützt  ward. 
Um  ein  lied,  in  dem  sich  der  höchste  grad  einer  empfindung  darstellt, 
sind  lieder  verwanter  stinmiung  gruppiert;  bisweilen  folgt,  wenn  in  einem 
liede  schon  die  woge  des  gefähls ,  der  leidenschaft  den  höhepunkt  erreicht 
hat,  sofort  der  ausgleichende,  beschwichtigende  gegenschlag.  Sorgsam 
abgewogen  ist  nach  diesem  grundsatz  auch  der  Inhalt  der  einander  fol- 
genden bücher ,  was  besonders  deutlich  sich  am  ersten  und  zweiten  buche 
des  ersten  teils  beobachten  lässt.  Nur  spärlich  und  wo  sich  von  selbst 
die  gelegenheit  bot,  ist  auf  den  andern  zweck,  vergleichung  der  „ab- 
drücke der  seele  der  nationen "  ^  und  damit  beobachtung  des  volkscha- 
rakters,  rücksicht  genommen. 

Die  gewählte  anordnung  steht  also  im  engsten  zusanmienhange  mit 
wesen  und  aufgäbe  der  samlung,  und  da  diese  von  ihrem  erscheinen  an 
nicht  anders  aufgefasst  worden  ist,  denn  als  aufruf  zu  einer  Verjüngung 
der  nationalen  poesie,  und  diese  ästhetische  und  poetische  mission  auch 
über  die  periode,  für  die  sie  bestimtwar,  hinaus  zu  erfüllen  wol  geeig- 
net ist,  so  hätte  Müller,  der  den  inhalt  nicht  wesentlich  erweitern  konte 
oder  wollte,  bedenken  tragen  sollen  die  form  zu  ändern.  Denn  schon 
in  dieser  form  lag  ein  unveräusserlicher  wert.  Ein  gleiches  gesetz  der 
anordnung,  hervorgegangen  aus  der  beobachtung,  dass  „aus  Vereinigung 
des  entgegengesetzten  die  schönsten  Wirkungen  folgen,"  hat  Herder  in 
den  Zerstreuten  Blättern  befolgt;  Goethe  wollte  diese  deshalb  „besser 
, gesammelte'  Blätter  nennen"  und  Hess  sich  diese  samlungen  „zur  Stel- 
lung (seiner  eigenen)  verschiedenen  kleinen  gedichte  zum  muster  dienen." 
(Ital.  Reise.    An  Herder  5.  oct.  1787.     1.  märz  1788).    Über  die  anord- 

1)  Herder  rät  (II,  318),  der  leser  soUe  „jedes  stück  an  seiner  stelle  und  ort 
betrachten ,  es  als  das  ansehen ,  was  es  för  sich  ist  nnd  sein  soll ,  also  auch  nicht  in 
einem  fort  lesen  noch  sich  schwindelnd  ans  Völkern  in  Völker  werfen/' 


470  8DPHAN 

nimg  der  Goethischen  gedichte  lässt  sich  aber  nach  Danzels  urteil  man- 
che gute  bemerkong  machen,  es  hätte  eben  so  wenig  dem  sinnigen  leser 
von  Herders  eigenen  und  übertragenen  gedichten  verwehrt  bleiben  sol- 
len, an  der  aufreihung  der  bluten  zum  kränze  die  kunstgeübte  band  za 
beobachten. 

Ganz  anders,  wenn  Herder  selbst  in  späteren  jähren  seinen  plan 
ausgeführt  hätte.  Lebhaft  genug  hat  ihm  der  erste  zweck  seiner  sam- 
lungen  vor  äugen  gestanden«  „Weit  vor  ihm,  im  schooss  der  blauen 
Thetis,  schwimme  sein  eigentliches  eiland  vor  ihm,''  sagt  er  in  dem 
nachworte  des  zweiten  teils  (U,  315),  und  das  programm  der  neuen  aus- 
gäbe knüpft  hieran  an,  indem  hervorgehoben  wird,  dass  mit  der  ersten 
der  samler  „seine  absieht  nicht  ganz  verfehlt  habe.''  Die  neue  ausgäbe 
solle  also  eine  „vermehrte'^  sein;  erst  nach  diesem  prädicate  wird  von 
der  umordnung  geredet  Um  Vermehrung  des  materials  hat  sich  Herder 
schon,  als  er  noch  an  der  ersten  ausgäbe  arbeitete,  bemüht.  Auswär- 
tige freunde  waren  für  ihn  tätig, ^  er  selbst  sammelte  etliches  in  Italien, 
und  hat  später  eifrig  aus  reisebeschreibungen  und  andern  werken,  selbst 
aus  handschriftlichem  material  zusammengetragen.  Einiges  von  dem 
gesanmielten  ist  in  den  Zerstreuten  Blättern  und  der  Adrastea  zum  Vor- 
schein gekommen.^  Wie  viel  von  diesen  samlungen  Müller  bei  sorgfäl- 
tiger nachlese  und  durchsieht  hätte  veröffentlichen  können,  entzieht  sich. 
unserer  beurteilung ,  das  aber  können  wir  mit  Sicherheit  feststellen ,  dass 
er  mit  der  neuen  anordnung  seine  absieht,  etwas  voUkoummeres  als  die 
erste  leistung  des  autors  darzubieten,  verfehlt  hat. 

Auch  den  neuen  titel  der  samlung  scheint  Müller,  indem  er  mis- 
verständlich  Herders  absiebten  ausführte,  eingeschwärzt  zu  haben.  Er 
fand  den  geschmückten  ausdruck  „stimme  des  volks"  für  „Volksdich- 
tung" schon  in  dem  aufsatze  über  die  mittlere  englische  und  deutsche 
dichtung  von  Herder  gebraucht.    Als  vorzug  der  englischen  poesie  führt 

1)  Von  und  an  Herder  II ,  84.  Lessings  Briefe  (B.  XII  der  Lachm.  aasg.) 
8.  521.  Auch  Goethe,  der  schon  1771  för  Herder  sammelt,  (Aus  Herders  Nachlass  I, 
29.  153  fgg.)  ist  auf  der  italienisclien  reise  in  Herders  interesse  auf  samlung  von 
Volksliedern  bedacht. 

2)  Zerstr.  Bl.  V,  167  fgg.  s  240  anmerk.  Von  der  hier  erwähnten  „samlimg 
der  meistersängersprüche'*  hat  Müller  (Buch  V.  27.  :^8)  nur  einige  aufgenommen. 
Goethe  hat  diese  samlung  von  Herder  im  sommcr  1788  zum  durchlesen  erhalten. 
(Herders  Reise  nach  Italien  s.  35.  Aus  Herders  Nachl.  I,  95.).  Adrastea  IV,  89. 
(Grönländisches  lied),  261 —  270  (mittelhochdeutsche  poesie).  Müller  scheint  in  kei- 
ner der  gedruckten  schrifton  nachgeforscht  zu  haben.  —  Dem  gleichen  oultarhisto- 
rischen  zwecke  als  die  samlung  der  Volkslieder  sollte  auch  eine  samlung  der  „  reinen 
naturfaheln  . ..  aus  allen  nationcn  und  sprachen"  dienen,  die  Herder  (2<er8tr.Bl.  III, 
172)  veranstaltet  zu  sehen  wünscht. 


ZUB  TEXTKSITIK  VON  HBBDBBS  V0LK8LIEDBBN  471 

Herder  an,  sie  sei  „national  geworden;  stimme  des  volks  ist  genuzet 
und  geschäzt^^  (D.  Mus.  a.  a.  o.  428);  die  deutschen  stamme  fragt  er: 
„die  stimme  eurer  väter  ist  verklungen  und  schweigt  im  staube?*^  (430). 
In  der  vorrede  des  zweiten  teils  der  Volkslieder  (s.  11  fg.)  heisst  es  von 
Deutschland:  „Hie  und  da  hat  sich  eine  stimme  des  volks,  ein  lied,  ein 
sprüchwort,  ein  reim  gerettet,"  und  s.  27:  „die  deutsche  harfe  war  von 
jeher  dumpf,  und  die  volksstimmen  niedrig  und  wenig  lebendig/'  So 
heisst  es  nun  auch  in  der  „Zueignung  der  Volkslieder^*: 

„Euch^  weih'  ich  die  stinune  des  volks,*  der  zerstreueten  menschheit,** 

und  denselben  ausdruck  gebraucht  Herder  mit  leichter  änderung  in  dem 
aufsatze ,  der  (s.  463)  paraphrasierend  den  Inhalt  der  poetischen  dedica- 
tion  widergibt:  „eine  lebendige  sünune  der  Völker,^  ja  der  menschheit 
selbst.'*  Es  liegt  nahe  anzunehmen,  dass  Müller,  oder  wahrscheinlich 
schon  Caroline  Herder,^  die  dann  jenem  die  beobachtung  mitteilte,  in 
den  angefahrten  stellen  den  ütel  der  neuen  ausgäbe  entdeckt  zu  haben 
glaubte.  Indessen  schwerlich  hätte  Herder  den  titel  der  neuen  ausgäbe 
verändert,  um  einen  titel  einzufahren,  den  er  schon  1778  far  untaug- 
lich gehalten  hat.  Die  ütel  der  Herderschen  Schriften  sind  fast  alle 
einfach  und  prunklos;  dagegen  liebt  es  Herder  auch  sonst  mit 
einem  geschmückteren  ausdruck  auf  den  titel  anderwärts  anzuspielen. 
Die  Übertragung  des  Hohen  Liedes  hat  Herder  gleichzeitig  mit  dem 
ersten  teile  der  Volkslieder  herausgegeben  unter  dem  titel:  „Lieder  der 
Liebe.  Die  ältesten  und  schönsten  aus  dem  Morgenlande."  In  der  Adra- 
stea  (UI>»329)  erwähnt  er  das  gedieht  und  anspielend  sein  buch.  „Die 
Salomonischen  lieder  (das  Hohe  Lied  genant)  sind  ein  concert  wechseln- 
der und  doch  gebundener  stimmen  der  liebe.  In  Ordnung  gestellt  wür- 
den diese  stimmen  ein  frühlingsfest,  ein  nachtigallenconcert  geben,  wie 
es  der  Orient  in  tönen  und  gesängen  liebte."  Nicht  anders  verhält  es 
sich  jedenfalls  mit  dem  ausdruck  „  stinune  des  volks ,"  „  stinmie  der  völ- 

1)  Angeredet  sind  die  strafenden  raehegottinnen. 

2)  Das  durch  den  sinn  erforderte  konuna  (vgl.  die  dem  texte  folgende  pro- 
saische paraUelstelle)  steht  richtig  im  ersten  dmcke  (Ädrastea);  Müller  hat  es  aus- 
gelassen. 

3)  „Volksstimme ,  Gottesstimme  hiess  es  einst"  begint  der  aufsatz  von  dem 
ethischen  werte  des  Volksliedes ,  Ädrastea  V.  287  fgg.  Herder  hat  den  ausdruck  aus 
Luthers  Bibelübersetzung  (z.  b.  I.  Sam.  8,  7). 

4)  Man  findet  viele  Herder  eigentümliche  ausdrücke  in  ihren  briefen  wider. 
„Dem  vater  waren  seine  gedichte  stimme  gottes"  (Von  und  an  Herder  3,  343.  br.  17. 
febr.  1806).  Die  predigten  Herders  nent  sie  „  stimmen  des  himmels."  (Ebendaselbst 
s.  334.  br.  3). 


472  SÜPHAN 

ker/' ^  Der  ütel  der  gesamtausgabe  „Stünmeu  der  Völker  in  liedern, 
gesammelt  usw/^  erfreut  sich  indessen  eines  bedauerlichen  beifalls  und  es 
wird  Schwierigkeit  haben  ihn  zu  beseitigen. 

Es  zeigt  sich  also  im  kleinen  wie  im  grossen ,  wie  mislich  der  ver- 
such, im  sinne  und  nach  Intentionen  des  autors  zu  ändern,  ausgefallen 
ist.  Nicht  glücklicher  war  Möller  im  Verständnis  des  Sinnes  Herders, 
indem  er  mehrere  gedichte  des  unbedeutenden  Inhalts^  oder  der  moral 
wegen  ^  ausliess.  In  betreff  der  letzteren  hatte  Herder  ausdrucklich  im 
einzelnen  falle  seinen  eigenen  Standpunkt  dem  Inhalte  gegenüber  klar 
gelegt  (VL.  n,  268  anmerk.);  über  den  poetischen  wert  oder  unwert 
des  textes  eben  so  offen  erklärt,  dass  nicht  dieser  vornehmlich,  sondern 
„ton  und  weise  des  liedes^^  über  die  aufiiahme  zu  entscheiden  habe;' 
„ist  diese  gelungen,  klingt  sie  aus  einer  andern  in  unsre  spräche  rein 
und  gut  über ;  so  wird  sich  in  einem  andern  liede  schon  der  Inhalt  geben, 
wenn  auch  kein  wort  des  vorigen  bliebe."    (VL.  H ,  34  fgg.) 

Wie  Müller  im  einzelnen  bei  constituierung  des  prosaischen  textes 
verfahren  ist,  ist  schon  oben  (s.  462)  angegeben.  Er  stellte  sich  dabei 
die  aufgäbe,  die  auch  die  mitarbeiter  an  der  gesamtausgabe  im  aage 
behielten,  die  spuren  der  veraltung  den  äugen  des  neuen  publicums, 
welches  für  die  gesamtausgabe  gewonnen  werden  sollte,  zu  entziehen. 
Daher  wurden  nicht  nur  alle  veralteten  ausdrücke,  sondern  auch  alles 
dasjenige  entfernt,  was  an  ephemere  Streitfragen  erinnerte.  (Hejne  in  der 
vorrede  zu  den  Fragmenten.  1805.  I,  XXVI  mit  bezug  auf  die  „ankün- 
digung"  der  „sämtlichen  Schriften.")  Auch  im  texte  der  poetischen 
stücke  befinden  sich  mehrere,  zum  teil  erhebliche  abweichungen  vom 
Wortlaute  der  ersten  ausgäbe.  Auf  diese  näher  einzugehen  lohnt  es  sich 
erst  nach  vorangegangener  genauer  vergleichung  der  handschriften ,   die 

1)  Zu  beachten  ist  der  collective  gebrauch  des  singulars,  eine  eigentümlich- 
keit  der  Herderschen  diction.  An  Prediger  s.  17.  r)8.  „  Die  tradition  wirkte  Jahrtau- 
sende . . .  und  söhn  und  enkel  stand  doch  nicht  da  . .  die  gottcsstiinnie  mit  seinen 
obem  kräften  zu  prüfen.  —  AUe  stimmen  des  wertes  gottes  . .  zu  welchen  kraften 
sprechen  sie?''  Aelt.  Urk.  (1774)  I,  20.  „Die  hibel  ...  die  heilige  stimme  gottes  aus 
morgenlande."    Teil  IV  Vorrede  s.  I.  IV.    Zur  Rel.  u.  Theol.  II,  132  (ausg.  v.  1805). 

2)  C.  Herder  an  G.  Müller  d.  26.  juU  1807.  „Bei  der  rovision  der  gedichte 
beschwöre  ich  Sie  nochmals,  jedes  zweifelhafte  stück  auszuscheiden^  Sie  werden  in 
des  vaters  briefen  aus  Italien  eine  stelle  ünden,  wo  er  Goethe  sehr  tadelt,  dass  er 
so  viele  stücke  in  die  sämtUchen  werke  aufgenommen  habe,  die  des  druckes  nicht 
werth  seien."    (Von  und  an  H.  III,  345.    Herders  Reise  nach  Italien  s.  273). 

3)  Allerdings  ist  auch  der  Verstoss  gegen  die  moral  schon  für  Herder  in  der 
I.  ausg.  ein  grund  gewesen  lieder  abzuweisen  (VL.  U,  24  fgg.)  wie  die  mehnahl 
der  von  Goethe  gesammelten  elsässer  lieder  (Aus  Herders  Nachl.  1 ,  154  fgg.) ;  gerade 
deswegen  aber  hätte  Müller  sich  hüten  soUen  eins  von  denjenigen  auszumerzen,  die 
Herder  unbedenklich  aufgenommen  hatte. 


ZTJB  TBXTKBITIK  VOH  HESDEBS  VOLKSLIEDERN  473 

MüUer  benutzt  hat.  In  einer  hinsieht  hat  er  —  soviel  lässt  sich  schon 
jetzt  erkennen  —  sich  um  die  bessere  texl^estalt  seiner  ausgäbe  nicht 
eben  verdient  gemacht. 

Wir  haben  mehrere  male  bemerkt,  dass  die  von  Müller  neu  auf- 
genommenen lieder  auch  dann  nach  einer  handschrift  oder  copie  abge- 
druckt sind,  wenn  schon  eine  von  Herder  selbst  veranstaltete  publica- 
tion  hätte  benutzt  werden  sollen.  Michael  Bernays  hat  dieselbe  beobach- 
tung  viel  reichlicher  an  den  übrigen  poetischen  werken  Herders  gemacht, 
und  weist  auf  diesen  übelstand,  durch  den  jene  (epigramme  und  gedichte) 
an  vielen  orten  auf  das  traurigste  entstellt  sind,  nachdrücklich  hin. 
(Grenzboten  IV,  1869.  anmerkk.  s.  414 — 418).  Eine  auffallende  Ver- 
schiedenheit des  MüUerschen  textes  von  dem  texte  der  ersten  publica- 
tion  lässt  sich  bei  einem  der  neu  aufgenommenen  lieder^  beobachten. 
Das  lied  „  Balto's  Sohn "  (Buch  II ,  38) ,  eine  freie  Übersetzung  eines  fran- 
zösischen Stückes,  steht  bereits  als  ein  beitrag  Herders  in  den  Eönigs- 
bergschen  Gelehrten  und  Politischen  Zeitungen  (1765.  St.  75.).*  Der 
MüUersche  text  hat  einige  erhebliche  kürzungen  ^  erfahren ,  enthält  einige 
einschiebsei,  und  weicht  in  den  meisten  Zeilen  von  dem  der  Königsberger 

1)  Von  einer  vergleichung  der  lieder,  die  sich  gemeinsam  in  den  „Volkslie- 
dern** nnd  den  „Stimmen  d.  V.**  finden,  sehen  wir  ab.  Eine  gewaltsame  Umfor- 
mung und  kürzung,  die  unmöglich  von  Herder  herrührt,  zeigt  in  der  neuen  ausgäbe 
das  „Aennchen  von  Tharau**  (B.  V,  19)  vgl.  mit  VL.  I,  92.  319. 

2)  Titel:  Der  Vater,  ein  Mörder  des  Sohns,  der  Sohn,  ein  Vatermörder.  Eine 
Erzehlung.  —  Nach  der  anmerkung  der  gesamtausgabe  tibersetzt  aus  Burigny  th^ol. 
payenne.    Paris  1753. 

1)  Bei  Müller  heisst  es  von  z.  13  an: 

— da  tbat  in  Einem  beere, 

Ein  junger  held  sich,  wie  ein  gott,  hervor. 
Auch  unterm  helme  sprühte  geist  empor; 
Trophäen  von  leichen  sah  man  seine  schritte  messen, 
In  den  Eon.  Zeitt. : 

—  hier  that  im  -feindesheere 

Ein  junger  held  sich,  wie  ein  gott,  hervor. 

Aus  seinen  äugen  sprühte  geist  empor. 
Der  auf  den  wangen,  wo  noch  Jugend  blühte 
Mit  heldenroth,  so  wie  ein  morgen  glühte 
Der  auf  der  stime  schalt,  im  arme  wunder  that. 

Und  vor  ihm  fiel  der  feind,  wie  saat, 
Trophan  von  leichen  usw. 
Müller,  z.  22:   Der  sieger,  mitten  in  dem  spiel 

Des  Sieges,  kann  den  Jüngling  nicht  vergessen, 
Der  feldher,  der  ihn  feind  gefaUt, 
Will  kennen  ihn,  den  er  geföllt, 
Und  ehrenvoll  begraben,  einen  held! 
Man  bringt  ihn  schon  — 


474  SüPHAN 

Zeitungen  ab.  Einige  von  den  ändernngen  liessen  sich  allenMls  ßlr  bes- 
serungen  ansehen;  bei  den  meisten  ist  kein  grund  der  abweichung  vom 
ersten  texte  ersichtlich.  Herder  hat  also  den  französischen  text  zweimal 
zu  übertragen  versucht;  die  als  weniger  gelungen  zurückgelegte  Über- 
setzung hat  Müller  nach  beseitigung  einiger  veralteten  ausdrücke  ^  auf- 
genommen. 

Unter  den  poetischen  werken  Herders  sind  es  die  Volkslieder,  die 
in  der  gesamtausgabe  die  stärkste  umarbeitmig  erfahren  haben  ^  unter 
den  prosaischen  die  Kritischen  Wälder.^  Jene  sind  daher  auch  am  mei- 
sten dazu  angetan,  im  einzelnen  die  principien,  denen  die  arbeiter  an 
der  gesamtausgabe  gefolgt  sind,  darzulegen.  Sie  nahmen  gegenüber  den 
ihnen  anvertrauten  werken  eine  Stellung  ein,  die  mehreren  von  ihnen 
(Heyne,  Wieland,  Knebel)  durch  langjährigen  Umgang  mit  dem  autor 
natürlich  geworden  war,  die  Stellung  von  freunden,  die  vom  autor  selbst 
vor  herausgäbe  eines  werkes  um  besserungsvorschläge  angegangen  wer- 
den. Sie  fahrten  diese  durch  mit  rücksicht  auf  die  bedürfnisse  eines  publi- 
cums  von  gebildeten  laien,  welches,  von  dem  ersten  publicum  Herders 
durch  drei  oder  vier  Jahrzehnte  getrennt ,  noch  einmal  die  werke  mit  dem 
eindrucke  der  neuheit  gemessen  sollte.  ♦ 

Nur  an  dem  massstabe  dieses  Zweckes  dürfen  wir,  wenn  wir  nicht 
ungerecht  sein  wollen,  ihre  zum  teil  mit  redlichem  eifer  durchgeführte 
arbeit  messen.  An  dem  vorliegenden  werke  zeigt  sich  allerdings,  dass 
der  herausgeber,  auch  nach  seinen  eigenen  principien  beurteilt,  seiner 
aufgäbe  wenig  genügt  hat. 

Eine  andere  frage  ist  es ,  ob  eine  nach  solchen  principien  angelegte 
ausgäbe  den  bedürfnissen  unseres  gelehrten  und   gebildeten  publicums 

In  den  Kon.  Zeitt. : 

Der  feind,  auch  mitten  in  dem  siegesspiel 
Kann  dieses  Tyndariden  nicht  vergessen. 
In  ihn  bezaubert  weinet  ihm  der  hcld, 
Der  ihn^  als  feind,  gefallt 
Als  menschenfreund  die  ehrenvolle  zähre. 
Wer  held  ist,  sprach  der  alte  Balto,  höre! 
Wenn  so  ein  leichnam,  der  so  edel  fallt 
Im  tode  sich  zum  niedern  beer  gesellt 

Macht  das  uns  siegem  ehre? 

Nein!  kennen  will  ich  ihn,  defi  ich  gefällt, 

Und  ihn  begraben,  als  ein  held. 

0  kommt  — 

Man  bringt  ihn  schon. 

1)  Z.  b.  Müller  z.  17  „wie  einen  dämon.''  Kon.  Z.  ,,wie  einen  satan."  M. 
z.  28  „entpanzert  ihn.*'    Kön.  Z.  „entlarvt,  entpanzert  ihn." 

2)  Siehe  s.  463  anm.  1. 


ZT7B  TBXTKBltIK  VON  HBBDBB8   VOLKSLIBDEBN  4715 

genüge.  Verneint  ist  sie  schon  mit  vollwichtigen  gründen  im  namen  der 
wissenschafÜichen  litterarhistoriker  von  Michael  Bemays;  es  darf  aber 
auch  eben  so  entschieden  vom  Standpunkte  des  gebildeten  laien  aus  die 
forderung  einer  neuen  kritischen  ansgabe  erhoben  werden.  Die  werke 
Herders  müssen  mit  historischem  sinne  gelesen  werden;  wer  es  nicht 
verstände  sich  beim  lesen  auf  den  Standpunkt  des  ersten  publicums  zu* 
rückzuversetzen ,  dem  würden  audi  in  der  gestalt  der  „sämtlichen  werke" 
viele,  vielleicht  die  meisten  Schriften  Herders  ungeniessbar  sein.  Die 
fähigkeit  in  historisdiem  sinne  zu  lesen  und  zu  verstehen  wird  aber  um 
so  mehr  gemeingut  der  gebildeten,  je  weiter  die  zeit  der  schöpferischen, 
classischen  periode  hinter  uns  liegt.  Je  mehr  aber  diese  fähigkeit  sich 
ausbildet,  um  so  dringender  wird  das  bedürftiis,  die  werke  in  ihrer  histo- 
risch allein  berechtigten  gestalt  kennen  zu  lernen.  Die  änderungen  der 
herausgeber  empfindet  man  als  entstellungen ,  die  Vorenthaltung  des  ori- 
ginalen textes  besonders  in  den  poetischen  werken  als  eine  willkür- 
liche Schädigung  des  wahren  und  schönen.  Auch  vom  Standpunkte  des 
gebildeten  lesers  aus  muss  man  Bemays  beipflichten:  „Keiner  unserer 
grossen  autoren  ist  einer  kritischen  widerherstellung  so  bedürftig,  wie 
Herder ;  keiner  hat  durch  eine  solche  widerherstellung  so  viel  zu  gewin- 
nen, wie  er." 

Schon  Johannes  Falk ,  wol  erfahren  in  der  kunst  misratenes  in  Ord- 
nung und  geschick  zu  bringen,  hat  die  mängel  der  Müllerschen  ausgäbe 
erkant  und  ist  zu  anordnung  und  text  der  Originalausgabe  zurückgekehrt. 
Eine  neue  kritische  ausgäbe  würde  auch  dem  anhange  die  ursprüngliche 
form  zu  wahren  haben.  Die  von  Müller  aufgenommenen  und  die  unge- 
hörig unter  Herders  eigene  gedichte  eingereihten  Volkslieder ,  endlich  ein 
Verzeichnis  der  unter  Herders  übrigen  Schriften  verstreuten  volkspoesie 
müste  in  einem  nachtrage  zu  finden  sein. 

BERLIN,  SEPTEMBER  1871.  B.  8ÜPHAN. 


GOETHIANA. 

I. 

In  seinen  dankenswerten  mitteilungen  über  das  Tiefurter  Journal 
in  nr.  34  der  diesjährigen  Grenzboten  hat  herr  archivar  Burkhardt  das 
„Todeslied  eines  Gefangenen"  aus  dem  88.  stücke  des  genanten 
Journals  zum  ersten  mal  durch  den  änxck  bekant  gemacht  und  zwar  als 
ein  Goetheschcs  gedieht.  Herr  dr.  Burkhardt  hat  nämlich  unter 
andern  im  nachlasse  der  herzogin  Anna  Amalia  befindlichen  originalcon- 


476  REINHOLD   KÖHLEB 

cepten  von  beitragen  für  das  Tiefurter  Journal  auch  ein  blatt  gefunden» 
auf  welchem  von  Goethes  eigner  hand  geschrieben  dieses  and 
ein  in  demselben  stücke  des  Journals  erschienenes  „Liebeslied  eines 
amerikanischen  Wilden"  stehen.  Letzteres  lied  hat  herr  dr.  Burk- 
hardt  nicht  abdrucken  lassen ,  mir  aber  auf  meine  bitte  abschriftlich  mit- 
zuteilen die  gute  gehabt. 

Goethe  hat  diese  beiden  lieder  zwei  brasilianischen  liederfragmen- 
ten  nachgebildet,  welche  Michel  Montaigne  im  30.  capitel  des  1.  buches 
seiner  „Essais,"  welches  „De  Cannibales"  überschrieben  ist  und  von  den 
wilden  Brasiliens  handelt,  in  französischer  prosa  mitgeteilt  hat 

„  Tay  une  cJianson "  —  sagt  Montaigne  —  „faicte  par  un  prison- 
nier,  oü  il  y  a  ce  traixi:  Qu'üs  viennent  liardiment  trestous,  et  s'os- 
semblent  pour  disner  de  luy^  aar  üs  niangeront  quant  et  quant  leurs 
per  es  et  letirs  ayetdx,  qui  ont  servy  d'aiiment  et  de  nourriture  ä  son 
Corps:  ces  musdes^  dit-il,  cette  chair  et  ces  veines,  ce  sont  les  vostres, 
pativres  fols  que  vous  estes:  vous  ne  recognoissez  pas  que  la  substance 
des  mernfyp'es  de  vos  ancestres  s'y  tient  encore:  savonrez-les  bien,  vtms  y 
trouverez  le  gmist  de  vostre  propre  chair." 

Und  weiter  unten  sagt  Montaigne :  „  Chäre  celuy  [traict]  que  je  vien 
de  reciter  de  Vune  de  leurs  chansons  yuerriereSj  fen  ay  une  autre  amou- 
reuse,  qui  commence  en  ce  sens:  Couleuvre^  arreste-toy,  arreste-'toy, 
couleuvre,  afin  que  ma  soeur  tire  stir  le  pairon  de  ta  peinturCy  la  fagan 
et  Vouvrage  düun  riche  cordon ,  que  je  puisse  donner  ä  nCamie:  ainsi 
soit  en  tout  temps  ta  beaute  et  ta  disposüion  preferee  ä  tous  les  autres 
serpens" 

In  der  zu  Leipzig  1753  —  54  erschienenen  Übersetzung  der  „Ver- 
suche" Montaignes  von  Job.  Dan.  Titius  sind  diese  stellen  so  übersetzt: 

Ich  habe  einen  Gesangs  welchen  ein  Gefangener  verfertiget  hat» 
in  welchem  diese  Stelle  vorkömmt.  „Sie  sollten  nur  alle  kühnlich  kom- 
men, und  sich  versammeln  um  von  ihm  zu  schmausen.  Sie  würden  zu- 
gleich auch  ihre  Väter  und  Großväter  mitfressen,  die  seinem  Leibe  zur 
Nahrung  und  Speise  gedient  hätten.  Diese  Muskeln,  sagt  er,  dieses 
Fleisch,  und  diese  Adern,  sind  von  euch,  ihr  Narren.  Ihr  wißt  nicht 
daß  das  beste  von  eurer  Vorfahren  Gliedern  noch  darinnen  ist  Kostet 
sie  nur  recht :  ihr  werdet  euer  eigen  Fleisch  schmecken."  (Th.  1,  s.  383.) 

Außer  dem  gedachten  Kriegsliede  habe  ich  noch  ein  Liebeslied 
von  ihrer  Art,  welches  sich  so  anfängt  „Schlange,  warte,  warte, 
Schlange,  damit  mir  meine  Schwester  nach  der  Zeichnung  deiner  Haut 
ein  schönes  Band  für  meine  Liebste  machen  kann.  So  mag  deine  Schön- 
heit und  deine  Bildung  der  Schönheit  aller  andern  Schlangen  vorgezogen 
werden."    (Th.  1,  s.  385.) 


GOBTHIANA  477 

% 

Man  vergleiche  nun  Goethes  bearbeitungen. 

Todeslied  eines  Gefangenen. 

Ko7nmt  nur  hühnlich,  kommt  nur  alle 
TJnd  versammdt  euch  zum  Schmause, 
Denn  ihr  werdet  mich  mit  Dräuen, 
Mich  mit  Hoffnung  nimmer  heugen. 
Seht,  hier  hin  ich,  hin  gefangen, 
Aber  noch  nicht  iiberwunden. 
Kommt,  verzehret  meine  Glieder 
Und  versehrt  zugleich  mit  ihnen 
Eure  Ahnherrn,  eure  Väter, 
Die  zur  Speise  mir  geworden. 
Dieses  Fleisch,  das  ich  euch  reiche, 
Ist,  ihr  Thoren,  euer  eignes, 
Und  in  meinen  innern  Knochen 
Stickt  das  Mark  von  euren  Ahnherrn, 
Kommt  nur,  kommt,  mit  jedem  Bisse 
Kann  sie  euer  Gaumen  schmecken. 

Namentlich  die  beiden  ersten  Zeilen  scheinen  mir  entschieden  für 
die  benutzung  der  Übersetzung  von  Titius  zu  sprechen.  Zeile  3—6  sind 
von  Goethe  eingeschoben  und  durch  folgende ,  einige  selten  vorher  stehende 
Worte  Montaignes  über  jene  wilden  veranlasst,  die  ich  nach  jener  Über- 
setzung (th.  1,  s. 379f.)  hier  folgen  lasse:  „Sie  verlangen  von  ihren  Gefan- 
genen weiter  keine  andere  Auslösung,  als  das  Geständnis  daß  sie  über- 
wunden sind.  Allein  unter  allen  findet  sich  in  einem  Jahrhunderte  kein 
einziger,  der  nicht  lieber  das  Leben  einbüssen,  als  nui*  mit  einem  ein- 
zigen Worte  etwas  von  seinem  unüberwindlichen  Muthe  nachgeben  wollte. 
Man  findet  keinen  einzigen,  der  sich  nicht  lieber  ermorden  und  fressen 
lassen,  als  dieses  verbitten  wollte.  Sie  verstatten  ihnen  alle  Freyheit, 
damit  ihnen  das  Leben  desto  lieber  seyn  soll;  und  drohen  ihnen  gemei- 
niglich öfters  mit  ihrem  zukünftigen  Tode.  Sie  stellen  ihnen  vor  was 
für  Martern  sie  dabey  aus  zu  stehen  haben,  was  für  Anstalten  man  dazu 
macht,  wie  sie  zerfleischet  werden  sollen,  und  was  für  einen  Schmaus 
man  auf  ihre  Unkosten  halten  wird.  Alles  dieses  geschieht  bloß  in  der 
Absicht ,  um  ihnen  ein  verzagtes  oder  kleinmüthiges  Wort  ab  zu  locken, 
oder  ihnen  Lust  zur  Flucht  zu  machen:  um  den  Vortheil  zu  erlangen 
daß  sie  dieselben  in  Furcht  geiagt,  und  ihre  Standhaftigkeit  zu  Boden 
geschlagen." 

Wenden  wir   uns  nun  zu  dem  liebeslied.     Es  lautet  in  Goethes 
bearbeitung  im  Tiefurter  Journal  also: 

ZEITSCHR.    P.   DEUTSCHE    PHILOLOQIR.      BD.  III.  31 


478  BEINHOLD  KÖHLER 

Liebeslied  eiues  amerikanischen  Wilden. 

Schlange  warte,  warte  Schlange, 
Daß  nach  deinen  schönen  Farben, 
Nach  der  Zeichnung  deiner  Ringe, 
Meine  Schwester  Band  und  Gürtel 
Mir  für  fneinc  Liebste  flechte. 
Deine  Schönheit,  deine  Bildung 
Wird  vor  allen  andern  Schlangen 
Herrlich  dann  gepriesen  werden. 

Hiev  ist  die  abhängigkeit  von  der  Montaigne -Übersetzung  vonTitius 
noch  stärker  als  bei  dem  ersten  liede. 

Eine  bearbeitung  desselben  liedes  findet  sich  auch  in  Goethes  Zeit- 
schrift „Über  Kunst  und  Alterthum,"  band  V,  heft3,  s.  130,  worauf 
herr  dr.  Bnrkhardt  nicht  verfehlt  hat  hinzuweisen. 

Brasilianisch. 

Schlange^  halte  stille! 

Halte  stille,  Schlange! 

Meine  Schwester  will  von  dir  ab 

Sich  ein  Must-er  nehmen; 

Sie  will  eifie  Schnur  mir  flechten, 

Reich  und  bunt  wie  du  bist, 

Dass  ich  sie  der  Liebsten  schenke. 

Trägt  sie  die,  so  wirst  du 

Immerfort  vor  allen  Schlangen 

Herrlich  schöbt  geprieseti. 

Ob  auch  diese  bearbeitung  von  Goethe  herrührt,  muss  dahingestellt 
bleiben.  (Siehe  v.  Löper  in  Strehlkes  ausgäbe  der  Goetheschen  Gedichte 
III,  370  und  371).  Während  die  bearbeitung  im  Tiefurter  Journal  nach 
der  Übersetzung  von  Titius  gemacht  ist,  lässt  die  in  „Kunst  und  Alter- 
thum'' in  einigen  werten  benutzung  des  französischen  Originals  erken- 
nen. Dafür  dass  dem  Verfasser  der  zweiten  bearbeitung  die  erste  vor- 
gelegen, könnte  nur  die  ähnlichkeit  der  letzten  zeile  in  beiden  sprechen, 
doch  kann  dies  wol  aucli  zufälliges  zusammentreffen  sein. 

Schliesslich  mögen  zur  vergleichung  noch  aus  Bodes  Übersetzung 
der  Essais  Montaignes  (M.  Montaigne's  Gedanken  und  Meinungen  Ober 
allerley  Gegenstände.  Zweyter  Band.  Berlin  1793.  S.  121  und  124)  die 
beiden  lieder  hier  platz  finden. 

Kmnmt  h^rbey  mit  lielleni  Haufen, 
Kommt,  gelüstet  Euch  mein  Fleisdi! 


GOETHIAlfA  479 

Wdlt  Ihr  Eure  Väter  fressen? 
KamnU,  sdiniedU  deren  Väter  auch! 
Ha  /  ihr  aller  Fleisch  nährt  mich  scJwn  lange ! 
Muskeln,  Adern,  Zasern  und  Gebein, 
Sind  aus  ihrem  Saft  und  Mark  ereeuget 
Damach  lüstefs  Eu4li,  Ihr  Gummen  Hurule? 
Nun  so  na{ft  und  freßt  Eur  eignes  Mark. 
Nehmt  mir  wieder,  was  ich  Euren  Vätern  nahm! 


Fleuch  nicht,  ScM^inge,  schöne  bunte  Schlange, 

Bleib!  daß  ineine  Schwester  eine  Zeichnung 

Nach  der  Schönheit  Deiner  Haut  mir  mache. 

Und  na^h  der  ein  schönes  Band  fü/r  Cora, 

Meine  Jugendfreundinn,  die  ich  liebe! 

So  nennt  jeder  Dich  die  schöne  Schlange, 

Preiset  auch  dich  mehr,  als  andre  Schlangen! 

Fleuch  nicht,  schöne  Schlange;  schöne  Schlange,  weile! 

II. 

Fräulein  von  Göchhausen  schreibt  in  einem  briefe  vom  16.  Septem- 
ber 1782  an  Knebel  (abgedruckt  in  der  Europa  1843,  II,  314)  mit  bezug 
auf  das  Tiefurter  Journal :  „  Der  sogenannte  christliche  Roman  ist  aus 
dem  Munde  einer  sehr  alten  Frau  in  Ettem  [Ottern]  bei  Belvedere  nach- 
geschriebeji  worden/'  Als  ich  vor  jähren  zum  ersten  mal  diese  stelle  las, 
war  ich  sehr  neugierig  zu  erfahren,  was  das  für  ein  „christlicher  Roman" 
sein  möchte,  den  mau  aus  dem  munde  einer  alten  bauersfrau  aufgeschrieben 
und  der  aufnähme  in  jenes  Journal  wert  erachtet  hatte.  Ich  vermutete 
ein  Volksmärchen  in  prosa,  fand  aber,  als  ich  bald  darauf  gelegenheit 
hatte,  Salomon  Hirzels  exemplar  des  Tiefurter  Journals  einzusehen,  zu 
meiner  Überraschung  im  28.  stücke  unter  der  Überschrift  „Ein  christ- 
licher Roman"  ein  mir  wolbekantes  Volkslied.  Es  ist  das  lied  von  der 
tochter  des  kommandanten  zu  Gross -Wardein,  von  dem  ich  vier  ver- 
schiedene drucke  kenne:  1)  Des  Knaben  Wunderhorn  I,  64;  neue  Aus- 
gabe I,  73.  2)  Volks -Sagen,  Märchen  und  Legenden.  Gesammelt  von 
J.  G.  Büsching.  Leipzig  1812.  S.  163.  3)  Fränkische  Volkslieder,  gesam- 
melt von  Fr.  W.  Freiherrn  von  Ditfurth,  Leipzig  1855,  I,  No.  87.  4) 
Braut  -  Sprüche  und  Braut -Lieder,  auf  dem  Heideboden  in  Ungeni  gesam- 
melt von  R.  Sztachovics,  Wien  1867,  S.  276.  (In  letzterer  samlung  ist 
das  lied  nach  mehreren  liederhandschriften  mitgeteilt,  deren  älteste  vom 
jähre  1767.)  Es  bedarf  kaum  der  ei^wähnung,  dass  diese  fünf  texte  des 
liedes  öfters  unter  einander  abweichen ,  wie  dies  texte  eines  und  desselben 

31* 


480  REINHOLD   KÖHLER,    GOBTHL&.NA 

Volksliedes,  die  zu  verscliiedener  zeit  und  an  verschiedenen  orten  auf- 
gezeichnet sind,  ja  immer  tun.  Was  die  dem  texte  des  Tiefurter  Jour- 
nals eigentümlichen  lesarten  betrifft,  so  sind  sie  durchaus  nicht  der  art, 
dass  man  etwa  eine  Überarbeitung  von  der  band  des  einsenders  vermuten 
müste,  man  darf  vielmehr  annehmen,  dass  er  unverändert,  wie  er  aus 
dem  munde  der  alten  aus  Ottern  nachgeschneben  worden  war,  in  das 
Journal  übergegangen  ist.  Herr  dr.  Burkhardt  hat  (s.  den  oben  citierten 
aufsatz  s.  289)  auch  von  dem  „christlichen  roman"  die  originalhandsclirift 
vorgefunden,  und  zwar  ist  sie  von  Goethes  schreiber  gescliriebeu.  So 
mag  denn  das  lied  durch  Goethe  in  das  Journal  gekommen  sein.  Wenn 
aber  herr  dr.  Burkhardt  sagt:  „Ob  Goethe  die  Erzählung  in  diese  Reime 
gebracht  hat,  darüber  lässt  sich  kaum  eine  Vermuthung  aussprechen,"  — 
so  ergibt  sich  aus  dem  obigen,  was  nicht  als  Vermutung,  sondern  als 
gewissheit  auszusprechen  ist. 

III. 

In  der  abteilung  der  Goetheschen  gedichte,  welche  überschrieben 
ist  „Sprichwörtlich,"  findet  sich  bekantlich  der  spruch: 

Noch  spncJct  ehr  Bahylon'sche  Thnrm, 
Sie  sind  nicht  zu  vereinen! 
Ein  jeder  Mayiyi  hat  seinen  Wurm, 
C op e r n i k n s  den  s e i n e n . 

In  Jacob  Baldes  merkwürdigem  gedichte  „De  vmütate  mundi/' 
worin  gewisse  lateiuisclie  strophen  immer  auch  frei  deutsch  widergegebeu 
werden,  lesen  wir  unter  nr.  LVI: 


Copernici  deliria 
Sunt  inrohicra  (fypsi. 

Quid  hoc?  iacet  Coprrnicus, 
2Wus  sfaf,  astra  currunt. 


Die  Erden  steht,  cnd  nit  vmbgeht, 

Wie  recht  die  Glehrten  meinen. 
E  i  n  j  e  d  e  r  i  s  t  s  e  i  n  s   \V  n  r  in  h  s  r  v  r  (/  w  i  s  t , 

Copernicas  deß  seinen. 

WKIMAK,   ArUl'ST    1«71.  REINHOLU    KÖIILBK. 


481 

LITTEEATUR. 

Rudolf  von  Baumcr,    Gescliichtc  der  Gcrmanisclicu  Philologie  vorzugs- 
weise in  Deutsclilaiid.    (Geschichte  der  Wissenschaften  in  Deutsch- 
land.    Neuere   Zeit.     Neunter  Band.)     München,   R.  Oldenbourg.   1870. 
XL  743  8.    8.    n.  3  thlr.  6  sgr. 
Als  die  historische  commission  zu  München  in   den   plan  der  geschichte  der 
Wissenschaften  in  Deutschland  auch  die  geschichte  der  germanischen  philologic  auf- 
nahm ,  mochten  manche  fragen ,  ob  es  bereits  an  der  zeit  sei ,  eine  Wissenschaft  histo- 
risch zu  behandeln ,  deren  anerkantes  leben  nach  zwei  oder  drei  menschenaltem  zählt. 
Das  vorliegende  buch  Rudolfs  von  Raumer  wird  ihnen  die  antwort  geben.    Mit  grosser 
belesenhcit  und  anerkennenswertem  gestaltungsvermögen ,  in  voller  und  klarer  über- 
sieht über  anfange,  versuche  und  endliche  ziele,  lässt  der  herr  Verfasser  die  germa- 
nistisch-philologischen  bestrebungen  seit  dem    16.  Jahrhundert  bis  in   das  jüngste 
geschlecht  hinein  an  uns  vorüberziehen ,  und  beweist  wie  in  dem  Schreiber  der  inhalts- 
reichen abhandlung  „Der  Unterricht  im  Deutschen"  der  richtige  mann  für  jene  auf- 
gäbe getroffen  war. 

R.  V.  Raumer  nimt  die  philologie  in  der  beschränkteren  bedeutung  als  Studium 
der  Sprache  und  litteratur.  Er  scheidet  die  geschichte  der  germanischen  philologie 
in  vier  perioden:  die  erste  von  widerbelebung  des  klassischen  altertums  bis  zum  jähre 
1(565  ist  die  zeit  der  anfange,  versuche  und  ahnungen.  Die  deutschen  hunianisten 
zeigen  eine  begeisterung  für  das  deutsche  altertum,  die  ihren  heutigen  nachfolgoru 
meist  abseiten  liegt.  Durch  die  kirchengeschichtlichen,  juristischen  und  historischen 
Studien  werden  verschüttete  schätze  der  deutschen  vorzeit  ans  licht  gebracht,  lingui- 
stische neigungen  spielen  herein ,  und  die  neu  sich  festsetzende  hochdeutsche  Schrift- 
sprache fordert  zur  grammatischen  behandlung  und  lexikalischen  Verzeichnung  auf. 
In  einem  besondern  abschnitt  werden  uns  dann  die  anfange  germanistischer  Studien 
in  den  Niederlanden,  in  England  und  Skandinavien  erzählt. 

Das  zweite  buch  berichtet  über  die  periode  von  1665  als  dem  jähre  der  her- 
ausgäbe des  codex  argenteus  durch  Fr.  Junius  bis  zum  auftreten  der  romantikcr.  Mit 
recht  sind  hier  die  leistungen  der  Niederländer  und  Engländer  vorangestellt,  welche 
nach  zeit  und  bedeutung  den  Deutschen  jenes  abschnitts  überlegen  sind.  Francis- 
cus  Junius,  George  Hickes  und  Lambert  ten  Kate  treten  hier  auf:  Junius,  der  zuerst 
die  kentnis  des  gotischen,  althochdeutschen,  sächsischen  und  nordischen  in  sich  ver- 
einte und  als  textherausgeber  und  lexicograph  bewährte,  ist  das  Vorbild  des  Hickes, 
welcher  zuerst  eine  granmiatik  unserer  alten  dialecte  versuchte.  Auch  ten  Kate  folgte 
in  seinen  scharfsinnigen  grammatischen  arbeiten,  welche  den  gemeinsamen  bau  aller 
germanischen  sprachen  erwiesen,  dem  vorgange  des  Junius.  Nun  ist  der  gotische 
schätz  zugänglich,  das  angelsächsische  wird  gepflegt,  und  in  Skandinavien  erscheint 
eine  reihe  altnordischer  prosawerke  im  druck.  Für  die  kentnis  der  skandinavischen 
sprachen  ist  Ihre  vornemlich  tätig. 

In  Deutschland  wirkt  das  Universalgenie  Leibnitz  auch  fruchtreich  für  die 
deutschen  Sprachstudien.  Unter  seinem  einfluss  stehn  zumal  J.  G.  Eckhardt,  der 
Leibnitz  persönlich  verbundene  historiker,  antiquar  und  herausgeber  wichtiger  alt- 
hochdeutscher denkmäler;  ferner  J.  L.  Frisch,  der  hochverdiente  lexicograph  und 
geschätzte  schulgrammaticus.  An  Eckhardt  schlössen  sich  in  Norddeutschland  Diet- 
rich V.  Stade  mit  Palthen,  in  Süddeutschland  Schilter,  Scherz  und  Wächter  an, 
mit  denen  die  übrigen  herausgeber  und  freunde  altdeutscher  dichtung,  wie  Bodmer, 
Müller  u.  a.  zusammenhangen.    Von  einer  der  Sprachgesellschaften  aus  gewint  Gott- 


482  WEIMHOLD,    ÜB.   V.   RAUMEB ,    GE6CH.   D.   GERM.   PHILOLOGIE 

sched  weitreichenden  einflnss  auf  dem  gebiet  der  deutschen  Sprachlehre,  dessen  erbe 
J.  Chr.  Adelung  ist,  über  den  herr  v.  Räumer  sehr  ausführlich  (8.210  —  241)  han- 
delt. Es  äussern  sich  ferner  die  anregungen  des  aufstrebenden  litterariscben  und 
moralischen  Icbens  der  nation  auf  die  gelehrten  vaterländischen  bestrebungen ,  nnd 
so  erscheinen  nun  auch  Klopstock,  Wieland,  Gerstenberg,  Lessing,  Herder,  Goethe, 
J.  Moser  in  unserm  buche. 

Die  dritte  periode,  vom  auftreten  der  romantiker  bis  zum  erscheinen  von 
Grimms  grammatik,  1797 — 1819,  ist  recht  eigentlich  die*  zeit  der  cmpfangnis. 

Herr  v.  Raumer  behandelt  zuerst  die  romantiker  in  ihrer  stellang  gegen  den 
classicismus ,  in  ihrer  neigung  und  den  anlaufen  zu  altdeutschen  studien,  woran  sich 
eine  Schilderung  dieser  studien  im  aufgang  uusres  Jahrhunderts  anschliesst.  F.  H. 
V.  d.  Hagen,  Büsching,  Docen,  die  bedeutsame  einführung  der  indischen  spräche  und 
litteratur  durch  Fr.  Schlegel,  ferner  Kanne,  Görres,  Arnim  und  Brentano  bilden  die 
einleitung  zu  den  Jugendarbeiten  der  brüder  Grimm ,  womit  der  eigentliche  kern  und 
Schwerpunkt  des  Raumerschcn  Werkes  anhebt.  Vortrefflich  wird  nachgewiesen,  wie 
die  Grimms  zwar  von  den  romantikem  angeregt  werden,  wie  ihre  ziele  aber  von 
anfang  an  höhere  und  freiere  sind.  Mit  den  romantischen  freunden  teilt  Jacob  noch 
das  zügellose  combiniorcn  und  dichterisclie  phantasieren.  Bei  ausgebreiteten  sprach- 
kentnissen  und  seherblicken  in  das  wesen  der  spräche  entbehrt  er  noch  durchaus  der 
sichern  methode  und  der  richtigen  Stellung  und  behandlung  grammatischer  ftugen, 
so  dass  W.  Schlegel  völlig  berechtigt  war,  in  der  beurteilung  der  Altdeutschen  Wäl- 
der (1815)  ihm  unbekantschaft  mit  den  ersten  grundsätzen  wissenschaftlicher  sprach« 
forschung  vorzuwerfen.  Diese  mahnung  blieb  nicht  unbeachtet.  Ehe  aber  Jaeoh  den 
grossen  schritt  zu  seiner  grammatik  tat,  erschienen  Benecke,  Lachmann  und  Bopp 
mit  ihren  ersten  streng  wissenschaftlichen  arbeiten  auf  dem  felde.  Und  in  Däne- 
mark erstund  in  Rask  ein  hervorragender  forscher ,  welcher  grosse  entdeckongen  machte 
und  dessen  arbeitsieben  sich  mehrfach  mit  Grimms  nahe  berührt.  Man  liest  Raumers 
darstellung  Rasks  mit  teilnähme  und  sieht  hiemach  die  Streitfrage,  ob  Grimm  oder 
Rask  das  gesetz  der  lautverschiebung  entdeckte,  als  gelöst  an. 

Das  vierte  buch  hat  vorzüglich  die  aufgäbe,  die  grossen  arbeiten  Jacobs  von 
1819  ab  bis  zu  seinem  tode  mit  gewissenhafter  einflcchtung  der  leistungen  Wilhelms 
vorzufüliren.  Es  geschieht  mit  einer  liebe,  die  doch  auch  die  kritik  nicht  scheut, 
und  mit  sichtlicher  bevorzugung  der  sprachlichen  studien.  Daneben  kommen  die  mit- 
forschenden freunde  Lachmann,  Benecke,  Schmeller,  Uhland,  ja  auch  v.  d.  Hagen 
in  seiner  späteren  zeit ,  Lassberg,  Hoffmann,  Massmann,  Graff,  Meusebach,  W.  Wacker- 
nagel, Haupt  und  Simrock  zu  abgesonderter  bcsprechung;  Bopps  unvei^gleicbliche 
bedeutung  für  die  germanistischen  studien  erfährt  eine  darstellung  für  sich.  Die 
schulmässige  behandlung  des  Neuhochdeutschen,  die  litterargcschichtlichen  arbeiten 
erhalten  ihr  kapitel,  und  der  namenreiche  abschnitt  „fortbau  der  germanischen  Phi- 
lologie in  den  neusten  jahrzehnden"  macht  den  schluss,  wobei  auch  dor  Niederlän- 
der, Engländer  und  Skandinaven  nicht  vergessen  ist. 

Der  gewinn  zusammenfassender  darstellungen  weithin  zerstreuter  crscheinun- 
gen  liegt  darin,  dass  der  innere  geistige  Zusammenhang  heraustritt  und  der  mit- 
lebende empfindet,  wie  er  dor  erbe  einer  tiefgegründeten  tätigkoit  ist.  Ausserdem 
zeigen  sich  die  stellen  deutlich,  woliin  die  forschung  ihre  kraft  vomemlioh  lu  wen- 
den hat. 

Wer  für  die  geschichte  der  germanischen  philologio  tatige  teilnamehegt,  wird 
überdies  erkennen,  wo  er  berichtigungen  und  nachtrage  geben  kann.    Schreiber  die- 


JINICKE,   üb.   JAC.  GBIMM,   KLEUiERE   SCHRIFTEN  483 

ser   Zeilen   hofft  in  dieser  art  seinen  dank  für  empfangene  belehrung  und  manchen 
genuBS  künftig  zu  beweisen. 

KIEL,  IM  JULI   1871.  K.   WEINUOLD. 

Kleinere  Schriften  von  Jaeob   Orimni.     I.   Reden   und   abhandlungen. 

412  8.   1864.     U.   Abhandinngen   zur   mythologie  und   sittenkunde. 

462  8.  1865.    III.  Abhandlungen  zur  litteratur  und  grammatik.  428  8. 

1866.    IV.  V.  Receusionen  und  vermischte  aufsätze,  zwei  teile,  VIII. 

467  und  VII.  537  s.    1869,  1871.    Berlin,  Ferd.  Dümmlers  Verlagsbuchhandlung. 

n.  15  thlr. 
Schon  im  jähre  1853  wollte  J.  Grimm,  wie  das  vorwort  des  ersten  bandes 
sagt,  seine  akademischen  abhandlungen  gesammelt  herausgeben;  aber  er  verschob 
diese  arbeit  immer  wider  bis  der  tod  ihn  überraschte.  Bald  nach  seinem  tode  wurde 
der  plan  wider  aufgenommen  und  blieb  nicht  auf  die  akademischen  schriften  beschränkt, 
es  sollten  vielmehr  alle  kleineren  arbeiten,  die  in  einer  grossen  anzahl  von  Zeit- 
schriften zerstreut  waren,  vereinigt  werden.  Zuerst  waren  drei  bände  in  aussieht 
genommen,  zwei  andere  wurden  ihnen  noch  zugefügt,  und  so  liegt  jetzt  die  ganze 
stattliche  samlung  vollendet  vor ,  jedem ,  der  die  deutschen  studien  pflegt ,  erwünscht, 
ja  notwendig.  Früher  muste  man  die  kleinen  abhandlungen  Grimms  an  vielen  zum 
teil  versteckten  orten  aufsuchen  und  konte  manches  selbst  hier  in  Berlin  nicht  erlan- 
gen ;  auch  R.  V.  Raumer  klagt  in  seiner  geschichte  der  germanischen  philologie  s.  445 
über  die  mühe,  die  ihm  das  zusammensuchen  der  schriften  Grimms  gemacht  hat. 
Jetzt  findet  man  in  diesen  fünf  bänden  alles  zum  bequemen  gebrauche  vereinigt;  wir 
sind  für  die  prompte  Vollendung  der  ganzen  samlung  Müllenhoff,  dem  heraus- 
geber  der  schriften,  zu  grossem  danke  verpflichtet. 

Über  das  äussere  der  samlung  ist  wenig  zu  sagen.  Die  Schwierigkeit,  in  den 
beiden  letzten  bänden  eine  richtige  auswahl  aus  den  ältesten  schriften  Grimms  zu 
treffen ,  ist  vom  herausgeber  glücklich  gelöst.  Zu  gründe  gelegt  sind  überall  die 
handexemplare  J.  Grimms^  und  seine  zahlreichen  zusätze  sind  mit  recht  aufgenommen 
worden.  Der  wünsch,  diese  nachtrage  noch  zu  vermehren,  hatte  den  Verfasser  selbst 
dazu  bewogen,  die  samlung  der  akademischen  abhandlungen  hinauszuschieben.  — 
Die  ausstattung  des  Werkes  ist  gut;  bei  dem  hohen  preise  hat  man  auch  ein  recht 
das  zu  verlangen.  Die  Ungleichheit,  welche  durch  den  engeren  druck  der  beiden 
letzten  bände  entsteht,  wird  niemanden  stören;  die  bcibelialtung  des  weiteren  druckes 
würde,  zum  nachteil  der  samlung,  die  zahl  der  aufzunehmenden  arbeiten  bedeutend 
beschränkt  haben. 

Eine  ausführliche  besprechung  von  Grimms  schriften  muss  an  dieser  stelle 
unterbleiben.  Denn  davon  abgesehen ,  dass  diese  den  räum  einer  anzeige  weit  über- 
schreiten würde ,  die  mehrzahl  der  schriften  dürfen  wir  bei  den  lesern  als  bekant  vor- 
aussetzen. Die  vorliegende  samlung  hat  auch  schon  viel  zur  eiofühi'ung  der  schrif- 
ten in  weitere  kreise  beigetragen;  wir  schlagen  dies  nicht  gering  an.  Namentlich 
hat  sie  auch  in  viele  schulbibliotheken  eingang  gefunden ,  was  bei  den  oft  beschränkten 
mittein  dieser  Institute  wol  zum  teil  dem  allmählichen  erscheinen  der  samlung  zu  ver- 
danken ist.  Fndlich  haben  uns  die  letzten  jähre  neben  einer  unzahl  kleiner  aufsätze 
zwei  ausführlichere  arbeiten  über  Grimms  leben  und  schriften  gebracht;  den  betref- 
fenden abschnitt  in  R.  v.  Räumers  geschichte  der  germanischen  philologie,  und  beson- 
ders das  buch  von  W.  Scherer,  das  dadurch  so  bedeutend  ist,  dass  es  viel  mehr  bie- 
tet als  der  einfache  titel  „Jacob  Grimm''  verspricht. 


484  JÄNICKE 

Wir  begnügen  uns  hier  mit  einer  knrzen  Übersicht  des  inhaltes  —  eine  beschrän- 
kung  ist  bei  dem  grossen  reichtnm ,  den  diese  fünf  bände  darbieten ,  durchaus  gebo- 
ten —  und  knüpfen  ein  paar  allgemeine  bemerkungcn  an. 

Der  erste  band,  reden  und  abhandlungen,  enthält  die  arbeiten,  durch 
welche  Grimm,  abgesehen  von  den  märchen,  auch  über  den  kreis  der  fachgenosaen 
hinaus  bekant  geworden  ist.  Hier  zeigt  sich  am  deutlichsten  seine  Sprachgewalt  in 
eigenartigem,  aber  glänzendem  stil,  der,  oft  von  hinreissender  Schönheit,  J.  Grimui 
zu  einem  unserer  ersten  prosaisten  macht.  Vorangestellt  sind  die  beiden  schrifton, 
welche  uns  leben  und  sinnesart  des  grossen  mannes  mit  seinen  eigenen  werten  schil- 
dern: die  Selbstbiographie  vom  jähre  1830  und  die  schrift  über  seine  ent- 
lassung  vom  jähre  1838  mit  dem  stolzen  motto  „war  sint  die  eide  konien?**  Auch 
die  rede  auf  Wilhelm  Grimm  gehört  hierher.  Leider  ist  ihr  schluss  verloren, 
bei  den  märchen  bricht  sie  ab.  Nach  meiner  erinnerung  erwähnte  Grimm  noch,  dass 
sein  bruder  in  den  letzten  jähren  die  pflege  der  märchenforschungen  übernommen, 
dass  er  selbst  aber  jetzt  eine  umfassende  abhandlung  darüber  veröffentlichen  wolle, 
in  der  auch  die  resultate  von  Wilhelms  Untersuchungen  dargestellt  würden.  Zur  aus- 
ftihrung  ist  diese  arbeit  nicht  gekommen.  —  Hermann  Grinmi'hat  zu  den  drei  erwähn- 
ten arbeiten  zusätze  gegeben  für  die  jeder  leser  dankbar  sein  wird.  Sie  vervollstän- 
digen das  bild  von  J.  Grimm  in  der  willkommensten  weise  und  teilen  auch  einige 
briefstellen  mit ,  darunter  die  merkwürdigen  werte ,  die  er  am  12.  mai  1840  von  Kas- 
sel aus  an  Lachmann  schrieb :  „  der  hinunel  helfe  und  verleihe ,  dass  Preussen  einmal 
das  übrige  Deutschland  belebe  und  anfeuere,  nicht  hemme."  Eine  ergänzung  zu  den 
Icbensnachrichten  steht  im  fünften  bände,  der  auszug  aus  Grimms  antrittsrede  in 
Göttingeu,  über  das  heimwoh.  Eine  andere  brachte  diese  Zeitschr.  1,  489  fgg.: 
einen  gedrängten  überblick  seines  lebens,  von  Grimms  eigener  band  im  jähre  1850 
oder  später  geschrieben. 

Auch  andere  stücke  des  ersten  bandes  zeigen  uns  Grimm  im  Verhältnis  zu  sei- 
nen freunden:  zwei  Jubelschriften  für  Benecke  (frau  Aventiure  klopft  an  Be- 
neckes thür)  und  Savigny  (das  wort  des  besitzes)  und  die  rede  auf  Lach- 
mann. Wir  werden  dadurch  zurückversetzt  in  die  zeit,  wo  die  deutsche  philologio 
von  wenigen  männem  begründet  wurde,  die  fast  ohne  ausnähme  durch  enge  freund- 
schaft  mit  einander  verbunden  waren.  —  Der  anhang  führt  uns  weiter  zurück:  er 
enthält  eine  abhandlung ,  die  Grimm  für  Arnims  trösteinsamkeit  1808  schrieb :  „Ge- 
danken wie  sich  die  sagen  zur  poesie  und  geschichte  verhalten'*; 
ausserdem  die  Übersetzung  eines  serbischen  liedes  und  eine  kritik  von  Jean  Pauls  selt- 
samem vorschlage  über  die  deutschen  composita.  Diese  im  jähr  1819  geBchriebcnc 
kritik  ist  durch  die  überlegene  Sicherheit  und  die  lebendige  darstellung  äusserst  inter- 
essant und  für  gar  manchen  auch  heut  noch  in  eminentem  massc  belehrend. 

Nicht  übergangen  werden  darf  die  rede  auf  Schiller  1859,  die  gleich 
damals,  als  allenthalben  Schillerreden  gehalten  und  auch  durch  den  druck  veröffent- 
licht wurden,  mit  dem  lebhaftesten  beifall  begrüsst  wurde.  Bedürfte  es  eines  evi- 
denten Zeugnisses  dafür,  dass  Grimm  über  seinen  tiefen  stndicn  des  deutschen  altor- 
tums  doch  die  ucuzeit  keineswegs  ausser  acht  Hess,  so  gibt  es  diese  rede.  Seine 
leidenschaftliche  liebe  zum  altertum  ist  bekant ;  er  selbst  spricht  oft  davon ,  vielleicht 
nirgend  bezeichnender  als  im  eingang  der  abhandlung  über  das  pedantische  in  der 
deutschen  spräche  1,  337:  „ich  war  von  Jugend  an  auf  die  ehre  unsrer  spräche 
beflissen  und,  wie,  um  mich  eines  platonischen  gleichnisses  «u  bedienen,  die  hirtcii 
hungerndem  vieh  einen  grünen  laubzweig  vorhalten  und  es  damit  leiten,  wohin  sie 
wollen,-  hätte  man  mich  mit  einem  altdeutschen  buch  durch  das  land  locken  können.'* 


ÜB.   JAC.    GRIMM,   KLEINEBE   SCHBIPTEN  485 

Grimms  gäbe  in  die  poesie  der  spräche  einzudringen  verglich  G.  Curtins  in  einem 
vortrage  vom  10.  febr.  1871  schon  mit  der  erzähluug  der  inärchen  von  den  menschen, 
welche  die  spräche  der  vögel  verstehen.  Kein  wunder,  dass  er  immer  wider  zurück- 
kehrte zu  den  gegenständen,  deren  betrachtung  ihm  das  liebste  wür.  Aber  er  ist  in 
seiner  Vorliebe  für  das  altertum  nicht  blind  geworden  gegen  die  Vorzüge  der  neuzeit 
deren  die  alte  zeit  entbehrt.  Indem  Scherer  die  gegenwärtigen  ziele  der  von  Grimm 
geschaffenen  Wissenschaft  scharf  bezeichnet^  spricht  er  mehrere  male  es  fast  wie 
einen  Vorwurf  aus ,  dass  Grimm  diese  ziele  nicht  auch  schon  zu  erreichen  gestrebt 
habe.  Namentlich  hebt  er  widerholt  hervor  s.  120  —  122.  126,  dass  Grimm  die  ver- 
standestätigkeit  der  spräche  in  ihrer  späteren  zeit  zu  erfassen  kein  verlangen  gehabt 
habe.  Dem  entgegen  ist  zu  bemerken,  dass  die  abhandlung  über  den  Ursprung 
der  spräche,  die  ihren  gegenständ  gar  nicht  gefördert  hat  und  bei  dem  ignorieren 
der  forschungen  W.  v.  Humboldts  auch  nicht  fördern  konte,  sich  über  die  entwick- 
lung  der  spräche  vom  siulichen  zum  geistigen  vollkommen  klar  und  richtig  ausspricht. 
Es  sind  also  einige  von  Scherers  f orderungen  nur  ergänzungen  von  Grimms  forschun- 
gen in  seinem  sinne;  andere,  z.  b.  die  der  grammatik  von  der  physiologie  gestell- 
ten Probleme,  sind  erst  nach  den  grossen  arbeiten  Grimms  aufgetreten,  und  diese 
konte  und  muste  Grimm  —  denn  auch  für  einen  so  kühnen  und  grossen  geist  beste- 
hen die  schranken  der  endlichkeit  —  andern  forschem  überlassen. 

Der  zweite  band,  abhandlungen  zur  mythologie  und  sittenkunde, 
enthält  lauter  akademische  Schriften.  Er  wird  eröfihet  durch  die  abhandlung  über 
die  beiden  Merseburg  er  Zaubersprüche,  deren  facsimile  beigegeben  ist.  Es 
war  Grimms  erste  akademische  yorlesung.  Man  hört  beständig  die  freude  durchklin- 
gen über  den  fund  der  beiden  „allitterierenden  gedichte,  offen  heidnischen  Inhalts/* 
Und  diese  freude  war  so  berechtigt,  wir  empfinden  sie  noch  heut  nach  dreissig  jäh- 
ren ,  wenn  wir  uns  vergegenwärtigen ,  welchen  unermesslichen  wert  diese  beiden  klei- 
nen gedichte  für  die  erkentnis  unserer  vorzeit  gehabt  haben.  Welchen  vorteil  kön- 
ten  uns  ähnliche  fünde  noch  gewähren,  wenn  es  eben  keine  künstlich  fabricierten 
altertümer  sind!  --  Den  beschluss"  des  bandes  macht  die  hier  zum  ersten  male 
gedruckte  abhandlung  über  das  gebet,  die  vielen  theologen  entgangen  zu  sein 
scheint.  Und  doch  behandelt  sie  ein  thema,  das  bekant  genug  ist:  die  sage  von  der 
legio  fulminatrix  unter  Marc  Aurel.  Einen  nachtrag  zu  diesen  arbeiten  gibt  noch 
am  schluss  des  dritten  bandes  die  erst  später  aufgefundene  abhandlung:  der  träum 
von  dem  schätz  auf  der  brücke. 

Von  den  andern  arbeiten  des  zweiten  bandes  geben  uns  namentlich  die  deut- 
schen  grenzalterttimer,  über  schenken  und  geben  und  über  das  ver- 
brennen der  leichen  wertvolle  monographien  aus  dem  lange  beschlossenen,  aber 
nicht  ausgeführten  werke  Grimms  über  die  deutsche  sitte.  Wir  glauben,  hier  zeigt 
sich  in  besonders  glänzender  weise  der  geniale  zug  Grimms,  durch  liebevolles 
versenken  in  den  stoff  und  durch  grossartige  kühne  combination  zu  resultaten  zu 
gelangen ,  die  den  leser  nicht  nur  überraschen ,  sondern  ihn  geradezu  blenden.  Eine 
andere  eigentümlichkeit  Grimms,  dass  er  bestrebt  ist  den  grossen  kreis  seines  Wis- 
sens immer  noch  zu  erweitern  und  bis  in  die  entlegensten  gebiete  vorzudringen ,  offen- 
bart sich  uns  in  den  übrigen  abhandlungen  dieses  bandes:  in  der  über  frauen- 
namen  aus  blumen,  über  die  namen  des  donners  und  über  das  fin- 
nische epos.  Das  keltische,  das  er  sonst  nur  vereinzelt  anfuhrt,  ist  eingehend 
betrachtet  in  den  beiden  arbeiten  über  MarceUus  Burdigalensis.  Er  geht  fast 
immer  aus  von  der  Wortforschung,  aus  ihr  entschliessen  sich  ihm  dann  die  sachen. 
Widerholt  spricht  er  von  seiner  verliebe  für  die  etymologie,  z.  b.  3,  115  „Wörter  zu 


486  jXnicke 

klauben  ist  ebenso  verfänglich  als  lockend/'  vgl.  1,  22.  2,  373.  3,  170  und  die 
abhandlung  über  etymologie  und  Sprachvergleichung  im  ersten  bände.  Dass 
er  vor  dem  jähre  1819  oft  sehr  wilde  etymologien  aufstellte ,  ist  bekant.  In  der  zeit, 
wo  die  grammatilf  den  mittelpunkt  seiner  arbeiten  bildete ,  war  er  strenger  gegen 
sich  und  andere:  über  Schmids  etymologien  im  schwäbischen  Wörterbuch  sprach  er 
5,  130  scharfen  tadel  aus^.  Aber  nach  dem  jähre  1840  hat  ihn  seine  neigong  zur 
etymologie  und  namentlich  das  streben,  durch  kühne  combinationen  wenigstens  die 
möghchkeit  neuer  bezüge  zu  erweisen,  vielfach  zu  Irrtümern  geführt,  wie  Scherer 
und  V.  Raumer  s.  654  es  auch  aussprechen.  Nicht  nur  im  wörterbuche ,  sondern  auch 
in  diesen  akademischen  abhandlungen  sehen  wir  diese  combinationslust :  sie  scheint 
wesentlich  bedingt  zu  sein  durch  die  vorhin  erwähnte  beschäftigung  mit  sprachen 
die  ausserhalb  des  germanischen  gebietes  liegen.  Denn  nirgends  hat  er  sonst  neben 
den  deutschen  sprachen  auch  slavisch ,  littauisch ,  finnisch  und  noch  entlegenere  spra- 
chen herbeigezogen  als  hier. 

Der  dritte  band,  abhandlungen  zur  litteratur  und  grammatik,  ent- 
hält wie  der  zweite  lauter  akademische  arbeiten  aus  den  vierziger  und  fünfziger  jäh- 
ren. Voran  steht  die  abhandlung:  gedichte  des  mittelalters  auf  könig  Frie- 
drich I.  den  Staufer  und  aus  seiner  und  der  nächstfolgenden  zeit.  Nach- 
dem Grimm  den  Beinhart  Fuchs  und  mit  Schmeller  die  lateinischen  gedichte  des 
zehnten  und  elften  Jahrhunderts  herausgegeben,  komt  er  hier  noch  einmal  auf  die 
lateinische  poesie  des  mittelalters  zurück,  von  der  er  5,  287  sagt:  „sie  läuft  neben 
unserer  einheimischen  wie  ein  canal  zur  seite  eines  natürlichen  flussbettes.  diesem 
entzieht  die  künstlich  gegrabene  rinne  wol  einen  teil  seines  gewässers,  aber  sie 
bleibt  ohne  eigene  quelle  und  mündung,  und  muss  zuletzt  wider  versumpfen  oder 
versanden."  Er  fügt  noch  im  verfolg  dieses  gleichnisses  hinzu,  dass  wol  auch  „ein- 
zelne nachen  echter  poesie '*  auf  diesen  canal  verschlagen  würden.  Echte  poesie  ist 
es,  die  Grimm  hier  behandelt,  die  der  vaganten.  Er  teilt  zehn  gedichte  des  Archi- 
poeta,  sowie  ausführliche  auszüge  aus  der  Münchener  handschrift  mit.  Bald  ist 
Schmellers  vollständige  ausgäbe  dieser  handschrift  in  den  Carmina  Burana  gefolgt, 
und  Giesebrecht  hat  in  der  Kieler  monatsschrift  1853  den  gang  dieser  mittelalter- 
lichen Vagantenpoesie  schon  entwickelt.  Seitdom  hat  man  sich  verhältnismässig  wenig 
mit  dieser  litteratur  beschäftigt.  —  Die  abhandlung  Jemandes  und  die  Geten 
1846  ist  ein  Vorläufer  der  „Geschichte  der  deutschen  spräche,'*  in  welcher  Grimm 
seine  hypothese ,  dass  Geten  und  Gothcn  identisch  seien ,  weiter  ausgeführt  hat.  Wem 
fällt  dabei  nicht  Wilhelm  Grimms  Vermutung  über  die  Identität  von  Waltber  und 
Freidank  ein?  Beide  brüder,  wie  sehr  sie  sich  sonst  von  einander  unterscheiden, 
gleichen  sich  auch  darin ,  dass  sie  eine  combination ,  die  sofort  dem  entschiedensten 
Widerspruch  der  mitforscher  begegnet,  —  J.  Grinmi  hat  sich  gegen  des  bruders 
hy])othese  ausgesprochen  3,  100  —  mit  grosser  beharrUchkeit,  ja  mit  einer  gewissen 
eigensinnigen  Zärtlichkeit  aufrecht  halten. 

Die  grammatischen  abhandlungen:  über  diphthongen  nach  weggefalle- 
nen consonanten,  über  den  Personenwechsel  in  der  rede,  über  einige 
fälle  der  attraction  enthalten  teils  nachtrage  zur  formenlehre,  teils  sind  es  mono- 
graphien  über  syntaktische  kapitel,  die  im  schluss  der  grammatik  wären  behandelt 
worden.  Diese  syntaktischen  arbeiten  verbreiten  sich  auch  über  den  griechischen  and 
lateinischen  Sprachgebrauch,  der  im  vierten  bände  der  grammatik  nur  in  einzelaen 
andeutungen  berührt  wurde.  Es  ist  kaum  nötig  hervorzuheben,  dass  Grimm  auch 
hier  feine  bcobachtungen  bietet:  wir  heben  nur  ein  beispiel  hervor,  die  präcise  art, 
wie  Grimm  den  unterscliied  entwickelt,   den  die  anrede  der  helden  im  homerischen 


ÜB.   JAC.  ORIMM,  KLEINERE   SCHRIFTEN  487 

epos,  bei  Virgil  und  bei  Voss  und  Goethe  zei^  Diese  beobachtongen  rerdienten 
die  aufmerksamkeit  auch  der  klassischen  philokgen,  werden  ihr  aber  wol  entgehen. 
Auch  die  neuhochdeutsche  litteratur  hat  hier  eingehende  berücksicbtigung  gefunden: 
man  sieht  deutlich,  dass  diese  abhandlungen  in  eine  zeit  fallen,  wo  Grimm  fleissig 
am  Wörterbuch  arbeitete. 

Ein  wichtiges  kapitel  der  Sprachforschung,   das  im  ganzen  noch  wenig  pflege 
gefunden  hat,  behandelt  Grimm  in  der  abhandlung  von  Vertretung  männlicher 
durch  weibliche   namensformen,    die  eigennamen.    Nachdem  er  Förstemanns 
uamenbuch  und  ähnliche  samlungen  in  anderen  sprachen  erwähnt  hat,  fährt  er  s.  351 
fort:    „welchen  reiz  und  welche  anziehende  kraft  hat  unter  allen  sprachlichen  Unter- 
suchungen eben  die  über  eigennamen,   wie  geschäftig  sein  muss  man  um  jede  hier 
aufsteigende  frage  zu  behandeln ;  ich  werde  zwar  noch  oft  die  eingänge  finden ,  aber 
nicht  mehr  den  genuss  haben  bis  in  die  mitte  der  forschung  zu  gelangen ,  geschweige 
ihren  ausgang  zu  ermitteln/*    Darauf  entwickelt  er,  welchen  gewinn  das  Wörterbuch 
und  die  grammatik  aus  der  betrachtung  der  eigennamen  ziehen  könne,   und  verfolgt 
männliche  namen  die  weibliche  form  haben  durch  lateinisch,  romanisch,  griechisch, 
keltisch,  deutsch,  littauisch  und  slavisch.    Die  deutung  der  eigennamen  hat  bekant- 
lich  auch  für  ungelehrte  grossen  reiz,   wieviel   mehr  für  den  Sprachforscher.    Nach 
dem  was  oben  über  Grimms  neigung  zum  etymologisieren  bemerkt  ist,   begreift  sich 
leicht ,  dass  er  auch  auf  die  betrachtung  der  Ortsnamen  ¥de  der  personennameu  immer 
wider  gern  zurückkomt.    5,  297  steht  eine  abhandlang  über  hessische  Ortsna- 
men vom  jähre  1840;   2,  353  fg.  399  sind  deutsche  beinamen  gesammelt;  auch  über 
die  imperativnamen  wollte  er  noch  einmal  schreiben  3,  353.     Daraus,  dass  ihm  die 
namenforschung  so  am  herzen  liegt,  erklärt  sich  auch  sein  allzu  günstiges  urteil  über 
Förstemanns  ^tdeutsches  namenbuch.     Gewiss  sind  die  Schwierigkeiten,  die  Grimm 
hervorhebt,    um  die  schwächen  von  Förstemanns  arbeit  zu  entschuldigen,    auf  dem 
ganzen  gebiet  der  namenforschung  gross.    Die  modernen  familiennamen  über  die  in 
den  letzten  Jahrzehnten  so  viel  geschrieben  worden  ist  —  wir  erinnern  nur  an  die 
sorgfältigen  arbeiten  Andresens  —  setzen  der  deutung  oft  unüberwindliche  Schwie- 
rigkeiten entgegen,    weil  es  in  den  wenigsten  föllen  möglich  ist,   den  namen  auch 
nur  etwa  300  jähre  zurück  zu  verfolgen;  und  doch  wäre  bei  ihrer  bunten  zusammen- 
würfolung  und  ihren  vielfältigen  entstellungen  dies  das  einzige  mittel  zur  vollen  klar- 
heit  zu  kommen.    Wo  alte  aufzeichnungen  vorhanden  sind^   bedürfte  es  erst  auf  den 
verschiedenen  gebieten  ausgedehnter  fleissiger  samlungen,   die  noch  kaum  begonnen 
sind.    Das  frisch  und   mit  liebe   geschriebene  buch  von  L.  Steub  über  oberdeutsche 
familiennamen  würde  durch  solche  samlungen  älterer  namen  von  vielen   Verstössen 
frei  geblieben  sein,  die  sich  jetzt  bei  den  geringen  hilfsmitteln  des  Verfassers  aller- 
dings leicht  erklären  und  in  gewissem  masse  auch  entschuldigen  lassen.    Welchen 
rcichtum  gewähren  allein  die  beinamen  der  althochdeutschen  und  besonders  der  mit- 
telhochdeutschen zeit,   die  Haupt  öfter,   z.  b.  Zeitschr.  4,  578.    15,  249.  261  und  in 
den  anmerkungen  zuNeidhard  für  die  feststellung  und  erklärung  dunkler  appellativa 
sehr  glücklich  benutzt  hat.    Die  örtlichen  namen  erfordern  genaue  kentuis  der  gegend 
und  des  dialektes ,  sie  müssen  ebensowol  aus  dem  volksmunde  wie  aus  den  alten  loca- 
len    aufzeichnungen   gesammelt  werden:    eine   nützliche    aufgäbe   für  unsere   vielen 
geschichtsvereine.    Auch  deshalb  wären  für  eine  solche  samlung  diese  vereine  am 
geeignetsten ,  weil  einzelne  namen  genaue  kentnis  der  geschichte  der  landschaft  erfor- 
dern.   Umgekehrt  würde  auch  die  specialgeschichte  von  der  namenforschung  manche 
wertvolle  aufschlüsse  empfangen. 

Doch   wir  kehren   zu   Grimm  zurück.     Die   beiden   letzten   bände  enthalten 
recensionen  und  vermischte  aufsätze.     Ober  die  grundsätze,  welche  hier  bei 


488  jXnicke 

der  auswahl  massgebend  waren ,  spricht  sich  Miillenhofif  im  Vorwort  zum  4.  bände 
aus.  Hätten  alle  kleinen  arbeiten  aufgenommen  werden  sollen,  so  wäre  nicht  nur 
der  umfang  dieser  samlnng  allzu  gross  geworden,  sondern  der  leser  hätte  auch  vie- 
les bekommen,  was  ihm  auch  sonst  leicht  zugänglich  ist.  Es  sind  also  mit  recht 
ausgeschlossen  die  in  den  fachzeitschriften  enthaltenen  abhandlungen ,  ebenso  die  klei- 
nen juristischen  arbeiten.  Von  dem  was  Grimm  vor  1819  in  verschiedenen  Zeitschrif- 
ten publicierte,  ist  eine  auswahl  gegeben:  die  stücke,  welche  tlir  die  entwickelung 
Grimms  und  für  die  geschichte  der  deutschen  philologie  wichtig  sind.  Die  recensio- 
nen  aus  den  Wiener  Jahrbüchern  und  den  Göttinger  gelehrten  anzeigen  sind  vollstän- 
dig aufgenommen.  „Sie  zeigen,"  heisst  es  4,  VII,  „Jacob  Grimm  in  der  besten, 
glücklichsten  und  reichsten  zeit  seines  Schaffens  und  geben  zusammen  ein  unvergleich- 
liches bild  von  dem  umfang,  der  rührigkeit  und  rüstigkeit  seines  tuns  und  zugleich 
von  dem  damaligen  ersten  aufschwunge  der  deutschen  Studien,  dem  er  selbst  vor 
andern  bahn  brach."  Nur  eine  arbeit  haben  wir  in  der  auswahl  vermisst,  die  vor- 
rede zur  grammatik  vom  jähre  1818.  Nach  den  allgemeinen  principien  der  redactiou 
war  es  allerdings  richtig,  sie  nicht  aufzunehmen;  aber  sie  ist  für  Grimms  damaligen 
Standpunkt  und  für  die  geschichte  der  Wissenschaft  von  hohem  werte,  so  dass  audi 
W.  Wackernagel  einen  teil  davon  in  sein  deutsches  lesebuch  aufgenommen  hat;  und 
die  erste  aufläge  der  grammatik  war  nur  klein ,  die  exemplare  sind  sehr  selten  gewor- 
den. Diese  erwägungen  würden  ein  abgehen  von  dem  allgemeinen  grundsatze  wol 
gerechtfertigt  haben. 

Die  notizen ,  die  Grimm  in  seinen  handexemplaren  eingetragen  hat,  sind  ebenso 
wie  bei  den  akademischen  abhandlungen  zugefügt  worden.  Die  berühmte  recension 
von  Klings  ausgäbe  der  predigten  Bertholds  ist  auch  noch  interessant  durch  die 
angäbe  der  stellen,  welche  die  Wiener  censur  gestrichen  oder  zugesetzt  hat. 

Grimms  recensionen  erstrecken  sich  auf  ein  weites  gebiet:  nicht  nur  die  werke, 
welche  speciell  die  altdeutschen  Studien  behandeln ,  werden  von  ihm  besprochen,  son- 
dern auch  altfranzösische ,  slavische ,  historische  und  litterarhistorische  Schriften.  Für 
die  geschichte  der  deutschen  philologie  erhalten  wir  liier  in  gewissem  sinne  die  docu- 
mente.  Die  gotischen  entdeckungen  und  Graffs  Althochdeutsche  Präpositionen  sind 
ausser  Klings  Berthold  am  ausführlichsten  besprochen;  manches  unbedeutende  komt 
daneben  vor,  aber  man  wird  kein  stück  finden,  das  nicht  dazu  beitrüge,  das  bild 
der  deutschen  Sprachforschung  in  den  zwanziger  und  dreissiger  jähren  zu  beleben. 
So  empfangen  z.  b.  die  ungenügenden  arbeiten  des  „  sassischen  "  Schellers  den  ver- 
dienten tadel.  Nicht  ohne  vergnügen  kann  man  Schellers  vermeintliche  abwelir  in 
der  vorrede  zur  chronik  von  Sassen  lesen,  wo  er  Grimm  unkentnis  der  sassischen 
spräche  vorwirft  und  dazu  eine  reizende  probe  von  seinem  eigenen  Verständnis  dieser 
„Ursprache"  und  davon  zu  hoffenden  fruchten  gibt:  die  Nibelungen  gehen  auf  ein 
sassisches  original  zurück,  alle  Schwierigkeiten  des  gedichtes  rühren  daher,  dass  der 
süddeutsche  Übersetzer  sein  original  misverstand.  Man  sieht,  die  Nibelungen  waren 
schon  damals  ein  beliebter  tummelplatz  für  allerlei  torheiten. 

Grimms  ganze  art  ist  auch  in  diesen  recensionen  deutlich  zu  erkennen.  Er 
begrüsst  mit  freude  gute  leistungen,  er  erkent  auch  in  massigen  arbeiten  gern  an« 
was  sie  nützliches  bieten ,  und  berichtigt  verschen  und  inängel  aus  dem  reichen  schätze 
seiner  kentnisse.  Gegen  verfehlte  oder  dünkelhafte  Schriften  aber  weiss  er  auch 
scharfe  werte  zu  finden ,  so  z.  b.  gegen  Schellers  bücher,  Zeunes  Gotische  Sprachfor- 
men, Schotts  Weifen  und  Gibelinge. 

Aber  wir  können  nicht  wider  anzeigen  von  anzeigen  schreiben.  Auch  eine 
anzahl  der  recensierten  bÜcher  zu  nennen  würde  zu  weit  führen  und  von  keinem 
nutzen  sein.    Man  muss  Grimms  werte  selbst  lesen,  um  in  die  vergangene  zeit  zu- 


ÜB.  JAG.  GRIMM,  KLBINBBB  SCHRIFTEN  489 

rückgeführt  zu  werden.  Den  beschluss  bilden  die  abhandlungen  aus  den  monatsberich- 
ten  der  Berliner  akademic  und  die  beiden  letzten  anzeigen,  die  Grimm  geschrieben: 
von  dem  vierten  bände  der  Weistümer  und  von  Jonckbloets  etudes  sur  le  roraan  de  B^nard. 

Der  fünfte  band  enthält  noch  drei  zugaben:  ein  chronologisches  Ver- 
zeichnis von  J.  Grimms  sämtlichen  Schriften,  das  wir  dem  gewissenhaften 
fieisse  F.  Aschersons  verdanken,  ein  schlusswort  Hermann  Grimms  und  ein 
sorgfältiges  regist  er  über  die  ganze  samlung  von  Wilmanns.  Über  das  schluss- 
wort s.  503  —  506 ,  das  von  dem  litterarischen  nachlass  J.  und  W.  Grimms  handelt, 
ein  paar  bemerkungen. 

Die  bibliothek  wurde  an  die  Berliner  Universitätsbibliothek  verkauft,  die  in 
folge  dieses  erwerbs  im  jähre  1869  eine  grosse  anzahl  von  doubletten  veräusserte.  £s 
war  verabredet,  wie  H.  Grimm  sagt,  dass  nicht  die  Grimmschen  exemplare,  sondern 
die  schon  vorher  der  Universitätsbibliothek  gehörigen  verkauft  werden  sollten.  H.  Grimm 
scheint  zweifei  zu  setzen  in  die  richtigkeit  der  angaben  in  dem  katalog  von  Asher 
und  comp. ,  die  eine  grosse  anzahl  von  büchem  als  Grimmsche  exemplare ,  mit  hand- 
schriftlichen bemerkungen  der  besitzer  versehen ,  zum  verkauf  ausboten.  Ich  weiss 
es  genau,  da  ich  und  meine  freunde  manche  bücher  dieses  kataloges  erworben  haben, 
dass  Ashers  behauptung  richtig  ist:  es  waren  die  Grimmschen  exemplare,  die  zahl- 
reiche notizen  besonders  von  Jacobs  band  enthielten.  Die  Verwaltung  der  Universi- 
tätsbibliothek hat  es  also  vorgezogen,  ihre  alten  exemplare  zu  behalten  und  die 
Grimmschen  zu  verkaufen. 

Zu  einer  sinnigen,  dauernden  erinnerung  an  W.  Grimm  haben  die  hinterblie- 
benen  die  Märchen  gemacht.  Als  die  Göttinger  Sieben  vertrieben  wurden ,  hatte  man 
eine  namhafte  summe  für  sie  gesammelt.  Der  anteil  W.  Grimms  wird,  „da  bei  der 
neugestaltung  des  Vaterlandes  eine  läge  wie  die  der  Sieben  ein  für  allemal  aus- 
geschlossen blieb,'*  jetzt  so  verwant,  dass  für  die  zinsen  alljährlich  500  exemplare 
der  Märchen  an  deutsche  kinder  im  auslande  verschenkt  werden.  Man  erinnert  sich 
unwillkürlich  an  das  Vermächtnis  Walthers  von  der  Vogel  weide,  von  dem  uns  die 
sage  berichtet. 

In  der  vorrede  zum  vierten  bände  war  gesagt,  dass  die  kleinen  juristischen 
arbeiten  von  dieser  samlung  ausgeschlossen  seien,  weil  sie  vielleicht  bei  einer  neuen 
aufläge  der  rechtsaltertümer  zu  verwenden  wären.  Hermann  Grimm  stellt  nur  eine 
unveränderte  ausgäbe  des  buches  in  aussieht.  Aber  viel  willkommener  würde  es  sein, 
wenn  die  erwähnten  abhandlungen  als  anhang  zugefügt  würden.  Wenige  von  seinen 
werken  hat  Grimm  umzuarbeiten  zeit  gefunden:  nur  die  mythologie  und  einen  kleinen 
teil  der  grammatik.  Bei  den  rechtsaltertümern  war  ihm  das  bedürfnis  einer  Umar- 
beitung gleich  nach  dem  erscheinen  klar,  als  er  die  samlung  der  weisthümer  begann, 
und  die  herausgäbe  dieser  Urkunden  hat  ihn  später  immer  wider  daran  erinnert, 
aber  sie  unterblieb;  1854  erfolgte  ein  unveränderter  abdruck  des  buches.  Von  einem 
fremden  kann  jetzt  die  durchgreifende  Umgestaltung  desselben  nicht  unternommen 
werden.  Aber  dass  die  germanisten  unter  den  Juristen  sich  mehr  mit  der  deutschen 
spräche  und  umgekehrt  die  philologen  sich  mehr  mit  dem  deutschen  recht  beschäf- 
tigten ,  wäre  zu  wünschen.  Über  die  Juristen  hat  etwas  zu  günstig  geurteilt  Scherer 
s.  140:  die  verkehrten  etymologien,  ja  die  falschen  auffassungen  der  einfachsten  mit- 
telhochdeutschen prosa  sind  noch  keineswegs  bei  ihnen  verschwunden.  Es  ist  hier 
nicht  der  ort  darauf  weiter  einzugehen:  wer  belege  für  unsem  tadel  sehen  will,  fin- 
det sie  z.  b.  in  Zöpfls  altertümern  des  deutschen  rechts  und  reichs.  i 

Erfreulich  ist  noch  die  nachricht  Hermann  Grimms,  dass  auch  eine  samlung 
der  kleinen  Schriften  seines  vaters  Wilhelm  in  aussieht  genommen  sei.     Dann  würden 


490  SUPHAN 

wir  nur  noch  Lacbmftnns  abhandlungen  vermissen,  deren  einzelabdrücke  man  jetzt 
so  selten  und  nur  zu  enormen  preisen  erlangen  kann.  Hoffen  wir,  dass  auch  diese 
bald  gesammelt  herausgegeben  werden. 

BERLIN.  OSKAR   JÄNICKB. 

Herder   als   Theologe.     Ein  Beitrag   zur  Geschichte   der  protestanti- 
schen Theologie  von  Augnst  Werner,  Pfarrer.    Berlin  1871.    Verlag  von 
F.  Henschol.    V.  422.    n.  2V3  thlr. 
Widerum  ein  beitrag  zu  der  jungen  Herderlitteratur ,    geliefert  in  der  absieht, 
„eine  alte  ehrenschuld ^'  zu  tilgen,   von  allen  bisher  gelieferten  der  wertvollste  und 
der  bedeutung  der  person  und  des  gegenständes  angemessenste.    Der  herr  Verfasser 
hat  es  sich  zur  aufgäbe  gemacht  für  Herder  dasjenige  zu  leisten,  was  dieser  selbst 
in  der  zeit  des  ersten  aufschwunges  als  einen  tribut  der  dankbarkeit  für  lehrer  und 
Vorgänger  in  philosophischer  culturgeschichte  und  theologie  teils  enla'ichtet  hat,  teils 
zu  entrichten  sich  vorsetzte:   aus  den  schriftstellerischen  productionen   den  geist  des 
autors  zu  fiideren  und  in  ihnen  das  bleibende,   trieb-  und  bilduugskraffcige  abzuson- 
dern  und   vor  dem   verkommen   unter   und  mit   dem   ephemeren  und  veralteten  zu 
schützen.    Dem  zweiten  teile  der  aufgäbe  war  nun  das  abgrenzen   und   ausschliess- 
liche bearbeiten  eines  bestirnten  gebietes  ungleich   günstiger   als  dem   ersten,   der 
nur  einer  ebenmässigen   betrachtung   sämtlicher  leistungen  Herders  gelingen   kann. 
Der  herr  Verfasser  freilich  glaubt  mit  Herders  theologie  dasjenige  herausgegriffen  zu 
haben ,   was  das  eigentliche  centrum  seines  lebens  und  strebens  gewesen  ist  (s.  lU. 
s.  4) ,   und  somit  von  seiner  seite  am  tiefsten  in  die  schriftstellerische  und  mensch- 
liche persönlichkeit  überhaupt   eindringen  zu  können.    Aber  unverkenbar  dient  die 
mehrzahl  der  leistungen  Herders  dem  kosmologischen ,  nicht  dem  theologischen  inter- 
esse ;  selbst  von  den  in  folge  der  unglücklichen  dreiteilung  seiner  werke  in  der  theo- 
logischen section  der  gesamtausgabe  untergebrachten  schriften  sind  mehrere  der  cnl- 
turhistorischen  oder  ästhetischen  klasse  zugehörig.    Herders  stand  entscheidet  über 
die  frage  nichts.    Es  ist  leicht  zu  ersehen:   warum  Herder  theologe  geworden  und 
bei  dem  stände  verblieben,  und  was  dies  seinen  schriften  für  eintrag  gebracht  hat. 
Zunächst  durch  die  zwingenden  umstände  auf  das  Studium  der  theologie  angewiesen 
hat  Herder  bald  mit  vollem  bewustsein  den  geistlichen  stand  gewählt,  weil  er  hier- 
durch am  sichersten  zu  seinem  ziele  zu  gelangen  hoffte,   auf  „die  grossen*'  und  für 
die  cultur   „des  gemeinen  mannes''  zu  wirken.    Die  reihe  der  enttäuschungen ,   die 
er  sich  durch  diesen  fehlgriff  bereitet,  schlicsst  mit  seinem  bekentnisse:  „er  habe  sein 
leben  verfehlt'*     Die  von  dem  herrn  Verfasser  (s.  88)  bezweifelte  „  echtheit  dieser 
Überlieferung"  und  die  eben  gegebene  auslegung  ist  durch  Herders  nächste  angehö- 
rige  verbürgt.    (G.  v.  Herder  im  vorbericht  des  VI.  bandes  der  Adrastea  s.  U).    Das 
streben  sociale  ideen  zu  verwirklichen,  bis  jetzt  (wie  Herders  reges  politisches  Inter- 
esse) wenig  beachtet,   hat  also  auf  die  standeswahl  entschiedenen  einfluss  geftbt.> 
(Bückeburger  antrittsprodigt.   1771.    W.  z.  B.  u.  Th.  Y.  pred.  I).    Geschichte  ist  der 

1)  Der  herr  Verfasser  hat  s.  24  selbst  eins  von  den  zahlreichen  leugniBsen  ange- 
führt, legt  aber  s.  138  alles  gewicht  auf  den  grund:  „Def  bibel  zu  gefallen  war  Her- 
der theologe  geworden.*'  Der  wichtigen  stelle  in  den  ProvinzialbUittem  Ab  Predigtr 
s.  80  —  82 ,  über  den  lebensgang  eines  theologischen  freundes ,  hat  er  nicht  angemerkt, 
dass  sie  zum  grossen  teil  ein  verhülltes  selbstbokentnis  ist.  Zu  beachten  ist  auch  Her- 
ders Äusserung  über  standeswahl  und  geistlichen  stand  im  „  Kenotaphium  des  dichters 
Jacob  Bälde."     Terpsiohore  III,   19  fg.   37  fg. 


ÜBBB  WISRNER,    HBBDEB  ALS  THB0L06B  491 

begriff,  dem  sieb  die  haupteumme  der  Herderschen  arbeiten  unterordnen  lässt;  dem 
streng  theologischen  verbleibt,  abgesehen  von  zünftigen  arbeiten  (predigten,  cate- 
chismus  u.  a.)  ein  erheblich  geringeres  capital. 

Der  herr  Verfasser  hat  umgekehrt  von  solchen  Schriften,  die  nur  in  entfernter 
beziehung  zur  theologie  stehen,  möglichst  viel  herangezogen,  und  heterogenes  (z.  b. 
Herders  ästhetisch -kritische  arbeiten  in  abschnitt  I.  s.  5  —  44)  berücksichtigt  Andrer- 
seits ist  ihm  (eine  folge  der  unvorteilhaften  anordnung  der  gesamtausgabe)  einiges 
näher  zugehörige  aus  dorn  bereiche  der  beiden  andern  sectionen^  (Zur  Pbilos.  und 
Gesch.;  Zur  schönen  Litt,  und  K.)  entgangen.  £s  wäre  z.  b.  durch  die  aufgäbe  des 
buches  bedingt  gewesen ,  ^e  gedanken  Herders  von  der  eidstenz  nach  dem  tode  dar- 
gestellt zu  finden.  Der  herr  Verfasser  hat  sich  die  Untersuchung  erlassen,  bei  der 
vorzüglich  sich  herausgestellt  haben  würde,  dass  Herder  in  exoterischer  darstellung 
(Z.  R.  u.  Th.  y.  pred.  XIX)  sich  dem  kirchlichen  begriffe  anbequemte,  mit  welchem 
seine  philosophische  Überzeugung  sich  kaum  noch  berührte  (Gespräche  über  die  See- 
lenwanderung u.  a.),  ein  verfahren,  zu  dem  er  sich  überhaupt  für  berechtigt  und 
verpflichtet  hielt  (pred.  lY).  Der  herr  Verfasser  hat  nicht  beachtet,  mit  welcher 
wärme  und  in  welchem  sinne  Herder,  Lessing  beipflichtend,  Leibnitz  verteidigt,  des- 
sen „begriffe  von  der  Wahrheit  so  beschaffen  waren,  dass  er  nicht  vertragen  konte, 
wenn  man  ihr  zu  enge  schranken  setzte."  „Wegen  dieser  grossen  art  zu  denken, 
sich  gern  allem  anzuschmiegen,  damit  er  alles  nutze  und  für  sich  gebrauche,"  „hielt 
er  ihn  wert."  (Herder,  Gott.  I.  ausg.  s.  142  f.).  Dies  anbequemen  an  das  herge- 
brachte ist  an  Herders  theologischer  vor-  und  darstellungsart  nie  ausser  acht  zu  las- 
sen. Hieraus  erklärt  sich  die  Unklarheit  in  seiner  Christologie.  Statt  scharfsinnig 
Widersprüche  aufzusuchen  muss  man  in  diesem  falle  die  schwierige  sonderung  von 
kern  und  hülse  vornehmen. 

Wir  erblick^n  also  in  dem  buche  zwar  nicht  den  centralen,  aber  doch  einen 
hochwichtigen  best^ndteil  im  gesamtbilde  Herders,  das  ohne  eine  eingehende  kent- 
nis .  und  prüfung  seiner  theologischen  Schriften  immer  so  mangelhaft  und  unrichtig 
ausfallen  wird ,  wie  wir  es  bis  jetzt  in  den  bedeutendsten  litteraturgeschichten  finden. 
Es  ist  einmal  unmöglich  Herder  in  einen  ästhetischen  philosophen,  philosophischen 
historiker  und  theologen  zu  zerlegen,  und  nach  einer  (meist  auch  nur  unvollkomme- 
nen) Prüfung  der  beiden  ersten  selten  den  ganzen  mann  zu  beurteilen.  Durch  dies 
verfahren  eben  sind  in  die  Charakteristik  Herders  irrtümer  eingeschleppt,  zu  deren 
Widerlegung  es  nur  der  objectiven  gegen  überstellung  des  noch  unberücksichtigten 
matcrials  bedurfte.  Der  herr  Verfasser  berichtigt  also  viel  schiefe  und  willkürliche 
urteile,^  die,  durch  einen  gewichtigen  nameu  sanctioniert  (314  f.  414.  422),  weiter- 
gesprochen und  geschrieben  werden.  Man  ist  ihm  also  sogar  da  zu  danke  verpflich- 
tet, wo  er  seine  grenzen  überschreitet 

Andrerseits  ist  auch  in  der  geschichte  der  protestantischen  theologie  eine 
empfindliche  lücke  durch  das  buch  des  herm  Werner  ausgefüllt.  Man  wird  ihm  recht 
geben,  wenn  er  zusammenfassend  (s.  lY)  Herder  als  „den  prophetischen  typus  der 
gesamten  modernen  theologie"  kenzeiehnet  und  damit  sein  buch  „einer  einleitung 
in  die  geschichte  der  theologischen  neuzeit"  gleich  stellt.  Dass  er  auch  in  der  theo- 
logischen litteratur  mancherlei  halbrichtiges  und  unrichtiges  zu  beseitigen  gefunden 
hat,   zeigt  fast  jeder  der  neun  abschnitte  (besonders  HI.  VIIL  IX).    Seinen  eigenen 

1)  Der  anhang  (s.  419  fgg.)  beweist,  dass  der  herr  vetfiisser  die  Schriften  dieser 
sectionen  zum  teil  erst  während  der  arbeit  genauer  kennen  gelernt  hat. 

2)  So  Ilettners  sonderbare  ansieht  von  einem  nacbbaltigen  einlTusse  RousseauB  auf 
Herder,  s.  24. 


492  8UPHAK 

theologischen  Standpunkt  lässt  er  unbillig  hervortreten ,  wenn  er  einerseits  Juden  und 
katholiken  verwehren  will  aus  Herders  theologischen  (und  den  davon  untrennbaren 
philosophischen)  ideen  zu  entnehmen,  so  viel  ihnen  zusagt,  und  andrerseits  ihn  ,,der 
(doch)  kein  mann  der  parteien  ist,**  als  Schutzpatron  allein  für  die  frei  protestantische 
richtung  in  anspruch  nirat  (III  f.). 

Dem  verständigen  grundsatze,  „mehr  auf  eine  vollständige  objektive  darstel- 
lung;  als  auf  eine  kritik  des  Hcrderschen  Standpunktes**  auszugehen,  ist  der  herr 
Verfasser  fast  überall  treu  geblieben-;  auch  darin,  dass  er  „oft  Herders  worte  und 
Wendungen  eingeweht**  hat  (s.  IV),  und  während  er  glaubt  hierin  des  guten  etwas  zu 
viel  getan  zu  hahen,  finden  wir,  dass  er  hierin  noch  freigebiger  mit  Herders,  noch 
karger  mit  seinem  material  hätte  wirtscliaften  sollen.  Niemand  wird,  wenn  es  sich 
um  ein  wissenschaftliches  referat  handelt,  die  Sorgfalt  verkennen,  der  es  gelun- 
gen ist ,  sich  gerade  an  die  stelle  des  autors  anzulehnen ,  die  den  adaequatesten  aus- 
druck  seiner  ideen  enthält ;  mit  paraphrasieren  und  transfigurieren  des  sinnes  ist  nie- 
mandem gedient.  Auffällig  ist  es  bei  der  sonstigen  wissenschaftlichen  treue,  dass  der 
herr  Verfasser  sich  überall  mit  dem  texte  der  Cottaschen  ausgäbe  begnügt,  ohwol 
es  ihm  nicht  unhekant  ist,  dass  derselbe  vom  Originaltexte  nicht  selten  erheblich 
abweicht.  ^ 

Die  einteilung  des  stoffes  ist  etwas  bequem'  und  hat  widerholungen  nötig 
gemacht.  Während  die  drei  ersten  abschnitte  historisch  fortschreitend  Herders,  des 
theologischen  Schriftstellers,  entwicklung  darstellen,  suchen  die  fünf  folgenden  seine 
wissenschaftlichen  ansichten  und  grundsatze  unter  sammelnden  gesichtspunkten  zusam- 
menzustellen. In  folge  dieser  anordnung  ist  besonders  im  dritten  abschnitte  (Herder 
als  theologischer  schriftsteiler  s.  93 — 194),  wo  nach  aufstellung  einer  chronologischen 
Ordnung 2  der  Inhalt  der  Schriften  ausführlich  angegeben  wird,  mancherlei,  was  in 
den  folgenden  capiteln  wider  erseh^nt,  anticipiert,  und  widerum  sind  in  den  späteren 
teilen  manche  historische  einleitungen  und  Verknüpfungen  angebracht,  die  meist  in 
den  zweiten  teil  zurückgreifen  (137  fgg.  3  fgg.  154.  120.  368.  385.  85.  347.  355). 
Ein  vorteil  indessen  ist  hieraus  dem  ganzen  erwachsen:  „gegenüber  weitverbreiteten 
anschauungen  **  (s.  42  fgg.  93  fgg.)  gibt  der  erste  hauptteil  die  objective  darstellung 
einer  schriftstellerischen  persönlichkeit,  die  sich  consequent  und  nach  festem  plane 
(vgl.  s.  284  fg.) ,  wie  selten  eine  andre ,  entwickelt.  Ebenso  objectiv  setzt  der  zweite 
hauptteil  vornehm  absprechendem,  meist  oberflächlichem  und  parteiischem  urteil  ein 
in  den  hauptgliedem  harmonisch  zusammenstimmendes  system  entgegen,  und  zeigt 
(IV,  169  fgg.  VII ,  284  fg.  295  fg.  301  fgg.)  den  engen  Zusammenhang  desselben  mit 
den  übrigen  gebieten ,  die  Herders  universaler  geist  beherschte.  Der  letzte  teil  (der 
Prediger  377 — 418)  und  teilweis  schon  das  vorletzte  capitel  (354  fgg.  359  fg.  kircl»e 
und  kirchliche  reformgedankeu)  gibt  historisch  und  systematisch  ein  anziehendos  bild 
der  hohen  bedeutung,  die  Herder  als  praktischem  theologen  gebührt. 

Auf  den  Inhalt  im  einzelnen  einzugehen  müssen  wir  uns  versagen ;  neues  und 
treffliches  zu  sammeln  und  zu  sagen  ist  dem  herrn  Verfasser,    der  auf  seinem  felde 

1)  S.  55  wird  der  Originaltext  der  Fünfzehn  (nicht  zwölf,  wie  8.  128  steht)  Pro- 
vinzialt>lätter  An  Prediger,  wie  eine  verlorene  handschrift  behandelt. 

2)  Der  herr  Verfasser  bemerkt  (s.  128)  selbst,  dass  die  „meisten  der  letzten  theo- 
logischen arbeiten'*  schon  Vorjahren,  theilweise  noch  in  Bückeburg  geschrieben  seien. 
Er  hätte  daher ,  statt  sie  einfach  der  letzten  pcriodo  samt  und  sonders  einzureihen ,  versuchen 
sollen  (wie  es  bei  vielen  ästhetisch -historischen  Aufsätzen  möglich  ist)  früheres  und  spä- 
teres zu  sondern  und  das  erstere  mit  den  Schriften  der  vorweimarischen  periode  zusam- 
menzustellen. 


ÜBER  WEBNER,  HERDER  ALS  THEOLOGE  493 

fast  keinen  Vorarbeiter  hatte,'  häufig  gelungen.  In  den  specifisch  theologischen 
stücken  wird  jeder  von  ihm  lernen ,  da  er  hier  über  das  material  die  unbedingte  her- 
schaft  hat.  .  Ohne  für  seinen  autor  zu  günstig  eingenommen  zu  sein,  bisweilen  sogar 
mit  etwas  zu  hoher  Schätzung  des  heutigen  wissenschaftlichen  Standpunktes  (277. 
106  f.),  hat  er  das  entwertete  ausgesondert,  und  es  ist  daher  der  beachtung  ausser- 
ordentlich wert,  wenn  er  z.  b.  von  Herders  „letzten  theologischen  arbeiten"  (Vom 
'  geist  des  Christentums.  Von  religion,  lehrmeinungen  und  gebrauchen)  sagt:  „sie 
Verdienten  als  ein  classfsches  zeugnis  des  theologen  unter  den  classikern  unserer  zeit 
produciert  zu  werden"  (s.  128);  —  wenn  er  es  beklagt,  dass  nur  sechs  und  zwanzig 
predigten  Herders  gedruckt  sind'  (s.  379) ;  die  briefe  über  das  Studium  der  theologie 
als  „eine  ausgezeichnete  einleitung  in  das  Studium  ...  zum  teil  heute  noch"  bezeich- 
net (s.  120  fg.);  Herders  katechismus  „ein  werk  nent,  das  jeder  unbefangene  und 
urteilsfähige  leser  getrost  dem  lutherischen  an  die  seite  stellen  wird ,"  da  „  in  dem 
büchlein  mehr  Weisheit,  mehr  demuth,  mehr  pädagogik  steckt,  als  in  zehn  neueren 
katechismen." 

Wo  herr  Werner  sich  auf  das  gebiet  der  nicht  theologischen  litteraturforschung 
begibt ,  ist  sein  urteil  weniger  zuverlässig.  Nach  Hettners  Vorgang  zieht  er  dem  ein- 
flusse  Hamanns  auf  Herders  entwicklung  ungebührlich  enge  grenzen  (18fgg.  105). 
Irrig  ist  die  bemerkung:  „nur  theologisches  befinde  sich  unter  der  menge  von  arbei- 
ten, die  von  Herder  in  Königsberg  vorbereitet  und  begonnen  seien"  (s.  21).  In  der 
richtigen  annähme  von  frühen  Spinozastudien  Herders  hat  sich  Werner  von  Hett- 
ners auf  sehr  unvollständiger  kentnis  der  zugehörigen  quellen  ruhender  meinung  frei 
gemacht  (s.  38);  doch  ermittelt  er  über  zeit  und  fortgang  dieser  Studien  nichts  genaue- 
res und  versucht  nicht  die  spinozistischen  lehren  in  den  frühen  theologischen  Schrif- 
ten Herders  (sogar  in  den  Bückeburger  predigten)  nachzuweisen.  Er  vermutet  (s.  38) 
hierbei  eine  von  Lessing  persönlich  ausgehende  anregung  und  bringt  doch  (s.  58) 
selbst  die  briefstelle,  durch  welche  diese  Vermutung  sich  widerlegt.  Eigentümlich 
contrastiert  die  bemerkung  (s.  48),  „Herder  sei  in  der  polemik  zu  mild  und  friedfer- 
tig gewesen "  mit  der  behauptung  (s.  94) :  „  mit  der  Herderschen  Individualität  sei 
notwendig  verbunden  die  leidenschaftlichkeit  der  spräche,"  zwei  urteile,  die  in  sol- 
cher allgemeinheit  gleicherweise  falsch  sind.  Über  den  wechselverkehr  zwischen  Her- 
der und  Goethe  wird  (s.  61)  ungenügend  abgeurteilt.  Misraten,  indem  irrige  und 
richtige  beobachtungen  sich  mengen ,  ist  die  beschreibung  Herder3chen  stils  (94  fg. 
103.  111);  scharfe  Charakteristik  mit  sparsamen,  streng  zugemessenen  und  knapp 
anschliessenden  prädicaten  würde  sich  überhaupt  an  mancher  stelle  (s.  113)  vorteil- 
hafter ausnehmen  als  tautologische  Schilderungen. 

Hierbei  (da  nach  Herder  „ muttersprache  der  landesehre  fuhrwerk  ist;  und  man 
über  sie  schärfer  halten ,  über  ihre  reinigkeit  mehr  eifern  muss ,  als  über  der  zarte- 
sten liebsten  ehre")  eine  beschwerde  über  einige  verunglückte  Wortbildungen  des  Ver- 
fassers: s.  178  geordnetheit.  64  zugeknöpftheit.  194  nichtlügenhaftigkeit.  347 
(modernes)  Tetzeltum.  83  egocentrische  moral.  360  erziehlich;  dazu  (334)  der  gal- 
licismus  „es  ist  —  dass"  (c'est  —  que). 

Wir  wünschen ,  dass  das  buch  sich  und  dem  trefflichen  manne ,  dem  es  geweiht 
ist,  bahn  brechen  möge  durch  den  schwall  der  ephemeren  tageslitteratur ,  und  glau- 
ben es  auf  Goethes  wort  hin :  „Was  in  der  zeiten  bildersaal  Jemals  ist  trefflich  gewe- 
sen, Das  wird  immer  einer  einmal  Wider  auffrischen  und  lesen." 

BERLIN,   23.  AUGUST    1871.  B.    SUPHAN. 

3)  Nicht  berücksichtigt  ist  die  monographie  von  J.  E.  Dibbits:  Herder  beschouwd 
als  theolog  inzonderheid  als  verklaarder  van  der  bybel.     Utrecht  1863. 


ZE1T8CHR.    P.   DEUTSCHE   PHILOL.    BT>.  III. 


32 


404 

NAOHTBÄOL.  BEMEBKÜKGEN  ZÜB  ABHANDLÜITO  ÜBEB  DIE  EDDALIEDEB. 

G.  Zu  s.  (>  z.  24.  In  dun  werten:  .,.  .  indem  sowol  die  Isländer  als  Saxo  die 
^('Siunt-o  «liinisdio  Ha^eii^esclnditc  mit  sachsonkrio^cn ,  englandszü^en  und  nordliuni- 
l>risdh«n  orob«Tniif(on  durrliwobcn  sein  lassen,  ein  beweis,  dass  die  dänische  sagen- 
»,'eschichto  auf  «Ifin  wejyc  durch  die  eigentliche  sogenanb»  Wikingszeit  (c.  850 — 103*») 
<'ine  j^iinzliehe  uni^estiiltung  durchlebte  *'  ist  das  wo  moplioh  noch  schlagendere  Ver- 
hältnis unerwähnt  geldieben,  dass  diese  sachsenkriego  zugleich  kriege  mit  .«sächsi- 
schen" (ileutscheu)  .,  königen**  sind.  Vor  Karl  dem  Crossen  hatten  die  Sachsen 
keine  könige.  Eine  solche  gestaltung  der  sagen. .ist  also  jünger  als  seine  zeit.  —  Da 
der  Norweger  (Htar  (Ohthere)  in  dem  von  könig  Alfred  bewahrten  berichte  seine  reise 
nach  dem  Hiarmalande  (am  weissen  meere)  offenbar  als  eine  erste  entdeckun^reise 
durch  bisher  unbekante  gewässer  darstellt,  dürfen  wir  folgern;  dass  die  sa^^n  von 
WikingszQgen  nach  dem  ßiarmalande  erst  nach  dieser  entdcckuugsrcise  entstanden 
sind.  Dieselbe  wurde  aber  erst  zur  zeit  Harald  Schönhaars,  in  der  letzten  hälfte 
des  iK  Jahrhunderts,  unternommen. 

7.  Zu  s.  17  z.  H.  13.  Guttormr:  Godomar  bleibt  jedenfalls  hieher  gehöriges 
s|>rachlichcs  indicium,  nämlich  auch  wenn  Guttormr  ein  acht  norröncr  name  sein 
sollte.  Denn  da  er  jedenfalls  von  Godomar  divergiert,  und  dennoch  hier  dieselbe 
person  bezeichnet,  haben  wir  einen  wenigstens  ebenso  beweisenden  fall  vor  uns  wie 
in  Sigurdr  (o:  Sigwart):  Sigfrid.  —  In  der  norrönen  spräche  hatte  man  einen  eigen- 
namen  .Tarpr  (Flateyjarbok  111,  567),  welcher  es  also  um  so  wahrscheinlicher  macht, 
dass  Erpr  eine  aus  «lem  deutschen  entlehnte  form  ist 

8.  Zu  8.  2(),  z.  20  — 21.  Die  worte  „Winge  ^  und"  nebst  der  anmerknng  3 
sind  durch  versehen  hineingekommen,  und  sind  zu  streichen. 

0.  Zu  H.  22,  anm  X  Ich  bin,  seit  ich  dieses  schrieb,  zu  der  fiberzeugung 
gelangt,  dass  die  authentie  der  in  sagas  citiertcn  Skaldcnlieder  in  weit  bedeutende- 
rem umfange  zu  läugnen  ist,  so  auch  der  in  dieser  notc  genanten,  am  entschieden- 
sten der  dem  Egill  Skallagrimsson  zugeschriebenen.  Es  wird  aber  diese  frage  eine 
weitläufigere  erörterung  erheischen,  die  sich  besser  in  anderem  zusammenhange  wird 
geben  lassen.  —  Die  authentie  des  Ynglingatal  habe  ich  schon  in  der  abhandlung 
aufs  entschiedenste  geläugnet.  Zu  bemerken  habe  ich  noch,  dass  sich  dasselbe  zum 
teil  auf  dänische  konigssagen  gründet,  was  ja  auch  schon  daraus  erhellt,  dass  es 
jedesmal  die  Schweden  den  Dänen  unterliegen  lässt;  die  dänischen  konigssagen  wer- 
den ja  aber  erst  nach  der  zeit  des  vorgeblichen  Verfassers  des  licdes  nach  Norwegen 
gelangt  sein  (vgl.  oben  s.  20). 

10.  Zu  s.  72  z.  1.').  Der  satz  „Einem  Christen  würde  es  [das  lied  VoluspaJ 
nicht  zuzuschreiben  sein"  ist  viel  zu  bcstimt  hingeRt4dlt.  Ausser  der  verdächtigen 
stelle  hrcrär  munu  herjask  usw. ,  haben  wir  auch  noch  die  über  die  höllenstrafcn ,  wo 
besonders  die  bestrafung  der  Verführer  (panm  annars  glcpr  eyrarüuü)  unheiduisch 
und  unn(>rdisch  scheint,  und  dann  noch  vollends  das  munu  systnnigar  sifjum  sinJla, 
welches  nur  aussagen  kann ,  man  werde  in  verbotenen  graden  heiraten.  Doch  ninss 
man  natürlich  einräumen,  dass  eben  solche  stellen  interpoliert  sein  könten. 

11.  Zu  s.  7i»  — 80.  Was  ich  über  Vcdel  Simonscns  (hier  in  Kopenliagen  wol- 
bekante)  ])riorität  in  der  lehre  vom  „stein-,  bronze-  und  eisenalter"  schrieb,  wurde 
im  „Ausland*'  nr.  18  unter  dem  titel  „ein  vergessener  archäologe'*  abgedruckt.  Am 
13.  mai  d.  j.  sante  ich  darauf  folgende  erklärung  an  das  „Ausland,"  wo  sie  in  nr.  21 
gedruckt  steht: 

„Vedcl  Simonsen  war  ausserhalb  der  Kopenhagener  archäologischen  kreise  ver- 
gossen ;  hier  in  Kopenhagen  freilich ,  wie  ich  bereits  andeutete ,  nicht  eigentlich  ver- 
gessen. Was  mir  aber  bis  vor  wenigen  tagen  ganz  unbckant  war,  ist,  dass  schon  vor 
mir  <;in  junger  Däne,  W.  Hom,  in  einer  wenig  gelesenen,  nach  kurzer  existenz  erlo- 
schenen Zeitschrift  {Tulskn'ft  for  TJirorie  0(f  Praxia,  I,  18()<>,  p.  322)  die  prioritat 
V.  Simonscns  (kurz  und  zicndich  zunlckhaltend)  öffentlich  erwähnt  hat.  Doch  ist 
W.  Homs  erwähnung  meines  Wissens  wirkungslos  und  fast  unbckant  geblieben,  so 
dass  es  hicmit  ganz  wie  in  dem  von  mir  in  Zachcrs  undHöpfners  zeitschr.  III,  p.  80, 
notc  3  be8])rochenen  verhältni.sse  gegangen  ist." 

Es  erscheinen  hier  jährlich  so  viele  archäologische  abhandlungen,  die  alle 
wesentlich  ein  und  dasselbe  enthaltim,  dass  es  nicht  zu  erwarten  ist.  daas  jemand 
sie  alle  lesen  würde.  Also  wäre  es  vielleicht  noch  möglich,  dass  die  lierren  Worsaae 
und  Flngelhardt  W.  Horns  erwähnung  nicht  erfahren  hätten ,  und  dass  man  ihr  myste- 
riöses stillschweigen  solcherweise  zu  erklären  hätte. 

KOI»KNIIA0EN .    Iß.    SEPTRMBKR    1871.  R.    JESSEN. 


I.    SACHKEGISTEK. 


Albrecht  v.  KemoDaten.  Charakteristik  240. 

S.  Alexis,  hss.  212.  5. 

alHtteration  s.  metrik. 

altfranzösisch,  i  und  j  92.  s.  Guil- 
lauine  le  clerc. 

altnordisch,  lautlehre:  anlautend 
j  und  V  vor  o  u  y  ö  od  ü  y  nirgends 
erhalten ,  auch  nicht  in  der  Edda,  zeit 
des  abfalls  unsicher  26  f.  anlautend  v 
vor  r  archaistisch  erhalten  27  ff.  — 
formenlehre:  postposit.  artikel  in 
den  Eddaliedern  selten ,  häufig  nur  im 
Härbardsl.  31.  —  stil:  kenningar 
nur  in  den  reimversen  (drottkv.  und 
rünhenda)  u.  d.  jungem  foruyrdalag 
eigentümlich  und  häufig  41.  in  die 
Edda  erst  aus  den  Skaldengedd.  ein- 
gedrungen 42  ff.  abgeschmackte  ken- 
ningar 43  a.  1.  in  verschiednen  lie- 
dern  verschieden  häufig  42  f.  kennin- 
gar in  der  Skidarima  228.  —  prophe- 
tierende  und  memorierende  darstellung 
der  sage  un volkstümlich  55  ff.  71.  — 
s.  Edda,  norroen. 

angelsächsisch,  spräche,  decom- 
posita  405.  composita  mit  dem  part. 
praet.  405.  singular  des  verbs  nach 
plur.  des  subj.  394.  ge-  ge-  ge-  401. 
pe  relativ  401.  on  adverbial  402. 
seoddan  causal  403.  genitiv  instru- 
mental 405.  constructiou  von  helpan 
411.  —  litteratur.  behandelt  nicht 
einheimische  sagen  4.  zeit  der  ein- 
führung  6.  —  geldverhältnisse 
415.  —  .  s.  Beovulf ,  metrik. 

Aude  s.  Gerh.  v.  Viane. 

Benoit  de  Ste.  More.  372  ff.  vgl.  Heinr. 
V.  Veldeke. 

Beovulf.  Sage  nordisch  4.  gestalt  und 
alter  derselben  4.  G.  erwähnung  der  Ni- 
belungensage 18  f.  400.  Völkerverhält- 
nisse 400.    begrenzung  des  2.  liedes  40G. 


Bjarkamäl  22. 

Bürger,   epigr.:  Die  list  Penelopens  371. 

conjunctionen.  also  =  ebenso  361. 
als  nach  dem  comparativ  362.  bis  =■ 
so  lange  als  362. 

consonanten.  assimilation  der  denta- 
len und  gutturalen  in  süddeutschen 
diall.  316.  tw  und  dw  wechseln  im 
nd.  323.  Wechsel  von  dw,  tw  mit  qu, 
w  326.  auslautendes  h  und  w  gehen 
in  n  über  356.  Wechsel  von  1  und  n 
350.  ud.  bb  357.  —  lautver Schie- 
bung bei  tw  und  dw  nicht  streng  fest- 
gehalten 323. 

Cramer.  Ode  beim  abschied  der  gebrü- 
der  Stolberg  371. 

cretinen  331  f.  schutzgeister  des  hau- 
ses  332.  336.  landschaftliche  benen- 
nungen  333  ff.  alter  des  Übels  337  f. 
durch  feen  verursacht  332  f.  Stellung 
im  bürgerlichen  recht  338  f. 

Dänisch,  sage,  vor  der  Wikingszeit 
in  England ,  nach  derselben  in  Norwe- 
gen eingeführt  6  f.  hier  willkürlich 
geändert  7.  20.  Starkadsage  urger- 
manisch 70  a.  2.  Nibclungensage  mehr 
nach  deutscher  als  nordischer  form  23  f. 
Kräka  und  Ragnar  norrcen  70.  Ermen- 
richsage  bei  Saxo  23.  45.  Helge  Hun- 
dingstötersage  22.  45.  Ragnar  Lod- 
broksage6f.  entstehungszeit21.  Rolfs- 
sage 4.  22.  Gudfred  20.  —  litte- 
ratur. rest  eines  altdän.  liedes  von 
der  Braavallaschlacht  7  f.  —  Kämpe- 
viser  z.  th.  norrcßu  beeinfiusst  23  a.  3. 
69  f.  namensformen  zeigen  isländischen 
einfl.  61»  a  5.  —  Saxo  hat  norrcene 
specialsagen  70. 

Dänemark  ein  reich  4.  20  a.  4.  erwäh- 
nung in  der  Nibelungensage  13  f. 

dialecte.  Schaffliausen  104.  grenze 
zwischen  alem.  und  schwäb.  164.  167. 


496 


I.    8ACUREGISTBR 


»amen  für  den  aleniaun.  dial.  163.  165. 
gau-  diöcesan-  dialcctgrenzen  nicht  zu- 
sammenfallend 166.  196.  —  bedeutung 
des  übergeschriebenen  e  in  bair.  hss. 
173.  —  fränkisch  und  mitteldeutsch 
(binnend.)  identisch  185.  ausdehnung 
des  fränkischen  188.  Siebenbürger  Sach- 
sen haben  fränk.  dial.  188  f.  —  thürin- 
gisclier  dial.,  verhältn.  zum  fränk.  u.  and. 
mitteldeutschen  186  ff.  Ruhlaer  mund- 
art  196  f.  —  mitteldeutsch  (binnen- 
deutsch), begriff  und  umfang  184  ff. 
mitteldeutsche  schriftspr.  im  MA.  198. 
mhd.  schriftspr.  seit  dem  XIV.  jh.  local 
gefärbt  198. 

Eckenlied,  recensionen  243. 

Edda  Saemundar.  heldensage  süd- 
germanisch 3.  47.  49.  galt  auch  im 
norden  stets  als  deutsch  8.  quellen  der 
nordischen  fassung  9.  quellen  der  deut- 
schen fassung  9.  unterschiede  beider 
10  f.  kriterien  für  die  heimat  der  sage 
12  ff.  geographische  Verhältnisse  in 
beiden  sagen  gleich ;  localisierung  in 
Deutschi.  12.  ethnographische  verhältn. 
12  ff.  die  historischen  personennamen 
deutschen  Ursprungs  15.  form  der  namen 
desgl.  16  f.  19.  83.  252.  einwanderungs- 
zeit  der  sage  17  ff.  19.  22.  81.  Nor- 
roene  zutaten  22  f.  46  f.  62  f.  —  göt- 
ters age.  christliche  einflüsse  24.  ur- 
germanisches 68  f.  in  der  Edda  jüngste 
raythenentwicklung  77.  —  lieder 
norrcen  u.  verhältnismäss.  jung,  sprach- 
liche kriterien:  reste  v.  anlautendem  j 
und  V  vor  o  u  y  usw.  nicht  erhalten  26  f. 
vr  anlautend  dialectisch  und  archaistisch 
27  ff.  postpositiver  artikel  vermieden 
31.  junge  fremd  Wörter  31  f.  —  lan- 
desuatnr  norwegisch  u.  isländisch  32  ff. 
35.  44.  72.  — -  anklänge  an  das  Chri- 
stentum 38.  beziehung  auf  die  Vikings- 
züge  38.  45.  Norrcene  geogr.  anschau- 
ungen  38.  sociale  Verhältnisse  in  Hä- 
vaniäl  und  Rigsmal  norwegisch  39.  — 
metrische  anzeichen  jüngeren  alters  40. 
stilistische  40.  anhäufen  von  kennin- 
gar  41  ff.  —  Verknüpfung  mit  der  Helge 
Hund,  und  Ermenrichsage  46.  63.    mit 


der  Dietrichsage  47.  Grönländische  lie- 
der 50  f.  bczeichnung  „inforua"  51  f. 
absichtliche  nichtbenutzung  einzelner 
lieder  durch  die  Völsungasaga  54.  — 
form  und  darstellung  nnprimitiv  und 
unvolksttimlich  55  ff.  erzeugnisse  eines 
litterarischen  christlichen  Zeitalters  57  f. 
Überreste  älterer  dichtung  58  ff.  ästheti- 
scher wert  der  einzelnen  gedichte  58  ff. 
Vermutung  über  den  Inhalt  der  lücke  in 
der  hs.  57  a.  1.  59.  60.  Vollständigkeit 
der  samlung  60  f. götter lie- 
der. Verhältnis  zur  Snorra  Edda  49. 
reste  älterer ,  echt  volkstümlicher  lieder 
in  derselben  64  ff.  alt  sind  prymskv. 
und  Skimismäl  68.  die  andern  auf  Island 
entstanden  71  ff.  einfluss  deutscher  hel- 
densage 72.  —  einzelne  lieder: 
Alvissmal  samlung  von  heiti  in  ironi- 
schem ramen  77.  dem  Vaff)rudnismäl 
nachgebildet  76.  —  Atlamäl  spät  40. 
45  f.  christl.  anklänge  38.  grönlän- 
disch 50  f.  59  f.  —  Atlakvida  spät  40. 
grönländisch  50  f.  59  f.  —  brot  af  BrjTi- 
hildarkvidu  wol  jung  59.  ursprüngliche 
gestalt  60.  —  Fäfnismäl  spät,  islän- 
disch 48.  59.  ursprüngliche  gestalt  49. 
anklänge  an  Hävamäl  48.  reste  alter 
dichtung  59.  —  Grimnismäl  gelehrt, 
isländisch  74.  norwegische  sage  5.  — 
Güdrunarhvöt  jung,  isländisch  45  f.  57. 
59.  jünger  als  Hamdismäl  53.  —  Gii- 
drünarkvida  I  isländisch ,  jung  59.  ruht 
auf  Gudr.  II  und  Sigurdarqu.  III  52  f. 
Gudr.  n  jung  47.  57.  59.  Gudr.  III 
junge  isländische  erfind.  59.  —  Ham- 
dismäl spät  40.  45  f.  grönländisch  50  f. 
—  Härbardsljod  spät  31.  40.  gelehrt, 
isländisch ,  XIII.  jh.  75.  —  Hävamäl 
norwegisch  29.  drei  teile  77  f.  —  Hel- 
gaquida  Hiörvardssonar ,  norweg.  sage ; 
spät  5  a.  1  7.  44.  -—  Hclgakvida  Hun- 
dingsbana  I  Überarbeitung  von  U  51. 
58  f.  Verfasser  59  a.  1.  beide  norrani 
45  f.  in  II  ältere  reste  58.  —  Hel- 
reid  Brynhildar.  junges  lied  57.  59. 
ursprüngliche  gestalt  48  a.  1.  —  Hy- 
miskvida  isländisch  34.  jung  40. 
70  f.  —    Hyndluljod  zwei  liedor,  islän- 


dJBcbe  getehrBanilceitsprodacto  ans  christ- 
licher zeit  63.  ~  Lokasenna.  ketzeri- 
Bche  kritik  dea  mythoa  72  f.  jung  71.  — 
Oddrunargrätr  sehr  jung  46.  —  Biga- 
mäl.  norwegiache  Btandesverhältnissc 
39,  —  Signrdarkvid^a  I  ruht  auf  Sigr- 
drifumäl  u.  Fafa.,  iat  jung,  iBländisch, 
thrisÜich  45  f.  50.  56.  S9.  Sigurdarkv.  II, 
altere  reste  59.  Sigurdarkv.  III  jung 
und  ästhetJBch  wertlos  57.  59.  —  Sigr- 
drifumäl  junges  isländ.  lied  59.  christ- 
liche anklänge  38.  nachahmung  dea 
Hävamdl  48.  arsprüngl.  gestalt  48  a.  i. 
—  Skirnisför  alt  t>8.  —  prymskrida 
alt  68  f.  einllnas  auf  die  dan.  d.  schwed. 
käinpeviaer  69.  —  Vaffiriiduiamäl.  ui- 
ajirüngliche  form  73  f.  —  Vegtams- 
kvida  stützt  Hieh  auf  Völnspä  and 
prjraakrida  76.  der  mythos  nicht  echt 
75.  —  VülsnDgakvida  in  foma  in  Hei- 
gakv.  Hund.  JI  alter  als  Helg.  Hund.  I 
51.  —  Völundarkvida,  alter  Charak- 
ter 44.  —  Völuspä  jong,  isländisch, 
X  jh.  17.  2^.  37.  40.  71  f. 

Edda  Snorra.  Verhältnis  zur  Edda 
Saem.  49.  60.  69.  70.  75.  76.  teste 
älterer  götterlieder  64  tl. 

ciseiialter,  dänische  theorie  78  f.  80. 

Encit  a.  Veldccke. 

herzog  Ernst,  recensioucn  244. 

fabliau  de  la  fillc  a  la  borgoise  220. 

Tonuclu:  den  unde  läteu  306.  toben  und 
tollen  325.  epische,  ags.  406.  407. 
allittcricrende ,  altu.  20. 

feenglanbe  in  der  Schweiz  232. 

Garin  450  f. 

Ganten  4. 

gebrauche  s.  sagen, 

Qerard  de  Viaiie,  roman  de.  Inhalt 
424  ff.  histor.  bcstaudteile  42Ö  f.  428  f. 
die  sagestamt  aus  bui^nndischer  gcgond 
430  f.  433.  435.  443.  448,  töS  ff,  Ro- 
land und  Ollivier.  EOnuner-  und  winter- 
gott.  Baldr  and  Hödr  430  f,  438.  440. 
445.  457.  Aude  (Alda)  befreite  oder 
verjüngte  lenzgöttin  431  ff.  433,  436. 
440.  444.  kriegerische  lenigöttin  441. 
Quintaine  —  RolandBrciten  —  kämpf  von 
Sommer  und  winter  438  ff.    Ulingei  und 


497 

Anneli  ^^  Ollivier  und  Aude  445.  Gui- 
bnrg  identisch  mit  Aude  446  ff.  Ger- 
hard identisch  mit  Ollivier  449.  454. 
Garin  oder  Gnerin  ein  lenzgott  449  ff.  — 
alte  coltstätten  bei  Vienne  4^.  lenz- 
göttin christianisiert  als  Maria  435.  443. 
451.  Pilatuslegcnde  455  ff.  Loheran- 
grin  451. 

Gisl  lUngason  viell.  vt.  v.  Helg.  Hund.  I 
59  a.  1. 

Goethe,  ver&Bser  von  „der  weit  lohn" 
372.  nicht  von  „der  autor"  372.  „to- 
deslied  eines  gefangeneu "  und  „  lic- 
beslied  eines  amerikauischen  wilden" 
nach  Montaigne  475  ff. 

Oottachec.  stammangehSrigkcit  u.  spräche 
182  ff 

Grönlandisohe  dichtung  50  f, 

Guillaumc  1e  clerc,  le  bcsant  de  dicti. 
quellen  214  ff.  218.  spräche  221  ff. 
handschr.  .222  auin.  textkritik  223  f. 
accentuation  226.  —  roman  de  Fregns 
219  a.  1,  hestiaire,  hsl.  überliefemDg 
219  f.    ta  fiUe  a  la  borgoise  220. 

handelswege,  nordische,  im  HA,  38a  4. 

heldonbnch,  Dresdner,  entstehungszeit 
241.  Verhältnis  zu  den  andern  recen- 
aionen  242  ff.  verschiedene  Verfasser 
243  f. 

heldensage.  bild  Sigurds  anf  bractea- 
ten  zweifelhaft  81.  251.  isländisches 
von  Theodorich  81.  25a.  s.  Edda,  dä- 
nische, schwedische  sage,  Virginal. 

helme  der  Angelsachsen  393. 

Heinrich  v.  Veldeke  a,  Veldekc. 

Helge  Hundingstötorsage  22.  45. 

Herder,  einflüssc  des  aufenthalts  in  Riga 
367.  sein  stil  369,  —  znr  teitkrltik  der 
Volkslieder  458  ff.  entwürfe  Herders  für 
eine  anders  geordnete  samlung  463. 
464  ff.  ändcrungen  des  herausgebers 
J.  V.  Maller  459.  460  ff  467.  468,  470ff 
H.  als  theologe  490  ff, 

Hermans  (Guillauine ?)  de  Tassomption 
nostre  danie  (adieui  de  Jusns  Christ  ä 
notre  dame).  handschr.  211  f.  name 
des  dichters  212. 

bermaphroditen  320, 


498 


I.    SACHBBGISTBA 


hölle,  clirisÜiche,  and  antike  Unterwelt  im 
MA.  131  f. 

Hanaland  in  der  nordischen  sage  13. 

Jesus,  geschichte  von  Jesus  and  seinen 
Passionen,  französisch  214.  28. 

de  Johan  l'evangeliste ,  prosa,  hs.  213,  6. 

Jngement  de  dieu,  sermon  en  vers  213, 11. 

Juten ,  angelsächsische  namensfomi  400  f. 

isländisch,  sprachform  der  neuem  zeit 
(seit  d.  XIV.  jh.)  229  f.  —  jüngere  litte- 
ratur:  die  Skidarima  227  ff.  kenningar 
228  f.  sprachform  229  ff.  vocalismus, 
consonantismus  229.  flexion,  syntax  230. 
wortscliatz  231. 

Kämpeviser  s.  Dänische  litteratur. 

Kaspar  von  der  Koen  nicht  vf.  des  Dres- 
dener heldenbuchs  241  f. 

kenningar  s.  altnordisch. 

Laurin ,  recensioucn  242  f. 

lautverschiebung,  s.  consonanton. 

leichenbestattung  im  MA.  134  ff. 

Loherangrin  s.  Gerard  de  Viane. 

Ludwigslied,  hs.  u.  hsl.  text  308  ff. 

S.  Magdaleine  213,  14. 

Manderscheidt,  hss.  der  grafcn  v.  M.  96. 

Margaretenleben  213,  21. 

Ste  Marie  Egiptienne,  hss.  212,  4. 

du  möpris  du  siecle  213,  13. 

metrik.  althochdeutsche:  tactver- 
hältnis  der  verse  208.  302.  silbenmes- 
sung  303.  —  mitteldeutsche  im 
Rother:  hebung:  hochtonig 256.  tief- 
tonig  264.  verschleifung,  clision,  Unter- 
drückung des  ticftonigen  e  vor  liqui- 
den 265.  schwebende  betonung  270.  — 
Senkung,  doppelte:  nach  hochtoni- 
ger  hebung  256.  nach  tieftoniger  264. 
nur  tieftonig  257.  selbständige  werte 
in  dopp.  Senkung  257  ff.  265.  jede  von 
beiden  Senkungen  kann  zweisilbig  sein 
266  ff.  verschleifung  266.  synaloephe 
267.  — -  mehrsilbiger  auftact  270.  — 
gruppen  von  drei  reimzeilcn  268.  — 
in  anderen  mitteldeutschen  ge- 
dieh ten  des  XII.  jh.  (Hartmann  v. 
geloub.,  Lampr.  AI.,  nrh.  Tundalus,  nrh. 
herzog  Ernst,  gr.  Rudolf,  Karl  u.  Galie) 
269  ff.  doppelte  Senkung  tieftonig  27 1  f. 
selbständige  werte  in  der  Senkung  272  ff. 


Verhältnis  dieser  verskunst  zur  reim- 
prosa  276  f.  räumliche  und  zeitliche 
ansdehnung  276  ff.  Im  XTTL  jh.  all- 
mählich durch  den  mhd.  versbau  ver- 
drängt 277  f.  taucht  wider  auf  im  neuem 
deutschen  volksliede  278  f.  —  nie- 
derdeutsche seit  dem  XIV.  jh.  mit 
der  mitteldeutschen  stimmend  279.  — 
altsächsische.  Verschiebung  des  hoch- 
tons  in  einem  wort  288.  mitteltonige 
Silben  292.  die  silbe  hinter  der  ticfto- 
nigen hat  in  einfachen  Wörtern  nie  den 
accent  291.  haupthebung,  stelle  im 
verse  284.  stärker  betont  als  nebenhe- 
bung  287.  Verhältnis  zur  nebenhebung 
293  f.  haupthebung  auf  tieftoniger  silbe 
290.  schwebende  betonung  von  haupt- 
zu  nebenhebung  288  ff.  zwischen  hobung 
und  Senkung  305.  —  nebenhebung 
kann  fehlen  283.  auf  verbalpräfixen 
292.  —  zwei  hebungen  auf  einer  silbe 
vereinigt  282.  288.  289  f.  292.  —  sen- 
ku  ng  fehlt  nach  kurzer  hoch-  oder  tief- 
toniger silbe  284.  285.""  288.  294.  — 
doppelte  nie  nach  tieftoniger  silbe 
295.  nicht  zulässig  zweite  teile  von 
compositen  u.  mehrsilbige  praefixe  295. 
selbständige  werte  in  doppelter  senkg. 
296  f.  verschleifung  in  hebung  vor  dop- 
pelter Senkung  297.  in  der  senkg.  297. 
synaloephe,  synkope  298.  —  auftact, 
mehrsilbiger  284.  klingender  versscbluss 
284.  30O.  —  verse,  steigende  u.  sin- 
kende 286.  zweitactige  und  viertactige 
298.  —  Silben m essung  304.  congruenz 
zwischen  wort-  und  versaccent  305.  — 
allitteration  mussauf  die  haupthe- 
bung fallen  284.  285.  einzelne  lied- 
stäbe  285.  niclit  alle  allitterierenden 
Wörter  gelten  als  stäbe  285.  289.  — 
angelsächsische,  tactverhältuis  der 
verse  299  f.  pd  als  hebung  ohne  fol- 
gende Senkung  382.  vier  stabe  im  vers 
387  f.  praepositionen  können  vor  feh- 
lender Senkung  nicht  hebung  sein  892. 

altnordische,    tactverhältuis 

der  verse  299.  ^faldralag  40  a.  8.  jün- 
gere mctra  40.  —  allitteration, 
freiheiten  27  a.  2.  8.    alte  allitteriorende 


I.    8A0HBBGISTEK 


499 


formeln  auch  in  jungen  gedichten  29.  — 
reime,  unreine,  in  der  Skldarima  229. 

mystische  litterator  in  der  Lausitz  und 
Schlesien  197. 

mythologie,  nordische.  Skadi  69. 
Skadi  und  Nanna  444  f.  Baldr  und  Hödr 
430.  445.  Wffirir  453.  üller  444.  454. 
cultus  von  Odinn  und  Thor  74  a.  2.  — 
angelsächsische:  riesen  398  ff. 

mythos.  kämpf  des  sommer-  und  win- 
tergottes  im  herhst  430.  445.  im  früh- 
ling 431.  438.  440.  445.  die  lenzgöttin 
im  Winter  schlafend  oder  alternd,  im 
frühling  geweckt  oder  neu  geboren  431  ff. 
aufnähme  dieser  Vorstellungen  in  das 
langob.  recht  432.  lenzgöttin  im  aquae- 
duct  in  der  cifel  434.  paradies  als  glas- 
berg  435  f.  raubvögel  =  wind  436  f. 
papagei,  lenzvogcl  437.  lenzgöttin  als 
kampfjungfrau  441.  entflieht  aus  der 
macht  des  wintergotts  zum  sommergott 
444.  der  wintergott  ihr  vater  oder  bru- 
der  oder  gatte  444. 

«amen  aus  der  heldcnsage  als  Personen- 
namen gebraucht  16.  17.  19.  82  f.  Orts- 
namen 84.  namenforschung  seit  Grimm 
487. 

Nibelungen  sage  s.  Beovulf ,  Dänische  sage, 
Edda. 

Norrcenn.  dialectische  unterschiede  27. 
—  littcratur:  Ynglingatal  erst  nach 
dem  X.  jh.  entstanden  20.  Ragnars- 
drapa  Lodbrokar  desgl.  21.  Bjarkamäl. 
die  Strophen  in  der  Skälda  a]>okryph 
22.  Krakumal  28.  —  skaldengedichte 
vor  900  nicht  authentisch  20  ff.  Thjo- 
dolfr  hinn  hvinverski  20.  Brage  Skald 
der  alte  mythische  person  21.  lieder 
apokryph  28.  51.  —  Grönländische 
dichtung  50  f.  —  s.  Edda. 

Norwegisch,  einheimische  hei- 
den  sage  (Halfss.,  Pridpiofss. ,  Orva- 
rodss.,  Helg.  Hiörv.,  Grimnism.,  Yngl. 
s.,  Hcrvarars.)  5.  44.  das  meiste  ver- 
loren, einführung  und  Umformung  dä- 
nischer königssage  frühstens  im  XI.  jh. 
6  f.  20.  62  f.  alle  diese  sagen  urspr. 
auch  in  liederform  7.  —  geschichtc 
erst  seit  ende  des  IX.  jh.  zuverlässig  19 


Ortnlt,  recensionen  242. 

Ortsnamen,  mythische  in  der  Eifel  434. 
Arnsburg,  Arnstadt  437.  Bolandsquelle, 
Baldersbrönd ,  Tisveld,  Tyburn,  Roes- 
küde  445. 

passion  s.  Jesus. 

de  SS.  Pierre  et  Paul,  prosa,  hs.  213,  9. 

Pilatus  8.  Gerard  de  Viane. 

Bagnar  Lodbroksage  6  f.  21.  70. 

rechtsaltertümer.  erbunfähigkeit  ge- 
brechliächer  oder  misgestalteter  317  ff. 
mythische  Vorstellungen  im  langobard. 
recht  432. 

reim  s.  metrik. 

Bichmodis  433. 

Roland  s.  Gcrard  de  Viane. 

romans  des  romans ,  hss.  214 ,  22. 

Rosengarten ,  recensionen  243. 

Roth  er.  textüberlieferung  254  ff.  278  a. 
metrik  256  ff.  emendierungsvorschläge 
267  ff. 

runeninschriften  enthalten  keine  skandi- 
navische Ursprache  26. 

sage,  nordische  bei  den  Angelsachsen  4. 
sächsische  in  Island  314  f. 

sagen  und  gebrauche,  wallen,  herr 
Ameil  432.  448.  aus  dem  Scheintod 
erwachende  frauen  432.  433.  444.  alte 
oder  hindin  im  frühjahr  verfolgt  432. 
433.  Wasserleitungen  Schlupfwinkel  von 
feen  434.  glasberg  437.  schlafende 
königstochter  432.  437.  waffenspiele  als 
frühlingsfest  437  ff.  Rolandsreiten  438. 
Irmenreiten  in  England  439.  Verbren- 
nung des  winters  als  Strohpuppe  439. 
zersägung  der  alten  441.  sagen  von 
Garin  450  f.  Richmodis  433.  frühlings- 
bären  452. 

Saxo  s.  Dänische  sage  und  litt. 

Schwedische  sage  4.  ohne  einfluss 
I  auf  die  norrcene  5.  32.  durch  norroene 
)  beeinflusst  69.  —  schwed.  sprach- 
i  forschung  233.  —  altschwed. 
spräche,  charakterist.  unterscliiede 
vom  altnordischen  235  f. 

Seeland  in  Schweden  5  a.  2. 

Sigenot,  recensionen  243. 

Sprichwörter  in  Hävamal ,  Sigurdarkv.  U, 
Fäfnism.  48. 


500 


U.     WORTBEQISTEB 


SuUy,  Morisses  de,  biscliof  v.  Paris, 
predigten  214.  predigt  in  I.  dorn.  sept. 
215  ff.   quelle  des  Guillaume  le  clerc  218f. 

Tobie  213,  20. 

Turpins  chronik  enthält  burgundische  sage 
431. 

ülinger  und  Anneli  445. 

Umlaut  im  mitteldeutschen  199. 

Veldecke,  Heinr.  v. ,  Eneit.  verhältn. 
zum  roman  d'Eneas  des  Benoit  de  S. 
More  lOÜf.  112  f.  115.  118.  122.  12.3. 
125.  138.  143.  Inhalt  und  vergleichung 
mit  Virgil  110  ff.  behandlung  der  anti- 
ken mythologie  129  ff.  verhalten  gegen- 
über den  antiken  gebrauchen  134  ff. 
der  antiken  geographie  137  ff.  Übertra- 
gung der  deutscheu  Standesverhältnisse 
auf  das  altertum  139  ff.  ästhetische 
wiirdigung  der  Eneit  gegenüber  Virgil 
158  f. 

Vilhjälmr  saga  Sjods  315. 

Virginal.  ungenau igkeiten  und  Wider- 
sprüche 238  ff.      Charakterisierung  der 


dichtung  240.  spräche  240.  bcarbei- 
tungen  240  f.  besserungsvorschläge  244. 

vocale.  diphthongische  ausspr.  von  got. 
ai  aü  vor  h  und  r  195.  quantitat  der 
gotischen  vocale  195  f.  —  dialcctische 
Schwächung  und  beilaut  193  f.  —  au 
in  deutschen  dialecten  342  ff.  für  a 
342  ff.  für  e  340.  für  i  346.  für  o 
347  f.  für  u  348.  für  ü  349  f.  für  i 
351.  für  ö  a51.  für  ü  352.  für  iu 
353.  für  ie  353.  für  au,  ou  353  ff. 
für  aü  355.    für  uo  355. 

Volkslied ,  neueres ,  metrik  278  f. 

Yölsungasaga ,  Verhältnis  zur  EddaSaem. 
54.  60. 

Wandsbecker  Bote  370  f. 

wechselbälge  232. 

Wielandsage  deutsch  16. 

Wikingszüge,  cinfluss  auf  die  dichtung  6. 
21.  38. 

Wittenweiler  ein  Baier  179. 

Wolfdietrich,  recensionen  242. 

Wunderer,  recensionen  242. 


IL    WOETEEGISTEK. 


1.  GothJsch* 

afdaujau  325.  327  f. 
dvalitha  328. 
dvalmön  324. 
dvals  328. 
sauil  344. 
skohsl  237. 

2.  Althochdeutsch. 

agi  192. 

langob.  aldia  432. 

dawalon  325. 

egi  192. 

egisüt  192. 

manuduiliger  329. 

quelan  .326. 

Tallo  342. 

towjan  325  anni. 

twalm  328.  340. 

twalön  340. 

twelan  323.  324.  327. 


wäram  452. 
widello  320. 
wio  436. 
zwitarn  320. 

3.  Mittelhochdeutsch. 

md.  altvil  319.  339. 
md.  andelagen  191. 
Angelburg  447  f. 
ertwelen  327. 
getwel  325. 
twalmtranc  329. 
twelcn  327. 
zwidom  320. 

4.  Neuhochdeutsch 

I  nebst  dialecten. 

I  aducht  434. 
j  altwilisch  329. 

Arnsburg,  Arnstadt  437. 
'  schmalk.  ausegrad  192. 


schmalk.  ausemer  192. 

alem.  bära  169. 

Burgfey  434. 

butze  333. 

dalap  340. 

dalen  328.  340. 

dale watsch  340. 

dalk  340. 

dalken  340. 

Deutschland  363. 

dildap  330.  340. 

dill  330. 

dilledelle  330. 

dilledellen  340. 

swz.  dilli,  dildcri  340. 

dilpc  340. 

dolc  326. 

md.  döU  340. 

dollfuss,   -Schenkel,  -einen 
'      325. 
I  dolmtrank  32^K 


U.    WOBTREOISTBS 


501 


dölp,  dölpel  329. 

kärnt.  dost  334. 

dulkezen  340. 

dalms,  dolms  329. 

dwaler  328. 

dwalicht  328. 

8 WZ.  fayer  332. 

Feie  438. 

feig  332. 

feks ,  fex  331  f. 

kärnt.  härscherle  334. 

Katzfey  434. 

bair.  kühfenster  179. 

Nandl,  Nannchen  445. 

swz.  noi,  neil,  nölgg  336. 

Palette  177. 

bair.  partecken  178. 

bair.  politten  178. 

bair.  tachensclireiber  178  f. 

bair.  tahe  179. 

swz.  täU  340. 

tallen  340. 

sohl,  tallsack  340. 

scbl.  talltail  340. 

talmiger  329. 

tälsch  340. 

Teil  340. 

bair.  teuchein  179. 

tül  341. 

tillen,  tillazen  340. 

TiUmann  341. 

toll  340. 

tollpatsch  340. 

tölpel  340. 

steierm.  troddel  334. 

swz.  tschaule  335. 

swz.  tschörgen  335. 

warm  452. 

Wechselbutte  333. 

welle  326. 

bair.  ge-zwolen  323. 

5.  Altsäehsiseh. 

dwahn  326. 
dwelan  326. 

6.  Nlederdeutscli. 

adncht  434. 
altvil  317  ff.  339. 


älwatisch  329. 

mnd.  am  356. 

südwf.  arn  356. 

nhess.  Balhom  192. 

mwf.  baug  356. 

bröddig  358. 

dalen  328. 

dalmerig  329. 

daudeln  325. 

danein  325. 

nhess.  dd,  de  192. 

diu,  tili  329  f. 

nl.  doel  324. 

nrh.  dol  324. 

nl.  dol  324. 

dole  324.  326. 

dolf ,  delf  329. 

nrh.  dölhüf  327. 

dolwitt  324. 

doU,  dull  329. 

nl.  doUe  324.  325. 

doUf  324. 

doli -körn,  -bime,  -kirsche, 

-würz  usw.  329. 
dreckdwalger  327. 
dudeldop  330. 
dukdallen,  dukdoUen  324. 
duUen  325. 
nl.  dwaelinghc  324. 
dwal  328. 
dwalerie  327. 
dwaljen  327. 
dwälke  329. 
dwallen  328. 
dwallies  329. 
dwalsch  328. 
dwälsk  328. 
nl.  dweelre  327. 
dwel  329. 
dwelen,  dwalen,  doien,  doe- 

len,  dalen,  dailen  323  ff. 
dwelgam  327. 
dwelhaffcich  327. 
dwelich  329. 
dwellecht  327. 
dwelling  327. 
dwclsch  329. 
dwelwech  327. 
dwerg  317. 


afr.  dwila 

dwilsk  329. 

ostfr.  ebengeschmäh  198. 

elvisch  321. 

nhess.  extern  192. 

feiig  193. 

mnl.  int  306. 

kobbe  356. 

krut  357. 

ükemere  258. 

mnd.  lüter  358. 

afr.  naut  351. 

quillen  326. 

spauk  348. 

talraen  328. 

talmke  329. 

TUkappe  330. 

fr.  tirreltop  330. 

toUen,  dullen  324.  325. 

twalen  324. 

twalsch  329. 

twele  319. 

twelich  329. 

twil  319. 

twiUen  319. 

twUlet  319. 

twilsch  329. 

mnd.  vele  stan  357. 

welle,  wellen  326. 

7.  Angelsäehsiselu 

aerist  405  f. 

ägend  415  f. 

attorcoppa  356. 

on  bearm  dön  396. 

böh  356. 

coppa  357. 

egl  391. 

Ellengäst  383. 

cotenas  398  ff. 

fiele  193. 

feorm  386  f. 

firen  ondrysne  402. 

fisc  388. 

forvyrnan  396. 

frätve  413  f. 
I  freme  402  f. 
i  getav  386. 
'  gevendan  385. 


502 


II.     WORTKKd  ISTER 


glädman  38H. 
guilrec  395. 
hands])oru  3(M). 
helpan  411. 
hcoro-  4<)8. 
hondslyht  414. 
hygcmaxl  413. 
lenge  382. 
niägcnes  411. 
rnod  402. 
mundgripe  403. 
nicor  388. 
ünd8l3'ht  414. 
scotcn  392. 
8eo<tdan  403. 
svegle  411. 
sveorfan  412. 
vala  392  f. 
valu  393. 
voroldrajden  39(i. 

8.  Enirlisch. 
cob  357. 

dial.  dwaule  32H. 
dwell  32G. 
fale  193. 
fellow  193. 

9.  Altnordisch. 

iilpa  231. 
aoH  231. 
bar<tr  231. 
Brede  82. 
brjöt  231. 
brumla  231. 
brüiii  231. 
bupp  231. 
bynluin  231. 
byst  231. 
danga  231. 


dreki  31  f. 

drukklangr  23  f. 

fin  233. 
!  flür  231. 
I  forsnia  233. 

Godpjod  IG  a.  1.  17. 
I  Guttormr  17. 
I  gylla  231. 
I  Hamdir  17. 
I  harki  231. 

baust  344. 

herra  231. 
I  Hlödver  IG. 
I  hrakföll  231. 
!  Hreidgotar  72  a.  1. 
I  breingälku  34. 

brodr  badmr  7G  a.  2. 

Hünaborg  84. 

Jonakr  17. 
!  jökull  37. 

jötunii  398. 

jungr  233. 
'  kaklast  232. 

kalkr  31  f. 

kampa-sidi  232. 

kciigr  232. 

kingr  232. 

kista  31  f. 
'  kratti  231. 
I  krippa  232. 
i  kvittr  2133. 
I  lif  232. 
I  loppa  232. 
!  hiiun  232. 

liikka  232. 

nialir  232. 
:  neyta  232 
'  iiistill  229. 
1  par  233. 


piii  232. 

rakna  2.32. 

Kata  29. 

roidigangr  232. 

ruigja  30. 

-sag  229. 

sjäfar-rok  229. 

Sigfrödr  19  f. 

Sigurdr  17. 

sjoli  232. 

SiiifjötU  17. 

skoltr  232. 

skrökkva  232. 

skrüdi  232. 

slangi  233. 

siiitT  232. 

stüta  232. 

Süd  2:J2. 

tciga  232. 

teiiii  232. 

totr  232. 

Imsnar-vers  229. 

iiriiiatii  232. 

vii  52. 

var  452. 

Vasrir  453. 
!  vajrr  453. 
I  vatua  233. 
;  vers  233. 

Völundr  IG. 

Yiiiir  37. 
i  yiigisineiiii  233. 
:  yiiki  2;J3. 

10.  Dttnisch. 

'  giiausliiig  :^14. 
'  llattsgaard  G9. 
i  Locke  G9. 
'  Loio,  lA'io  G9. 


liallv,   Ilurhiliiii'kt  n.i  ilvh  W  «imiiiIwumw. 


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